Wüstengesang - Karin Welters - E-Book

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Karin Welters

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Beschreibung

In der Vorweihnachtszeit 2001 wird Lisa Hansen erneut von ihrer ‚Gabe‘ heimgesucht. Wieder drängen verschlüsselte Botschaften aus ihrem Inneren in ihr Gemüt. Wieder kann sie sie nicht begreifen. Und wieder schreckt sie regelmäßig nachts hoch – um 02:27 Uhr.

In ihrem zweiten Fall führen Lisas Wege nach Afrika. Findet sie in der Wüste endlich den Code für die Botschaften ihres Unterbewusstseins?

Durch die Begegnung mit Patricia von Duran wird sie in ein Drama aus Willkür, Machtmissbrauch und Mord hineingezogen, das sogar ihren Verlobten Andreas in Lebensgefahr bringt. Weshalb musste Maureen McCoy sterben? Wer ist die verkohlte Leiche im Haus am See? Und wer hat versucht, Max Engel zu töten?

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Karin Welters

Wüstengesang

Lisa Hansens 2. Fall

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Übersicht - Wüstengesang

Karin Welters

 

Roman

 

LitArt-World-Press

 

Copyright 2018

 

 

In der Vorweihnachtszeit 2001 wird Lisa Hansen erneut von ihrer ‚Gabe‘ heimgesucht. Wieder drängen verschlüsselte Botschaften aus ihrem Inneren in ihr Gemüt. Wieder kann sie sie nicht begreifen. Und wieder schreckt sie regelmäßig nachts hoch – um 02:27 Uhr. In ihrem zweiten Fall führen Lisas Wege nach Afrika. Am Rande der Wüste Namib begegnet sie Patricia von Duran und wird in ein Drama aus Willkür, Machtmissbrauch und Mord hineingezogen, das auch ihren Verlobten Andreas in Lebensgefahr bringt. Findet Lisa heraus, weshalb Maureen McCoy sterben musste? Wer die verbrannte Leiche im Haus am See ist? Und was hinter dem Mordversuch an Max Engel steckt?

 

 

Fünfzehn Jahre vorher...

 

August 1986 – Wien (Österreich)

 

„Hast du es schon jemandem erzählt?“, fragte der junge Mann und zwirbelte an seinem ungepflegten Schnurrbart.

„Nein, Liebster. Du solltest der Erste sein.“ Maureen war verunsichert. Ihr war nicht entgangen, dass er keine Miene verzogen hatte. Er ließ sie warten. „Freust du dich nicht?“ Er zeigte keine Reaktion. „Aber, Darling!“ Sie fühlte, wie sich ein unsichtbarer Ring um ihre Brust legte und atmete tief durch. „Wieso freust du dich nicht?“

„Weißt du, Maureen“, er zögerte und schaute unverwandt zu Boden, „eigentlich bin ich noch nicht so weit. Ich will noch nicht Vater werden.“

„Aber… aber… wieso? Wir wollten doch heiraten!“

„Ja, ja. Heiraten schon… aber keine Kinder. Zumindest jetzt noch nicht.“

Maureen erhob sich und blieb am Fenster des geschmackvoll eingerichteten Hotelzimmers stehen. Sie konnte es kaum glauben. Weshalb reagierte er so abweisend? Die Mittagssonne tauchte die Stadt jenseits des Fensters in gleißendes Licht. Wien! Pracht und Glanz einer Epoche, die dem Klischee des alten Kontinents, wie es sich die meisten Amerikaner vorstellten, voll und ganz entsprach. Was für ein Unterschied zu Dallas.

Diese wundervolle Stadt, randvoll mit greifbaren Zeugnissen einer Zeit, die sie nur aus dem Geschichtsunterricht und den Sissi-Filmen kannte, hatte die 19jährige in ihren Bann gezogen. Wien im Sonnenschein. Doch das Licht in Maureens Innenleben drohte zu erlöschen. Nein, mit dieser Reaktion Konstantins hatte sie nicht gerechnet. Langsam drehte sie sich um.

Noch immer saß er reglos auf der Bettkante, starrte auf den dezent gemusterten Teppichboden und war völlig in Gedanken versunken. Seine langen, struppigen Haare, die langen Backenkoteletts, der zerrupfte Bart, die verknitterten Jeans, das verwaschene T-Shirt, die große Hornbrille. Ja, er war ein ausgeflippter Typ… und sie liebte ihn. Endlich hatte das richtige Leben in ihr langweiliges, texanisches Dasein Einzug gehalten.

Gleich nach ihrer Ankunft hatte sie ihn am Flughafen kennengelernt. Vor drei Monaten. Die Europareise, die sie von ihren Eltern anlässlich ihres glänzenden Abiturs geschenkt bekommen hatte, bescherte ihr die Erfüllung ihres größten Wunsches: sie hatte ihren Traumprinzen gefunden. Und dann auch noch ein leibhaftiger, österreichischer Adliger. Er hatte sie gebeten, seine Frau zu werden. Maureen von Hohentaubert. Was für ein klangvoller Name! Ihre Freundinnen würden vor Neid erblassen. Ihren Eltern wollte sie es erst erzählen, wenn sie vom Arzt die Bestätigung bekommen und ihre Vermutung sich in Gewissheit verwandelt hatte. Und jetzt das. Weshalb wollte er nicht Vater werden? Er liebte sie doch.

Ihre Fassungslosigkeit ließ sich nicht zähmen. „Weißt du, was du da sagst, Konstantin? Soll ich das Kind etwa abtreiben lassen? UnserKind?“ Mit einer unwirschen Handbewegung strich sie eine der langen, blonden Strähnen hinter das Ohr.

„Das wäre die beste Lösung“, hörte sie ihn sagen und war zutiefst erschüttert über die Gefühllosigkeit, die Gleichgültigkeit in seiner Stimme.

„Das kommt überhaupt nicht in Frage!“ Heftig wies sie diesen absurden Gedanken zurück. „Ich ermorde doch nicht mein eigenes Fleisch und Blut.“

Er hob seinen Kopf und sie schaute in seine blassblauen Augen. Mit der steilen Falte zwischen den Brauen wirkte er ärgerlich und Maureen fühlte zum ersten Mal Beklommenheit und Anspannung. Plötzlich lächelte er. Sein anziehendes, charmantes Lächeln, in das sie sich gleich bei ihrer ersten Begegnung verliebt hatte, fegte mit einem Schlag alle Sorgenfalten aus seinem Gesicht.

„Weißt du was, Maureen, ich bin ein Dummkopf. Ein unverbesserlicher, störrischer Esel. Entschuldige bitte. Natürlich freue ich mich. Und zwar so sehr, dass wir uns jetzt eine Flasche Champagner aufs Zimmer kommen lassen und feiern. Was meinst du?“

Sie fühlte, wie der Felsbrocken, der es sich auf ihrem Gemüt bequem zu machen drohte, von ihr abfiel und ließ sich erleichtert neben ihren Liebsten auf das Bett fallen. Stürmisch umarmte sie ihn. „Oh, Konny. Du hast mich zu Tode erschreckt.“ Sie löste sich. „Aber ich darf jetzt keinen Alkohol mehr trinken. Das würde dem Baby schaden.“

„Dafür hast du aber gestern Abend noch ganz schön gebechert und vergiss nicht – auch noch kräftig gekokst.“ Grinsend fügte er hinzu: „Vom Kiffen ganz zu schweigen.“

„Ja, das war gestern. Da wusste ich auch noch nichts von unserem Glück.“

„Meinst du, es käme dann auf ein Glas Champagner an?“

Sie wiegte den Kopf. Wollte sie ihn jetzt enttäuschen? Bestand er dann vielleicht wieder missgestimmt auf der absurden, widersin­nigen und für sie inakzeptablen Abtreibung? „Nein, du hast recht. Es soll wirklich nicht auf ein kleines Glas Sekt ankommen.“

Erneut lächelte er sein charmantes Lächeln. „Hier!“ Er reichte ihr eine durchsichtige, runde Plastikdose mit kleinen Kapseln. „Die habe ich heute Morgen in der Apotheke gekauft. Nimm eine davon.“

„Was ist das?“

„Das ist gegen deine Übelkeit. Der Apotheker hat mir gesagt, das sei derzeit das Beste auf dem Markt. Und du weißt, ich möchte unbedingt, dass es meinem Schatz gut geht. Wenn du morgens eine davon nimmst, fühlst du dich den ganzen Tag wohl.“ Er streichelte über ihren Leib. „Und das Baby natürlich auch.“

„Wie lieb von dir“, antwortete Maureen strahlend, griff zum Hörer und bestellte den Champagner.

Mit geübten Händen öffnete er die eisgekühlte Flasche und das leise ‚Plop‘ zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. Nachdem er die beiden Kelche gefüllt hatte, wurde ihr wieder übel und sie rannte ins Bad. Gerade noch rechtzeitig erreichte sie die Toilette und musste sich übergeben, wie so oft in den letzten Tagen. Als sie zurückkehrte, saß er wieder auf der Bettkante.

Er lächelte sie an. „Besser?“

„Ja. Es geht wieder.“

„So!“ Er drückte ihr die Dose mit den Kapseln in die Hand. „Jetzt nimmst du zuerst eine davon. Dann ersparst du dir weitere Attacken.“

Er erhob sich, drückte ihr das Glas in die Hand und stieß mit seinem dagegen. „Auf unser Kind.“

„Ja. Auf unser Kind“, erwiderte sie und nahm die unscheinbare Kapsel mit dem ersten Schluck.

Jetzt wird alles gut, dachte Maureen und begann, die gemeinsame Zukunft in den schillerndsten Farben zu beschreiben. Sie war überglücklich, dass er ihr uneingeschränkt zuhörte und keine Einwände mehr vorbrachte. Zwischendurch suchte sie immer wieder das Bad auf. Die Übelkeit wollte nicht weichen. Aber Gott sei Dank blieb ihr weiteres Erbrechen erspart. Diese Kapsel schien tatsächlich schon zu wirken. Obwohl ihr ein wenig schwindelig war.

