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Die 49-jährige Witwe Lisa Hansen wünscht sich sehnlichst eine Veränderung in ihrem Leben. Das Erbe einer alten Tante kommt ihr deshalb gerade recht und sie zieht kurzerhand von der Großstadt aufs Land. Doch bereits nach kurzer Zeit bedauert sie ihren Entschluss. Statt der erwarteten ländlichen Idylle findet sie sich in Schwierigkeiten verstrickt, die Lisa an den Rand der Verzweiflung bringen.
Mit Unterstützung ihrer besten Freundin Carola und dem Landarzt Dr. Andreas Roemer kommt sie einem lang gehüteten Familiengeheimnis auf die Spur, durch das ihr Lebensmodell und ihr Selbstverständnis vollkommen aus den Fugen geraten.
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Karin Welters
Die Tanzschule
Lisa Hansens 1. Fall
Roman
LitArt-World Press
Copyright Karin Welters 2018
Die 49jährige Witwe Lisa Hansen wünscht sich sehnlichst eine Veränderung in ihrem Leben. Das Erbe einer alten Tante kommt ihr deshalb gerade recht und sie zieht kurzerhand von der Großstadt aufs Land. Doch bereits nach kurzer Zeit bedauert sie ihren Entschluss. Statt der erwarteten ländlichen Idylle, findet sie sich in Schwierigkeiten verstrickt, die Lisa an den Rand der Verzweiflung bringen.
Mit Unterstützung ihrer besten Freundin Carola und dem Landarzt Dr. Andreas Roemer kommt sie einem lang gehüteten Familiengeheimnis auf die Spur, durch das ihr Lebensmodell und ihr Selbstverständnis vollkommen aus den Fugen geraten.
05. Juli 1993 – Hamburg
„Achtzehn.“ – „Ja.“
„Zwanzig.“ – „Ja.“
„Zwei.“ – „Weg.“
„Ist das alles, Richie?“, grinste Albert und wollte zum Kartenstock greifen.
„Halt!“, rief Matty aus. „Nee, nee, mein Lieber, so schnell schießen die Preußen nicht. Ich sag nämlich Null.“ Matty grinste und zeigte seine Zahnlücke, die Folge einer Schlägerei, in die er vor kurzem geraten war.
„Hab ich“, triumphierte Albert und schob seine Mütze hoch. Noch nie hatte jemand Albert ohne seine dunkelgraue Strickmütze gesehen. Ob er damit auch ins Bett geht?, fragte sich Richie.
Matty grinste. „Bei Richie weiß man ja, dass er immer viel zu vorsichtig ist. Der hat sich noch nie überreizt. Und dann hat er meist drei Jungs und zwei Asse. Bei mir ist das anders, Albert. Ich sage vier.“
„Die halte ich.“
„Und was ist mit 27?“
„Passe“, brummte Albert verärgert. „Jetzt bin ich gespannt, was du drauf hast.“
„Na, was wohl?“, grinste Matty über das ganze Gesicht und kratzte sich an seinem ungepflegten Stoppelbart. „Einen bildschönen Null-Ouvert.“ Er legte die Karten sorgfältig gefächert auf den gescheuerten Holztisch. „Na? Ist das was?“
„So‘n Schiet“, grunzte Richie und warf seine Karten hin.
„Hast du dir wieder mal in die Hosen gemacht?“, wetterte Albert. „Du mit deiner ewigen Zögerei. Aber Menschen, die nicht denken, kriegen ohnehin nix auf die Reihe.“
Noch immer ärgerlich fügte er hinzu: „Na ja, du hast deinem Ruf heute mal wieder alle Ehre gemacht.“
„Lass ihn“, beruhigte Matty seinen Kumpel. „Richie ist nun einmal ein Angsthase.“
„Von wegen!“, empörte sich Richie und strich über sein gescheiteltes Haar. „Ich will nur nicht immer der Dumme sein, der Verlierer.“ Was glauben die eigentlich wen sie vor sich haben? Wenn die wüssten…
„Dabei hatte ich eine bildschöne Kreuz-Flöte, aber leider nur den Kreuz-Buben“, jammerte Albert weiter.
„Ja, mein Lieber“, grinste Matty, „so ist das Leben nun mal.“
Er sammelte die Karten ein und begann, sie zu mischen. Der Wirt brachte die nächste Runde Bier und Korn.
Albert beruhigte sich wieder.
„Na Richie? Dann hast du aber sicher Glück in der Liebe. Was?“, merkte er grinsend an.
Richie reagierte nicht.
„Hör mir bloß mit den Weibern auf“, ächzte Matty. „Die versteht sowieso keiner.“
„Kann ich unterschreiben“, brummte Richie. „Bin froh, dass ich meine losgeworden bin.“
„Aber so ganz ohne geht’s ja auch nicht“, schränkte Albert ein. Er machte eine eindeutige, obszöne Geste und Matty grinste.
„Dafür findet sich doch immer eine“, erwiderte er. Er wandte sich an Richie. „Wie heißt denn deine Derzeitige?“
„Hab keine“, entgegnete Richie. Ja. Es ist frustrierend, wenn man auf dem Trockenen sitzt, dachte er. Es wird Zeit, dass ich mich wieder mal austobe. „Was ist mit Olivia?“, fragte er Albert. „Ist sie immer noch so nervig?“
Albert nickte. „Und ob. Aber ich sag dir… im Bett ist die einfach ‘ne Granate.“
„So eine könnte ich jetzt auch gebrauchen“, murmelte Richie.
Albert schob seine Mütze noch ein Stück höher. „Du, Olivia hat eine neue Freundin. Ich sag dir, Richie, das ist ‘ne richtig scharfe Braut. Die solltest du unbedingt mal kennenlernen?“
„Sagt mal“, mischte sich Matty ein, „wollt ihr weiter über Weiber quatschen oder einen gepflegten Skat dreschen?“
„Weißt du eigentlich“, erwiderte Albert grinsend, „dass sich schon mal jemand totgemischt hat?“
*
Es war nach Mitternacht, als die drei Freunde ihre Deckel mit dem Wirt abrechneten. Vor der Hafenkneipe verabschiedeten sie sich voneinander. „Atschüss“, winkte Matty und machte sich auf den Weg.
Gerade als sich Albert ebenfalls verabschieden wollte, fragte Richie: „Wie heißt denn die Freundin von Olivia?“
„Hm“, brummte Albert und schob an seiner Mütze herum. „Barbara… glaub ich. Kann aber auch Uschi gewesen sein. Warum?“
„Ist die solo? Keinen Freund oder Freier?“
„Nee.“ Albert schüttelte den Kopf. „So eine ist das nicht. Die arbeitet, soviel ich weiß, im Supermarkt.“
„Könntest du uns mal bekanntmachen?“
Albert grinste. „Brauchst also doch mal wieder ‘ne Braut, was?“
„Na ja…“, war alles, was Richie zustande brachte.
„Komm einfach am Samstag vorbei, Barbara oder Uschi, wie immer sie heißt, macht jetzt meiner Liv immer samstags die Haare.“
*
Eine Woche später begegnete er Barbara. Die beiden mochten sich auf Anhieb. Endlich mal eine richtige Frau, dachte Richie. Nicht so ein dünnes Gerippe, bei der man sich blaue Flecken holt.
„Bringst du mich nach Hause?“, fragte Barbara am späten Abend.
Eine solche Einladung ließ sich Richie nicht entgehen.
Als sie ihn vor ihrem Haus auch noch zum Kaffee einlud, war Richies Begeisterung komplett. Sie hat ein hübsches Gesicht und ordentlich Holz vor der Hütte. „Sicher“, grinste er.
Der Kaffee war ein guter Rum mit Cola gemischt und brachte die beiden in Stimmung.
Richie griff mit beiden Händen zu und Barbara stöhnte auf.
Abrupt hielt er inne.
