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Fallstellen junger Liebe Monsieur Grandvalet duldet die Beziehung seiner geliebten Tochter zu dem unsteten Émile nicht, aber nach einer Drohung zündet Émile das Haus der Grandvalets an und flüchtet nach Paris. Bald holt er Juliette nach und sie hinterlässt ihren Eltern nur einen beunruhigenden Brief. Doch in Paris schlägt rasch die Realität zu, das Leben ist hart und schnell schleichen sich die Zweifel in die junge Beziehung ein. Ein spannender Roman des noch jungen Simenon.
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Seitenzahl: 171
Georges Simenon
Die Selbstmörder
Roman
Aus dem Französischen von Linde Birk
Atlantik
Wie jeden Abend, wenn sie sich von Bachelin trennte, überquerte Juliette hastig die Straße und kramte dabei schon ängstlich und ungeschickt in ihrer Handtasche, erreichte dann die Türschwelle und steckte den Schlüssel klimpernd ins Schloss.
Als die Tür aufsprang, bildete sich ein helles Rechteck, das sich immer mehr verjüngte und schließlich gleichzeitig mit dem jungen Mädchen verschwand.
Die Tür war grün. Auf einem mit Reißnägeln befestigten Schild stand: Erdgeschoss zu vermieten. Es fiel eiskalter Regen. Bachelin triefte vor Nässe, selbst die Hände in seinen Taschen waren nass.
Es war das letzte Haus in der Rue Creuse. Die beiden beleuchteten Fenster im ersten Stock bildeten außer einer Gaslaterne die einzige Lichtquelle in der dunklen Straße, auf die das Wasser herabstürzte.
Bachelin wusste, dass Juliette jetzt die Treppe hinaufstieg. Auch sie war durchnässt, sie hatte wundgeküsste Lippen und hielt ihre Notenmappe umklammert. Er ging nie weg, bevor er sie hinter dem gelben Vorhang vorübergehen sah.
Aber die Tür war gerade erst zugefallen. Juliette befand sich erst auf der vierten oder fünften Stufe. Da wurde der Vorhang beiseitegeschoben, und man konnte eine magere Männergestalt erkennen, die langsam ein Jagdgewehr emporhob.
Der Schatten machte keine Anstalten zu zielen und fuchtelte auch nicht mit der Waffe herum. Er zeigte sie einfach wie ein Emblem, und das war so unerwartet und passte auch so wenig zu dem friedlichen Rahmen des Fensters, dass Bachelin von Panik erfasst bis zur beleuchteten Kreuzung lief. Als er dann beruhigt vom regen Betrieb, der auf der Geschäftsstraße herrschte, stehen blieb, wurde ihm bewusst, dass er gerannt war; nun aber ging er mit glühenden Wangen und hochroten Ohren ganz ruhig weiter.
Er hatte Angst gehabt! Der kleine Monsieur Grandvalet mit den stets zusammengekniffenen Lippen hatte ihn Fersengeld geben sehen! Und lachte jetzt im Esszimmer, wo Juliette gerade ihre Noten aufs Klavier legte, hämisch vor sich hin! Er zeigte seiner Tochter bestimmt das Gewehr, das Fenster und den Ausblick auf die regennasse Rue Creuse.
»Der Angsthase ist getürmt!«
Sein Regenmantel war an den Schultern ganz durchnässt, und Bachelin hatte Fieber. Seine Pupillen wurden immer kleiner und starrer, seine Nase vorspringender, sein Kinn spitzer.
Die Welt, in die er jetzt mit zusammengebissenen Zähnen eintauchte, verlor den tröstlichen Halt des Realen. Das letzte positive Bild war das der grünen Tür und des Schildes mit dem Hinweis auf das zu vermietende Erdgeschoss. Mit der Gestalt und dem Gewehr am erleuchteten Fenster begann der Bereich des Phantastischen, in dem Monsieur Grandvalet eher die Rolle eines niederträchtigen Gnoms als die eines Schalterangestellten beim Crédit Lyonnais spielte.
