Radanika. Die Gefangene des Urwalds - Robert Heymann - E-Book

Radanika. Die Gefangene des Urwalds E-Book

Robert Heymann

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Beschreibung

Radanika ist im indischen Dschungel unter wilden Tieren aufgewachsen, von ihrer Treuen Leopardin Maha beschützt. Eines Tages wird Maha von Hindujägern getötet und Radanika selbst gefangen genommen und in ein Gefängnis verschafft. Der Engländer Sir Kennath, der vor einigen Jahren seine Frau Mary durch ihren Selbstmord verloren hat, leidet seither an einer tiefen Gemütskrankheit und erfährt seltsamen Visionen. Von einem indischen Fakir erfährt er, dass seine Frau in Tiergestalt wiedergeboren sei. "Während ihres zweiten Lebens als Leopardin Maha war sie Beschützerin und Gefährtin ihrer hilflosen Schwester, des Kindes der Wildnis, das in Gestalt des reinsten Mädchens lebt." Sir Kennath macht sich auf die Suche nach Radanika und verliebt sich in sie. Doch lässt sich die Kluft zwischen den Kulturen, Religionen und Seelen überhaupt überwinden? Und sucht der Engländer in der jungen Inderin vielleicht vielmehr doch nur seine verlorene Frau? Heymanns Indienroman berauscht durch seine Exotik und seinen Überschwang an fremd-östlichen Weisheiten und Wundern.-

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Robert Heymann

Radanika

Die Gefangene des Urwalds

Roman

Saga

Radanika. Die Gefangene des Urwalds

© 1930 Robert Heymann

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711503706

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Zwei Zeitungsausschnitte aus letzter Zeit.

„Kriminalistische Rundschau“, 29. August 1927.

Der Höhlenknabe. — Mythus, Roman und Wirklichkeit. — Sprache der Tiere. — Ein grausames Experiment.

Von Regierungsrat Dr. Tartaruga.

Englische wissenschaftliche Blätter beschäftigen sich mit der Auffindung eines sogenannten „Wolfskindes“, das durch britische Offiziere zufällig in einer Wolfshöhle entdeckt worden sei. Der Knabe habe die sich ihm nähernden Menschen angeknurrt, habe die Zähne wie ein wildes Tier gefletscht und wütend nach seinen Rettern geschnappt. Es sei nicht leicht gewesen, den Unglücklichen unversehrt zu bändigen und in das indische Dorf Miawana zu bringen, von wo er zu Studienzwecken nach London geschafft werden soll.

Derartige Meldungen sind nicht ohne weiteres als Ausgeburten der „Sauregurkenzeit“ zu bezeichnen, denn in Indien gelten Wolfskinder keineswegs als Seltenheit. Bekanntlich hat Rudyard Kipling den jungen Maugli ebenfalls als Helden in den Mittelpunkt seines Dschungelbuches gestellt, um ihn zu einem Prachtmenschen heranwachsen zu lassen, der es vorzüglich versteht, auch mit menschlichen Bestien umzugehen. Ohne realen Hintergrund wären solche Romane naive Lächerlichkeiten. Tatsächlich gab es zu allen Zeiten in Indien verwilderte Menschen, die man wegen der dort häufigen Hungersnöte einfach schon als Kinder ausgesetzt hatte. Die meisten gingen wohl bald zugrunde, teils am Hunger oder durch Krankheit oder als Beute von Raubtieren, andere scheinen sich aber irgendwie durchgekämpft zu haben, denn schon der Reiseschriftsteller Valentine Bell berichtet im Jahre 1874 sehr ausführlich und mit Berufung auf glaubwürdige Zeugen, dass er in Agra auf einen Knaben gestossen sei, der nur auf allen vieren kriechen konnte. — Eine andere Frage ist es freilich, ob es unter den wilden Tieren — wie die Inder behaupten — Weibchen mit so stark ausgeprägten mütterlichen Instinkten gibt, dass sie ein ihnen völlig artfremdes Kind mit den eigenen Sprösslingen nähren und aufziehen. Vergleiche mit dem übrigen Tierreiche sprechen gewiss nicht dagegen. Auch beim Menschen erzeugen ja die gemeinsam ausgestandenen Sorgen die Zusammengehörigkeitsgefühle zwischen Mutter und Kind, und nicht das Blut allein. So wäre es wohl nicht undenkbar, dass eine Hündin oder Wölfin das ihr nach einem Wurf irgendwie zugewachsene, ebenfalls noch ganz junge Menschenkind wie ihre Hündlein und Wölflein betreut. Wenn die altrömische Sage Romulus und Remus durch eine Wölfin säugen lässt, so enthält sie sicherlich, wie jeder Mythus, ein Körnchen Wahrheit, d. h. die spezifisch römische Königssage muss ja nicht wahr sein, aber die prinzipielle Möglichkeit ist nicht zu leugnen.

In Indien soll es sogar ein Pantherkind gegeben haben, das von der grossen Katze in die Nordcacharberge entführt und drei Jahre lang gegen die Menschen verteidigt worden sei. Das gleiche wird von den Affenmüttern erzählt

Dass ein nach der Geburt ausgesetztes und in die Gewalt und Gesellschaft von Tieren gekommenes Menschenkind eine menschliche Sprache nicht erlernen kann, dass es sich seine Nahrung auf tierische Art suchen und vor plötzlich auftauchenden Menschen ebenso erschrecken wird wie die Tiere des Waldes, ist leicht begreiflich, immer aber wird es die ererbten menschlichen Fähigkeiten mitbringen. Eine vollständige Vertierung ist ebenso ausgeschlossen wie eine Blutvermischung mit Tieren. Ob Kreuzungen zwischen Menschen und Affen möglich sind, sieht allerdings noch aus. Gelehrte behaupten es. —

*

„B. Z.“, Mittwoch, 2. März 1929.

