Die Transzendenz des Ego - Jean-Paul Sartre - E-Book

Die Transzendenz des Ego E-Book

Jean-Paul Sartre

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In den philosophischen Schriften der Jahre 1931 bis 1939 arbeitet Jean-Paul Sartre an der theoretischen Basis seines philosophischen Werks. Er entwickelt in seinem Essay "Die Transzendenz des Ego" eine an Husserl anknüpfende Bewußtseinsphilosophie. Die sprachliche Virtuosität macht die Lektüre der Essays dieser Zeit zu einem spannenden intellektuellen Vergnügen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 474

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jean-Paul Sartre

Die Transzendenz des Ego

Philosophische Essays 1931–1939

 

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Bernd Schuppener

 

Übersetzt von Uli Aumüller, Traugott König und Bernd Schuppener

 

Über dieses Buch

In den philosophischen Schriften der Jahre 1931 bis 1939 arbeitet Jean-Paul Sartre an der theoretischen Basis seines philosophischen Werks. Er entwickelt in seinem Essay "Die Transzendenz des Ego" eine an Husserl anknüpfende Bewußtseinsphilosophie. Die sprachliche Virtuosität macht die Lektüre der Essays dieser Zeit zu einem spannenden intellektuellen Vergnügen.

Vita

Geboren am 21.6.1905, wuchs er nach dem frühen Tod seines Vaters im Jahre 1906 bis zur Wiederheirat seiner Mutter im Jahre 1917 bei seinen Großeltern Schweitzer in Paris auf. 1929, vor seiner Agrégation in Philosophie, lernte er seine Lebensgefährtin Simone de Beauvoir kennen, mit der er eine unkonventionelle Bindung einging, die für viele zu einem emanzipatorischen Vorbild wurde. 1931–1937 war er Gymnasiallehrer in Philosophie in Le Havre und Laon und 1937–1944 in Paris. 1933 Stipendiat des Institut Français in Berlin, wo er sich mit der Philosophie Husserls auseinandersetzte.

 

Am 2.9.1939 wurde er eingezogen und geriet 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft, aus der er 1941 mit gefälschten Entlassungspapieren entkam. Noch 1943 wurde unter deutscher Besatzung sein erstes Theaterstück «Die Fliegen» aufgeführt; im selben Jahr erschien sein philosophisches Hauptwerk «Das Sein und das Nichts». Unmittelbar nach dem Krieg wurde Sartres Philosophie unter dem journalistischen Schlagwort «Existenzialismus»zu einem modischen Bezugspunkt der Revolte gegen bürgerliche Lebensformen. 1964 lehnte er die Annahme des Nobelpreises ab. Zahlreiche Reisen führten ihn in die USA, die UdSSR, nach China, Haiti, Kuba, Brasilien, Nordafrika, Schwarzafrika, Israel, Japan und in fast alle Länder Europas. Er traf sich mit Roosevelt, Chruschtschow, Mao Tse-tung, Castro, Che Guevara, Tito, Kubitschek, Nasser, Eschkol. Sartre starb am 15.4.1980 in Paris.

Auszeichnungen: Prix du Roman populiste für «Le mur» (1940); Nobelpreis für Literatur (1964, abgelehnt); Ehrendoktor der Universität Jerusalem (1976).

Impressum

Copyright © 1964, 1965, 1982 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg «Légende de la vérité» Copyright © 1970 by Éditions Gallimard, Paris «Une idée fondamentale de la phénoménologie de Husserl: l’intentionalité» Copyright © 1947 by Éditions Gallimard, Paris «La transcendance de l’ego» Copyright © 1964 by Jean-Paul Sartre «L’imagination» Copyright © 1948 by Presses Universitaires de France, Paris «Esquisse d’une théorie des émotions» Copyright © 1939, 1963 by Hermann, Paris «Portraits officiels» Copyright © 1970 by Éditions Gallimard, Paris «Visages» Copyright © 1970 by Éditions Gallimard, Paris