„Was is?“, fragte sie. „Haste‘n Problem?“
„Nee“, erwiderte Richie, „es ist nur… ich mag es gern auf die harte Tour. Was dagegen?“
„Ach…“, grinste Barbara, „ein bisschen Maso? Nee. Mach mal. Ich hab‘s auch gern, wenn ein Mann richtig zur Sache geht.“
Richie ließ sich das nicht zweimal sagen und packte zu. Mit beiden Händen zog er ihre Arme über den Kopf und hielt ihre Handgelenke mit seiner linken Hand eisern umklammert. Mit einem harten Ruck drang er in sie ein. Als sie leise aufschrie, deutete Richie das als Zustimmung zu einem noch härteren Vorgehen. Er presste seine rechte Hand auf ihren Mund und geriet in eine lange nicht mehr gekannte Ekstase. Er ließ jegliche Kontrolle los und gab sich ganz seinen ungebändigten, aufwallenden Lustgefühlen hin. Schließlich sackte er über ihr zusammen und ließ sich auf die Seite rollen. Wie lange hatte er diese Verzückung, diese Geilheit und den Rausch vermissen müssen?
Die Frau muss ich mir unbedingt warm halten, dachte er. Die ist Spitze. Solange sie nicht klammert und von Hochzeit faselt, werden wir herrliche Zeiten haben.
„War‘s gut?“, fragte er und stupste die Frau neben sich an. Doch sie rührte sich nicht. Sie lag auf der Seite und hatte ihm den Rücken zugedreht. Richie drehte sich ebenfalls zur Seite, stützte seinen Kopf auf den angewinkelten Arm und grinste. „Bist wohl erschöpft, wie?“
Die Frau bewegte sich nicht.
Unwillig tippte er mit dem Finger auf ihren Oberarm. „He! Rede mit mir.“
Schließlich schüttelte er sie.
Keine Reaktion.
Verärgert sprang Richie auf, umrundete das Bett und baute sich auf der anderen Seite vor ihr auf. Er erstarrte. Das blau angelaufene Gesicht, die hervorquellenden, weit aufgerissenen Augen, die ins Leere blickten, der weit geöffnete Mund… und… der dunkelrote Abdruck am Hals. Die Frau auf dem Bett war tot.
Richie konnte sich nicht von der Stelle bewegen. Es schien ihm, als hätte er unsichtbare Betonklötze an den Füßen, die ihn an der Stelle festnagelten, an der er stand. Auch sein Gehirn versagte den Dienst. Er war keines vernünftigen Gedankens fähig. Wir haben doch nur unseren Spaß gehabt, schoss es ihm durch den Kopf. Allmählich wich die Betäubung von ihm und er wusste, jetzt gab es was zu tun.
Rasch zog er sich an. Um nicht aufzufallen, ging er mit gemäßigtem Schritt zum Haus, in dem Albert wohnte. Er klingelte, bis Berts Kopf am Fenster in der dritten Etage erschien.
„Hallo?“
„Ich bin‘s. Richie. Mach auf, Bert. Schnell“
Das leise Summen ertönte und Richie drückte gegen die Haustür. Schon im ersten Stock kam ihm Albert entgegen.
„Was’ n los?“
„Ich brauch dich. Zieh dir was an und lass uns Matty holen. Beeil dich.“
Nur ein paar Minuten später kam Albert vor die Tür. Richie wartete ungeduldig.
„Jetzt sag, was los ist!“
Richie hörte den Ärger in der Stimme seines Kumpels.
„Du – es ist was ganz Schlimmes passiert.“
„Das will ich auch hoffen! Mich mitten in der Nacht aus dem Bett holen? Dafür musst du einen verdammt guten Grund haben. Also?“
„Barbara ist tot.“
„Wie? Tot? Mensch, Richie! Wie ist das passiert?“
„Ich weiß es nicht, Bert“, jammerte Richie. „Ich weiß es wirklich nicht. Wir haben richtig schön gepoppt und unheimlich viel Spaß gehabt. Und dann war sie auf einmal tot.“
Albert blieb stehen. „Man stirbt nicht durchs Poppen.“
„Komm, Bert. Lass uns Matty holen. Wir müssen sie… wir müssen sie… wegbringen.“
Schweigend erreichten sie den Altbau, in dem Matty hauste.
Auch er war geschockt, als er hörte, was passiert war.
In Barbaras Wohnung angekommen, gingen sie ins Schlafzimmer und Albert stöhnte. „Oh Mann. Richie! Was hast du angerichtet? Bist du schon wieder ausgerastet?“
„Ich schwöre dir, Bert. Ich hab nichts davon mitgekriegt.“
„Das ist ja dein Problem, Richie“, setzte Matty hinzu. „Ab einem bestimmten Pegel verlierst du völlig die Kontrolle. Dann hakt es bei dir aus. Du kriegst nichts mehr mit.“
„Und ich dachte“, fuhr Albert fort, „du wärst in diesen Club eingetreten. Diesen SM Club… wie hieß er noch?“
„Madame Nina“, ergänzte Matty.
„Bin ich ja auch“, wand sich Richie. „Aber die nehmen mittlerweile Mondpreise. Die kann ich mir nicht mehr leisten.“
„Und jetzt?“, fragte Albert.
„Können wir sie nicht in der Nordsee… begraben?“, stammelte Richie. „Du kannst doch rausfahren, Bert. Wenn Matty uns hilft, können wir das schaffen.“
„Oh Mann“, stöhnte Matty. „Richie! Das ist das letzte Mal, dass ich dir aus der Klemme helfe. Ich bin zwar kein Messdiener, aber das hier ist Mord, mein Lieber. Wenn die uns erwischen, gehen wir alle für viele, viele Jahre in den Knast. Beim nächsten Mal musst du sehen, wie du aus so’ner Nummer rauskommst. Ich mach jedenfalls nicht mehr mit.“
„Matty hat recht“, nickte Albert. „Das ist endgültig das letzte Mal. So weit hast du es noch nie getrieben. Jetzt hast du wirklich die Grenze überschritten. Lass es dir gesagt sein. Nie mehr, Richie. Hörst du? Nie mehr!“
„Ich verspreche es euch“, versprach Richie. „Bitte! Nur noch dieses eine Mal.“
Mit Hilfe von Albert und Matty gelang es ihm, die Frau in einen Teppich zu rollen und ungesehen zum Hafen zu bringen. Mit Alberts Boot fuhren sie hinaus auf die offene See. Albert stoppte den Motor.
„Hier müsste es sein.“
„Was müsste hier sein?“, fragte Richie.
„Die Strömung, du Blödmann. Die Strömung!“
Hamburg – 03. März 2001
Es war einer jener Tage, die Lisa zutiefst verabscheute. Vom Balkonfenster ihrer Eigentumswohnung im fünften Stock blickte sie gedankenverloren über die Stadt. Die tiefhängenden Wolken fegten über die Dächer Hamburgs und gossen ihr Einheitsgrau über der Stadt aus. Lisa war froh, dass sie ihre sämtlichen Einkäufe für das Wochenende bereits erledigt hatte. Wer verließ bei diesem grässlichen Regen freiwillig seine gemütlich warme Stube? Und dann auch noch bei diesem scheußlichen Wind? Nie würde sie begreifen, dass es Menschen gab, die ausgerechnet bei solch einer Wetterlage einen ausgiebigen Spaziergang zu genießen vermochten.
Außer Heinrich – natürlich. Er war die berühmte Ausnahme. Wie oft hatte er seine Vorliebe für das ‚nordische Schmuddelwetter‘ betont, wie er es nannte? Aber Heinrich war anders. Er war eben… Heinrich. Heinrich Petersen, der bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad unterwegs war; der keinen Führerschein besaß; der zu den überzeugtesten Alkoholgegnern gehörte, denen Lisa je begegnet war; der zu den ‚sprachfaulen Nordlichtern‘ zählte, wie Lisa die norddeutsche Mentalität gern umschrieb; und der ihr mächtig auf die Nerven ging, wie sie sich immer häufiger eingestanden hatte.
Allein der Gedanke, ihre gut geheizte, mollig warme Wohnung verlassen zu müssen, ließ Lisa schaudern. Aber, tröstete sie sich, es sind ja nur noch drei Wochen bis zum Frühlingsanfang. Schon bald würde sie ihre Balkonkästen mit fleißigen Lieschen, Stiefmütterchen und Geranien bestücken können.