Nach einer Weile stellte sie erschrocken fest: „Du meine Güte! Ich wollte doch nur ein Glas. Und jetzt ist die ganze Flasche leer.“

„Ach komm, Maureen. Das war doch nun wirklich ein Grund zum Feiern, oder?“

„Stimmt. Allerdings merke ich, wie mir schwindelig ist und ich schrecklich müde werde.“

„Dann leg dich hin und schlaf eine Runde. Das wird dir und dem Baby gut tun.“

„Du hast recht. Wir haben ja heute keine Termine mehr.“ Sie gähnte. „Und meine Eltern kann ich morgen immer noch anrufen.“

Komisch, dachte Maureen, wo kommt plötzlich diese Müdigkeit her? Das habe ich ja noch nie erlebt. Das Denken fiel ihr außerordentlich schwer. Sollte Champagner nicht eine anregende, stimulierende Wirkung haben? So war es auch bisher immer. Sie fühlte, wie die Schwärze des Schlafes sie aufsog und überließ sich vertrauensvoll seiner verlockenden Ruhe.

*

*

*

 

Wüstengesang

*

Dezember 2001 – Pattscheid

 

Lisa wusste Bescheid. Schon seit drei Wochen. Ausgerechnet jetzt, dachte sie, kurz vor meinem ersten Weihnachtsfest im Schlösschen, wie sie das von Tante Käthe geerbte Landhaus getauft hatte. In Gedanken versunken stand sie am großen Wohnzimmerfenster. Mit beiden Handflächen umfasste sie den Kaffeebecher und wärmte ihre Finger an dem heißen Gefäß. Trotz der behaglichen Wärme, die das Kaminfeuer im Zimmer verbreitete, fröstelte sie.

Lisa hatte die verdeckt angebrachten Lampen im Garten eingeschaltet, die die drei großen Eichen, die angrenzenden Rhododendren und Kirschlorbeersträucher anstrahlten und den Garten in einen Zauberwald verwandelten. Im Schein der Lichtstrahlen beobachtete sie, wie sich die dicken Schneeflocken schwebend zu ihren Vorgängern auf dem Rasen gesellten. Die kahlen Äste der großen Laubbäume zierte eine dicke, weiße Schicht, wie mit einem unsichtbaren Kleber festgepappt. Schon bald würden die Äste das Gewicht der Schneemassen abschütteln. Sie würden sich von der Last befreien und die Flockenpracht zu Boden zwingen. Für einen Moment würde ein weißer Sprühnebel seine Schwingen ausbreiten, um kurz danach auf dem Boden aufzuschlagen. Das ist kitschig, dachte Lisa, wie auf einer dieser übersentimentalen Postkarten.

Sie seufzte und kehrte zu ihrem Schreibsekretär zurück. Brigitte, ihre fleißige Haushaltshilfe, war bereits gegangen und Andreas würde erst in zwei Stunden müde nach Hause kommen. Sie ließ sich auf dem bequemen Drehstuhl nieder, griff nach dem Stift und schrieb in ihr Tagebuch:

 

Mittwoch, den 12. Dezember 2001

In der letzten Nacht hatte ich zum dritten Mal diesen Traum. Ich weiß jetzt mit Sicherheit, dass es wieder eine Vision und kein normaler Traum ist, auch wenn ich viel lieber ein Phantasiegebilde darin sehen würde. Aber die Zeichen sind unverkennbar. Die Bilder wiederholen sich. Und das immer in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch. Wieder werde ich nachts wach. Wieder ist es stets die gleiche Uhrzeit. Diesmal allerdings: 02:27 Uhr.

Die Bilder sind noch sehr verschwommen und ziemlich dunkel. Ich kann kaum etwas erkennen. Ich weiß nur, dass ich allein bin. Und das Alleinsein empfinde ich als unangenehm. Dieses tiefe, allumfassende Gefühl der Einsamkeit, das einem unsichtbaren Gefängnis gleicht, aus dem es kein Entrinnen gibt, ist mir in meinem bisherigen Leben erspart geblieben. Selbst als Ludger starb, hatte ich Freunde. Allen voran Carola. Nein, einsam bin ich in meinem Leben noch nie gewesen. Was bedeutet also diese Vision? Warum soll ausgerechnet ich das Gefühl der Einsamkeit kennenlernen? Was ist der Grund? Und was soll ich damit anfangen?

Wieder tappe ich im Dunkeln. Wieder zerbreche ich mir den Kopf. Und wieder habe ich dieses grauenhafte Gefühl, nicht ganz normal zu sein, nicht sauber zu ticken.

Wie sehr habe ich das Thema der ‚Gabe‘ verdrängt? Wie sehr habe ich gehofft, dass die Geschichte mit der Tanzschule nur eine kurze, vorübergehende Episode in meinem Leben, nur eine Ausnahme war? Aber es ist ganz eindeutig eine falsche Hoffnung, ein Wunschdenken, ein fehlgeleiteter Optimismus gewesen.

Gerade einmal zwei Monate waren mir zur Erholung gegönnt. Nur im Oktober und November war ich frei von diesen nicht-definierbaren, unverständlichen und verschlüsselten Botschaften in Bilderform, die den Verstand zur Verzweiflung bringen.

Hoffentlich zieht sich dieser Traum nicht wieder über Wochen oder Monate hin, ohne dass ich auch nur eine Ahnung habe, was er bedeutet. Und hoffentlich entwickeln sich die Bilder nicht erneut zu einer so bedrohlichen Vorausschau wie beim letzten Mal. Das würde ich nicht noch einmal aushalten. Präkognition! Was für ein scheußliches Wort. Ausgerechnet ich, die ich immer stolz auf meine rationale, sachliche und vernunftgesteuerte Denkweise war, muss mich mit der Gabe der Vorausschau, der Hellseherei herumschlagen. Auf dieses Familienerbe könnte ich gut und gerne verzichten. Ich habe längst noch keinen Frieden mit diesem Vermächtnis geschlossen.

 

Lisa legte den Stift beiseite, klappte ihr Tagebuch zu, verstaute es in der dafür vorgesehenen Schublade im Sekretär und lehnte sich zurück. Nein, sie würde Andreas nichts von ihrer jüngsten Vision sagen. Jedenfalls noch nicht. Warum soll ich ihn beunruhigen? Ich kann ihm ja ohnehin nichts wirklich Handfestes erzählen. Die Bilder waren einfach noch zu unklar. Lisa versuchte, das nächtliche Erleben in ihr Gedächtnis zurückzuholen.

Es war wie in einem Film, in dem die Beleuchtung ausgefallen war. Ja, es waren Schemen und Umrisse. Mehr nicht. Keine richtigen Bilder. Nicht wie beim ersten Mal, als es um die Tanzschule ging. Da war alles klar und deutlich. Aber jetzt? Komm, streng dich an, ermahnte sie sich. Doch je mehr sie sich bemühte, desto weiter zogen sich die schemenhaften Umrisse in die Dunkelheit des Unbewussten zurück, an die der Verstand nun einmal nicht heranreichte. Eine beunruhigende Erfahrung, wie Lisa wieder einmal feststellen durfte.

Du musst dich entspannen, erinnerte sie sich an Carolas Ermahnung, und fühlen, was da aufsteigen will.

Wie sie es im Volkshochschulkurs gelernt hatte, atmete sie tief durch und stellte sich Arme und Beine schwer und warm vor. Durch das Autogene Training hatte sie gelernt, ihren Körper ganz zu entspannen. Es dauerte nicht lange, bis sie den Geist beruhigt hatte und die Muskeln sich entkrampften.

Allmählich tauchten die verschwommenen Bilder auf: sie erahnte eine große Fläche, auf der sie sich befand. Es musste eine riesige Fläche sein. Sie konnte keine Umrisse oder Gegenstände ausmachen, die den Blick verstellten. Aber Lisa empfand die Umgebung und den Zustand mehr, als dass sie ihn wahrnehmen konnte. Sie spürte die Unendlichkeit, die ihr das Gefühl der totalen Einsamkeit verschaffte. Sowohl das verschwommene, dunkle Bild als auch das damit verbundene Empfinden erlebte sie als unheimlich, geheimnisvoll und undurchschaubar.

Lisa spürte keine Angst. Auch keine Bedrohung. Sie suchte nach passenden Ausdrücken für ihr Erleben. Nach einer Weile tauchten die Worte in ihrem Gemüt auf: ja, es war eine Mischung aus Ungeduld, Neugier und Erwartung, mit einer Prise Ärgerlichkeit.

Wie sie es gelernt hatte, ballte sie die Hände zu Fäusten, reckte sich und kehrte in ihr Tagesbewusstsein zurück.

Langsam ließ sie den Blick durch das große Wohnzimmer streifen. Das gedämpfte Licht der Stehlampe unterstrich die Behaglichkeit des Raumes. Das Kaminfeuer verströmte ursprüngliche Wärme und der angestrahlte Garten mit den tänzelnden Schneeflocken hinter den Sprossenfenstern vervollständigte das Bild der ländlichen Idylle.

Ja, es wirkt tatsächlich richtig kitschig, blitzte der Gedanke erneut durch Lisas Gemüt. Gäbe es da nicht wieder diese Träume, diese lästigen Visionen – ich wäre rundum glücklich.

Mit Andreas hatte das Schicksal ihr zum zweiten Mal die Chance geliefert, eine innige Beziehung aufzubauen. Genau wie mit Ludger, ihrer ersten, großen Liebe. Nach Ludgers Tod hatte sie es nicht für möglich gehalten, dass sie noch einmal einen Mann lieben könnte, wie sie es mit Ludger erlebt hatte. Wieder fühlte sie große Dankbarkeit in sich aufsteigen. Oh ja, sie war ein echter Glückspilz.