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2023

Copyright © 1964, 1965, 1982 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg «Légende de la vérité» Copyright © 1970 by Éditions Gallimard, Paris «Une idée fondamentale de la phénoménologie de Husserl: l’intentionalité» Copyright © 1947 by Éditions Gallimard, Paris «La transcendance de l’ego» Copyright © 1964 by Jean-Paul Sartre «L’imagination» Copyright © 1948 by Presses Universitaires de France, Paris «Esquisse d’une théorie des émotions» Copyright © 1939, 1963 by Hermann, Paris «Portraits officiels» Copyright © 1970 by Éditions Gallimard, Paris «Visages» Copyright © 1970 by Éditions Gallimard, Paris

Covergestaltung anyway, Hamburg, nach einem Entwurf Werner Rebhuhn

ISBN 978-3-644-01889-1

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Dieses E-Book ist nicht vollständig barrierefrei.

 

 

www.rowohlt.de

Editorische Notiz

Die Anmerkungen stammen von Herausgeber Bernd Schuppener.

Legende der Wahrheit[1]

Die Wahrheit wurde nicht zuerst geboren. Die kriegerischen Nomaden brauchten sie nicht, sondern eher einen schönen Glauben. Wer kann sagen, was an einer Schlacht wahr ist.

Für die langwierigen Verrichtungen des Ackermanns bedurfte es, später, nur einer Wahrscheinlichkeit der Gesamtheiten, eines sicheren Vertrauens in die Beständigkeit jener großen Massen ohne Grenzen, der Jahreszeiten. Ich kann mir vorstellen, daß er die fahrenden Götter gut aufnahm und daß er ihre Wunder ohne Bewegung noch Argwohn anhörte, wahr und falsch im ungewissen lassend, während draußen das Grün der Ähren unmerklich mehr Ähnlichkeit mit dem Gelb annahm. Die Vertrautheit mit dem fortgesetzten Wachstum des Getreides gab seinem Geist eine geschmeidige Kraft. Von den Gegenständen, die in seinen Gesichtskreis fielen, verlangte er nicht, daß sie sich in die Grenzen einer Natur ohne Launen einschlössen, und nahm ihre plötzlichen Veränderungen schlicht und einfach hin, sich auf ihre dunkleren Kräfte verlassend, daß sie ihnen eine Einheit geben würden, die für unsere Vernunft noch zu verschiedenartig war. Das Geschrei der Menge verfolgte ihn nicht bis in seine Gedanken, er war sich, unter ihnen, eines absoluten Alleinseins sicher. Es waren knorrige, tief verwurzelte, gegen die Rede aufsässige Kräfte, die nur ihm allein zu entsprechen schienen. Sein Blick ging von der einen zur andren, so wie ein Reisender, an den heimischen Herd zurückgekehrt, rundherum die Gesichter seiner Nächsten betrachtet, die einen ganz lächelnd, die andren in Tränen gebadet. Diese Gesichter reckten sich im Halbdunkel nach ihm wie die Pflanzen nach der Sonne, und manchmal bekam er Angst, wenn er so viele lebendige Dinge in sich spürte.

Die Wahrheit rührt vom Handel her: sie begleitete die ersten Manufakturgegenstände zum Markt: sie hatte auf seine Geburt gewartet, um, voll gerüstet, aus der Stirn der Menschen herauszukommen.

Erdacht, um ländlichen Bedürfnissen zu entsprechen, bewahrten sie deren ganze primitive Schlichtheit: die Töpfe, ganz rund mit einem groben Henkel, waren nichts andres als die Andeutung der Geste des Trinkens. Die Schaber, Eggen, Schleifsteine erschienen einfach als die Kehrseite der gebräuchlichsten geplanten Handlungen. Man mußte von ihnen einen einzigen Gedanken ableiten, einen ruhenden, reglosen, stummen Gedanken, ohne Alter, der eher vom Gegenstand als von den Geistern abhängig war, den ersten unpersönlichen Gedanken dieser zurückliegenden Zeiten, und der, selbst in Abwesenheit der Menschen, weiter über den Werken ihrer Finger schwebte.