Während ihr Blick weiter auf der Welt jenseits des Fensters verweilte, fragte sie sich: Was hält mich hier eigentlich noch? Intensiv suchte sie in ihrem Gemüt nach Argumenten.
Vergeblich.
Es wollten sich partout keine Gründe offenbaren.
In der streifenfrei geputzten Scheibe der Balkontür musterte sie ihr Spiegelbild. Die Frau mit dem roten Lockenkopf könnte ihrer Meinung nach ruhig ein paar Kilogramm abnehmen. Aber grundsätzlich, dachte sie, habe ich mich ganz gut gehalten. Sie drehte sich nach rechts und links, um auch ihr Profilbild zu prüfen. Ja, bestätigte sie sich, wenn ich bedenke, dass ich bald das halbe Jahrhundert voll habe, kann ich mich nicht beklagen. Ich bin gesund, habe keine finanziellen Probleme, eine Menge Bekannte… und… mich gut gehalten.
Die Englischübersetzungen, die sie ab und zu für das Ingenieurbüro Körner machte, hielten sie sprachlich fit. Na ja, Volker Körner drängte sie immer häufiger, sich einen Computer mit Internet-Abschluss anzuschaffen. Sie bräuchte die Papiere dann nicht mehr abzuholen. Man würde sie ihr per Mail zusenden. Aber Lisa war glücklich mit ihrer elektrischen Schreibmaschine. Auch kam sie auf diese Weise wenigstens ab und zu vor die Tür. Nein. Eigentlich geht es mir gut.
Dennoch. Das Gefühl des Unbehagens und einer für sie unerklärlichen Rastlosigkeit wollte nicht weichen.
Lisa überlegte, wie sie den Rest des Tages gestalten würde. Der Ausblick auf den Theaterbesuch am Abend munterte sie ein wenig auf. Trotz des Wetters. Sie freute sich auf die Vorstellung, denn die letzte Aufführung vom ‚Fliegenden Holländer‘, an die sie sich erinnerte, lag viele Jahre zurück. Unwillkürlich tauchten die Bilder jenes vergangenen Abends in ihrer Erinnerung auf, denn es war ein ganz besonderer Abend gewesen.
Ludger!
Ja, damals war sie noch glücklich gewesen. Ludger. Die große Liebe ihres Lebens. Obwohl sie mehr als zwanzig Jahre verheiratet gewesen waren, hatte ihre innige Verbundenheit bis zum letzten Tag nichts von ihrem Zauber verloren. Ludger hatte ihre Begeisterung für Theater, Oper und Konzerte uneingeschränkt geteilt. Und an jenem Abend hatten sie nach der Vorstellung ihren zehnten Hochzeitstag gefeiert.
Ja, damals war sie noch glücklich gewesen. Lisa seufzte.
Warum musste er so jung sterben? Er war doch erst 46.
Immer wenn sie an Ludger dachte, meldeten sich unweigerlich ihre Gefühle der Wut, der Ohnmacht und des abgrundtiefen Grolls. Wie war es möglich, dass dieser Mistkerl, der Ludgers Unfall verursacht hatte, nie ermittelt, geschweige denn dingfest gemacht werden konnte?, dachte sie. Wie schafften es solche skrupellosen Mistkerle weiterzuleben? Und das offenbar auch noch ganz ohne Gewissensbisse?
„Nein!“, rief sie sich lautstark zur Ordnung. Sie musste endlich aufhören, der Vergangenheit nachzutrauern. Sie war nun einmal unwiederbringlich vorbei. Außerdem lag Ludgers Unfall nun schon fast acht Jahre zurück. Lisa schob die schmerzhaften Erinnerungen wie immer beiseite und kehrte mit ihren Gedanken zurück in die Gegenwart.
Heute würde sie also wieder den ‚Fliegenden Holländer‘ sehen. Sie war gespannt auf die Aufführung, denn Lisa liebte das Flair des Theaters: die imposanten Kronleuchter, den Blick von der Empore auf die Bühne, den Orchestergraben, das letzte Stimmen der Instrumente der Musiker, das leise Hüsteln einiger Besucher und schließlich das allmählich verlöschende Licht, bevor sich der Vorhang öffnete.
Auf das anschließende Essen mit Heinrich hätte sie an diesem Abend gut und gern verzichten können, aber sie hatte es nicht fertiggebracht, ihm diesen Wunsch abzuschlagen. Sie fühlte sich immer schrecklich unwohl, wenn sie zum Essen Wein bestellte, während er an seinem Sprudelwasser festhielt. Ja, darauf hätte sie an diesem Abend gern verzichtet.
Sie wusste, dass Heinrich nur ihr zuliebe mit ins Theater ging. Schon lange war ihr klar, dass er mit Opern oder Konzerten im Grunde genommen nichts anfangen konnte.
Einerseits war sie froh, dass sie die Beziehung zu ihm vor drei Monaten auf Eis gelegt hatte, wie sie die selbstgewählte Distanz zu ihm zu umschreiben pflegte. Andererseits quälte sie sich mit ihrem schlechten Gewissen herum, denn Heinrich kümmerte sich nach wie vor rührend um sie. Noch immer bemühte er sich, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen und zu erfüllen.
Dennoch. Lisa wusste, dass die gemeinsame Zeit mit Heinrich abgelaufen war. Sie erlebte seine Nähe als erdrückend und belastend, obwohl seine Fürsorge zu Beginn ihrer Beziehung genau das war, was ihr geholfen hatte, sich aus ihrem unfreiwilligen Kokon aus Schmerz, Trauer, Wut, Hilflosigkeit und Kummer zu befreien. Sie hatte sich umsorgt, aufgefangen und behütet, ja regelrecht betüddelt gefühlt. Nach Ludgers Tod hätte ich mir keinen besseren Gefährten wünschen können, dachte sie mit einem Gefühl von Dankbarkeit.
Trotzdem! Irgendetwas in ihrem Inneren hatte sie stets davon abgehalten, eine Liebesbeziehung mit ihm einzugehen. Es war in all den Jahren eine platonische Freundschaft geblieben. Ständig hatte ein diffuses Gefühl sie vor ihm gewarnt.
Wieso eigentlich?, fragte sich Lisa, konnte jedoch keinen konkreten Grund in ihrem Gemüt ausfindig machen. Er war ein pensionierter Beamter, der zudem genau über die klischeehaften Eigenschaften verfügte, die diesem Berufsstand zugeschrieben wurden: penibel genau, aufrichtig, wortkarg, verlässlich und gewissenhaft, fast schon akribisch.
Noch immer stand sie am großen Fenster und blickte auf die Stadt, die an diesem grauen Tag wahrlich keine Sentimentalitäten in ihr zu wecken vermochte.
Was hielt sie noch hier?
Heinrich war es bestimmt nicht. Auch die Abende im Bridgeclub waren eher zu einer faden Gewohnheit geworden und hatten ihren Charakter der Abwechslung schon längst verloren. Die Themen ihrer Bridgepartnerinnen drehten sich stets nur um die neueste Mode, wer gerade mit wem einen Seitensprung ausgekostet hatte, auf welcher Yacht die nächste Cocktailparty stattfinden sollte und in welchem exklusiven Club auf den Malediven der nächste Urlaub geplant war. Der Bridgeclub diente diesen snobistischen Frauen ohnehin nur als Fassade, um ihre launenhaften Extravaganzen ungehindert hinter einer Maske der Biederkeit verbergen zu können. Im Grunde ihres Herzens waren Lisa die Angeberei und Arroganz dieser aufgetakelten und angepinselten Heuchlerinnen zuwider.
Also? Was hielt sie hier in Hamburg?