Kurz nach ihrem ersten großen Erlebnis mit der Tanzschule war Andreas ins Schlösschen gezogen. Sie wollten zusammen sein, so oft es sein Beruf als Landarzt erlaubte. Nur allmählich hatte Lisa sich wieder an ein Leben in einer Partnerschaft gewöhnt. Wenn man so lange allein seinen Tag gestaltet hat, ist das schon eine große Umstellung, dachte sie. Aber Andreas war fürsorglich, verständnisvoll und ungemein behutsam. Sie liebte ihn, wenn auch auf eine ganz andere Art als Ludger. Ich bin ja auch dreißig Jahre älterals damals, bei meiner ersten Begegnung mit Ludger.

Und nun war sie mitten in den Vorbereitungen für ihr erstes Weihnachtsfest in ihrem neuen Heim im Bergischen Land. Lisa hatte sich einen Christbaum gewünscht, dessen Spitze die hohe Decke im Flur berühren sollte. In ihrer kleinen Wohnung in Hamburg hatte sie nur einen sehr kleinen Baum aufstellen können. Es gab einfach nicht genug Platz für einen großen.

In der Vorwoche hatte Lisa sich in das Getümmel eines großen Einkaufsbummels in Köln gestürzt und Unmengen an Weihnachtsschmuck erstanden. Andreas hatte ihr versprochen, allerspätestens am 20. Dezember den Baum aufzustellen. Wahrscheinlich habe ich viel zu viel gekauft, dachte Lisa, ohne sich von ihrer Vorfreude abbringen zu lassen.

Auf ihrer ausgiebigen Shoppingtour hatte sie auch nach einem Geschenk für Andreas Ausschau gehalten, konnte aber nichts Passendes finden. Socken, Krawatten oder Rasierwasser? Für Lisa undenkbar. Es sollte etwas Außergewöhnliches, etwas Besonderes sein. Etwas, mit dem er nicht rechnete. Etwas, das eine wirkliche Überraschung war. Aber was sollte man einem Mann schenken, der am liebsten verwaschene Jeans und bequeme Sweatshirts in seiner Praxis trug? Der weder eitel noch prahlerisch war? Dem Äußerlichkeiten nur sehr wenig bedeuteten? Um nicht mit leeren Händen an Heiligabend dazustehen, hatte sie ein paar Fotos von sich in einem Atelier machen lassen und das schönste in einen Silberrahmen gesteckt. Weil sie wusste, dass er einen guten Rotwein zu schätzen wusste, hatte sie in einem Weinladen eine Kiste mit einem wirklich edlen Tröpfchen gekauft, aber sie war noch immer nicht zufrieden.

Auf derselben Einkaufstour hatte sie in einer kleinen Boutique in der Innenstadt Kölns einen schicken, seidenen, cremefarbenen Hosenanzug erstanden. Aufgrund ihrer leuchtend roten Locken war ihre Farbwahl bei Kleidungsstücken stark eingeschränkt, sollten Haare und Kleidung nicht in Disharmonie geraten.

Lisa hörte, wie die Haustür aufgeschlossen wurde und eilte in die Diele.

„Puh!“ Andreas grinste sie an. „Ist das ein Wetter.“

Während er sich aus dem durchnässten Parka schälte und ihn an die Garderobe hängte, nahm Lisa seinen kleinen Koffer entgegen.

„Oh, Mann! Bin ich froh, zu Hause zu sein.“

Lisa umarmte ihn und er zog sie an sich.

„Hast du Hunger?“, flüsterte sie ihm ins Ohr.

Er presste sie enger an sich. „Wenn ich dich im Arm halte, vergesse ich sogar meinen Riesenhunger.“

„Dem machen wir trotzdem zuerst den Garaus.“ Lisa wand sich aus seiner Umarmung. „Ich habe schon alles vorbereitet.“

Bevor sie sich umdrehen konnte, hielt er sie am Arm fest, umfasste ihre Schultern und küsste sie leidenschaftlich. Lisa stellte sich auf die Zehenspitzen, schlang ihre Arme um seinen Hals und erwiderte die gefühlvolle Begrüßung.

Abermals löste sie sich aus seiner Umarmung und sagte energisch: „Jetzt ist aber Schluss. Jetzt wird gegessen, mein Lieber.“

Andreas grinste. „Yes, Madam! Ganz wie Ihro Gnaden befehlen.“

In der Küche füllte sie zwei Suppentassen und stellte sie auf den Tisch.

„Mmmh“, meinte Andreas, „das riecht gut.“

„Broccolicremesuppe“, erwiderte Lisa, während sie den Backofen ausschaltete.

„Und danach?“

„Lass dich überraschen“, lächelte sie. Sie stellte das Brotkörbchen mit den Baguettescheiben ebenfalls auf den Tisch.

Andreas langte zu und im Nu war die Suppentasse leer.

„Hast du noch mehr davon?“

„Ja, aber nachher hast du keinen Hunger mehr auf das Hauptgericht.“

„Ach Liebste, du glaubst gar nicht, welche Mengen in 1,90m hineinpassen.“

Lisa lachte. „Und ob ich das weiß! Schließlich kenne ich dich nicht anders als ewig hungrig.“

Auch der Nachschlag war schnell vertilgt. Lisa holte den Tontopf aus dem Backofen, stellte ihn mitten auf den Tisch auf einen Untersetzer und nahm den Deckel ab.

„Ein Römertopfgericht für Dr. Roemer“, meinte sie gut gelaunt.

„Oh, Mann. Riecht das gut. Wenn das so gut schmeckt, wie es aussieht, dann bekommst du heute die Medaille.“

„Oh! Was für eine?“

„Die Andreas-satt-mach-und-Genuss-Medaille.“

„Die habe ich mir schon immer gewünscht.“

„Und was ist das jetzt für ein Braten?“

„Das, mein Lieber, ist ein Schmorbraten in Rotweinsauce mit Sahnekartoffeln.“

„Soll ich das Fleisch aufschneiden?“

Sie reichte ihm Fleischgabel und Messer.

Während er den Braten zerteilte, holte sie den Salat aus dem Kühlschrank und verteilte ihn auf die beiden Glasschalen. Erneut langte Andreas ordentlich zu. Er war eindeutig hungrig und ließ es sich gut schmecken.

Mit einem genüsslichen „Ahhh“ legte er schließlich sein Besteck auf dem leeren Teller ab und lehnte sich zurück.

„Und was gibt‘s zum Nachtisch?“

„Was wohl?“, grinste Lisa.

„Etwa dicken Reis mit Zimt und Zucker?“

„Ja, mein Lieber. Genau den.“

„Oh, Lisa. Du bist ein Goldstück. Mein Lieblingsnachtisch.“

Nachdem er auch den letzten Rest Reis aus der Schüssel gekratzt und aufgegessen hatte, spülte Lisa das Geschirr kurz ab und ließ Wasser in den Tontopf laufen. Brigitte würde sich morgen um den Rest kümmern.

Andreas schnappte sein Glas, füllte den Rest Wein mit Sprudelwasser auf und zog Lisa ins Wohnzimmer. „Komm mit. Ich habe tolle Neuigkeiten.“

Sie ließen sich auf die Couch fallen und Lisa legte ihren Kopf an seine Schulter. „Na, jetzt bin ich gespannt.“

„Stell dir vor, ich habe heute die Bestätigung für meine Fortbildung bekommen.“

„Ach? Die in Wien? Die ausgebucht war?“

„Genau die. Du weißt, dass ich seit Jahren versuche, einen Platz zu bekommen. Immer ist diese Fortbildung ausgebucht gewesen. Und jetzt hat ein Teilnehmer abgesagt und ich kann seinen Platz übernehmen.“

„Oh, ich freu mich für dich. Wann geht es los?“

„Irgendwann im Februar.“

„Und wie lange dauert sie?“

„Vier Wochen.“

„Vier Wochen? Ach du liebes bisschen.“

Abrupt setzte Lisa sich aufrecht. „Vier Wochen? So lange waren wir noch nie getrennt. Meinst du, wir halten das aus?“ Sie lächelte.

„Ha!“, rief er aus, „wenn nicht, breche ich das Seminar eben ab und komme im Tiefflug zurück.“

„Das bringst du glatt fertig“, stimmte Lisa lachend ein, „aber das kommt gar nicht in die Tüte. Du hast dich so bemüht und deshalb … es wird fleißig gelernt, Herr Doktor.“

„Komm doch einfach mit“, lud er sie ein, „dann kannst du dir Wien anschauen.“

„Und dich abends verwöhnen?“

„Na, du bist aber ein helles Köpfchen.“

„Während du müde und genervt vom Lernstoff des Tages bist?“

„Ja, genau. Du päppelst mich jeden Abend neu auf, damit ich den nächsten Tag wieder überstehe und noch mehr an Wissen in mein Hirn stopfen kann.“

„Oh, Andreas. Das kannst du dir leider nicht leisten.“

„Wieso nicht?“

„Na, dann muss ich mich tagsüber selbst aufpäppeln. Und ich vermute, dass die Preise in Wien etwas höher sind als in Köln. Du siehst, das würde dich ein kleines, wenn nicht gar ein großes Vermögen kosten.“

„Oh weia. Das ist ein sehr gutes Argument. Wie wäre es, wenn du mich an jedem Wochenende besuchen kommst? Dann sind die Geschäfte zu und wir können uns gegenseitig verwöhnen?“

„Das hört sich schon viel besser an.“

„Du, Lisa. Das meine ich ernst. Du musst mich wirklich besuchen kommen.“

Sie dachte an ihre Vision und wusste tief in ihrem Inneren, dass sie nicht nach Wien reisen würde, brachte es jedoch nicht fertig, Andreas die Vorfreude zu verderben. „Es ist ja noch ein Weilchen bis dahin. Warten wir ab. Aber – grundsätzlich… warum nicht?“

Sie wechselte das Thema. „Was macht die Erkältungswelle?“

„Sie entwickelt sich prächtig.“ Andreas‘ Sarkasmus war unüberhörbar. „Es werden täglich mehr, die sich in unsere Praxis schleppen. Wenn das so weitergeht, werde ich wohl bald Überstunden machen müssen.“

„Und was ist mit Renate? Ihretwegen hast du doch die Räume zur Gemeinschaftspraxis umgebaut.“

„Sie ist auch am Rande ihrer Kapazitäten. Aber eine solche Erkältungswelle würde drei weitere Mediziner in Atem halten. Und nur für eine kurze Zeit weitere Ärzte in die Praxisgemeinschaft aufnehmen? Das kann ich mir nicht leisten.“

„Ich verstehe“, nickte Lisa. „Gott sei Dank sind wir beide bisher verschont geblieben.“

„Ja, Gott sei Dank. Und damit das auch so bleibt, habe ich uns einen Saft mitgebracht, der unser Immunsystem aufrecht hält.“

„Etwa den, den du mir schon einmal verabreicht hast?“

„Ja, Lisa. Den meine ich. Ist damit etwas nicht in Ordnung?“

„Nein, nein. Im Gegenteil. Den habe ich gut vertragen und er hat ja auch bestens gewirkt.“

Sie sah seinen Blick, den sie nicht recht deuten konnte. „Ist was?“

„Ja“, antwortete er, nahm sie auf seine Arme und trug sie nach oben. Ins Schlafzimmer.