Weib in der Affenherde.

Seltsames Abenteuer eines Elefantenjägers.

Der Berliner Direktion von Kolonialgesellschaften, die in Afrika (es handelt sich um die frühere deutsche Kolonie Togo und um die Firma Kristeller) wieder ihre Pflanzungen betreiben, ist gestern der Monatsbericht eines Pflanzungsassistenten zugekommen, der u. a. folgenden, sehr seltsamen, als „echt afrikanisch“ bezeichneten Fall enthält: Der von der Firma angestellte schwarze Elefantenjäger schoss mitten im Urwald aus einer starken Affenherde einen besonders kapitalen Affen, der in einer Baumgabel sass. Die Kreatur fiel tot herunter.

Das Staunen des Jägers war gross, als er entdeckte, dass er nicht einen Affen aus der Herde herausgeschossen hatte, sondern ein schwarzes Weib! Sofort ging er nach Victoria, brachte den Fall selbst vor dem Distriktsobersten zur Sprache. Sämtliche Nachforschungen über die Herkunft des Weibes blieben erfolglos. Nirgends in der Gegend wurde eine Negerin vermisst. Die Negerin war übrigens ganz nackt und ohne Schmuck oder übliche Tätowierungen.

Man ist zu der Annahme gekommen, dass sie als Kind von den Affen geraubt und grossgezogen worden ist. Das Weib kann auch zu keiner Negersiedlung gehören, denn seit Jahren ist in diese verlassene Urwaldgegend kein Mensch gekommen, die jetzt von dem Elefantenjäger sozusagen erst entdeckt wurde. Der Jäger ist freigesprochen worden. Aber, abergläubisch, wie die Neger sind, hat er sich noch nicht entschliessen können, wieder auf die Jagd zu gehen. Es ist bekannt, dass bei den Negern ein altes, ungeschriebenes Gesetz besteht: „Du sollst nicht auf deine ‚Verwandten‘ schiessen.“ Gemeint sind die Affenvölker, denen sich die Schwarzen irgendwie verwandt fühlen. Der Jäger hält den Fall vielleicht für Zauberei. Die Sache ist interessant genug, denn bisher hielt man solche und ähnliche Geschichten für Film- und Schundromanphantasie oder Jägerlatein. Hier ist der Fall zum erstenmal gerichtlich beglaubigt.

1.

Aus dem tiefgrünen Vorhang der Laubgänge am Rande der Dschungeln tritt ein menschliches Wesen, schlank und schmal, jede Bewegung verhalten, geschmeidig. Ein Mädchen, bronzefarbig, seltsam weiss gefleckt — so steht es im funkelnden Gerank des Convolvus und blinzelt träge in das sinkende Licht, wie der Panther, ehe er sich aufmacht, auf Raub zu wandern. Rosenrot sinkt die Sonne. Die gelben Augen des Waldkindes folgen ihr, als könnte kein Blitz diese goldenen Sterne blenden.

Ein wundersames Geschöpf, halb Kind, halb Weib. Blauschwarz flutet das Haar über den zarten Nacken. Sie hebt das Haupt. Spannung ist der Körper. Sprungbereit sind die sehnigen Muskeln.

Ein Tier richtet sich zu ihren Füssen auf. Ein Leopard von seltsamer Schönheit und Grösse. Die dunklen Flecken um die Maulwinkel schieben sich drohend zurück. Das gewaltige Gebiss, über das selbst der königliche Tiger nicht verfügt, funkelt unter der hochgehobenen Schnauze. Senkrecht stehen die schwarzen Streifen über der gelben Iris. „Was siehst du, Maha?“ fragt das Mädchen. Eine leise, hinsingende Stimme, die der Wind entführt. Ihre kleine Hand ruht auf dem mächtigen, runden Kopf des Raubtieres. Doch die Berührung der Menschenhand beruhigt das Tier nicht. Zornig mit dem langen Schweif das Unterholz peitschend, hebt der Leopard flüchtig und warnend den Kopf zu der Gebieterin, stösst ein heiseres Miauen aus. Sein kurzer Hals ist in unruhiger Bewegung. Der geschmeidige Körper windet sich wie in unsichtbaren Fesseln. Er wendet zur Flucht, kehrt wieder zurück, unhörbar, ein Bild unheimlicher Anmut und Leichtigkeit.

Das Kind wendet die Augen in die Richtung, die die hellen Lichter ihres Begleiters nehmen.

„Maha! Du träumst! Oder spielt schon die Nacht in deinem Blut? Witterst du Beute?“

Der Leopard hebt knurrend eine Pranke. Dann umschleicht er, sein geflecktes weiches Fell an ihren Knien reibend, die Herrin. Hält wieder inne, wittert und stösst plötzlich ein durchdringendes Brüllen aus.

Mit gesträubtem Schwanz steht das mächtige Tier, das mehr als zweieinhalb Meter misst, im Glanze des scheidenden Tages. Und wachsamer, aufmerksam die ährenfarbigen Augen nach den Bambusbüschen wendend, lauscht Radanika.

„Gefahr, Maha?“ stammelt sie. Presst sich an den Freund.

Der Leopard heult auf.