Einzig mit Carola fühlte sich Lisa verbunden. Sie war eine wahrhaft echte Freundin. Obwohl eine Psycho-Tussi mit Doktortitel, wie sie Carola liebevoll nannte, war die Freundschaft in den dreißig Jahren, seit sie in Hamburg lebte, stetig gewachsen. Sie bedauerte nur, dass sie so wenig Zeit miteinander verbrachten. Und sie wusste, dass sie mit Carola alles besprechen konnte, was sie bewegte. Lisa machte von dieser Möglichkeit zwar höchst selten Gebrauch, denn sie sah sich als vernunftgesteuert an, eine Eigenschaft, auf die sie bei sich selbst großen Wert legte. Nein, Lisa würde sich nie von Gefühlsduseleien verunsichern lassen. Seit Ludgers Tod gab es dafür keinen Grund mehr für sie.
Sie würde niemals einen Seelenklempner aufsuchen. Das war ihrer Meinung nach nur etwas für Leute, die sich weigerten, ihren Verstand zu benutzen.
Sie erlebte die Freundin als eine engagierte Psychologin; eine, die sich mit Leib und Seele unablässig für ihre Patienten einsetzte. Oftmals vergab Carola auch abends und an den Wochenenden Termine, weil es, wie die Freundin erklärt hatte, viel zu wenig gute Therapeuten gab.
Um Carola besser verstehen zu können, hatte Lisa sich zu Beginn der Freundschaft einige Bücher von C.G. Jung, Alfred Adler und Carl Rogers gekauft. Besonders die Begeisterung für Carl Rogers und seine Forschungen hatte die Freundin stets ihre ansonsten ausgeprägte norddeutsche Zurückhaltung vergessen lassen, ein Umstand, der Lisas Neugier besonders angefacht hatte.
Durch die Lektüre der Bücher hatte sie zwar einen Einblick in die Welt der Psychologie gewonnen, sich jedoch für das Thema nicht begeistern können. Nein, hatte sie sich eingestanden, das war nicht ihre Welt. Im Seelenleben anderer Leute herumzustochern, war nichts für sie.
Ich werde niemals einen Seelenklempner brauchen, dachte sie. Warum sollte ausgerechnet ich Carola die Ohren volljammern, weil ich vielleicht gerade nichts Besseres zu tun habe, als mit irgendeiner Kindheitsbanalität narzisstische Nabelschau zu betreiben? Nein. Sie hatte ihre Gefühle unter Kontrolle. Und diese Kontrolle würde sie niemals vernachlässigen.
Das Läuten der Wohnungsglocke riss sie unsanft aus ihren Gedanken.
Kurze Zeit später stand der Postbote vor der Tür und überreichte ihr einen großen Briefumschlag. Er ließ sich den Empfang quittieren und wünschte noch einen schönen Tag. Der mausgraue Umschlag aus umweltfreundlichem Papier mit dem amtlichen Poststempel des Gerichts passte perfekt zu diesem trostlosen 3. März im Jahre 2001.
Irritiert ließ sie sich auf das Sofa sinken. Sie zögerte, das Kuvert zu öffnen. Schreiben von Gerichten verhießen in der Regel nichts Gutes. Unentschlossen drehte sie den Umschlag in der Hand. Sie war sich keiner Schuld bewusst. Hatte sie irgendjemanden geärgert? Oder war sie bei Rot über eine Ampel gefahren? Dummes Zeug, schalt sie sich, dann gibt’s Post vom Ordnungsamt, aber nicht vom Gericht.
Sie holte tief Luft, nahm ihren Brieföffner aus dem Sekretär, schlitzte das Kuvert auf und ließ sich wieder auf der Couch nieder. Sie musste das Schreiben zweimal sorgfältig durchlesen, ehe sie die darin enthaltene Information vollständig erfasste. Langsam ließ sie das nüchterne Formschreiben des Amtsgerichtes mit der Nachricht vom Ableben der Katharina Weber sinken und legte es auf die staubfreie Glasplatte ihres Couchtisches.
Tante Käthe, dachte sie. Mein Gott! Die muss ja steinalt gewesen sein.
Vom Inhalt des Schreibens noch völlig konsterniert, erhob sie sich, um in ihrer Küche einen Kaffee aufzubrühen. Während sie mit den Utensilien hantierte, kramte sie in ihrer Erinnerung nach dem Gesicht von Tante Käthe. Die letzte Begegnung mit dieser Verwandten lag so viele Jahre zurück, dass sich nicht sofort ein Bild einstellen wollte. Nachdenklich kehrte sie mit dem Becher Kaffee in der Hand zu ihrem Sofa zurück. Erst nach einer Weile des Grübelns tauchten die verschwommenen Gesichtszüge einer feingliedrigen Frau in ihrer Erinnerung auf. Ein großer Garten, in dem sie mit Kindern spielte, blitzte ebenso bildhaft in ihrem Gedächtnis auf wie die Scheune, in der wenige Tage alte, flauschige Küken aufgeregt um ihr Futter bettelten. Sie erinnerte sich plötzlich an viele Obstbäume, in denen sie als Kind mit Begeisterung herumgeklettert war und nicht genug von den süßen Kirschen oder den saftigen Reineclauden in sich hineinstopfen konnte.
Lisa lachte laut auf: „Mein Gott. Wie lange ist das her?“ Bei der Erinnerung an die Unbeschwertheit ihrer Kindertage musste sie unwillkürlich lächeln und überließ sich für einen Moment den aufsteigenden Gedankenbildern der Vergangenheit. Die längst vergessen geglaubten Erlebnisse jener Zeit nahmen sie gefangen.
In Erinnerungen versunken füllte sie ihre Tasse erneut mit dem dunklen Gebräu und kehrte versonnen zurück zu ihrer Couch. Mechanisch griff sie nach dem amtlichen Schreiben und dachte: Sie muss wirklich hochbetagt gewesen sein. Und richtig. Dort stand es: geboren am 05. Februar 1904, gestorben am 9. Februar 2001. Tante Käthe war also siebenundneunzig Jahre alt gewesen, als sie starb.
Was für ein Alter, stellte Lisa fest. Nein. So alt will ich nicht werden. Wer weiß, durch welche Hölle Menschen in diesem Alter gehen müssen. Aber vielleicht war Tante Käthe ja auch senil geworden und hat von ihrer persönlichen Hölle überhaupt nichts mehr mitbekommen.
Sie erhob sich und suchte in ihrem Bücherregal nach den Fotoalben. Irgendwo musste sie doch Bilder finden, auf denen Tante Käthe abgelichtet war. Mitten in der Bewegung hielt sie inne, denn ihr fiel ein, dass sie sämtliche Fotobücher in den Keller verfrachtet hatte. Nach Ludgers Tod hatte sie sie samt und sonders in einen Karton gepackt und aus ihrem Leben verbannt. Ja, regelrecht ausgeblendet. Dort sollten sie auch bleiben. Aber jetzt? Sollte sie den Karton suchen und die Alben herauskramen? Lisa zauderte, denn sie fände unweigerlich auch Fotos aus glücklichen Tagen. Tage mit Ludger. Konnte sie das ertragen?
Mit dem Kaffeebecher in der Hand schlenderte sie wieder zum Fenster. Die Nachricht von Tante Käthes Tod berührte sie, obwohl sie sich kaum an die ältere Schwester ihrer verstorbenen Mutter erinnern konnte. Lisa spürte plötzlich eine unerklärliche Beklemmung in sich aufsteigen und schob die Gedanken an Tante Käthe beiseite. Ich sollte mich langsam für das Theater fertig machen.
Sie schrak heftig zusammen, als das Telefon schrillte.
Nach ihrem vorsichtigen „Hallo?“ meldete sich eine männliche Stimme, die Lisa zunächst nicht erkannte. „Lisa, es tut mir schrecklich leid“, krächzte die Stimme, „ich kann heute Abend nicht mitgehen. Mich hat die Erkältung erwischt.“
„Heinrich? Bist du das? Ach du Ärmster“, bedauerte sie ihn, „du hörst dich ja ganz schrecklich an.“
„Ja, mir geht es wirklich nicht gut. Jetzt hat mich die Welle doch erwischt.“
„Ja, die Zeitung ist voll davon. Du solltest dich mit einer Wärmflasche ins Bett legen. Vielleicht hilft dir auch ein heißer Grog.“
„Kannst du nicht vorbeikommen?“, krächzte er.