 

* * *

 

Der Rest der Woche verging wie im Flug.

Wie immer am Samstagmorgen brachte Andreas ihr den Kaffee ans Bett.

„Wie hast du geschlafen?“, wollte er wissen, als er ihr einen Kuss auf die Stirn gab.

Lisa reckte sich. „Einfach nur grandios.“

„Weißt du eigentlich, wie süß du bist, wenn du noch so richtig zerzaust aussiehst?“ Er lächelte.

„Nee.“ Lisa schüttelte den Kopf. „Das sagst du mir immer. Aber was soll an einer zerzausten, halb verschlafenen Frau süß sein?“

„Ihre Natürlichkeit. Keine kunstvolle Frisur. Keine Schminke. Keine Klunker.“

Lisa zog ihn zu sich herunter und küsste ihn auf die Wange.

Als er sie auf den Mund küssen wollte, rief sie aus: „Stopp! Hier hört die Natürlichkeit auf.“

Als sie seinen verständnislosen Gesichtsausdruck sah, fügte sie hinzu: „Ungeputzte Zähne haben für mich nichts mehr mit Natürlichkeit zu tun, mein Lieber.“

„Ach Lisa. Du und dein Hygienefimmel. Als ob mich das stören würde.“

„Dich vielleicht nicht, aber mich, mein Schatz.“

Andreas setzte sich auf die Bettkante. „Ich habe eben einen Anruf bekommen und muss in die Praxis. Die Erkältungswelle steigt offenbar rapide an und es gibt ein paar Fälle, die auszuufern drohen. Die Kleine von Haussmann hat es schlimm erwischt.“

„Du meinst einer der Enkel?“

„Ja. Gabi, die Tochter, ist im Moment zu Besuch. Ihre Kleinste hat hohes Fieber.“

„Schade. Aber das ist wohl das Los der Arztfrauen auf dem Land, nicht wahr?“

„Du sagst es. Ich versuche, so früh wie möglich zurück zu sein.“

Er umarmte sie noch einmal, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und verließ das Haus.

Was bin ich doch für ein Glückspilz, dachte Lisa, einen solchen Mann unter Millionen und ich erwische ihn.

Sie leerte ihre Tasse, sprang aus dem Bett und ging unter die Dusche. Nachdem auch die Locken in Ordnung gebracht und sie in ihren heißgeliebten Nicki-Hausanzug geschlüpft war, bereitete sie sich ein Frühstück.

Sie nutzte Andreas‘ Abwesenheit, um die beiden Geschenke für ihn zu verpacken. Als sie fertig war und ihr Werk betrachtete, fühlte sie erneut ihre Unzufriedenheit. Nein, sie war ganz und gar nicht glücklich mit ihren Geschenken. Sie waren einfach nicht das, was sie für diesen wunderbaren Mann haben wollte. Sie waren ihr nicht passend, nicht persönlich genug.

Frustriert verstaute sie die Pakete in ihrem Ankleidezimmer. Hoffentlich fällt mir bis Heiligabend noch etwas ein.

Am späten Nachmittag kam Andreas zurück – mit einem riesigen Weihnachtsbaum auf dem Dachgepäckträger.

Kurz darauf erschien ein weiteres Fahrzeug. Bruno, der Gärtner, bei dem Andreas das riesige Teil erstanden hatte, half ihm, den Baum ins Hausinnere zu transportieren und aufzustellen. Er verabschiedete sich sofort wieder. Nachdem das gute Stück endlich im Flur stand und Andreas sich die Nadeln von der Kleidung abgeklopft hatte, umarmte Lisa ihn. „Danke. Das hast du prächtig hinbekommen. Ich danke dir.“

„Lass mich erst mal aus diesen Klamotten raus.“ Er küsste sie flüchtig. „Dann kannst du dich richtig bei mir bedanken.“ Er ging nach oben, um seine Kleidung zu wechseln.

Lisa stand vor dem riesigen Baum und konnte kaum glauben, dass es tatsächlich ihr Baum war. Ein solches Prachtstück hatte sie noch nie ihr eigen nennen können. Hatte sie dafür überhaupt genug Schmuck? Kugeln? Sterne? Lichter… oder was auch immer?

Sie holte alles hervor, was sie an Weihnachtsschmuck gekauft hatte. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie im Keller eine Kiste gesehen hatte, auf die Tante Käthe ‚Weihnachtsschmuck‘ geschrieben hatte. Die Kiste war rasch gefunden und genauso schnell auf der Treppenstufe abgesetzt. Gerade als sie den Deckel entfernte, erschien Andreas auf dem Treppenabsatz. „Ich glaube, wir brauchen eine Leiter.“

„Ja.“ Lisa nickte. „Weißt du, wo sie ist?“

„Ich meine, ich hätte eine in der Garage gesehen. Ich schau mal nach.“

Mit einer großen Haushaltsleiter kehrte Andreas zurück. „Damit müsste es gehen.“

Bevor Lisa antworten konnte, läutete das Telefon. Andreas musste erneut in die Praxis. Diesmal war es die Frau eines Landwirtes aus Kuckenberg. Ihr Mann lag mit hohem Fieber im Bett und wollte nichts essen, ein Umstand, der die Frau zutiefst beunruhigte, wie Andreas erzählte.

„Wenn du nichts mehr essen wolltest“, sagte Lisa grinsend, „wäre ich nicht beunruhigt, sondern wahrscheinlich in Panik.“

Andreas packte sich wieder in seinen dicken Parka, schlüpfte in die gefütterten Stiefel und meinte: „Jetzt musst du mit deinem richtigen Dankeschön noch ein bisschen warten. Und wage es jaaa nicht, allein auf die Leiter zu klettern. Du wartest, bis ich zurück bin. Klar?“

„Bis später.“ Er winkte ihr zu und zog die Haustür hinter sich ins Schloss.

Lisas Hoffnung, er würde bald wieder zurückkehren, wurde enttäuscht. Nicht nur das Wochenende stand unter dem dunklen Stern der Erkältungswelle, sondern sie schwappte auch auf die neue Woche über.

In aller Frühe verließ Andreas das Haus und kam erst sehr spät nach Hause. Zu der Erkältungswelle hatten sich einige Grippepatienten gemeldet und Andreas machte bis in den späten Abend noch Hausbesuche. Wie er Lisa erzählte, erging es Renate, seiner Kollegin, genauso.

Es schneite die ganze Woche. Die Streuwagen kamen kaum mit ihrer Arbeit nach. Aus den anfänglichen dicken Wasserflocken waren mittlerweile kleine, feste Schneeflocken geworden, die sich überall auftürmten: im Garten, auf den Gehwegen, am Straßenrand. Das Bergische Land war mit einem großen, weißen Tuch bedeckt, das täglich dicker wurde. Vor Spaziergängen in den Wäldern wurde in den Medien ausdrücklich gewarnt und Hausbesitzer aufgefordert, ihre Dächer im Auge zu behalten und möglichst frühzeitig von den Schneemengen zu befreien.

Lisa war dankbar, dass Brigitte sie, trotz des Wetters, nicht im Stich ließ. Als sie ihr das zu verstehen gab, reagierte die Haushaltshilfe: „Wieso? Was ist denn? Alle meckern, wenn es zu viel regnet. Sie meckern, wenn es zu wenig regnet. Dann meckern sie, wenn es schneit. Und wenn es im Winter nicht schneit, meckern sie genauso. Ist doch alles Quatsch. Blödsinn! Wieso müssen die Leute immer am Wetter rumnörgeln? Winter ist Winter. Und dazu gehört Schnee. Basta!“

Brigitte drehte sich auf dem Absatz um, betrat den Hauswirtschaftsraum und schaltete das Bügeleisen ein.

Typisch Brigitte, schmunzelte Lisa.

Als Lisa die Frau gebeten hatte, ihr beim Schmücken des Baums zu helfen, hatte Brigitte die Hände in die Seiten gestemmt und geantwortet, fast empört: „Lassen Sie mal, Frau Hansen. Das habe ich bei Ihrer Tante jedes Jahr allein gemacht. Legen Sie mir die Sachen hin und kümmern Sie sich um Ihre Steckblumen.“

Lisa spürte, dass Brigitte keine Hilfe annehmen würde. Für ihre gute Fee war das Schmücken des Baums offenbar nicht nur Ehrensache, sondern ein Privileg. Sie wollte auf keinen Fall riskieren, dieses einfache Gemüt zu verschrecken oder gar zu verletzen. Also zog sie sich ins Wohnzimmer zurück und widmete sich ihren geliebten Büchern. Später würde sie sich ihrem neuen Hobby, dem Ikebana, zuwenden.

 

* * *

 

In der Nacht zu Mittwoch erwachte Lisa wieder um genau 02:27 Uhr. Der Digitalwecker zeigte die Ziffern in  derselben Reihenfolge an wie in der Vorwoche.