Lauschend steht jetzt Radanikas Kopf auf palmschlankem Halse. Ihre Augen brennen goldgelb ins hereinbrechende Dunkel. Der heisse rote Mund ist leicht geöffnet, zittert in Erwartung.

Unheimliches geht vor am Rande der Dschungeln!

Fremde Witterung trägt der Wind zu.

Leise warnend neigen sich die scharlachroten, gesprenkelten Orchideen den Händen des Mädchens entgegen. Wie eine Rakete, hundert bunte Farben sprühend, geht ein Schwarm von Vögeln aus dem Bambusdickicht hoch in die Luft.

Ein Schrei des bronzefarbenen Mädchens antwortet den Warnern, so tief, als stiesse ihn das Herz der Dschungeln aus. Der Urwald schweigt. Ein tödlich banges Schweigen.

Die runden Schultern hochziehend, geht das Mädchen langsam rückwärts. Ein mächtiger Pandanus senkt seine Riesenblätter über das Kind, als wolle er es einhüllen in seinen schillernden Mantel, bergen vor den Späheraugen der Räuber, die, Flinten in den Händen, leise, unhörbar durch die Bambusbüsche schleichen, von dem mehr als zwanzig Fuss hohen Rohre gedeckt.

Pfeilschnell wendet sich jetzt die Gefährdete. Zu spät.

Schon ist es einigen Räubern gelungen, ihr den Rückweg abzuschneiden. Aus dem langen Gras springen sie auf, treiben mit lautem Geschrei, als gelte es, Tiger in die Schusslinie der Jäger zu schrecken, das edle Wild vor sich her, denen entgegen, die sich von der anderen Seite laufend nähern.

Noch einen verzweifelten Schrei stösst das Menschengeschöpf aus, und das Echo antwortet aus den Dschungeln.

Ein Brüllen, unheimlich rollend, anwachsend zur Lava von Mordgier und Zorn. Ein Elefant bricht trompetend zum Rande der Wildnis vor. Sein Rüssel knickt einen Bananenbaum in helltönender Wut. Die gelben Trauben der Früchte regnen wie Gold in das Grab der Riesenblätter.

Die Dschungeln drohen.

Jeder Hindujäger, der kühnste Mann weisser Rasse, würde flüchten vor diesem Inferno der Wut.

Doch diese Horde mit dem Lingamzeichen auf den Stirnen fürchtet nicht den Zorn des „Erleuchteten Siddhartha“. Diese Menschenjäger beten heute zu Siwa, morgen zu irgendeinem Götzen, den die Laubkrone eines Margosabaumes birgt. Denn die indischen Götter Brahma und Buddha teilen ihre Macht mit Wischnu, dem Erhalter der Welt, dem Gott der Sonne, den die Waischnasvas verehren. Die Saivas beten zu Siwa, auf dem weissen Stiere reitend.

Seit Wochen lauern die Räuber auf die märchenhafte Beute, nachdem einer sie beobachtet hat, wie sie zur Tränke kam, weiss und braun, eine Blume an Schönheit, ein Vogel in flüchtigem Flug, dem Leoparden gleich, wenn sie geschmeidig den Körper zur Sonne dehnte.

Völlig eingekreist rennt die Gejagte hierhin, dorthin. Meinen die Jäger das Wild schon greifen zu können, dann schnellt es hoch wie eine getroffene Antilope, entgleitet den plumpen Eingeborenenhänden, schiesst wie ein Pfeil durch das Buschwerk, verkriecht sich in undurchdringliches Gebüsch, flieht, aufgescheucht durch Gewehrsalven, von neuem dem Urwald zu.

Wieder eilen ihr von dort die unbarmherzigen Jäger entgegen.

Wieder wirft die Unglückliche das Haupt zurück, dass die Haare wie Pfauenfedern in der stillen Luft stehen, wieder jagt sie zurück. Immer enger wird der Menschenring, immer undurchdringlicher ziehen sich die Maschen des lebenden Netzes zusammen. Wirrer, flackernder wird der Blick der Geängstigten.

Sie stürzt in Schlammlöcher. Dschungeligel saugen sich an das Geäder der schlanken Beine. Ihre Arme fliegen. Der Leib neigt sich, sie verschwindet, taucht dicht vor einem der Verfolger auf, bannt ihn mit ihrem starren, sonnengelben Blick, nützt die Überraschung, verschwindet wieder, schnellt in waghalsigem Sprung über kniende Männer und glucksende Wasser.

Und vor ihr, neben ihr rennt in langen geschmeidigen Sprüngen das gefleckte Tier. Nicht eine Sekunde lässt es die Gefährtin aus den Augen.

Fauchend, ein langgezogenes Miauen ausstossend, jagt der Leopard, lange Sätze springend, wieder umkehrend, den geliebten Menschenkörper umkreisend, zur Eile spornend, vor dem schönen Geschöpf her, dem es durch rätselhafte Kräfte verbunden scheint. Tier und Mensch suchen in wildem Jagen einen Ausweg.

Jetzt hat einer der Schützen im pappelhohen Bambus den Leoparden gesichtet.

Der schnelle Fuss der gehetzten Herrin verklingt im Teppich der Blumen und Gräser.

Sekundenlang äugt der Leopard, versucht, die Flucht des Menschengeschöpfes, dem seine Seele gehört, zu decken. Nimmt den Feind an.

Dieser ist im Jagdeifer zu weit vorgedrungen. Hat sich von den anderen getrennt, die, geblendet von dem Anblick des menschlichen Wildes, Auge und Ohr nur für das Mädchen hatten.