Der Skeptizismus kam ja von den Feldern mit den Argumenten des Kahlen, des Gehörnten und des Scheffels, weil keine endgültige Sicht dem Wachsen der Ernten entsprechen konnte. Aber über die ersten Instrumente, die von Geburt an tot waren, mußten unwandelbare Worte ausgesprochen werden. Was man von ihnen sagen konnte, galt bis zu ihrer Zerstörung, und selbst dann kam keine unmerkliche Veränderung, das Urteil zu trüben: wenn die Vasen herunterfielen, zerbrachen sie in Stücke. Ihr eponymes Denken sprang, plötzlich befreit, in die Lüfte, kam dann zurück, sich auf andere Vasen zu setzen.

Die Handwerker schließlich hatten beim Herstellen des Feuersteins oder des Tons das entstehende Streben nach Form durchaus erfahren. Aber ihre abrupte, unterwegs ausgeblasene Anstrengung war weit diesseits der Schönheit stehengeblieben, in jenem verworrenen Bereich, wo Ecken, Kanten, Flächen undeutliche Elemente der Kunst und des Wahren sind.

Als solche mußten die ersten Menschenwerke sich absolut von den Naturproduktionen abheben, und die Benommenheit, in die sie nach ihrer Fertigstellung ihre Handwerker stürzten, läßt sich nur mit der einiger Gelehrter angesichts der mathematischen Wesenheiten vergleichen. Durch sie waren sie zwei Fingerbreit davon entfernt, den berühmten Mythos der wahren Gedanken zu finden.

Das Ökonomische besorgte den Rest. Auf dem Markt machten die naiven Gäste der Götter die Erfahrung des Betrugs. Man log, bevor man wahr sprach, weil es lediglich darum ging, einige neue und eigenartige Naturen zu verschleiern, deren Wirklichkeitsgrad man nicht genau kannte. Eine spontane Erwiderung brachte sofort die ersten Wahrheiten an den Tag. Sie trugen noch nicht diesen Namen «Wahrheit», dem soviel Ruhm verheißen war: es waren bloß besondere Vorkehrungen gegen die Betrüger. Jeder, der die Vase des Händlers hin und her drehte, achtete darauf, in seiner Maxime die besondere Idee dieser Vase zu behalten und alle seine Entdeckungen darauf zu beziehen. Man kam überein, daß eine Vase nicht gleichzeitig unversehrt und gesprungen sein durfte. Wer hätte denn gewagt, den spontanen Früchten der Erde derartige Grenzen zu setzen? Aber hier tat man nichts andres, als aus dem Ton die Absicht des Töpfers selbst auszugraben. Man traf hundert andre Vorkehrungen dieser Art, die niemals von einem allgemeinen Prinzip abgeleitet wurden: die Gelegenheit, bestimmte Überlegungen, die Natur der Waren selbst brachten merkwürdigerweise jene Regeln der Marktordnung hervor. Diese jungen Wahrheiten waren also zunächst nur ebenso viele regulative Prinzipien des Tausches, die die Beziehungen der Menschen untereinander betrafen und auf die Produkte der Industrie angewandt wurden. Sie wurden aus einer Überlegung des Menschen über sein Werk, nicht über die natürlichen Existenzen geboren.

Mühelos entstand ein Wortmarkt, dessen Sitz sich keineswegs von dem der Versteigerung unterschied. Es wurden hier Erwiderungen, Berechnungen, Tricks, umsichtige Finten von Händlern ausgetauscht. Die Produkte der Rede erfuhren hier lange vor den andren eine Rationalisierung: ein einziges Modell zwang sich auf. Als hätte man bei seiner Festlegung die allerärmsten Bedürfnisse und Kaufmöglichkeiten in Betracht gezogen. Man setzte klare und haltbare einfache Größen in Umlauf.