Im Gegensatz zu den bisherigen, schummrigen Bildern hatte Lisa eine Veränderung bemerkt. Sie drehte sich auf den Rücken und tastete vorsichtig auf die andere Bettseite. Ja, Andreas schlief tief und fest.

Ganz langsam und vorsichtig stand sie auf, ergriff ihren Morgenmantel und schlich die Treppe hinunter. Sie knipste die kleine Lampe an ihrem Sekretär an, setzte sich auf den Drehstuhl und holte ihr Tagebuch hervor.

 

Mittwoch, den 19. Dezember 2001

Das Bild ist etwas heller geworden. Ja, meine Eindrücke waren richtig. Es ist eine ganz weite Fläche. Ich hocke mitten in einer riesigen, ja unendlichen Ebene. Kein Baum. Kein Strauch. Kein Mensch. Kein Tier. Keine Berge. Keine Hügel. Keine Täler. Nichts! Ein unendliches Nichts. Der Boden ist rissig, von Furchen durchzogen wie ein zu groß geratenes Spinnennetz, als hätte es ewig lange nicht geregnet, aber ansonsten – absolut eben. Nur Weite. Endlose Weite. Bis zum Horizont. Und das in alle Richtungen. In einem Bogen von 360 Grad: nichts.

Absolut nichts!

Keinen Laut gibt es in dieser Landschaft. Weder ein Rascheln noch ein anderes Geräusch ist zu hören. Kein Windhauch bewegt die Luft. Es bewegt sich überhaupt nichts. Alles scheint tot zu sein. Erstarrt. Ja, wie ein Standbild. Ein Film, der zum Stehen gekommen ist. Nicht das kleinste Lebenszeichen. Schrankenloser, allumfassender Stillstand.

Diese Einsamkeit, diese absolute Stille in einem universellen, allgewaltigen Nichts ist wirklich unheimlich.

 

Lisa klappte das Buch zu, verstaute es wieder im Sekretär, knipste die kleine Lampe aus und ging auf Zehenspitzen zurück ins Schlafzimmer. Lautlos schälte sie sich aus dem Morgenmantel und hängte ihn an den Haken. Andreas hatte sich nicht gerührt. Gott sei Dank. Er hat nichts mitbekommen, dachte Lisa erleichtert und schlüpfte unter die Decke.

 

Als Lisa erwachte, war Andreas schon aus dem Haus. Diese verflixte Erkältungszeit, wetterte sie innerlich, ich kriege ihn kaum noch zu Gesicht. Aber, tröstete sie sich, bald ist Weihnachten und dann lassen ihn auch die Patienten sicher einmal in Ruhe.

Nachdem sie ihre übliche Morgenroutine mit Duschen und Ankleiden hinter sich gebracht hatte, ging sie die Treppe hinunter.

Wieder hielt sie vor dem riesigen Weihnachtsbaum, der nun voll geschmückt den Flur beherrschte. Ja, Brigitte hatte ganze Arbeit geleistet. Der Baum war prächtig herausgeputzt. Lisa hatte mühsam aus Brigitte herausgekitzelt, dass Tante Käthe immer einen großen Baum zu Weihnachten organisiert hatte und sie, Brigitte, für das Schmücken ganz allein zuständig gewesen war. Der Stolz in Brigittes Stimme war unüberhörbar.

Obwohl Lisa echte Kerzen am Weihnachtsbaum liebte, hatte sie irgendwann eingesehen, dass die elektrischen Lichterketten weitaus mehr Komfort boten. Die Lämpchen leuchteten Tag und Nacht, was bei echten Kerzen nun einmal ausgeschlossen war.

Trotzdem wollte sie nicht ganz auf echte verzichten. Im Wohnzimmer, in der Küche, im Essbereich und in ihrer Schmökerecke befanden sich unzählige Kerzenhalter aus Glas, Metall, Holz, Keramik oder Silber, bestückt mit den unterschiedlichsten Kerzen. Abends, meist kurz bevor Andreas nach Hause kam, zündete Lisa sie samt und sonders an. Das Kerzenlicht verströmte die gemütliche, heimelige Atmosphäre, wie nur echte Kerzen sie hervorzubringen vermochten.

Immer noch bemühte sich Lisa, ein Geschenk für Andreas zu finden, das ihrer Vorstellung von Besonderheit gerecht würde.

Bisher – Fehlanzeige!

Donnerstag und Freitag verbrachte sie mit den Vorbereitungen für das Festmenü. Wenigstens in diesem Punkt war sie sicher, dass sie Andreas‘ Geschmack treffen würde. Sie hatte sich für das traditionelle Heiligabendessen entschieden: Kartoffelsalat mit Würstchen. Am ersten Weihnachtstag: Karpfen mit Reis, Dillsauce und Salat. Am zweiten Feiertag: Rehrücken mit Kroketten und Rotkohl. Sowohl Vorspeisen als auch Desserts waren geplant und soweit wie möglich vorbereitet. Der Rehrücken schwamm in Rotweinbeize und würde, im Römertopf zubereitet, butterzart und saftig werden. Jedenfalls mit dem Weihnachtsessen würde alles bestens funktionieren.

Jeden Tag verließ Andreas zeitig das Haus, denn die Erkältungswelle hatte offenbar noch immer nicht ihren Höhepunkt erreicht. Der Ärmste ließ sich einen Imbiss von der Dorfkneipe in die Praxis bringen und fiel spätabends nur noch todmüde ins Bett.

Auch am Samstagmorgen, als Lisa erwachte, war das Bett an ihrer Seite leer. Auf dem Küchentisch fand sie den Zettel.

 

Liebster Schatz,

wenn alles gut läuft, bin ich gegen Mittag wieder zurück. Ich hoffe, dass wir ein ruhiges Wochenende haben. Halte uns beiden die Daumen.

Ich liebe Dich.

Andreas

 

Während sie die dritte Tasse Kaffee genoss, klingelte es an der Tür. Es war der Briefträger.

„Guten Morgen, Frau Hansen. Ein Einschreiben für Sie. Können Sie bitte hier unterschreiben?“

„Guten Morgen, Peter. Was ist das? Von wem kommt es?“

„Moment! Von einer Vertriebsgesellschaft für Fernreisen.“

„Sind Sie sicher, dass das für mich ist?“

Peter grinste. „Das Wetter macht mir zwar im Moment ziemlich zu schaffen, aber lesen kann ich noch.“

„Ja, das war eine ziemlich dumme Frage. Geben Sie her.“ Lisa lachte.

Sie unterschrieb den Empfang, nahm auch den Rest der Post entgegen und meinte: „Noch einen schönen restlichen Samstag. Und fahren Sie vorsichtig!“

Der junge Mann schwang sich auf sein gelbes Fahrrad mit dem großen Drahtkorb vor dem Lenker, gefüllt mit ordentlich aufgereihten Umschlägen, winkte und setzte seine Tour fort.

Rasch schloss Lisa die Tür. Die Kälte sollte nicht weiter eindringen.

Verwundert drehte Lisa den Umschlag in der Hand und war gespannt auf seinen Inhalt. Sie setzte sich auf ihren Drehstuhl, griff nach dem Brieföffner, schlitzte den Umschlag auf und entnahm ihm ein Schreiben und diverse Unterlagen.

Nachdem sie das Schreiben durchgelesen hatte, saß sie zunächst wie schockgefroren auf dem Stuhl.

Sie konnte es kaum glauben.

Sie hatte gewonnen.

Sie hatte tatsächlich den ersten Preis in einem Kreuzworträtsel gewonnen: eine Reise für zwei Personen nach Namibia. Für drei Wochen. Endlich hatte sie das Weihnachtsgeschenk für Andreas, das wirklich ungewöhnlich war. Damit würde er im Leben nicht rechnen.

Lisa freute sich wie ein Kind. Am liebsten hätte sie getanzt, wäre im Zimmer herumgehüpft. Aber mit fünfzig hat man sich das abgewöhnt, dachte sie gut gelaunt, um im nächsten Moment festzustellen, eigentlich schade.

Rasch holte sie das Geschenkpapier hervor, packte den Brief ein und seufzte erleichtert. Endlich! Nun hatte es doch noch geklappt mit dem besonderen Weihnachtsgeschenk. Lisa war gespannt auf Andreas‘ Gesichtsausdruck, wenn er es auspackte.

*

*

*

Dezember 2001 – Duran-Villa, Bergisch Gladbach

 

„Wie lange brauchst du noch?“, hörte Patricia die ungeduldige Stimme ihres Mannes.

„Bin gleich soweit“, rief sie zurück und prüfte ihr Gegenüber im Spiegel. Ja, alles war perfekt. Genauso, wie sie es sich vorgestellt hatte. Er würde nichts auszusetzen haben. Oder doch?

Sie griff nach ihrer Nerzstola, knipste das Licht aus und zog die Tür zu ihrem Schlafzimmer zu.

Leon stand in der Empfangsdiele – im Smoking und dem dunkelblauen Kaschmirmantel über dem Arm. Er sieht toll aus, dachte Patricia und war stolz, mit ihm auf den Empfang zu gehen.

„Na endlich“, seufzte er gereizt, „wir sind spät dran. Theo wartet schon.“

Sie schaute auf ihre brillantbesetzte Armbanduhr. Es war zwanzig Minuten nach sieben. Hatte er nicht halb acht gesagt? Aber wahrscheinlich hatte sie ihn wieder einmal falsch verstanden. Ihr war nicht entgangen, dass sie Leon verärgert hatte. „Tut mir leid, dass du warten musstest.“

„Frauen!“, murmelte er und die Verächtlichkeit in seiner Stimme versetzte ihr einen Stich.

Sie erhaschte seinen prüfenden Blick. Er schien zufrieden zu sein. Er verlor kein Wort über ihr Aussehen. Ja, Leon war ein sehr kritischer Ehemann, wenn es um das Aussehen seiner Frau ging. Seinem Blick entging nicht die kleinste Nachlässigkeit, die er stets umgehend und missbilligend zum Ausdruck brachte.