Der Schütze, Visier nehmend, schreit, Auge in Auge mit dem wilden Raubtier, um Beistand.

Die Riesenkatze duckt sich. Bildet einen Knäuel von Gelb und Schwarz. Brüllt auf und schnellt sich zu fliegendem Sprung.

Der Schuss kracht, der Schütze hat das Ziel gefehlt. Er wirft die Flinte fort und flieht.

Ebenso schnell saust der Leopard durch die Luft.

Das fürchterliche Gewicht klatscht auf die Schultern des baumstarken Jägers. Von Todesangst und Entsetzen gepeitscht, wankt dieser keuchend, schreiend mit der fürchterlichen Last einher. Blutlachen folgen dem schauerlichen Ritt.

Der Überfallene stürzt, der Leopard hat sein gewaltiges Gebiss in die Wirbelsäule des Menschen geschlagen. Über den Sterbenden kollert das Tier. Die Freunde des Getöteten eilen herbei, von Wut und Furcht zum Äussersten getrieben.

Mit einem Sprung ist der Leopard auf einem wilden Farnbaum. Schneller kletternd als die gewandten Affen, duckt er sich in Blätterbündel.

Schüsse knattern.

Doch unbeweglich funkelt die herrliche Schabracke des Tieres in grüner Deckung.

Blind vor Jagdwut rennt wieder ein Schütze vor, ihn vom Baum zu knallen. Zum zweiten Male fliegt der herrliche Körper geschmeidig durch die Luft, und während von allen Seiten die Gewehre knattern, während viele Kugeln das buntfarbige Fell durchbohren, schlägt das Tier noch im Todeskampf einen der Schützen mit einem Prankenhieb nieder.

Dann ist es zu Ende!

2.

Zur selben Minute —

Viele, viele Meilen entfernt:

Ein europäisches Wohnhaus, umschattet von Tamarindenbäumen, Kaffeesträuchern. In der Ferne weisse Teeblüten. Noch ferner die blaue Silhouette der Berge. Silbern das Bungalo, silbern der Mond. In den Ställen stampfen die Büffel, die Kühe. Der Arbeitselefant trompetet aufgeregt, Grauen witternd.

Einsamkeit. Stille.

Einsamkeit über dem Teich der goldenen Lilien. Im offenen Arbeitszimmer des Sahib brennt Licht. Von dem Schreibtisch springt Sir Kennath auf. Eine Salve, noch eine ... klatschend schlagen die Schüsse an sein Ohr. Er stürzt ans Fenster.

Still liegt der Park. Der zahme Sambarhirsch lugt nach dem Herrn im Licht.

Die Bäume regen sich nicht. Kein Hund schlägt an. Ein Stoss ... ein Poltern ... und das Fallen eines mächtigen Körpers. Ein Todesschrei, ein letzter lauter Atemzug in hinlöschender Qual — ——

Sir Kennath fährt herum und klammert sich an das Gesimse.

Schweigen ringsum. Nur: Die Stelle an der Wand über dem Schreibtisch, wo das Bildnis der wunderschönen Lady Kennath hing, ist leer.

Das Gemälde ist von der Wand gestürzt!

In weiter Ferne, als trügen Radiowellen das Geräusch an das Ohr des mit allen Fibern Lauschenden, erlischt Geschrei.

Sir Kennath reisst, zerrt an der Klingel. Farbige Diener stürzen verstört herein.

„Wer schoss? — Wer ruft? — Wer starb?“ stammelt der Sahib mit irren Augen. Winzige Schaumflocken stehen weiss auf seinen Lippen.

Die Hindu sehen sich an. Herbeigelockt von dem Alarm eilen der Pferdeknecht, der Boy hinzu. Trotz aller Hast so leise, als bewegten sie sich im Sahasrastam-Mandapam, im Tempel der tausend Säulen.

Von allen kommt die gleiche Antwort:

„Nichts, Sahib! Niemand schoss. — Niemand schrie. — Kein Mensch ist gestorben!“

Sir Kennaths Augen wandern zu dem Bildnis. Diensteifrig hebt es der Schikari, der Jäger, von der Erde auf.

„Ihr hörtet nichts?“ wiederholt der Engländer mit dunkelnden Augen.

„Nichts Sahib! Nichts!“

„Dann fiebere ich ... träume ... aber nein! Nein! Ihr alle lügt! — So täuscht kein Wahn! — Ein Mensch starb! ... Ein Wesen seufzte in letzter Todesnot! Noch schwingt der leise Ton hier in der Luft — ach, so seufzte Mary, ehe sie starb.“

Der Schikari, treuester Gefährte des Europäers seit Jahren, deutet auf das Bild:

„Runde Löcher, Sahib, wie von Schüssen!“

Sir Kennath zittert. Doch er antwortet nicht.

Der Schikari schaut seinen Herrn an und neigt nur leise das Haupt, als verstehe er die seltsamen Gedankengänge des Sahib. Das Gesinde schleicht sich fort.

„Durga, die Grausame, ist erzürnt“, flüstert draussen der Boy. „Sie hat ihre Dämonen über den Sahib gesandt. Er ist krank.“

Der Schikari ist noch bei dem Herrn, wirft sich zu Boden vor dem Götzen, der auf Sir Kennaths Schreibtisch steht, berührt den Staub des Erdbodens.

„Siwaja nama“, sagt er leise in verzückter Andacht.

„Ich bete dich an, Siwa“ — dann erhebt er sich.