„Willst du mich anstecken?“
„Nein, nein! Aber ich würde mich besser fühlen, wenn du hier wärest. Weißt du Lisa, ich vermisse dich sehr.“
„Lass es gut sein, Heinrich. Das Thema haben wir wirklich durch. Und mach dir wegen heute Abend keine Gedanken.
Danke, dass du mir rechtzeitig Bescheid gesagt hast. Gute Besserung.“
Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, empfand sie sowohl Bedauern als auch Erleichterung. Statt Fliegender Holländer und Abendessen mit Heinrich würde sie tatsächlich die Alben aus dem Keller holen und nach Fotos von Tante Käthe suchen.
Es dauerte nicht lange, bis sie den Karton in der hintersten Ecke ihres Kellerraums aufgestöbert, zum Aufzug geschleppt und auf ihren Esstisch gehievt hatte. Gott sei Dank, dachte sie, sind dieKellerräume trocken. Die Fotos müssten also alle noch in Ordnung sein.
Die Alben, von denen sie wusste, dass sie ausschließlich Bilder aus ihrer Zeit mit Ludger enthielten, legte sie ungeöffnet rasch beiseite. Sie griff nach einem braunen und einem schwarzen Album und legte sie auf den Tisch. Das braune begann mit Fotos ihrer Konfirmation. Sie klappte es zu und öffnete das schwarze. Das Foto der pausbäckigen, etwa zweijährigen Lisa mit üppigem Lockenkopf und scheuem Lächeln füllte fast die gesamte erste Seite aus. Ja, das war das richtige Album.
Mit dem Buch in der Hand machte sie es sich auf der Couch gemütlich und tauchte erneut ein in eine längst vergangene Zeit. Es dauerte eine geraume Weile, bis sie auf ein Foto stieß, das sie vage an die Jahre erinnerte, nach denen sie forschte. Viele der Schwarz-Weiß-Bilder waren verschwommen. Laienhafte Schnappschüsse, Momentaufnahmen – für die Ewigkeit konserviert.
Auf der vorletzten Seite entdeckte sie endlich, wonach sie suchte: ein Foto ihrer Mutter und der vermuteten Tante Käthe. Lisa löste das Foto vorsichtig aus den Ecken und hoffte, eine Beschriftung zu finden. Und richtig! Dort stand: Christina und Katharina 1958.
Sie nahm ihre Lupe zu Hilfe und betrachtete das Foto.
Die Schwestern standen unter einem Apfelbaum, dessen Zweige sich unter dem Gewicht der vielen Früchte zur Erde neigten. Lisa entdeckte, dass einer der Äste von einem dicken Pfahl abgestützt wurde. Doch viel mehr interessierten sie die Gesichter der beiden Frauen. Ihre Mutter war damals etwa vierzig Jahre alt gewesen, während Tante Käthe bereits Mitte fünfzig war. Ja, sie erinnerte sich, Tante Käthe war ihr damals schrecklich alt vorgekommen. Sie musste lachen. Und jetzt bin ich selbst bald so alt wie Tante Käthe damals.
Beim Anblick des Fotos kehrten auch einige Erinnerungen zurück, die sich im Gedächtnisarchiv zuunterst vergraben hatten. Bilder einer großen Wiese tauchten auf. Lisa durfte helfen, die Kühe von der Weide in den Stall zu treiben. Sie konnte sich sogar an den Geruch der Tiere erinnern. Plötzlich brach sie in lautes Lachen aus: „Der Misthaufen!“ Oh mein Gott, dachte sie. Es war einer der wenigen Situationen, in denen Mutter sie mächtig ausgeschimpft hatte. Sie war mit ihrem weißen Sonntagskleidchen auf dem Misthaufen herumgeklettert. Das Spiel mit den anderen Kindern lautete: Wer hält es am längsten auf dem dampfenden Haufen aus. Und weil sie unbedingt gewinnen wollte, war sie bis obenhin gekraxelt. Meine Güte. Hatte sie gestunken! Die entsetzten Rufe ihrer Mutter hatten sich mit Tante Käthes Lachen gemischt, die sich ganz offensichtlich köstlich amüsiert hatte.
Und dann die Zinkwanne! Mutter hatte sie mitten im Hof abgeschrubbt, eine Prozedur, die Lisa gehasst hatte. Vor allen Dingen, wenn die Haare gewaschen wurden. Sie erinnerte sich, wie ihre Mutter meist recht unsanft die nassen Haare bürstete, die sich beim Waschen ineinander verhakt und verknotet hatten. Noch heute konnte sie das schmerzhafte Reißen und Ziehen an der Kopfhaut nachempfinden. Doch ihre Mutter hatte stets gemeint: „Stell dich nicht so an. Es ist ja gleich vorbei.“ Nun, sie hatte ja auch nicht diese schrecklichen, kaum zu bändigenden roten Locken, die ganz offensichtlich ein Erbe ihres Vaters waren, den Lisa leider nie kennengelernt hatte. Er war, wie ihre Mutter erzählt hatte, kurz vor Lisas Geburt gestorben.
Ja, das ist auch so eine abstruse Geschichte, dachte sie. Rasch schüttelte sie die Gedanken an ihren Vater ab und widmete sich erneut den Fotos und ihren Erinnerungen.
Später, als Teenager, hatte sie ihre Freundinnen um deren glattes Haar beneidet, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammenbinden konnten. Ihre eigenen Versuche, das gleiche Ergebnis mit einem Glätteisen zu erreichen, hatte Lisa bald aufgegeben, denn jeder Regenguss hatte ihre Anstrengungen stets zunichte gemacht.
Lisa klappte das Album zu und schaltete das Licht ein. An solch trüben Tagen wurde es immer sehr früh dunkel. Noch immer schwelgte sie in Erinnerungen; die Bilder ließen sich kaum abschütteln.
Ja, ihr Vater. Sie hatte nie erfahren, woran er gestorben war, denn ihre Mutter hatte jeden ihrer Versuche, nähere Einzelheiten zu erfahren, rigoros abgeblockt. Lisa hatte geglaubt, dass der Schmerz über den Verlust des Ehemannes ihre Mutter zu dieser Rektion bewogen hatte. Und so hatte sie nicht weiter nachgefragt.
Nachdem Ludger in ihr Leben getreten war, gab es ohnehin Wichtigeres, als die Todesumstände ihres Vaters herauszufinden.
Merkwürdig, dachte sie, dass Mutter auch später nie darüber sprechen wollte. Dabei war das Verhältnis zwischen ihr und ihrer Mutter sehr innig gewesen. Sie hatte stets gespürt, wie sehr ihre Mutter um das Wohlergehen ihrer Tochter bemüht war. Nun ja, es gab sicherlich ein paar Ungereimtheiten, aber an der Liebe ihrer Mutter hatte sie nie gezweifelt. Ihr Tod kam überraschend für Lisa, denn ihre Mutter war erst zweiundsiebzig Jahre alt gewesen. Herzinfarkt. Aber da war Ludger noch an ihrer Seite gewesen, der sie aufgefangen und in ihrer Trauer begleitet hatte.
Abermals verdrängte sie das aufkommende Unbehagen.
Sie bereitete sich einen kleinen Imbiss zu, bevor sie es sich wieder auf dem Sofa bequem machte. Erneut griff sie nach dem Schreiben des Gerichts und fragte sich, was Tante Käthes Tod wohl bedeuten mochte, vor allen Dingen praktisch. Offensichtlich gab es keine anderen Verwandten mehr, denn sie wurde aufgefordert, sich innerhalb einer Frist von sechs Wochen bei Gericht zu melden. Was ist mit den anderen Geschwistern von Tante Käthe? Gibt es da keine Kinder mehr?, dachte sie ein wenig verwundert. Sie entschied, das Thema auf Montag zu vertagen. Dann erst würde sie Konkreteres erfahren.
Ihre Versuche, Carola am Sonntag telefonisch zu erreichen, schlugen fehl. Offenbar war die Freundin wieder einmal auf einer Fortbildung. Schließlich hinterließ sie eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter mit der Bitte um einen Rückruf.