Ganz Gentleman hielt er ihr die Tür auf und Theo grüßte, indem er seine Mütze lüftete. „Guten Abend, Frau von Duran.“

„Hallo, Theo.“

Der Mann in der grauen Livree öffnete die hintere Tür des Rolls Royce und Patricia machte es sich im Fond bequem. Im Wagen herrschte eine angenehme Temperatur. Patricia konnte auf das Anlegen ihrer Stola verzichten. Wie fürsorglich von Theo, den Wagen gut vorzuheizen, dachte sie.

Leon stieg durch die gegenüberliegende Tür ein und Theo setzte sich hinter das Lenkrad.

Während der Fahrt wechselten die Eheleute kaum ein Wort. Erst kurz vor ihrem Ziel bemerkte Leon: „Tu mir bitte einen Gefallen und rede nicht zu viel vom Geschäft.“

„Aber… ich dachte, das ist der offizielle Weihnachtsempfang des MBD?“

„Genau deswegen, meine Teuerste. Die Mitglieder der Maschinenbauer Deutschlands wollen auch mal über was anderes reden als immer nur übers Geschäft.“

Patricia schwieg.

„Bitte versteh mich nicht falsch“, fuhr Leon jovial fort, „aber du bist nicht auf dem neuesten Stand der derzeitigen Wirtschaftslage. Du könntest mich mit unqualifizierten Äußerungen in peinliche Situationen bringen. Und das willst du doch nicht, oder?“

Patricia fühlte Ärger in sich aufsteigen. „Und was soll ich deiner Meinung nach den ganzen Abend tun? Ausschließlich den Mund halten und gut aussehen?“

Sie war es so satt, wieder den ganzen Abend die Oberflächlichkeiten der aufgedonnerten Frauen über sich ergehen lassen zu müssen.

„Aber, meine liebe Patricia. Du kennst dich doch blendend in Modetrends, Exklusiv-Labels und den neuesten Innendekorationen aus, oder? Rede mit den Damen der Gesellschaft. Tausche dich mit ihnen aus. Sie haben dasselbe Faible wie du. Vielleicht kann dir ja eine von den Damen sagen, wer derzeit der beste Tennistrainer ist und du bekommst bei ihm Stunden.“

Er hat ja recht, dachte Patricia, ich habe mich seit Jahren nicht mehr um die Firma gekümmert. Vielleicht sollte ich das wirklich ändern. Weil sie ahnte, dass es schwierig werden könnte, mit Leon darüber zu sprechen, war sie dem Thema bisher ausgewichen.

Aber seit einigen Monaten spürte Patricia zunehmend eine innere Unruhe, eine Leere, die sie kaum noch ertrug. Als sie vor ein paar Wochen mit Leon zum ersten Mal darüber sprach, schleppte er sie sogleich zu einem Psychiater, der ihr Tabletten gegen Depression verschrieb. Ja, Leon war sehr fürsorglich gewesen. Dass er sofort diesen Dr. Böhmer anrief und umgehend einen Termin für sie vereinbarte, zeigte Patricia, wie sehr Leon an ihrem Wohlbefinden gelegen war. Dennoch – trotz der Tabletten blieben die innere Leere und die Unruhe Patricias tägliche Begleiter. Zugegeben, durch die Pillen waren die Gefühle erträglicher geworden, aber nicht verschwunden.

Der Abend verlief genauso wie die vielen anderen zuvor. Seichtes Geplänkel unter den begleitenden Damen der Gesellschaft und vertrauliche Gespräche zwischen den Herren Unternehmern.

Patricia fragte sich, ob sie sich für den Rest ihres Lebens mit der Rolle als Unternehmergattin abfinden wollte. Dabei war sie die Unternehmerin und Leon der von ihr eingesetzte Geschäftsführer. Schließlich hatte sie die Firma von ihren Eltern geerbt.

Ihre Unzufriedenheit pochte lautstark an der Tür ihres Gemüts, gefolgt von Schuldgefühlen, dass sie ihrer Rolle nicht gerecht geworden war. Ja, sie hatte sich vor der Verantwortung, die Firma zu leiten, gedrückt und alles auf Leons Schultern abgeladen. Trotz der Medikamente gegen Depressionen, die sie nun schon seit einiger Zeit einnahm, bemerkte sie, wie Tränen sich ihren Weg in die Außenwelt zu bahnen versuchten.

Das halte ich bald nicht mehr aus, blitzte der Gedanke in ihrem Gemüt auf und sie fühlte die Zerrissenheit in sich, als ob zwei entgegengesetzte Kräfte in ihrem Inneren um die Vorherrschaft kämpften. Auf Leons Frage, worüber sie sich zu beklagen hätte, wusste sie keine Antwort. Nein, es fehlte ihr an nichts. Sie hatte alle Freiheiten, ein schönes Heim, einen gutaussehenden Mann, der sich um ihre Firma kümmerte, eine treue Haushälterin und ein ebenso treuer Chauffeur. Was fehlte ihr? Sie hatte allen Grund, glücklich und zufrieden zu sein. Mangelte es ihr an Dankbarkeit?

Patricia brach der Schweiß aus und obendrein begannen wieder ihre heftigen Kopfschmerzen.

Irgendwie ist alles verdreht, ja, regelrecht verkehrt herum, dachte Patricia. Sie sah, wie ihre dunkelhaarige Gesprächspartnerin redete, ohne die Worte zu hören. Sie rief sich zur Ordnung und bekam gerade noch mit, dass sie gefragt wurde, wie ihr denn nun die neue Boutique in Leverkusen gefiel.

„Nun ja…“, erwiderte Patricia.

Die Schwarzhaarige mit der hochgetürmten Frisur und den Tonnen an Make-up, die dennoch ihre verlebten Gesichtszüge nicht zu verbergen vermochten, fiel ihr ins Wort. „Ja, ich bin genauso skeptisch wie Sie, Frau Baronin, ob sich ‚Chez Gaby‘ am Markt halten wird. Die Inhaberin ist noch sehr jung und ich bezweifle, dass sie das nötige Gespür für ihre anspruchsvolle Klientel aufbringt. Man hat den Eindruck, dass sie überhaupt kein Interesse hat, die extravaganten Wünsche ihrer Kundinnen zu befriedigen. Waren Sie auch schon einmal bei ihr?“

„Nein“, erwiderte Patricia, „aber ich werde es bestimmt nachholen. Vielen Dank für Ihren ungemein interessanten Hinweis.“

Sie zwang sich zu einem Lächeln und murmelte: „Entschuldigen Sie mich bitte.“

Sie suchte die Toilettenräume auf und war froh, dass sie für einen Moment allein sein konnte. Der Waschraum war leer. Patricia wusch sich die Hände, trocknete sie ab, lehnte sich gegen die weiß gekachelte Wand und schloss für einen kurzen Augenblick die Augen.

Ist das alles, was das Leben zu bieten hat?, fragte sie sich. Immer die gleichen Empfänge und Festivitäten? Immer dasselbe Geschwätz? Immer dieselben Gesichter?

Du hast dich zu einer verwöhnten und verhätschelten Frau gewandelt, die mit ihrem Leben nichts anzufangen weiß, hörte sie eine innere Stimme.

So ein Schwachsinn!, bäumte sich die andere Stimme in ihr auf. Wenn man verheiratet ist, bestehen Pflichten, die man zu berücksichtigen hat. Da kann man nicht mehr tun und lassen, was man will.

Ja, und damit das weiterfunktioniert, greifst du einfach zu ein paar Pillen, damit auch ja alles so bleibt, wie es ist. Und das willst du bis zu deinem Lebensende fortführen?

Was soll ich denn sonst machen?

Die Tür zum Waschraum wurde aufgestoßen und zwei ältere Damen betraten den Raum.

Rasch verließ Patricia die Räumlichkeiten und kehrte zurück in den großen Festsaal.

Wo war Leon geblieben? Sie schaute sich um. Das Gemurmel der Menge füllte den weihnachtlich dekorierten Saal aus. Kellner im Frack standen zurückhaltend im Raum verteilt und hielten Silbertabletts mit gefüllten Champagnerkelchen bereit. Andere sammelten die leeren Gläser ein, die unachtsam überall abgestellt worden waren, selbst in den Pflanzkübeln. Obwohl schon weit nach Mitternacht, fanden sich vereinzelte Gäste am Buffet. Vielleicht waren sie zu spät gekommen und hatten Hunger. Oder sie hatten erneut Appetit bekommen. Patricias Augen wanderten durch den Raum und sie entdeckte Leon an der großen Terrassentür. Er plauderte angeregt mit einem feisten, glatzköpfigen Mann, den sie als den Inhaber der Schuhfabrik Breitkorb erkannte. Schon als Kind hatte sie ihn nicht leiden können und auch ihr Vater war ihm stets aus dem Weg gegangen.

Was mochten die beiden so Wichtiges miteinander zu besprechen haben, dachte Patricia und schlängelte sich durch die Menge.

Als sie Leon erreichte, trat er galant zur Seite. „Herr Breitkorb, darf ich Ihnen meine Frau vorstellen?“

„Aber ich kenne Ihre Frau schon länger als Sie, mein Bester“, erwiderte der Schuhfabrikant lachend und der gewölbte Leib mit der roten Schärpe hüpfte auf und ab. „Hallo, Patricia. Erinnern Sie sich an mich? Es ist ewig lange her, dass wir uns gesehen haben.“

„Guten Abend, Herr Breitkorb. Ja, das stimmt. Es muss vor dem Unfall meiner Eltern gewesen sein. Also sind es mehr als dreizehn Jahre.“

„Oh ja. Mhh. Tut mir leid wegen ihrer Eltern. Äh… aber Sie, Patricia, haben sich zu einer wahren Schönheit entwickelt. Also wirklich!“ Mit einem blütenweißen Tuch wischte er sich die Schweißperlen von der Stirn und über seine wabernden, schlaffen Gesichtszüge.