Juliette hatte gesagt:
»Wir dürfen uns nicht mehr treffen. Mein Vater leidet zu sehr darunter.«
Als sie das sagte, stand sie von den Knien bis zur Stirn eng an Bachelin gepresst da, beider Lippen hatten sich gerade voneinander gelöst, ihre nassen Haare waren ineinander verflochten, und die Wärme ihrer Haut, das Beben, das ihnen durch Brust und Bauch ging, drangen durch den Stoff.
Was hatte er darauf geantwortet? Ach, ja! Er hatte mit zusammengezogenen Brauen und zu Boden gerichtetem Blick gesagt:
»Da bringe ich uns lieber beide um!«
Sie hatte das nicht geglaubt, aber ihre Hand hatte trotzdem gezittert.
»Du wirst schon sehen, ich schwöre dir, dann gibt es ein Unglück!«
Und dann war er davongelaufen, als er die Doppelflinte gesehen hatte!
Entschlossen wie jemand, der etwas Dringendes zu erledigen hat, schritt er nun weiter, doch er wusste gar nicht, wohin er gehen wollte. Sein Fieber stieg weiter. Er reizte seinen Gesundheitszustand, so wie man einen kranken Zahn peinigt. Die Dinge und die Leute waren übernatürlich groß, und wie er die Stadt so mit Riesenschritten durchmaß, kam er sich furchterregend vor.
Die vertrauten Straßen von Nevers, die Place Carnot, das Hôtel de Ville, in dem sich sein Büro befand, die Geschäfte, die er alle kannte, und dann die lange Bahnhofstraße machten jetzt einen unheimlichen Eindruck, den die glänzenden Pflastersteine, die Regenschlieren, das verschwommen schimmernde Licht und die Rücken der ins Trockene flüchtenden Passanten noch verstärkten.
Nachdem er die Tür zum Café de la Paix aufgestoßen hatte, wo seine Freunde Karten spielten, blieb Émile Bachelin einen Augenblick lang triefend, mit starrem Blick und eingezogenem Nacken stehen. Von irgendwoher ertönte ein Lachen.
»Was trinkst du?«
»Einen Grog.«
»Hat dich deine Verlobte in diesen Zustand versetzt?«
Er fühlte sich noch immer wie im Traum, denn bestimmte Personen und Gegenstände traten mit peinlicher Deutlichkeit hervor, während andere aus unerfindlichen Gründen im Dunkel blieben.
Bachelin nahm die Geräusche im Café, den Pfeifen- und Zigarettenrauch, ein zartes Klicken wie von Dominosteinen auf der Marmorplatte eines Tisches undeutlich wahr, aber von manchen Sätzen, die seine Freunde sagten, verstand er kein Wort.
Er erkannte auch Dieudonné vom Paris-Centre kaum, obwohl dieser ihm doch gegenübersaß, und ebenso wenig Berthold, der beim Crédit Lyonnais arbeitete. Hingegen sah er das blasse schmallippige Gesicht des buckligen Jacquemin gestochen scharf vor sich. Jacquemin sagte mit seiner wie aufgezogen klingenden Stimme:
»Wetten, dass auch diese Kleine verrückt nach ihrem Klavierlehrer ist.«
Bachelin verzog keine Miene, aber der Satz prägte sich ihm tief ein.
»Wegen einer Frau darf man sich nicht verrückt machen«, warf nun Lasserre, der Sohn des Radio- und Grammophonhändlers, ein.
Bachelin schluckte eine heiße Flüssigkeit hinunter, die nach Rum und Zitrone schmeckte. Während er trank, sah er sich im Spiegel und krauste die Stirn, um seinen dramatischen Gesichtsausdruck noch zu verstärken.