„Sahib, das Bild der toten Memmsahib ist durchbohrt. Die edle Memmsahib hat den zweiten Tod erlitten!“ Der Engländer starrt seinen Jäger, den tapferen Genossen bei manch waghalsigem Abenteuer, sprachlos an.

„Lady Memmsahib“, fährt dieser geheimnisvoll fort, „ist vor Jahren gestorben. Ihre Seele musste wandern. Alle Seelen wandern. Was willst du, Sahib? Selbst die Götter werden Menschen in der Wiedergeburt. Menschen können Götter werden. Die ruhelosen Seelen wandern auch in Steine und Tiere. Finster ist der Weg der Seelen bis zum Nirwana.“

Der Engländer lächelt. Ein müdes, trauriges Lächeln.

„Tscham“, sagt er mit unsicherer Stimme, „die Seelen der Toten wandern nicht. Die Memmsahib, meine angebetete junge Frau — war sie nicht wie ein Engel unter euch? Habt ihr sie nicht alle geliebt?“

„Wir haben sie alle geliebt, Sahib. Aber so sprach Gautama Buddha, der Vollendete, vor seinem Tode zu seinen Jüngern im Rhandagama: ‚Ohne Ruhe und ohne Rast müssen wir den mühsamen Weg der Wiedergeburt wandern, weil uns noch nicht die Erkenntnis von den vier Dingen geworden ist: von der Moral, der Selbstbestimmung, der Weisheit und der Erlösung!‘ — Sahib, wenn die Erleuchteten so viele Leben leben müssen, wundert es dich, dass der Weg der Nichtwissenden lang und mühselig ist?“

Sir Kennath antwortet:

„Ich verstehe dich nicht, Tscham, und ich will nichts wissen. Meine Gattin ist tot — —“

Der Schikari aber antwortet rasch:

„Und wer schoss in dieser Nacht auf sie?“

„Niemand! Wer schiesst auf Tote in Gräbern?“

„Es gibt keine Toten. Alles Leben lebt, Sahib. Du hast die Schüsse gehört, denn die Liebe ist stärker als der Tod. Sündige Menschen haben die Memmsahib in ihrem zweiten Leben getötet!“

„Ich will nichts mehr hören!“ ruft der Europäer und hält sich die Ohren zu. „Du machst mich wahnsinnig, Tscham!“

„Ich gehe“, sagt der Schikari unterwürfig. „Doch noch eins, Sahib: In den Dschungeln wohnt ein Heiliger, ein Yoghin, ein Brahmane, der wie der Erleuchtete selbst allen Glanz des Lebens verlassen hat und nur der Besinnung lebt. Er ist mitten unter den wilden Tieren, aber die Seelen erkennen ihn. Frage den Erleuchteten, dessen Haupthaar so lang ist, wie sein Körper an Höhe misst, dessen Augen so unergründlich sind wie die Smaragde des Himalaja. Frage ihn, Sahib.“

Der treue Schikari geht.

Sir Kennaths Blick ruht auf dem Bildnis der Toten. Ihre Augen waren gross, länglich und von dunklem Blond. Sie hielten den Beschauer magisch fest, ohne sich ihm selbst jemals gefangen zu geben. Die Brauen spannten sich darüber wie zierliche Lackbogen, flüchtig und schnell beweglich, die schmerzliche Süsse um den mädchenhaften Mund steigerte den Eindruck einer Seele, die, stets beschwingt, dem Leben bald traurig entgegenfliegt, bald mit gebrochenen Flügeln ihm entflieht ...

Bei diesen Gedanken senkt Sir Kennath den Kopf auf die Hände. Denn Lady Kennath hat in der Blüte ihres Lebens ihrem Leben selbst ein Endegesetzt — und nie konnte ihr Gatte erfahren, was sie zu dieser Flucht aus einer harmonischen Ehe bewogen hatte. Was konnte ihr fehlen?

Tochter eines schottischen Grossgrundbesitzers aus altem Adel, war sie selbst sehr reich. Ihre Mutter freilich — hier zieht fahle Blässe über das braune Gesicht des Engländers — ihre Mutter war die berühmte Schulreiterin Viktoria Maria Sulfon gewesen, und beide, Vater und Mutter, hat ein unbekanntes grausames Geschick verschlungen.

Sir Kennath ist wieder allein in der Einsamkeit mit seinem Schmerz und seiner Trauer, die wie das Fieber in den Dschungeln in ihm wütet.

Fieber?

Was ist das? Was sieht er?

Fieber?

Eine Vision?

Ein Gesicht?

Wie er scheu hinunterblickt zu dem herabgestürzten Bildnis, da löst sich aus dem fahlen Dunkel ein Schatten. Ein Tier. Sir Kennath hat nicht das Bewusstsein, dass dieser geschmeidige Leib einem Leoparden angehört. Und doch ist es ein Leopard, der unhörbar durch die blaue Finsternis schreitet. Seine Lichter leuchten hinüber zu dem Einsamen. Eine unendliche Wehmut ergreift ihn. Schmerz ohnegleichen. Und Furcht. Unheimliches Bangen, Grauen erschüttern ihn. Seine Augen sind glanzlos, als hätten sie ihr Licht nach innen in seine Seele gesandt. Vielleicht sieht nur seine Seele, was keines Sterblichen Auge erblicken würde. Dieses Tier, sonst gefürchtet, gejagt, gehetzt und gehasst, dieses Tier blickt ihn an in unbeschreiblicher Güte, mit einem Ausdruck himmlischr Sanftheit. Dieser überirdische Glanz senkt sich schmerzhaft und glühend in das Herz des Mannes in dieser Nacht der Wunder.