Die Macht des Marktes befreite die Menschen von ihren großen inneren Kräften. In ihren geheimsten Ratschluß führten sie eine Drehbank, eine Werkbank nach dem Bild ihrer Holzinstrumente ein. Sie holten unnachahmliche Naturen aus ihrem Innern und legten sie auf ihren Webstuhl. Sie gingen nicht wie Leibeigene heran, sich krümmend, sich wiederaufrichtend, Knoten springen und Späne regnen lassend. Zum Markt der Wahrheiten trugen sie dann gut gehobelte, gut zugeschnittene Abfälle, die jedoch ihrer ersten Tiefe näher waren als die unseren. Es geschah durchaus, daß man betrogen wurde, daß man träge Stuten, schlechte Worte kaufte: das merkte man beim Gebrauch, weil man sie nicht weitergeben konnte. Plötzlich, wie geschminkte Tiere, die ihre Makel offenbaren, erschienen diese übertünchten Gedanken unerklärlich und nackt. Dann, in seinem Schrecken, sie als einziger in seinem Gedächtnis zu besitzen, warf sie der frustrierte Mensch wütend auf den Müll. Nach solchen Reinfällen nahm man die Gewohnheit an, es mit den Worten ebenso zu halten wie jene Wechsler, die in die Geldstücke beißen oder sie gegen Marmor schlagen: jeder ließ sie von seiner ganzen Höhe bis an seinen Boden fallen und lauschte auf den Ton, den sie machten. So wurde die Evidenz geboren als Vorkehrung gegen diese Vorsichtsmaßnahmen.

Aber niemand glaubte, auf diesem Gebiet einen Tauschhandel zu betreiben, noch, daß es eine Ökonomik des Wahren gäbe. Denn jeder, der zu Hause Bilanz zog, dachte, wenn er in seinem Gedächtnis unter seinen neuesten Einkäufen seine eigenen Waren wiederfand, daß er etwas Neues erworben hätte, ohne etwas dafür abgetreten zu haben.

So vollzog das Denken langsam seinen Übergang vom immobilen zum mobilen Kapital.

Aber der Mensch stieß in sich selbst auf eine geheimnisvolle Umwälzung, die er mit meist noch mythologischen Mitteln zu erklären versuchte. So brachte er in zwei Phasen die Legende der Wahrheiten hervor. Ich bin etwas in Verlegenheit, einen Mythos nachzuzeichnen, der so viele und so verschiedene Formen annahm. Um das richtig anzufassen, muß man ihn als die Übertragung der inneren Verwirrung der Zeitgenossen betrachten, und diese Verwirrung muß man zunächst präzisieren.

Der Mensch hatte lange Zeit seine Gedanken wie sein Leben hervorgebracht, sie hafteten an seinem Körper wie die ägyptischen Tiere, die, von der Sonne im Schlamm des Nil gebildet, nur zur Hälfte geboren, ihre unvollendeten Pfoten im Dreck aufgehen lassen. Sie hatten kein anderes Band zu den Dingen als die große universelle Sympathie und nur einen magischen Einfluß auf sie. Sie glichen ihnen nicht wie ein Porträt seinem Modell, sondern wie eine Schwester ihrem Bruder durch ein Familienmerkmal, sie drückten ebensowenig die Pflanzen aus wie die Pflanzen das Meer ausdrücken; aber sie lebten wie die Pflanzen, die Winde und das Meer, mit Jahreszeiten, Tagundnachtgleichen, Flüssen und Rückflüssen, raschem und dann verlangsamtem Wachstum, Zurückbleiben und Überholen, zögerndem Aufblühen, etwas Aufgelöstem und Unordentlichem, kurz, einer absolut natürlichen Gestalt.