Er hatte ein mageres Jungengesicht mit hervortretenden Zügen, tiefliegenden Augen und unreiner Haut. Sein sehr langes, schmutzig blondes Haar verlieh ihm das Aussehen eines armen und ungesunden Poeten.
»Noch einen Grog, bitte!«
Das erste Glas hatte ihn aufgewärmt. Die Welt wurde immer seltsamer. Neben seinem Spiegelbild entdeckte Bachelin Olgas Kopf. Olga war die Geliebte eines Obersten und verbrachte ihre Nachmittage immer am selben Platz, wo sie Zeitungen las oder Briefe schrieb oder auch, in ihren Pelzmantel gehüllt, einfach nur vor sich hin sah.
Ihre Blicke kreuzten sich, und Bachelin begriff, dass er an diesem Abend wohl ziemlich beängstigend aussah.
Seine Freunde spielten Karten. Der Kellner brachte ihm den zweiten Grog. Von den Tischen und Bänken stieg noch immer Lärm auf, in den sich der Rauch und das Bullern des Ofens mischten, während man von draußen das Pfeifen eines in den Bahnhof einfahrenden Zuges hörte.
Als er an ihre Türschwelle dachte, hätte Bachelin plötzlich fast losgeweint, denn Juliette und er hatten ihre ganz bestimmte Türschwelle. Vorher aber, um sieben Uhr, wartete er immer in der Rue des Ardilliers, wo sie ihre Klavierstunden hatte. Wenn sie herauskam, winkte sie ihm leicht zu, und er holte sie ein paar Meter weiter entfernt in einer ruhigeren Straße ein. Er küsste sie gleich zweimal, fünfmal, zehnmal, fasste sie dann um die Taille und begleitete sie nach Hause. Auf ihrem Weg, der durch die dunklen Seitenstraßen führte, gingen sie immer dicht an den Häusern entlang.
Ihre Türschwelle lag in der Rue Creuse, fünfzig Meter von Juliettes Haus entfernt und nicht zu nah an einer Straßenlaterne. Sie lehnten sich an die Haustür und standen so eng umschlungen da, dass Vorübergehende sie für eine einzige Gestalt halten mussten.
Auch an diesem Tag war genau über ihnen im ersten Stock ein Fenster aufgegangen. Daran waren sie nun schon gewöhnt, es machte ihnen keine Angst mehr. Sie wussten, dass sich da immer eine Alte herausbeugte, die ganze Zeit über, solange sie da waren, unbeweglich verharrte und dann, Verwünschungen murmelnd, das Fenster wieder schloss.
Eines Tages würde sie sich bestimmt einmal so weit herausbeugen, dass sie wie eine überreife Pflaume auf den Gehsteig plumpste.
»Willst du mich ablösen?«, fragte Lasserre plötzlich, weil er keine Lust mehr zum Weiterspielen hatte.
»Nein!«
Er betrachtete sich immer noch im Spiegel links neben Olgas Gesicht, das wiederum ihn beobachtete. Er hatte sein zweites Glas geleert und bestellte sich noch ein weiteres.
»Das Trinken tröstet einen über die Frauen hinweg!«, sagte der bucklige Jacquemin, dessen Mund sich wie ein langer Riss quer durch sein kreideweißes Gesicht zog.
Juliette war nicht verzweifelt gewesen, als sie ihm zur Beruhigung den Arm um den Hals gelegt hatte und sagte:
»Hör zu, Émile, es ist besser, du kommst nicht mehr, zumindest eine Zeitlang. Mein Vater ist schon ganz krank. Er stellt sich die fürchterlichsten Dinge vor.«
Sie standen im Regen. Durchsichtige Tropfen fielen von Bachelins Hut herab und rollten über die Wange des jungen Mädchens mit seiner zugleich kindlichen und ernsten Miene und den stets ruhig blickenden Augen.
»Sei so nett. Vielleicht geht es später wieder.«
Er konnte sich nicht erinnern, was er geantwortet hatte. Unzusammenhängende Sätze! Er hatte sie angefleht und beschimpft! Und er hatte sogar vorgeschlagen, Monsieur Grandvalet sofort aufzusuchen und ihn um die Hand seiner Tochter zu bitten.