Zu Leon gewandt fuhr er fort: „Sie sind ein Glückspilz, mein lieber Baron. Wissen Sie das?“

Mit seinem charmanten Lächeln, das Patricia so sehr liebte, erwiderte Leon: „Natürlich weiß ich das. Meine Frau ist nicht nur schön, sondern auch klug und die beste Ehefrau, die sich ein Mann wünschen kann.“

Er blickte Patricia an. „Liebling, was gibt‘s?“ Sie kannte diesen Ausdruck in seinen Augen nur zu gut und zuckte innerlich zusammen. „Kann ich dich kurz sprechen?“

„Bitte entschuldigen Sie, Herr Breitkorb. Ich bin gleich zurück.“

Er trat ein paar Schritte zur Seite und zischte verärgert: „Musstest du ausgerechnet jetzt dazwischen funken? Was ist denn?“

„Ich möchte nach Hause.“

„Verdammt! Jetzt? Wo es interessant wird?“

„Es ist nach zwei. Ich bin sehr müde und habe schreckliche Kopfschmerzen.“

„Dann soll Theo dich nach Hause bringen.“

„Und du?“

„Ich bleibe noch. Hast du nicht gehört, was ich sagte? Bist du wirklich so begriffsstutzig oder tust du nur so? Oder liegt es an deinen rosa Pillen? Der interessante Teil beginnt jetzt erst.“

Er nahm sie diskret, aber mit hartem Griff beim Arm, ließ sich ihre Nerzstola an der Garderobe aushändigen und begleitete sie schweigend zum Auto.

„Theo, wenn Sie meine Frau zu Hause abgesetzt haben, kommen Sie sofort zurück und warten, bis ich fertig bin.“

„Wie Sie wünschen, Herr von Duran.“

Leon kam Theo sehr nahe und zischte gefährlich leise: „Wie oft muss ich Ihnen noch sagen, dass Sie mich in der Öffentlichkeit mit Herr Baron anzusprechen haben?“

„Jawohl, Herr Baron“, erwiderte Theo mit unbewegter Miene, „ich werde daran denken.“

Es schmerzte Patricia, dass Leon sie keines Blickes mehr würdigte. Wortlos drehte er sich um und kehrte zum Fest zurück. Und zu diesem dickbäuchigen, schwitzenden, ekelhaften Herrn Breitkorb. Ich bin selbst schuld, dachte sie und kauerte sich tiefer in den Sitz des Rolls Royce. Ich mit meiner Wehleidigkeit. Heute bin ich genauso wie die Weibsbilder, die ich früher zutiefst verachtet habe: überempfindlich, arrogant, zickig und gelangweilt. Genau wie meine Mutter. Und wie sehr bin ich als junges Mädchen dagegen Sturm gelaufen.

Warum muss ich aber auch immer wieder diese scheußlichen Kopfschmerzen bekommen? Ausgerechnet an solchen Abenden, die Leon so viel bedeuten. Ich muss für ihn die reinste Nervensäge sein. Sie schob die Gedanken an die Seite.

„Theo.“ Sie sah seine Augen im Rückspiegel. „Wie geht es Anna?“

„Danke der Nachfrage, Frau Baronin, ihr geht es ganz gut.“

„Bitte, Theo. Nennen Sie mich bitte Patricia – so wie früher, als Sie noch meine Eltern durch die Gegend kutschiert haben.“

„Gern, Frau Ba…. Patricia. Meinen Sie, Ihr Mann ist damit einverstanden?“

„Ach Theo“, seufzte sie, „glauben Sie, dass man es Leon jemals recht machen kann? Irgendetwas läuft immer so, wie er es gerade nicht will, oder?“

Theo schwieg. Was sollte er dazu auch sagen, dachte Patricia.

„Wie lange sind Sie jetzt bei uns, Theo?“

„Mehr als dreißig Jahre.“

„Dreißig Jahre? Mein Gott, das ist ja nicht zu fassen!“

„Ja, die Zeit rast nur so davon.“

„Sagen Sie, hat mein Vater, wenn Sie ihn früher zu solchen Festen gebracht haben, jemals meine Mutter allein nach Hause geschickt?“

Patricia bemerkte sein Zögern, bevor er erwiderte: „Nein, Patricia, ich kann mich nicht erinnern.“

„Das hätte auch nicht zu meinem Vater gepasst.“

„Nein. Ihr Vater verehrte seine Frau, Ihre Mutter.“

Theo fuhr den Rolls Royce direkt vor die Haustür. „Danke, Theo.“

„Gern, Frau von Duran… äh, Patricia. Kann ich noch etwas für Sie tun?“

Patricia mochte Theo. Er war ihr gegenüber immer sehr fürsorglich gewesen und sie erlebte seine Anteilnahme stets als ehrlich, nie aufgesetzt. Sie kannte ihn seit ihrer Kindheit. Patricia sah in ihm mehr einen alten, langjährigen Freund als einen Dienstboten.

„Nein, danke, Theo.“

„Sind Sie sicher?“

„Ja, ich komme schon zurecht. Fahren Sie lieber zurück. Sie kennen Leon. Bei ihm weiß man nie, ob er seine Entscheidung nicht revidiert und doch lieber sofort nach Hause will.“

„Gute Nacht, gnädige Frau… ähem… Patricia.“

„Danke, Theo. Gute Nacht.“

Patricia ging rasch ins Haus, entledigte sich ihrer Stola und Schuhe und eilte in ihr Bad. Im Spiegelschrank fand sie das Päckchen mit den Kopfschmerztabletten. Sie füllte ein Glas mit kaltem Wasser und schluckte gleich zwei von den Pillen.

Leon war sauer gewesen. Irgendwie konnte sie ihn verstehen. Er hatte sich auf dieses Fest gefreut. Während sie sich auskleidete und in ihr Negligé schlüpfte, meldete sich erneut ihr schlechtes Gewissen. Ja, sie hatte Leon mit der Firma völlig allein gelassen. Dabei war sie es doch, die durch ihr BWL-Studium geradezu prädestiniert gewesen war, die Firma zu führen. Es war also ganz allein ihre Schuld, wenn Leon sich im Stich gelassen fühlte.

War ihre Ehe deshalb so abgekühlt? So leblos? Sie musste unbedingt mit ihm reden. Über die Weihnachtstage würde sich ganz bestimmt eine Gelegenheit finden, das Thema anzusprechen.

Während sie sich vor die Spiegelkommode setzte, um ihr Gesicht vom Make-up zu befreien, betrachtete sie sich.

Selbst ungeschminkt sehe ich noch ganz gut aus, dachte sie, trotz meiner 37 Jahre. Sie bürstete ihr langes, glattes, rotblondes Haar, das im Schein der Lampe glänzte. Ich investiere ja auch reichlich Zeit bei der Kosmetikerin, im Massagesalon und beim Friseur, statt mich um die Firma zu kümmern und Leon zu entlasten.

Ja, gestand sie sich ein, ich bin genauso wie meine Mutter geworden: leidend, verwöhnt und zickig. Sie fragte sich, wann die Veränderung vom rebellischen Teenager zur gelangweilten Diva ihren Anfang genommen hatte. Sie blieb bei dem Tod ihrer Eltern hängen. Ja, der Tod ihrer Eltern hatte alles verändert. Besonders der Verlust ihres Vaters hatte sie in ein großes, schwarzes Loch gezogen, aus dem es damals kein Entrinnen zu geben schien.

Wäre Leon nicht gewesen – was wäre wohl aus ihr geworden?

Patricia legte sich rücklings auf ihr großes Bett.

Wie kann ich bloß wieder ein wenig mehr Schwung, mehr Harmonie und mehr Freude in meine Ehe bringen, fragte sie sich. Die Distanz, die Kälte zwischen ihr und Leon machte ihr mächtig zu schaffen. Was könnte sie tun? Und… sie war sich vollkommen bewusst, wenn sie noch Kinder wollten, dann mussten sie sich beeilen. Ihre biologische Uhr tickte laut. Überlaut! Aber wollte Leon überhaupt Kinder? Bisher war er dem Thema stets ausgewichen und hatte gemeint: „Wir haben noch Zeit, meine Liebe.“

Nein, gestand sich Patricia an diesem Abend erstmals ein, mit siebenunddreißig hat man keine Zeit mehr. Und was war mit ihr? Wollte sie noch Kinder? Sie war sich dessen nicht sicher. Schließlich würde sich ihr Leben dadurch vollkommen verändern. Keine Tennisstunden mehr. Zumindest nicht drei Mal pro Woche. Natürlich hätte sie ein Kindermädchen engagiert, das sich um die Alltäglichkeiten kümmern würde. Aber wollte sie das wirklich? Darf man Kinder dazu benutzen, eine Ehe zu retten? Sogleich meldete sich die andere Stimme. Vielleicht kümmert sich Leon dann um dich und das Kind. Vielleicht würde ihre Ehe dadurch wieder harmonischer; nicht so abgekühlt, so sachlich, so furchtbar höflich und distanziert.

Nein, Patricia war nicht glücklich. Nicht wirklich. Auch das gestand sie sich an diesem Abend zum ersten Mal seit ihrer Eheschließung ein. Aber was soll ich machen?, fragte sie sich erneut. Bis Weihnachten hatten sie noch eine Menge Einladungen zu offiziellen Empfängen – wie jedes Jahr um diese Zeit.

Zum ersten Mal seit ihrer Heirat erlaubte sie sich, sich ihre Abneigung gegen diese immer gleichen Gesichter, Gesprächsinhalte und Rituale einzugestehen. Die Empfänge waren langweilig, nervig und zu einer bloßen Pflichtübung mutiert. Dabei hatten sie ihr immer viel bedeutet und auch Spaß gemacht. Wieso funktionierte das nicht mehr?