Er ist losgelöst von aller Nüchternheit des Tages. Er weiss nichts von Logik, Sinn, Philosophie. Die Welt der Mathematik und Menschenweisheit ist nicht mehr.

Seine Seele schaut und fühlt, und nur die Seele denkt im Gefühl. Und dieses Gefühl ist Musik von sinnbetörendem Wohlklang, sie trägt auf ihren Wellen alles Leid der Erde.

Aber dieses ist die höchste Harmonie der Geistigkeit.

Und er, der Europäer, im Banne dieser überirdischen Güte, dieser Hingabe alles Sein, dieser Verlöschtheit alles Irdischen, denkt an Mary, die Tote. Dies sind Marys Augen, als sie starb. Dieses Tier in der Nacht der Legende ist Mary, und eine Sehnsucht ergreift ihn, Sehnsucht von solcher Grenzenlosigkeit, dass sie ihn wie das Himmelsgewölbe umfängt und er sich hineinstürzt in die Unendlichkeit des Leides.

„Mary! Liebe, Geliebte! Gütige! Tote! Du bist gekommen! Ich sehne mich! Ich liebe dich! Ich suche dich! Äonen vielleicht, Äonen! Mary!“

Er streckt die Arme aus. Ein Atem streift ihn. Rhododendronluft weht durch das Zimmer. Eine Kältewelle stürzt herein. Der Gaurisankar scheint den Odem seiner Gletscher auszuhauchen.

Sir Kennath schauert.

War es ein Atemzug nur — sind Stunden vergangen? Alles ist wieder Nebel, Nebel und Nacht und Mond — das märchenhafte Tier mit den Menschenaugen ist nicht mehr — aufstöhnend schlägt Sir Kennath die Hände vors Gesicht und weint.

Er hat einen Blick, einen kurzen Blick in die furchtbaren Geheimnisse des Lebens und des Todes getan — aber er kann sie nicht deuten.

Ein Gesicht — —?

Wahrheit?

Fieber?

Vision?

Nur die Erleuchteten kennen die Grenze. Nur sie haben das Wissen. —

Doch zurück!

Zurück in den Urwald!

3.

Sekunden nur sind vergangen zwischen dem Sterben im Urwald und dem Gesicht des Engländers. Sekunden. Ewigkeitsflug — —

Maha, der Leopard, ist tot!

Fünf Kugeln haben Maha durchbohrt.

Hingestürzt ist das Weibkind über das getroffene Tier, der Pranken nicht achtend, die im Todeskampfe der geliebten Herrin Wunden schlagen.

Radanikas laute Klagen lassen den Urwald leise erbeben. Schluchzen erfüllt die Luft. Die Nacht wirft sich wie eine verzweifelte Mutter über Tiere und Menschen. Der Himmel wird dunkel, smaragdgrüne Sterne scheuchen das letzte Veilchenlicht vom Rande des Horizonts. Das wilde Heer der Dschungeln sammelt sich in mörderischem Kampfruf. Tiger, Leoparden, Elefanten und Büffel, Raubvögel und Nachtgetier. Schon schwirren die Vampire, fliegende Hunde, als Vorboten der Rächer um die Köpfe der Schänder der Nacht.

Zu spät! Zu spät!

Die Räuber haben sich durch Zeichen verständigt. Sie haben die Beute eingekreist. Plötzlich wirft einer Radanika von hinten zu Boden.

Aber wie selbst die unschuldige Gazelle, aus letztem Schlupfwinkel gescheucht, den gefürchteten Gegner annimmt und den letzten Kampf mit Todesverachtung auskämpft, so greift die Gestellte jetzt die herkulischen Männer an. Doch sie wird von einem surrenden Seil im Fluge erreicht. Der Strick presst ihr die Arme an die Hüften. Sie stürzt hilflos, schon ringelt das Tau sich um ihre Knie. Wie eine Kokosnuss rollt sie den Männern zu Füssen. Sie reissen sie hoch. Schleifen sie durch Tümpel und Gras. In der Nähe wartet ein Wagen, mit stumpfen breitnackigen Wasserbüffeln bespannt. Peitschen knallen. Die Nacht wird finster, Gram senkt sich über das Land.

Das Tarai hat seine Königin verloren.

Denn geheimnisvoll, rätselverrankt, tief und bunt wie der Urwald ist Radanikas Geschichte.

Die Ballade von der Königin der Dschungeln.

Die blaue Dämmerung ist schnell in einer milchweissen Sternennacht untergegangen.

Der alte weibliche Leopard erhebt sich von seinem Lager. Diese riesige Katze aus Java ist ein äusserst seltenes, schönes Exemplar aus der Familie der echten Leoparden. Mit leichten Schritten schleicht sie dahin durch die duftschwere Tropennacht, durch ein üppiges Blütenmeer, durch Bambus und leuchtendgrüne Lianen. Von Zeit zu Zeit macht sie halt und zieht den Windgeruch ein.

Ein enttäuschtes Miauen tönt ganz leise durch die Stille. Laut genug ist es, um einige Affen aufzuschrecken, die schrille Warnungsrufe ausstossen und plötzlich den Urwald in weiter Runde in Alarm versetzen.

Mit königlicher Hoheit schreitet die Leopardin weiter durch das honigfarbene Röhricht. Die Flanken zittern wie in heftiger Erregung.