»Das ist unmöglich«, hatte Juliette sanft und mit einem traurigen, resignierten Lächeln erwidert.
Darauf hatte er mit flackerndem Blick geschworen, dass es bestimmt zu einem Unglück kommen würde. Und jetzt erregte er sich fast noch mehr beim Gedanken an das Gewehr, als wenn er an Juliette dachte. Man sah ihm sofort an, dass in diesen Minuten Außergewöhnliches in ihm vorging, und Olga, ihm gegenüber, ließ ihn nicht mehr aus den Augen.
»Vier Damen …«, verkündete Dieudonné.
Und Berthold vom Crédit Lyonnais, ein Kollege Monsieur Grandvalets, murmelte, während er seine Karten ordnete:
»Weiß der gute Mann überhaupt, dass du mit seiner Tochter gehst?«
»Warum fragst du?«, fragte Bachelin wütend zurück.
»Nur so!«
»Warum fragst du?«
»Einfach so. Das sind eingebildete Leute, die möchten doch lieber, dass sie den stellvertretenden Direktor der Filiale heiratet.«
Bachelin fuhr nicht auf, aber – und das war schlimmer – mit diesen Sätzen wurde seine Wut immer weiter angeheizt, bis seine Knie zu zittern anfingen.
»Als du uns erzählt hast, dass er einverstanden sei, konnte ich das gar nicht glauben.«
»Wie recht du hattest«, erwiderte er.
Und lächelte. Er sah dieses Lächeln im Spiegel und war zufrieden damit.
Er hatte gerade eine Idee gehabt und einen Entschluss gefasst und blickte sich nun von hoch oben und aus großer Ferne um, denn er fühlte, dass die anderen ihn nicht mehr verstehen konnten.
»Noch einen Grog, bitte!«
Er dachte:
Sie halten mich für betrunken, dabei war ich noch nie so klar im Kopf. Morgen werden sie es merken!
Es war kurz nach elf, als sie sich an der Place Carnot mit hochgeschlagenen Mantelkragen und den Händen in den Taschen voneinander verabschiedeten. Die Stadt schlief schon. Nur eine Tankstelle an der Ecke der Rue de Paris hatte noch offen, die weiße Scheibe der Benzinpumpe schien in der Nacht zu schweben.
»Schaffst du es noch, allein nach Hause zu gehen?«, presste der Bucklige zwischen den Zähnen hervor.
Bachelin verstand das als Anspielung, denn er bewohnte mit seiner Mutter den dritten Stock eines alten Hauses in einer armseligen Straße hinter dem Hôtel de Ville. Und wie alle wussten, verkaufte seine Mutter auf der Straße Zeitungen.
»Keine Sorge!«
Er schwankte ein wenig. Berthold ging mit Lasserre weiter.
In den menschenleeren Straßen hörte man das Rauschen des Regens deutlicher. An Kirchtürmen schlugen Uhren. Der Zeiger am Zifferblatt des Palais de Justice bewegte sich jede Minute ruckartig vorwärts.
Es war zwei Uhr, als die Leute von Feueralarm aus dem Schlaf gerissen wurden. Noch lange danach waren von irgendwoher in der Stadt Geräusche zu vernehmen.
Dann brach ein Tag an, der ebenso verregnet war wie der vorangegangene. Zeitungsjungen liefen durch die Straßen und riefen ein Extrablatt des Paris-Centre aus.
An der Ecke der Rue Creuse errichteten Polizisten eine Sperre, um die Schaulustigen aufzuhalten. Der Bürgermeister, der Polizeikommissar und der Sonderkommissar schlugen fröstelnd und mit ernster Miene die Füße aneinander, unterhielten sich halblaut und betraten hin und wieder das Haus.