Gern hätte sie sich jetzt mit Carola ausgetauscht, denn ihre Freundin war eine der besten Zuhörerinnen, denen sie je begegnet war. Sicher wäre Carola auf sie eingegangen und sie hätte ihre Verunsicherung besser in den Griff bekommen.
Wieso bin ich verunsichert?, fragte sie sich erstaunt, dafür gibt es überhaupt keinen Grund. Eine alte Tante ist verstorben und ich bin offenbar die einzig noch lebende Verwandte. Was ist daran ungewöhnlich?
Sie schüttelte den Kopf über sich selbst und beschloss, die Dinge auf sich zukommen zu lassen.
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Hamburg – 04. März 2001
Als es an der Tür klingelte, quälte sich Richie aus dem Bett, zog seinen gestreiften Bademantel über und drückte den Schalter, der den fremden Besucher einlassen würde. Wer mag das sein?
Er klinkte die Sicherheitskette ein und öffnete die Tür einen Spalt breit. Als Albert auf dem Treppenabsatz im Flur auftauchte, schloss er die Wohnungstür wieder, klinkte die Kette aus und ließ den Freund herein.
Hustend schloss Albert die Tür hinter sich.
„Dich hat es also auch erwischt“, krächzte Richie. „Du hustest und prustest genauso schlimm wie ich.“
„Und wie tausend andere in Hamburg“, erwiderte Richie.
„Die Grippezeit ist jedes Jahr so schlimm wie die davor.“
„Nee, dieses Jahr ist sie schlimmer“, widersprach Richie und zog den Bademantel enger um sich.
Albert ließ sich in einen der schäbigen Sessel fallen.
„Komm, mach uns mal nen Grog.“
„Geht nicht.“
„Wie… geht nicht? Du weißt, dass ein steifer Grog gegen Erkältung immer noch die beste Medizin ist.“
„Mag sein“, entgegnete Richie, „aber ich hab keinen Rum im Haus.“ Nach kurzem Zögern fuhr er fort: „Ich kann dir nur Kamillentee anbieten.“
Albert schüttelte sich. „Kamillentee? Nein, danke. So krank kann ich gar nicht sein.“
Richies Augen tränten. Er sah Albert an. „Was machst du hier? Wieso gehst du bei deiner Erkältung vor die Tür?“
Albert musste niesen und kramte umständlich ein zerknülltes Taschentuch aus seiner Hosentasche. „Olivia ist zu ihrer Mutter nach Cuxhaven. Die hat es wohl noch schlimmer erwischt als uns beide.“ Er schnäuzte sich die Nase, stopfte das Taschentuch wieder in seine Tasche und schaute seinen Freund an. „Sag mal… hast du schon das von Matty gehört?“
Richie schüttelte den Kopf. „Nee. Was ist mit ihm?“
„Er hat nur noch sechs Monate.“
„Was meinst du damit? Sechs Monate… wofür?“
Wieder musste Albert niesen. „Er hat Krebs. Und nur noch sechs Monate zu leben.“
„Schrecklich“, murmelte Richie.
Albert zog die Nase hoch. „Hast du mal ein Taschentuch?“
Richie stand auf, schlurfte ins Bad, kam mit zwei Packungen Papiertaschentüchern zurück und warf sie auf den schmuddeligen Holztisch. Hastig griff Albert danach und schnäuzte sich erneut die Nase.
„Das haben die jetzt im Krankenhaus festgestellt“, fuhr Albert fort. „Er hatte einige Tage über vierzig Fieber. Erst haben alle gedacht, er hätte sich angesteckt, aber die Medikamente haben nix gebracht. Ja, und dann hat Sigrid ihn ins Krankenhaus gefahren.“
„Und da haben sie es dann festgestellt?“
„So is es, Richie. Ich war gestern bei ihm. Ich sag dir… der ist dünn wie ein Mast.“
„Ich hab ihn lang nicht gesehen.“
„Ich weiß, Richie. Du hast dich seit damals, seit der Nacht, nicht mehr im Blauen Engel blicken lassen.“
„Lass uns nicht mehr davon reden, Bert.“
Wieder griff der Freund nach den Taschentüchern.
„Das sollten wir aber, mein Lieber. Das sollten wir aber.“
„Warum? Das ist Ewigkeiten her. Warum alles wieder rauskramen?“
Albert senkte den Kopf. „Matty fängt an, von Gott zu reden. Von wegen Sünden, Hölle, Schuld, Jüngstes Gericht und so‘n Zeugs. Ich sag dir, Richie, der hat die Hosen voll. Bis obenhin. Dem geht der Arsch richtig auf Grundeis.“
Oh Gott!, dachte Richie, das darf nicht wahr sein! Der muss unbedingt den Mund halten.
„Meinst du… meinst du… der wird quatschen? Jetzt? Nach all den Jahren?“
Albert zupfte an seiner Mütze. „Weiß nich. Aber zutrauen würd ich es ihm.“
„Das müssen wir verhindern!“, rief Richie und bekam einen Hustenanfall.
„Ja, ja… aber wie? Wie, mein Lieber?“
„Keine Ahnung, Bert. Aber irgendwas müssen wir tun.“
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Hamburg – 05. März 2001
Am Montag kam der erhoffte Anruf.
„Hallo, meine Liebe“, hörte Lisa die ruhige Stimme ihrer Freundin mit dem typischen Hamburger Dialekt. „Du hast dich auf meinem Anrufbeantworter ziemlich bedrückt angehört. Was ist passiert? Hat Heinrich wieder mal eine Szene gemacht?“
„Heinrich? Eine Szene? Wie meinst du das?“
„Ich meine, ob er dich bekniet hat, die Freundschaft wieder aufleben zu lassen?“
„Ach so. Nein, nein. Heinrich pflegt im Moment seine Erkältung und hütet das Bett.“
„Ja“, stimmte Carola zu. „In diesem Jahr ist die Erkältungswelle wirklich besonders schlimm. Hab ich zumindest in der Zeitung gelesen. Man spricht sogar von einem Engpass bei den Medikamenten.“
„Und Heinrich gehört wohl dazu.“
„Wie? Und du hältst ihm nicht das Händchen?“
„Im Gegenteil. Ich nutze die Gelegenheit schamlos aus, mich zu sortieren.“
„Sortieren ist immer gut, ja, sogar ausgezeichnet. Und? Wie kann ich dir helfen?“
Lisa berichtete von den Geschehnissen seit Samstag. Carola unterbrach sie nicht ein einziges Mal, sondern wartete, bis Lisa geendet hatte.
„Was beunruhigt dich?“, fragte Carola in ihrer direkten Art, die Lisa besonders an ihrer Freundin schätzte.
„Wenn ich das wüsste, ginge es mir besser. Können wir uns treffen?“
„Warte. Ich schaue in meinem Kalender nach“, antwortete Carola und Lisa hörte das Blättern am anderen Ende der Leitung.
„Wie wär es mit Donnerstagabend?“, fragte die Freundin. „Kommst du zum Essen?“
„Gern. Um acht?“
„Abgemacht. Bis dann“, beendete Carola das Gespräch.
Lisa freute sich auf den Abend mit Carola. Auch blieb ihr dadurch Zeit genug, alles Mögliche zu klären und zu erledigen.
Unmittelbar nach dem Gespräch mit Carola telefonierte sie mit dem Rechtspfleger beim Amtsgericht und erfuhr, dass sie nichts zu unternehmen brauchte, wenn sie das Erbe ihrer Tante anzunehmen gedachte. Sie müsste nur persönlich zu erscheinen, wenn sie das Erbe ausschlagen wollte. Für diese Entscheidung hatte sie sechs Wochen Zeit.