Plötzlich hebt sie den Kopf.

Hat Witterung.

Furchtbare Aufregung bemächtigt sich des mächtigen Körpers. Die Lichter blitzen heiss und tückisch. Langgezogenes Brüllen scheucht alles Leben von den Tränken.

In langen Sätzen schnellt die alte Leopardin sich vorwärts, erreicht den Waldsaum, stutzt, lauscht, duckt sich dicht auf die Erde.

Dann spannen sich die eisenharten Muskeln: Die Leopardin hat ihr totes Kind eräugt. Mit einem gewaltigen Satz ist sie an dem Platz, wo sich kurz vorher die Tragödie des Sterbens abgespielt hat.

Ihr markerschütterndes Heulen kann das Junge nicht erwecken. — Im Scheine der Sterne leuchten die blutigen Flecken auf dem Fell der toten jungen Leopardin wie grosse Blumen. Roter Schaum tropft aus dem Maule.

Ein dumpfes Röcheln kommt aus der Kehle der Mutter.

Lange schnüffelt die Leopardin an ihrem Jungen herum. Die gebrochenen Augen in dem grossen, runden Kopf geben ihr letzte Gewissheit. Ihre Vorderpranke hebt eine Hintertatze des Jungen etwas in die Höhe. Sie ist schlaff und leblos wie bei einer erlegten Antilope. Umsonst ist das Klagegeheul der Überlebenden, die sich fassungslos neben den leblosen Körper niederlässt, die glühenden Augen auf das tote Tier geheftet. Umsonst ist ihr schnaubendes Totenlied. Plötzlich aber geht es in abgerissenes Wutgeschrei über. Die Leopardin hat die zweite Fährte entdeckt.

Das mächtige Tier richtet sich auf. Blickt eine Weile mit irrlichternden Augen in die Richtung, in der die Menschenräuber abgezogen sind. Dann nimmt die alte Leopardin mit fliegenden Flanken die Verfolgung der Menschen auf, die ihr zweites Junges, Radanika, das Menschenkind, mit sich geschleppt haben.

Schon strömt das Rosenlicht durch das nächtliche Dunkel über den Horizont, bricht auf wie eine Knospe und entfaltet seine grossen Blütenblätter in alle Windrichtungen, dass der weite Himmel davon übersät ist. Da steht die Leopardin auf einer fahlen Felskuppe, prächtig hingemeisselt an die steinerne Wand wie ein Relief an dem uralten Grabe des Ptahhotep auf dem Pyramidenfeld.

Ganz ruhig liegen die Flanken, obgleich ein nie getaner Lauf hinter dem Tiere liegt, das längst nicht mehr die Geschwindigkeit ferner Jahre hat. Tiger und Panther würden scheu an ihr vorüberziehen, könnten sie die stammverwandte Riesenkatze in diesem Augenblick sehen. Aber schon hat der erste Lichtstrahl die Tiere wieder in ihre Verstecke gejagt. Nur Papageien schaukeln sich auf den Ästen, ein paar Affen sitzen mit neugierigen Augen herum und warten, was werden wird. Sie verfolgen erstaunt die kleine Karawane tief unten auf der Strasse: den verhängten Ochsenwagen, die Hunde, eine Anzahl Männer.

Die Leopardin, ein majestätisches Tier, fällt durch eine Merkwürdigkeit vor allen anderen Tieren der Dschungeln auf: einen silbernen Reifen trägt sie um den Hals, der hell aufglitzert im Schein des erwachten Tages.

Dieses silberne Halsband leuchtet in der Sonne, das Tageslicht lässt eine seltsame Inschrift hervortreten. Doch die sensationslüsternen Affen haben keine Zeit, sich länger zu wundern. Atemlos sehen sie auf das Schauspiel in der Tiefe.

Die Leopardin nähert sich mit mächtigen Sprüngen dem verdeckten Ochsenkarren. Die Männer unten schreien sich Warnungsrufe zu, versuchen, zu ihren Gewehren zu gelangen. Da hier am Rande der Dschungeln sich seit Menschengedenken kein Raubtier mehr gezeigt hat, so haben sie alle Vorsicht ausser acht gelassen und ihre Waffen auf das Gefährt geladen, um, Betel kauend und schwatzend, durch keine Last behindert, sorglos ihre Strasse zu ziehen.

Das gewaltige Tier hat sich zwischen Wagen und Räuber geworfen. So ist es ihnen unmöglich, zu den Waffen zu gelangen. Aber im gleichen Augenblick stellen sich der Leopardin zwei Feinde entgegen, die mit lautem Bellen und Kläffen ihre Aufmerksamkeit von den Menschen abziehen: zwei Riesendoggen, die den Wagen begleiten.

Ehe es sich die Leopardin versieht, hängt eine schwarze Dogge an ihrer Flanke und verbeisst sich in die Muskeln. Die andere, buntgefleckt, schnappt mit heiserem Heulen blitzschnell nach der Kehle des Urfeindes. Aber die beiden Hunde haben die Gewandtheit ihrer Gegnerin völlig unterschätzt. Ein einziger Tatzenhieb schleudert die gefleckte Dogge mit aufgerissenen Flanken mehr als zwei Meter weit in den zitronengelben Staub, der sich mit Blutperlen rötet. Die Läufe tragen den tödlich verwundeten Hund noch sekundenlang, doch dann windet er sich in Todesqual und Verenden.