Doch siehe da, eine unwiderstehliche Bewegung trieb sie plötzlich ans andere Ende der Welt, unter die Produkte der Industrie. Man zog ihnen sorgfältig das Leben heraus, man schnitt alle ihre Bande zur Natur ab, man unterwarf ihre Hervorbringung technischen Regeln, kurz, man machte kostbare Erfolge der Kunstfertigkeit daraus, aber unbelebte, man verlieh ihnen zugleich den schrecklichen Titel «Vorstellungen [représentations]», eine neue Ehre, eine neue Pflicht, und eine anonyme Menge drängte sich unablässig im Geist eines jeden danach, die Ausübung der vorstehenden Funktion [fonction représentative] zu kontrollieren. Der Mensch war nicht mehr mit sich allein. Als er seine Gedanken mit den industriellen Methoden behandelt hatte, die man ihm diktierte, erkannte er sie nicht mehr als die seinen wieder. Sie standen vor seinen Augen, deutlich, unabhängig, scharf, so verschieden von seinem Leben und von seinem Herzen, daß er nicht glauben konnte, daß sie von ihm herkämen, und sich einbildete, sie von außen eingeführt zu haben. Auf diese Weise um das Beste seiner selbst verstümmelt, blieben ihm nur noch die organischen Bewegungen, die Leidenschaften, die blinde Betriebsamkeit des Körpers. Über diesem Fleisch in Arbeit, das von der Scham vor sich gemartert wurde, schwebte Homunkulus, der Geist, von dem man bereits sagte, er wäre «unpersönlich». Man sieht hier die christliche Demut aufkeimen. Kurz, die Ehrfurcht, die Scham, das Bedürfnis nach Wissen, gebaren zunächst vier Götter, ohne große Übereinstimmung untereinander, doch homonym wie die unzähligen Phöbusse Griechenlands.

Die Mehrzahl, im allgemeinen eher dazu geneigt, der Materie als der Arbeit Wert beizumessen, gab unseren Ideen eine kostbare und subtile Substanz. Sie nannte sie «Wahrheit» und dachte, wenn Verschleiß oder Feuer jede Spur unserer Mühen daran verwischten, würde sie ihr natürliches Band wiedergewinnen, ohne etwas von ihrem sehr hohen Preis zu verlieren.

Der Form dagegen widmeten die Feinfühligeren, die eher von der Verschiedenheit der technischen Vorschriften beeindruckt waren, ihren Kult. Sie stürzte von der Sonne auf ihre Beute herab wie ein Falke und flog sofort wieder zum Himmel empor, wobei sie für immer die wunderbare Spur ihrer Krallen unter uns zurückließ. Diese Göttin nahm ebenfalls den Namen Wahrheit an.

Die Magie sagte auch ihr Wort : das Verhältnis der Idee zu ihrem Gegenstand wurde nach dem Bild des lebendigen und unumkehrbaren Bandes zwischen den Menschen und den Wachsfigürchen begriffen, deren Brust man durchbohrte. Man gab die Fabrikation der Idee als einen magischen Ritus aus. Der Mensch schien die Dinge in seinem Herzen nachzumachen, um sie ganz lebendig anzuziehen. Man nannte diese Verhexung «Wahrheit». Dieser Zauber ging unmerklich dahin, den Gegenstand selbst zu betrachten. Doch der Gegenstand der wahren Gedanken war damals nur die Gesamtheit der Werke der Kunst, Töpferei, Messer, Schmuck, alles, was ohne eine abstrakte Richtigkeit in den Proportionen nicht sein könnte. Man stellte sich, wie man noch bei Platon auf den letzten Seiten des Philebos sehen kann, eine göttliche Macht des Maßes vor als lebendige Kraft, die das Seiende aus dem Nichts zöge, und diese Kraft als Projektion des menschlichen Gewerbes in den Mythos erhielt durch eine natürliche Angleichung den Namen «Wahrheit», so daß man von jetzt an sagen konnte: «Nicht weil es ist, ist es wahr: es ist, weil es wahr ist.»

Form, Materie, Verhältnis, Maß: keine dieser vier Gottheiten war stark genug, sich die drei anderen zu unterwerfen. Sie schickten sich, so gut es ging, darein, miteinander zu leben, und warteten auf ihre endgültige Vereinigung von außen.