Sollte sie die Weihnachstage mit Gesprächen über ihre Wünsche und Pläne nutzen? Oder wäre es nicht besser, mit Leon erst nach Weihnachten und nach den Myriaden von Neujahrsempfängen zu reden? Wieder spürte sie die innere Zerrissenheit. Was war richtig und was sollte sie unbedingt vermeiden?

Vielleicht sollte sie mal wieder eine Einladung zu einer ihrer Teenachmittage verschicken. Das hatte bisher immer geholfen, die Bande zu ihren vielen Freundinnen und Bekannten zu festigen. Dann war immer was los. Ja, das würde sie mit Anna besprechen. Morgen. Oder übermorgen. Oder sollte sie mal wieder Maria in München besuchen und auf eine ausgiebige Shoppingtour gehen?

Patricia bemerkte, wie die Kopfschmerzen allmählich abebbten, drehte sich auf die Seite und schlief nach kurzer Zeit ein.

*

*

*

Weihnachten  2001 – Pattscheid

 

An Heiligabend, nach dem traditionellen Kartoffelsalat mit Würstchen, überreichte Lisa Andreas ihre Geschenke.

„Für mich?“, fragte er ungläubig.

„Siehst du sonst noch jemanden hier, für den sie sein könnten?“, antwortete Lisa schmunzelnd.

Andreas schien fassungslos zu sein und Lisa sah, wie er mit den Tränen kämpfte. Erschrocken reagierte sie: „Schatz! Habe ich etwas falsch gemacht?“

„Nein, nein“, beeilte er sich, „es ist nur… das ist, glaube ich, seit zwanzig Jahren das erste Mal, dass ich zu Weihnachten ganz persönliche Geschenke bekomme.“

„Wie bitte?“ Lisa konnte kaum glauben, was sie soeben gehört hatte. „Auch nicht von Tante Käthe?“

„Käthe?“ Er lächelte ein wenig verkrampft. „Käthe hat die kommerzielle Seite der Feiertage regelrecht verteufelt.“

„Aber warum?“

„Ihrer Meinung nach missbrauchen die meisten Menschen käufliche Geschenke, um die Liebe, den eigentlichen Sinn des Festes, nicht ausdrücken, nicht leben zu müssen. Sie sagte einmal zu mir: wenn die Menschen ihre Energien nutzten, um sich gegenseitig aufzubauen, einander zuzuhören und sich um die Herzenswünsche derer zu kümmern, die sie mit käuflichen Gegenständen beschenken, sähe unsere Welt besser aus, mein Lieber.“

Andreas fing sich schnell wieder und grinste: „Aber jetzt!… Jetzt mache ich es wie schon als Kind: das größte Paket zuerst.“

Vorsichtig begann er, das Papier zu lösen. „Es ist so liebevoll verpackt, dass ich es am liebsten gar nicht öffnen möchte.“

„Geht aber nicht.“ Lisa lächelte.

Nachdem das hübsche Papier vollständig entfernt war, sah er das Etikett. „Oh, Lisa. Was für ein edler Wein! Ein 69er Lafitte. Oh, Mann! Wie gut du mich kennst. Ja, das ist genau mein Geschmack. Danke.“

„Jetzt das nächste.“ Lisa war ungeduldig.

„Oh nein, meine Liebe. Erst kommst du jetzt dran.“

Er holte ein kleines Päckchen aus der Hosentasche und hielt es ihr entgegen. „Mach‘s auf.“

Lisa brachte kein Wort heraus, griff nach dem Behältnis und schälte ein kleines, quadratisches Etui aus der Verpackung. Als sie es öffnete, zog sie hörbar die Luft ein. „Oh, mein Gott! Andreas! Bist du verrückt?“

„Nöö“, sagte er grinsend, „soviel ich weiß, noch nicht.“

Immer noch grinsend fuhr er fort: „Darf ich?“ Er nahm den Ring mit dem funkelnden Stein aus dem Etui und steckte ihn an Lisas linken Ringfinger. „Hiermit bitte ich dich zum ich weiß nicht wie vielten Mal, meine Frau zu werden.“

Lisa drehte ihre Hand und konnte sich am Glitzern des Steins kaum satt sehen. „Oh, Andreas, ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Lisa hatte das Gefühl, der dicke Kloß im Hals verhinderte ohnehin jedes weitere Wort.

„Warum sagst du nicht einfach: ja, mein lieber Andreas?“

Sie umarmte ihn und flüsterte: „Ich habe doch schon längst ja gesagt. Hast du das vergessen?“

„Das nicht, aber du hast mir immer noch keinen Termin genannt. Alle meine bisherigen Terminangebote hast du ungenutzt verstreichen lassen. Und ich möchte, dass du so schnell wie möglich meine Frau wirst. Also?“

„Lass uns doch erst einmal unsere Verlobung feiern“, meinte Lisa und drückte ihm das kleinste Geschenk, das sie zuletzt eingepackt hatte, in die Hand.

Neugierig nestelte er am Geschenkpapier und fand den Briefumschlag. Nachdem er den Text gelesen hatte, umarmte er sie. „Das ist die zur Verlobung passende Reise. Drei Wochen Namibia!“

„Du bist also einverstanden?“

„Ja natürlich! Das ist doch ein angemessenes Ziel für unsere Verlobungsreise, oder?“

Wieder drehte Lisa den Ring an ihrem Finger. Das muss ein Einkaräter sein, dachte sie. Himmel, was für ein Geschenk.

„Oh, oh“, hörte sie Andreas seufzen.

„Was ist?“

„Hast du den Termin gesehen, Lisa?“

„Wovon redest du?“

„Na, von dem Reisetermin nach Namibia.“

„Nein. Was ist damit?“

„Er fällt genau in die Zeit meiner Fortbildung.“

„Nein! Sag, dass das nicht wahr ist.“

„Doch. Schau hier. Abflug ab Frankfurt am 16.02.2002, Rückflug von Windhoek am 10.03.2002. Und das Seminar in Wien beginnt am 04.02.2002, das heißt, ich fahre am 03.02.2002 los, damit ich abends bereits in Wien sein kann.“

„Das darf nicht wahr sein! Da gewinne ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Reise, denke, dass es eine tolle Überraschung für dich ist und dann so etwas…“

„Ach, Lisa. Schau nicht so enttäuscht. Ich kann dich verstehen, aber wir können doch unsere Verlobungsreise nachholen, oder?“

*

Heiligabend war vorbei und schon am 2. Weihnachtstag wurde Andreas in die Praxis gerufen. Renate schaffte den Andrang nicht mehr allein. Die Grippewelle war in vollem Gang.

Lisa hatte Zeit genug, den Traum, der sie in der Nacht wieder einmal geweckt hatte, im Tagebuch festzuhalten.

 

Mittwoch, den 26. Dezember 2001

Die Bilder werden deutlicher, als wäre die Beleuchtung im Film repariert worden.

Diese Ebene, die sich unermesslich in alle Richtungen ausdehnt, ist tatsächlich kaum zu erfassen. Immer noch ist es wie ein Standbild, in dem sich nichts, aber auch gar nichts bewegt. Noch nie habe ich ein solches absolutes Nichts erlebt. Es gibt nirgends auch nur ein Anzeichen, einen Hinweis auf Leben. Allerdings sehe ich am Horizont Farben. Aufgeschichtete Farblinien, die ineinander übergehen. Es gibt keine klare Trennung zwischen diesen Farbschichten, aber sie sind dennoch irgendwie separat. Fast wie beim Regenbogen. Nur, die Farbreihen entsprechen nicht denen des Regenbogens. Zuerst, direkt am Horizont, ist es eine dunkle, fast schwarze Schicht. Sie berührt fast den Horizont. Darüber folgt eine orange-rote, dann eine gelbe und am Ende eine blaue Linie. Über diesen dünnen Farbschichten, die enorm leuchten, ist es dunkelgrau. Der ganze Himmel, der sich über dieser riesigen Ebene wölbt, ist grau, fast anthrazit.

Und obwohl die unendliche Weite sich in alle Richtungen ausdehnt, wenn ich mich um meine Achse drehe, empfinde ich sie wie ein Gefängnis. Wie kann Unendlichkeit mit dem Gefühl einhergehen, in einem Gefängnis zu sein? Das ist doch völlig absurd!

Und dann wieder diese Zeit: 02:27 Uhr!

 

Mit einem tiefen Seufzer klappte Lisa ihr Tagebuch zu und verstaute es im Sekretär. Sie blieb noch einen Moment sitzen und schaute in den Garten. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Sie erhob sich und schlenderte zum Fenster. Im Gegensatz zu den anmutigen vorweihnachtlichen Schneefällen brachte jetzt ein kalter Ostwind die Flocken in eine Schräglage, sodass sie sich vor der Buchsbaumhecke wie ein Wall auftürmten. Die Beschaulichkeit der niederschwebenden Schneeflocken, die den Zauber der Vorweihnachtszeit ausgemacht hatte, war vorbei. Durch den schneidenden Wind hatten sich die weichen Flocken in peitschende Kristalle verwandelt, die wie kleine Pfeile in die Haut zu dringen versuchten, wenn man sich im Freien aufhielt.

Die Enttäuschung, was die Reise nach Namibia betraf, hatte Lisa noch nicht überwunden. Nein, sie wollte nicht ohne Andreas reisen. Und schon gar nicht allein. Für sie stand fest: im Januar würde sie der Reisegesellschaft ihre beiden Plätze zur Verfügung stellen. Sollten sich andere an diesem Geschenk erfreuen.

Morgen, ahnte Lisa, würde der Alltag wieder das Regiment übernehmen, auch wenn Andreas sich bis zum 2. Januar ein paar freie Tage erhofft hatte. Wenigstens die Weihnachtswoche sollte ihnen beiden ein wenig Luft bringen, um die Zweisamkeit wieder einmal genießen und auskosten zu können. Doch auch den Donnerstag und Freitag verbrachte Lisa mehr oder weniger allein. Schon früh verließ Andreas das Haus und kehrte erst spät zurück.

Vielleicht, hoffte Lisa, findet er wenigstens am Samstag und Sonntag ein wenig Ruhe.