Die grüne Tür mit dem Schild, auf dem die Erdgeschosswohnung zur Miete angeboten worden war, war weg, oder vielmehr, sie lag auf dem Gehsteig; sie war nur noch ein verkohltes Brett.
Monsieur Grandvalet ging im Nachbarhaus, wo er Aufnahme gefunden hatte, mit den Händen auf dem Rücken auf und ab. Er trug einen schwarzen Mantel über dem Schlafanzug. Seine Frau lag in einem Bett, das nicht das ihre war.
Juliette weinte nicht mehr. Sie hatte so viel geweint, dass ihre Augen jetzt leer und ihre Lider rot waren wie rohes Fleisch.
Man hatte neben der Tür zwei von den Flammen verformte Benzinkanister gefunden. Um neun Uhr kam der Tankwart von der Rue de Paris, um sie zu identifizieren.
»Ich habe sie gegen Mitternacht einem jungen Mann verkauft, der einen hellen Regenmantel anhatte.«
Um elf Uhr wusste man alles. Juliette hatte gefügig wie ein oft geprügeltes Kind von ihrem letzten Treffen erzählt. Monsieur Grandvalet hatte würdevoll und steif die Geschichte mit der Jagdflinte gestanden. Und der Kellner aus dem Café de la Paix hatte ausgesagt, dass Bachelin äußerst erregt war, als er gegen elf Uhr aufgebrochen war.
Der Anschlag ließ sich in allen Einzelheiten rekonstruieren. Zwischen elf Uhr und Mitternacht war Bachelin allein durch die Straßen geirrt und hatte nur eine Stippvisite in einem hundert Meter vom Hôtel de Ville entfernten Bordell gemacht, um dort noch einen Grog zu trinken.
Um Mitternacht hatte er die beiden Benzinkanister gekauft. Was hatte er dann bis zwei Uhr getrieben? Erst um diese Uhrzeit nämlich begann die Haustür zu brennen, und bemerkt worden war das Feuer erst, als Rauch in die Zimmer des ersten Stockwerks drang.
Dann war alles drunter und drüber gegangen, die Grandvalets flohen durchs Fenster, die Feuerwehrleute kamen und setzten das Haus unter Wasser.
Der Anschlag löste Verwunderung und Befremden aus. Man wagte kaum darüber zu reden, sondern umschrieb das Geschehen nur. In der Zeitung stand:
Es gilt als gesichert, dass Bachelin die Stadt nicht verlassen hat.
Weshalb man denn auch auf der Straße unwillkürlich nach einem jungen Mann im Regenmantel Ausschau hielt. Der Bahnhof wurde überwacht, ebenso die Ausfallstraßen. Polizisten stellten in allen Cafés und Hotels Nachforschungen an und durchsuchten die Zimmer in den Bordellen.
Bis zum Abend hatte man nichts gefunden. Dieudonné, Berthold, Lasserre und der Bucklige spielten nicht Karten, und wenn sie redeten, spitzte Olga, die zwei Meter von ihnen entfernt auf ihrem Stammplatz saß, die Ohren.
Am nächsten Tag erklärte ein Metzger, er habe Bachelin am Loire-Ufer gesehen. Daraufhin ging sofort eine Treibjagd los, aber sie brachte nichts.
In der Rue Creuse wurde eine provisorische Haustür angebracht. Da sie nicht gestrichen war, wirkte sie eher wie ein Bauzaun, und an den Ziegelsteinen der Fassade waren noch große schwarze Brandspuren zu sehen.
Die Grandvalets waren dennoch wieder in ihre Wohnung gezogen. Im ersten Stock hatte das Feuer nichts zerstört.
Die Zeitung fragte:
Wo hat der Schuft, der nur sehr wenig Geld bei sich hat, Unterschlupf gefunden?