Den zweiten hat die Leopardin nicht so schnell abschütteln können. Seine mächtigen Fangzähne haben ihr eine starke Wunde gegraben. Nun aber dreht sich das Raubtier mit solcher Geschwindigkeit, dass der verbissene Hund, dessen Zähne das Fell nicht haben aufreissen können, hoch über den bogenförmig gespannten Rücken seines Gegners hinweggeschleudert wird. Das rasende Tier greift noch einmal an. Doch wie es jetzt in die schillernden Lichter und die blossliegenden Zähne der Leopardin blickt, erfasst es plötzlich panische Furcht. Jahrhundertelange Zucht in der Gefangenschaft hat die Wildheit seiner Rasse erschlafft. Die Dogge sucht zu entkommen, da fliegt ihr Feind wie ein goldenes Geschoss durch die Luft. Ein hohes Aufheulen, dann sackt der gewaltige Hundekörper mit durchschlagenem Rückgrat in den Sand.

Bebend vor Kampfeslust sieht die Leopardin sich um. Die Ochsen sind in entsetztem Trab geflüchtet. In blindem Entsetzen reissen sie Joch und Karren mit sich über die endlose Strasse. Die Räuber sind nachgelaufen, um endlich zu ihren Gewehren zu gelangen. Die Salve, die sie der Leopardin entgegensenden, ist zu unüberlegt abgegeben, um ihr den Tod zu bringen. Wohl aber verwunden sie zwei Kugeln. Auch die durch den Hund gerissene Wunde schmerzt sie rasend — überdies blendet sie das ungewohnte Tageslicht und macht sie unsicher. Mit einem Satz, der selbst den Schützen einen lauten Ausruf der Bewunderung abnötigt, rettet sich das alte Tier auf die Felsen und in den schützenden Wald.

Todesmatt, ohne Atem, sinkt sie mit schlagenden Flanken in die Dunkelheit der Dschungeln. —

4.

„Dreihundert Rupien“, sagt der Negrito zu dem Palastaufseher. Feilschend stehen sie im Vorhof zum Harem. Auf der einen Seite liegt das stets verschlossene Tor, das in die Gärten des Fürsten führt, auf der anderen Seite der Palast, milchweisser Marmor, von Rosenfarben umschwebt. Fliehende Bogen, Söller, Galerien, Tore, eine Moschee in Gold und Azur. Wände mit Blumenornamenten. Arabesken in funkelnden Edelsteinen. Ein Märchen in Marmor, geschützt von Mauern aus rotem Sandstein mit Türmen und Türmchen.

In dem Park Säulenreihen und steinerne Treppenfluchten. Gigantische Deodarzedern, die königlichen Bäume, göttlich verehrt von den Bergbewohnern, Riesenbananen und Palmköniginnen, belebt von Papageien und Sonnenvögeln. In den Zweigen der rotblühenden Pracht des Regenbaumes singt die Bulbul, die indische Nachtigall. Über allen Gärten die berauschenden Düfte des Rhododendron. Scharlachroter Gibiskus wechselt mit den brennenden, todbringenden Aritabeeren.

„Hundert“, beharrt der Palastwächter. Seine tückischen Augen schielen unter den weissen Brauen zum Haupttor, unter dem eine Gruppe Männer um eine farbenbunte Ekka steht. Von dem Baldachin fallen dichte Vorhänge nieder.

„Zweihundertfünfzig“, antwortet der Neger mit schmeichelnder Stimme. Der Führer der Räuber hat ein grobes, schwarzes Gesicht. Er ist ein Minkopies von den Andamanen. Brahma mag wissen, welche Abenteuer ihn von den Inseln auf das ostindische Festland verschlagen haben. Der alte Palasthüter, dem die Versorgung des Harems untersteht, hat die Schönheit in der Sänfte bereits in Augenschein genommen. Er braucht die Menschenjäger, denen zu jeder Stunde, wenn sie Briten oder Niederländern in die Hände fallen, der Galgen sicher ist.

Schliesslich einigt man sich auf zweihundert Rupien. Die Sänfte wird in den inneren Hof gebracht. Die Räuber verlassen das Gebiet des Radscha. Kaum ist das Tor wieder geschlossen, da stürzen die herumlungernden Diener herbei, reissen auf Befehl Randschits, des Palastwächters, die Vorhänge zurück und heben die Gefesselte heraus.

Radanika ist halb von Sinnen. Man trägt sie ins Innere des Frauenhauses.

Da fühlt sie sich plötzlich frei, schlägt die Augen auf und mustert ihre neue Umgebung.

In einer weiten, kühlen Marmorhalle, von Arkaden umrahmt, plätschert ein Springbrunnen in einem grossen Bassin. Ein Dutzend Frauen, eben noch mit Schwatzen, Lachen und Girren beschäftigt, sitzen und stehen umher und betrachten mit aufdringlicher Neugierde die neu Angekommene.

Eine Afridin aus den Salzsümpfen Afghanistans bricht das lastende Schweigen mit einem schrillen Gelächter:

„Seht doch, seht! Sie ist halb weiss, halb braun. Dies Gewächs weiss sicher selbst nicht, aus welch niederer Kaste es herkommt. Man hat es wohl aufgelesen bei den Unreinen oder Aussätzigen!“

Gelächter antwortet.

„Ihr werdet sehen, sie ist ein Paria“, ruft ein Weib aus Ceylon. „Eine Tschandal ist sie, aus der letzten schmutzigen Hindukaste. Oder gar eine Rodia, eine verdammte Singhalesin der Perleninsel, die kein Tamule berühren würde, ohne sich wochenlang zu reinigen!“