Sie dachte nicht daran, sich mit der Entscheidung unter Druck zu setzen. Sie würde sich Zeit nehmen. Dennoch. Wie sollte sie erfahren, was das Erbe beinhaltete? Vielleicht hatte Tante Käthe ja einen riesigen Schuldenberg hinterlassen. Das musste sie irgendwie herausfinden. Aber wie? Ob Heinrich ihr dabei helfen konnte? Schließlich war er vor seiner Frühpensionierung beim Amt der Stadt tätig gewesen. Er sollte sich mit solchen Dingen auskennen. Rasch verwarf sie den Gedanken. Nein. Sie würde lieber jemand anderen um Hilfe bitten.
Am Dienstag meldete sich Heinrich wieder telefonisch. Noch immer krächzte er erbärmlich und Lisa stimmte seinem Vorschlag nachdrücklich zu, sich erst richtig auszukurieren, bevor sie sich erneut verabredeten.
Der Mittwoch bescherte ihr die nächste Überraschung.
Wieder quittierte sie den Empfang eines Einschreibens – diesmal von einem Notar namens Donatus Weller aus Solingen. Wie kann man sein Kind nur Donatus nennen, dachte sie kopfschüttelnd, während sie den Umschlag in der Hand drehte. Dieses Kuvert war weiß und von bester Qualität – im Gegensatz zum umweltfreundlichen Papier der öffentlichen Hand. Dem Umschlag entnahm sie einen Brief aus feinstem Bütten. Der Briefkopf bezeugte Gediegenheit, Solidität und Ehrbarkeit. Die Essenz des notariellen Schreibens, das von juristischen Fachausdrücken nur so wimmelte, lautete: Lisa konnte einen Gutshof mitsamt Grundstück von 18.000 qm ab sofort ihr Eigen nennen.
Donnerwetter!
Sie, der Stadtmensch – und ein Gutshof auf dem Land?
Was für eine verrückte Vorstellung, dachte sie.
Außer der offiziellen Mitteilung des Notars enthielt der Umschlag noch ein kleineres, versiegeltes, handgeschriebenes Kuvert, persönlich an sie gerichtet. Auf der Rückseite war der Absender angegeben: Katharina Weber. Mit leicht zittriger Hand brach sie das Siegel und las:
*
Meine liebe Elisabeth,
vielleicht verwundert es Dich, diesen Brief von mir zu erhalten, aber es ist mir ein großes Bedürfnis, dass Du die Letzte in meinem Leben bist, die einen Gruß erhält. Wenn Du diesen Brief und das Testament in Händen hältst, bin ich heimgegangen. Es ist zwar schon sehr, sehr lange her, dass ich Dich das letzte Mal gesehen habe, aber zu Dir hatte ich immer eine ganz besondere Beziehung. Mit Deinen großen, grünen Augen blicktest du voller Neugier, Aufgeschlossenheit und Lebensfreude in die Welt und Dein herzerfrischendes Lachen hat mich immer zum Mitlachen angesteckt.
Obwohl durch meine sechs Geschwister und die neun Geschwister meines Ewalds – Gott hab ihn selig – stets viele Nichten und Neffen bei uns zu Besuch waren, warst Du das Kind, das ich am liebsten um mich hatte. Immer spürte ich eine ganz besondere Verbindung zu Dir.
Vielleicht war es der Blick, den ich manchmal bei Dir beobachtete. Vielleicht aber auch Deine Augen selbst, so wunderbar klar, offen und nicht zu vergessen Deine leuchtend roten Locken. Du warst so ungemein lebendig. So kraftvoll. So vergnügt. Dann wieder gab es Momente, da sah ich, wie Du unter dem großen Kirschbaum oder auf der Holzbank vor der Scheune saßest, fast selbstvergessen und ganz in Dich gekehrt. Gerade so, als wärest Du in eine andere Welt eingetaucht. Ja, meine Liebe, ich sah in Dir eine Seelentiefe wie bei keinem anderen Kind Deines Alters zuvor.
Nach dem Zerwürfnis mit Deiner Mutter habe ich Dich nie mehr wiedergesehen und ich habe Dich sehr vermisst. In all den Jahren danach war ich in Gedanken und mit meinem Herzen jeden Tag bei Dir. Trotz der großen räumlichen und zeitlichen Entfernung hat mein Gefühl der Zusammengehörigkeit bis zum heutigen Tag nie nachgelassen und deshalb habe ich Dich zu meiner Alleinerbin bestimmt. Immer habe ich gespürt, dass wir beide viel gemeinsam haben.
Nun fühle ich deutlich, dass mein Leben sich dem Ende zuneigt und ich will nicht, dass Fremde in mein Haus einziehen. Deshalb bitte ich Dich von ganzem Herzen, wenn Du es irgendwie einrichten kannst, bitte, zieh in mein Haus ein, in dem ich manchmal einsam, aber die meisten Jahre sehr glücklich war.
Ich grüße Dich von ganzem Herzen
und in tiefer Verbundenheit
Deine Tante Käthe
Pattscheid, den 10. Januar 2001
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Lisa ließ den Brief sinken. Tränen der Rührung liefen über ihre Wangen und sie kramte in ihrer Tasche nach einem Tuch, um sich die Nase zu schnäuzen.
Sie war fassungslos. Da saß sie auf ihrer Couch, las den Brief einer alten Frau, an die sie sich kaum erinnern konnte und war zutiefst berührt. Wieso? Was war los mit ihr? Nein, sie verstand ihre Reaktion auf dieses Schreiben absolut nicht. Sie konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wann der Kontakt zu Tante Käthe abgebrochen war, noch wusste sie um den Grund. Kinder nehmen die Gegebenheiten des Lebens einfach wie sie gerade kommen, dachte sie, ganz ohne sich Gedanken zu machen.
Nie hatte sie mit ihrer Mutter über das plötzliche Ausbleiben der Besuche gesprochen. Nie hatte sie gefragt und, sie gestand sich verschämt ein, sie schien auch nichts vermisst zu haben. Weshalb berührte sie Tante Käthes Brief also derart? War es vielleicht die Anrede? Seit Jahren, nein seit Jahrzehnten hatte sie niemand mehr Elisabeth genannt. Sicher, in offiziellen Schreiben aus Amtsstuben oder von Versicherungen wurde stets der Original-Vorname in der Adresszeile verwendet. Aber privat? Schon wieder musste sie eine aufsteigende Missstimmung verdrängen.
Spontan griff sie zu dem Fotoalbum. Vielleicht gab es ja noch mehr interessante Fotos. Doch sie konnte keine mehr entdecken.
Sie klappte das Album zu und beschloss, sich Tante Käthes Haus zumindest einmal anzusehen. Dazu fühlte sie sich verpflichtet. Außerdem, Wetter hin oder her, ein wenig Abwechslung konnte sie jetzt gut gebrauchen. Was hatte sie zu verlieren?
Sie würde mit Carola darüber sprechen.
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Hamburg – 07. März 2001
Auch wenn sich Richie noch ein wenig wackelig auf den Beinen fühlte, drängte es ihn nach St. Pauli. Er brauchte ganz dringend ‘ne Braut. Er schlenderte an den entsprechenden Schaufenstern entlang, konnte aber keine entdecken, die ihm gefiel. Kurz vor Verlassen der Puffmeile fiel sein Blick auf eine rassige Frau mit schwarzen, langen Haaren. Sie saß gelangweilt am Fenster, in eine Ledercorsage gezwängt, feilte sich die Fingernägel und schaute ihn desinteressiert an. Ja, das ist genau die Art, die ich brauche, dachte Richie. Solche Weiber muss man zähmen, ihnen die Langeweile austreiben und zeigen, wo es lang geht.
Layla hieß die Frau. Richie wusste, dass ihr Freund höllisch aufpasste. Er würde ziemlich unsanft einschreiten, wenn ein Freier einem seiner Mädchen zu sehr zusetzte.
„Wieviel?“, wollte er wissen.
„Fünfzig“, reagierte sie und ihr Desinteresse stachelte ihn an.
Es dauerte nicht lange, als er mit ihr einig war. Er durfte loslegen, aber keine blauen Flecken hinterlassen. Das wäre schädlich fürs Geschäft. Er durfte sie auch an den Händen fesseln, aber nur soweit, dass sie sich jederzeit befreien konnte. Gegen Fesseln an den Fußgelenken hatte sie nichts einzuwenden.