Am nächsten Tag dann meldete sich eine Schneiderin auf der Polizeiwache und sagte aus, dass ihr abends auf dem Heimweg vom Kino ein junger Mann im Regenmantel die Handtasche weggerissen habe und Hals über Kopf davongelaufen sei. Die Tasche enthielt drei Hundertfrancscheine und Kleingeld.
Der magere und peinlich genaue Monsieur Grandvalet, der stets wie aus dem Ei gepellt, frisch rasiert und manikürt war, hatte seinen Dienst an der Kasse des Crédit Lyonnais wiederaufgenommen. Dabei setzte er eine ernste, ein wenig schmerzliche, doch stets würdevolle Miene auf, die alle bewunderten.
Bachelin hat letzte Nacht wahrscheinlich in einem Waggon auf dem Güterbahnhof geschlafen.
Mittlerweile waren sieben Tage seit dem Zwischenfall vergangen, und es gab immer noch nichts Neues. Bachelins Mutter, die alle nur Augustine nannten, kam wie gewohnt jeden Morgen zum Paris-Centre, um einen Packen druckfrische Zeitungen abzuholen. Sie trank nicht mehr und nicht weniger als sonst, und wenn jemand den Namen ihres Sohnes aussprach, schniefte sie nur, schüttelte den Kopf und seufzte:
»Lassen Sie mich bloß mit diesem Bengel in Ruhe!«
Juliette ging wieder zur Klavierstunde, aber vorsichtshalber begleitete ihre Mutter sie in die Rue des Ardilliers und wartete dann in der Küche des Klavierlehrers, da dieser kein Vorzimmer besaß. Auf der Straße gingen die beiden immer sehr schnell, oder vielmehr, Madame Grandvalet zerrte ihre Tochter mit sich fort, als würden sie von jemandem verfolgt.
In den ersten Dezembertagen kam dann der große Kälteeinbruch. Auf der Loire trieben Eisschollen. Man fürchtete schon um die Brückenpfeiler, die sich Neugierige jeden Tag besahen. Im Paris-Centre wurden Fotos von Pariser Clochards veröffentlicht, die sich um Kohlebecken auf den Straßen und Quais versammelten.
Inzwischen waren über zwei Monate seit der Nacht vergangen, da man die Feuerwehr in die Rue Creuse hatte rufen müssen. Über den Auslagen der Gemüsehändler hingen jetzt Girlanden von Schnepfen und Wildenten.
Eines Tages schrieb Juliettes Bruder Philippe, der in Paris verheiratet war und in der Rue Championnet wohnte, an seinen Vater:
Ich mag mich täuschen, aber ich meine, den besagten jungen Mann an der Place Clichy gesehen zu haben. Ich bin mir nicht ganz sicher, weil er einen Bart trug. Jedenfalls hat er mir in die Augen gesehen, und wenn er es war, hat er mich auch erkannt.
Er war es tatsächlich, fiebriger und magerer denn je, ein Bachelin, dessen Nerven noch angespannter und dessen Blick noch stechender geworden waren. Er hatte sich einen rötlichen Bart wachsen lassen, der Ähnlichkeit mit einem Christusbart hatte.
Am 28. Dezember saß er um ein Uhr nachts in der Ecke einer kleinen Bar am Boulevard Rochechouart. Er hatte gerade einen Kaffee getrunken. Sein Glas war leer. Nun betrachtete er sich mit eingezogenen Schultern in dem Spiegel hinter der Theke. Als die Tür aufging, schenkte er dem Neuankömmling, den der Kellner mit Monsieur Lucien begrüßte, kaum Aufmerksamkeit.
»Einen Milchkaffee mit Croissants?«
Monsieur Lucien war noch jung. Auch er hatte müde Augen und welke Haut, aber er trug unter einem ausgebeulten Mantel einen sauberen Smoking.
»Und, läuft Ihre Nummer?«
Monsieur Lucien tunkte seine Croissants in den Milchkaffee und aß geräuschvoll, wobei er seinen Kopf vorstreckte, um seine Hemdbrust nicht zu beschmutzen.
»Es ist kalt«, sagte er.
»Was hat das denn mit der Kälte zu tun?«
»Wenn es kalt ist, bleiben die Leute zu Hause und gehen nicht in Nachtclubs.«
Er hatte Bachelin bemerkt. Da sie die beiden einzigen Gäste waren, fragte er ihn:
»Sind Sie auch Künstler?«
»Ich bin Journalist«, erwiderte Bachelin aufs Geratewohl.
»Ich bin Pianist im Ange Vert.«
Er hatte es nicht eilig, wieder in die Kälte des Boulevards hinauszugehen.
»Trinken wir doch einen kleinen Calvados!«
Und an seinen neuen Kumpan gewandt:
»Trinken Sie einen mit?«
Sie saßen eine halbe Stunde lang nebeneinander am Ofen.
»Wo wohnst du?«
»Seit gestern nirgends mehr.«
Monsieur Lucien wunderte sich nicht. Der Patron der Bar ebenfalls nicht.
»Komm mit zu mir. Morgen sehen wir weiter.«
Sie gingen die Rue Lepic hinauf, folgten dann einem Durchgang, überquerten einen Hof und gelangten über eine Treppe in eine Mansarde.
Mitten in der Nacht hatte Monsieur Lucien einmal das Gefühl, dass sich im Raum etwas bewegte. Halb schlafend murmelte er:
»Was ist los?«
»Nichts. Ich suche nur ein Glas Wasser.«
»Im Krug ist welches.«
Bachelin hatte sich nicht ausgezogen, da es keine zweite Decke gab. Um sieben Uhr früh, als es noch nicht ganz hell war, ging er die Rue Lepic hinunter und zwang sich, nicht zu laufen. An der Place Blanche sprang er auf die Plattform eines Autobusses. Am Boulevard Saint-Michel trat er bei einem Trödler ein und tauschte seinen Regenmantel gegen einen taillierten schwarzen Mantel, der ihm zu eng war. Er legte vierzig Franc drauf. So blieben ihm noch dreihundert Franc.
Es war ein seltsamer Zufall. Die Handtasche der Schneiderin hatte etwas mehr als dreihundert Franc enthalten, die gleiche Summe, die er bei dem Pianisten gefunden hatte!
Um elf Uhr war er im Zug nach Nevers. Er stand im Gang und lehnte seine Stirn an die Fensterscheibe.
Und als dann um fünf Uhr nachmittags ein Pfeifen ertönte, sagte die Kassiererin des Café de la Paix wie gewöhnlich, denn das war ein Fixpunkt in ihrem monotonen Tagesablauf:
»Der Zug aus Paris!«
Dieudonné, Berthold, Jacquemin und Lasserre waren gerade hereingekommen. Olga schrieb eifrig einen Brief, an ihrem Pelzmantel steckte ein Veilchensträußchen. Durch die Fensterscheiben sah man die schmutzigen Lichter des Bahnhofs und die Taxis, die sich zum Ausgang der Bahnhofshalle voranschoben.
Es schneite. Die Dächer waren weiß, das Pflaster in manchen Straßen ebenfalls weiß und in anderen schwarz.
»Sequenz!«, verkündete Berthold.
»Vier Buben!«, versetzte der Bucklige.
Lasserre warf Olga über seine Karten hinweg einen verschwörerischen und zärtlichen Blick zu. Sie hatten sich am Vorabend am Ende des Gehsteigs getroffen und waren durch ein und dieselbe Tür verschwunden.
Die Reisenden aus Paris strömten wie in einer Formation, die gerade dabei ist, sich aufzulösen, an den Fenstern vorbei und strebten der Innenstadt zu. Sie wurden von Taxis überholt. Der Kellner stellte die Kaffeemaschine an.
Dann wurde die Tür aufgestoßen und blieb einen Augenblick lang sperrangelweit offen, während nun ein schmaler Kopf auftauchte, der sofort die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich zog.