„Bei Extrawünschen musst du allerdings das Doppelte hinblättern.“
Richie überlegte nicht lange.
Als er nach einer Stunde wieder seine Wohnung erreichte, ließ es sich aufs Bett fallen. Er fühlte sich erleichtert, aber auch erschöpft. Nein, die Erkältung war noch nicht überstanden, aber der Druck war weg.
Er überlegte. Ein Hunderter pro Woche müsste gehen.
Sein Job als Pförtner im Hafen wurde zwar nicht übermäßig gut bezahlt, aber er würde sich diese Frau einmal in der Woche genehmigen. Durch Layla könnte er sich im Gleichgewicht halten und nicht mehr bei jeder Kleinigkeit an die Decke gehen. Er grinste zufrieden und schlüpfte in seine Uniform, die er als Pförtner zu tragen hatte.
Heute war er wieder mit Nachtschicht dran.
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Hamburg – 08. März 2001
„Du hättest ruhig besseres Wetter mitbringen können“, meinte Carola, während sich Lisa aus ihrem Regenmantel schälte.
„Da sagst du was“, bestätigte Lisa, „hätt ich ja auch gemacht, wenn nicht gerade meine Hotline zu Petrus durch eine technische Störung unterbrochen wäre.“
„Lass dich ansehen.“ Carola hielt die Freundin um Armeslänge von sich. „Gut schaust du aus“, stellte sie fest, „wenn da nicht dieser traurige Zug um deine Augen wäre.“
„Kein Wunder“, erwiderte Lisa, „irgendwie ist mein Leben ja auch… ja… irgendwie… wie soll ich sagen... wie leer.“
„Komm erst mal ins Wohnzimmer und mach es dir bequem. Und dann erzählst du mir, was los ist, aber erst nach dem Essen. Einverstanden?“
Während des Abendessens plauderten die beiden Frauen über Belangloses. Carola berichtete von ihrem Wochenendseminar, das sie für überflüssig erklärte: „Es war die reine Zeitverschwendung, dabei hörte sich die Ankündigung so vielversprechend an. Naja, man kann nicht immer Glück haben.“
Die Spuren des Essens waren rasch beseitigt und alsbald saßen sich die Freundinnen im Wohnzimmer gegenüber, jede mit einem Glas Rotwein in der Hand. Lisa beobachtete, wie ihre Freundin sich im Sessel räkelte. Ja, Carola entsprach dem Klischee, das viele Menschen von norddeutschen Frauen hatten: blonde, kurzgeschnittene Haare, schlank, blaue Augen und mit dem trockenen, etwas spröden Humor, den Lisa sehr zu schätzen wusste.
„So“, lächelte Carola, „dann erzähl mal.“
„Nach unserem Telefonat ist noch was passiert, das mich vollends aus der Fassung gebracht hat“, begann Lisa und erzählte ihrer Freundin ausführlich von dem Notarschreiben und von Tante Käthes Brief.
„Okay, und wo liegt jetzt dein Problem?“, wunderte sich Carola.
„Moment mal“, rief Lisa. „Ich will von dir keine professionelle Hilfe. Ich brauche garantiert keine Therapie. Ich spreche mit dir als meine beste Freundin.“
„Das habe ich auch genauso verstanden. Also, wo liegt jetzt dein Problem?“
„Naja“, druckste Lisa, „vielleicht sollte ich meine Brücken hier abbrechen und einfach wegziehen.“
„Ja aber…“, Carola sah ihre Freundin entgeistert an, „das kannst du doch nicht machen.“
„Schau, meine Liebe.“ Lisa versuchte eine Erklärung. „Eigentlich hält mich hier doch nichts mehr. Heinrich geht mir auf die Nerven, die Bridgeclubweiber gehen mir mit ihrem Schicki-Micki-Getue auf die Nerven und das Wetter geht mir auch auf die Nerven. Also, was soll ich hier noch? Es gibt kein Grab, an dem ich um Ludger trauern könnte, du weißt, er wollte unbedingt eine Seebestattung. Außerdem, Theater und Opernhäuser gibt es in jeder Stadt. Und wie ich schon sagte, ich erlebe mein Leben irgendwie… leer. So als wäre ich gar nicht mehr richtig lebendig.“
Nachdenklich schaute Carola zu Boden und erst nach einer geraumen Zeit des Schweigens fragte sie: „Kann es sein, dass dir die Distanz zu Heinrich mehr zu schaffen macht, als du dir eingestehst? Vielleicht solltest du deinen Entschluss noch einmal überprüfen.“
„Um Gottes willen!“ Lisa wehrte heftig ab. „Bloß das nicht.“
„Mein Gott! Lisa. Was hat er dir getan?“
„Getan? Heinrich mir getan? Getan hat er mir nichts, Carola. Rein gar nichts. Er ist liebenswürdig, aufmerksam, immer auf mein Wohl bedacht und… schrecklich langweilig. Seine Bemühungen, es mir immer und überall recht zu machen, gehen mir unbeschreiblich auf die Nerven. Für mich grenzt das schon fast an eine Art der Selbstaufgabe. Da ist kein bisschen Feuer, kein bisschen Begeisterung, kein bisschen Leidenschaft. Nur Langeweile. Schrecklich leblose Langeweile. Ein grandioses und allumfassendes… Nichts. Er ist so schrecklich… ja, regelrecht durchsichtig. Ich weiß genau, was er denkt, was er tun und was er unterlassen wird. Er ist berechenbar wie ein trainierter Hamster im Laufrad. Nein, Carola. Meine Zeit mit Heinrich ist vorbei.“
Sie zögerte kurz, bevor sie fortfuhr: „Ich bin ihm unendlich dankbar, denn nach Ludgers Tod war er mir eine riesengroße Stütze. Ohne ihn hätte ich sicherlich viel, viel länger gebraucht, um wieder ins normale Leben zurückzufinden. Aber ich bin dieses Gefühl der Vorsicht nie losgeworden.“
„Vorsicht? Wieso Vorsicht?“
„Das habe ich mich auch schon gefragt. Es ist ein ganz diffuses Gefühl, dass mit ihm irgendetwas nicht stimmt.“
„Mit Heinrich? Hattest du dieses Gefühl schon immer?“
Lisa dachte einen Augenblick nach und stöberte in ihrer Erinnerung. „Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Am Anfang unserer Beziehung war es nicht so. Es hat erst angefangen, als ich den Weg aus meinem Kummer um Ludgers Tod herausgefunden hatte. Aber in letzter Zeit wird es immer stärker.“
Sie sah Carolas prüfenden Blick, als die Freundin fragte: „Was empfindest du für ihn?“
„Dankbarkeit“, antwortete Lisa spontan, „ja, Dankbarkeit spüre ich, aber das ist auch alles. Kann man darauf eine langfristige, tragfähige Beziehung aufbauen? Oder schlägt das Ganze nicht irgendwann in Ärger und Widerwillen um? Ich habe ja jetzt schon ein schlechtes Gewissen, wenn ich auf seine gut gemeinten Vorschläge, liebenswürdigen Einladungen und aufmerksamen Angebote nicht eingehe.“
„Da ist was dran“, bestätigte die Freundin. „Dankbarkeit nutzt sich ab. Es besteht die Gefahr, denjenigen, für den man Dankbarkeit empfindet, abzulehnen, wenn Schuldgefühle die Dankbarkeit ablösen. Und Schuldgefühle sind der Tod einer jeden Beziehung. Aber was willst du tun? Wohin willst du gehen? Du kannst nicht vor dir selbst davonlaufen. Diese Welt ist voll von Heinrichs.“
„Und genau an dieser Stelle kommt Tante Käthe ins Spiel. Ist es nicht ein unglaublicher Zufall, dass ausgerechnet jetzt eine längst vergessene Tante stirbt und mir einen Gutshof hinterlässt? Ist das vielleicht der berühmte Wink des Himmels, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen und einen Neuanfang zu wagen?“
„Aber Lisa. Du bist doch ein Stadtmensch durch und durch. Was willst du auf dem Land?“