Irgendein Profos der Kaufleute schloß die Affäre: bis dahin verlangten der Handel und das Wahre, daß die Menschen sich über bestimmte Prinzipien einigten, die zunächst ebenso zahlreich, ebenso speziell waren wie die Verträge: dieser Profos kam darauf, sie zu reduzieren. Das war sicher ein brillanter und abstrakter Mann wie jene, die an die Stelle der Maße unserer ehemaligen Provinzen das Meter setzten. Von einem Ende bis zum anderen der Markthalle, wo die Kaufleute sich nach den Verwandtschaften ihres Gewerbes und in der vollständigsten Unwissenheit über die im Nachbarhandel herrschenden Gebräuche gruppiert hatten, brachte ein Herold Verwirrung und Aufregung, als er bekanntgab, daß alle Einzelprinzipien zugunsten jener allgemeinen Maxime aufgegeben werden müßten:

«Ein Ding kann nicht zur selben Zeit und unter demselben Verhältnis es selbst und etwas anderes als es selbst sein.»

Als die Kaufleute sich an dieses neue Gesetz gewöhnt hatten, waren alle Wege, die die Überlegung auf die Vergangenheit, auf eine historische Erklärung hätten zurückführen können, versperrt. Aber zur selben Zeit verloren die stark aneinander gebundenen vier rivalisierenden Götter ihre Umrisse und verschmolzen zu einem einzigen. Dieses neue Idol löste jedoch ihre Unvereinbarkeiten nicht in sich auf. (Es blieb ausgemacht, daß ein Denken, um wahr zu sein, einen existierenden Gegenstand betreffen müßte, während ein Gegenstand, um zu existieren, wahr sein, das heißt die Materie zu einem wahren Denken liefern müßte. Man nahm an, daß die Wahrheit eines Denkens sich durch bloße Begutachtung dieses Denkens offenbaren könnte, und gleichzeitig, daß diese Wahrheit in dem Verhältnis der Idee zum Gegenstand liege.) Was ihm seine Einheit gab, war eher ein starker Wille seitens seiner Gläubigen ebenso wie eine große Unbesorgtheit um seine Widersprüche. So werden die großen Götter geboren, die die voll gerüsteten und ganz lebendigen Lokalgötter von Kopf bis Fuß verschlingen. Ein feiner Hauch geht durch die Welt und die Seelen, Wahrheit in den Geistern, Wahrheit in den Dingen, Wahrheit in der engen Vereinigung der Geister und der Dinge, eine universelle und unfehlbare Kraft, die bald an die Stelle jenes gestaltlosen Gottes schlüpfte, den zuerst die Wilden, dann die Soziologen Mana genannt haben.

Das Wesentliche bei diesen Vorstellungen, das so viele Folgen in so vielen Bereichen hatte, war die letzte Verzierung des Idols, die Ewigkeit. Sie verstand sich von selbst, weil die Ängstlichkeit des Menschen ihn daran hinderte, klarzusehen: was er erfand, meinte er lediglich zu entdecken. Sie mußten also vor ihm existieren, diese so schönen Mädchen, an irgendeinem geheimen Ort, in der einzigen Sorge ihrer Anordnung. Das Wort «Kontemplation», das Erfolg hatte, nahm die letzten Schanzen weg. Es ging nur noch darum, eine unempfindliche Welt aus verschachtelten Beziehungen, Posamenten, zu- und aufgeknüpften Knoten, Vorhöfen und Gängen zu kontemplieren, aus Gestalten, die sich in anderen Gestalten auflösten, aus Formen, die eine leichte Verbiegung in andere Formen verwandelte, wie jene geometrischen Zeichnungen, die je nach den Bewegungen des Auges sechseckig oder dreieckig sind. Das Opfer wurde, wie später zur Zeit der christlichen Spitzfindigkeiten, durch folgende Argumentation vervollständigt:

«Ich bin frei, zu denken, was ich will. Aber ich kann nur das Wahre denken, denn was nicht wahr ist, ist nicht. Das Wahre existiert zweifellos schon, ganz fertiggestellt, ganz ausgeschmückt, sich meinen Augen aufzwingend, und ich fühle eine Art Unruhe in mir, den Vorwurf meiner frustrierten Freiheit: zweifellos, aber das ist ungeschickt, und wieder bin ich frei, zu denken, was ich will, denn ich will nur das Wahre denken, und meine Freiheit ist nur das Vermögen, mich von Truggebilden und von mir selbst zu lösen. Was sich gegenwärtig in mir regt, ist nur Schwäche, Egoismus eines Neugeborenen. Die rechte Vernunft rückt die Dinge an ihren Platz, meinen Körper unter die anderen Körper und entdeckt das Skelett unpersönlicher Beziehungen, das mein armes Fleisch aus Nichts trägt. Überglücklich, wenn ich die Wahrheiten, die mein Wesen konstituieren, bis zum Schoß der Mutter-Wahrheit erheben und mit dem reinen Hauch verbinden kann, der durch diese makellosen Formen zirkuliert.»

So sind also die Menschen entblößt, allein mit ihrem Körper und ihren Körper verachtend, der Geist ist von verfertigten Wesenheiten erdrückt. Die Natur und ihre Geheimnisse, die Winde, die Meteore, die plötzlich den Himmel durchziehen, so wie ein Finger ein Zeichen in den Sand malt, die Bäume, die ihre unregelmäßigen Äste zur Sonne strecken, die Täler und die Felder, die mit dem Licht und der Farbe des Wetters Gesamtheiten bilden, die von einem nachdrücklichen dunklen Sinn durchdrungen sind, alles hat sich verflüchtigt. Ebenso zieht eine Fackel in der Nacht plötzlich das Universum auf das bloße Gesicht des Fackelträgers zusammen. Niemand hat die Augen gehoben, niemand hat daran gedacht, die Wahrheit wie ein Schwert in das Herz der Dinge zu stoßen: zwischen dem Aufkommen dieser Wahrheit und dem Reich der Wissenschaft fehlt ein Kettenglied.

Ich sage also, daß die Wahrheit als mythische Tochter des Handels ihrerseits die ganz reale Demokratie erzeugt als ursprüngliche Konstitution, als einzige Konstitution, von der die anderen Regierungen nur vorübergehende Formen sind.

Umsonst haben bestimmte Philosophen ihre kostbare Ungleichheit ins Goldene Zeitalter zurückversetzt, sie findet hier keinen Platz. Wenn man einen dürftigen Keim davon pflücken will, so suche man bei jenen zurückgebliebenen Völkerschaften, wo es den Frauen nicht gestattet ist, untereinander in der Sprache der Männer zu sprechen, andere Syntax, andere Grundsätze, ein anderes Denken. Der Mann macht sich gerade so weit verständlich, wie zum Befehlen nötig ist. Für alles übrige fallen seine Befehle aus einer fremden Sphäre jenseits von wahr und falsch und bevölkern jene niederen Seelen mit harten und isolierten großen Blöcken wie Meteorsteine. Vom Himmel gefallene Befehle, das gemeinsame Gefühl, daß die Absichten des Herrn undurchdringlich sind, die Unmöglichkeit, eine prinzipielle Übereinkunft mit ihm zu treffen und, sollte es doch dazu kommen, parallele Wege davon ausgehen zu lassen, kurz, alles, was dazu zwingt, nur nackte Gewalt oder eine geheime und fast magische Macht anzuwenden, das ist es, was die Ungleichheit zwischen den Menschen hervorbringen kann.

Aber vor ihrem neuen Idol, vor der kalten Wahrheit fühlten sich die Niedrigsten den Großen gleich. Der Sklave konnte die Befehle des Herrn verstehen, oder andernfalls hatte der Herr dem Willen seines Magens gehorcht. Jedes Gebot, so gebieterisch es immer war, setzte eine vorherige Übereinkunft voraus. Gleichviel, ob die Oberhäupter reiche Greise, siegreiche Generale, ein König als Sohn eines Königs waren. Junge Reiche, von den Sophisten an die Hand genommen, rissen brav die Wortwaren an sich. Dadurch zwangen sie auf dem Markt, auf dem öffentlichen Platz ihre Meinungen auf. Aber nach dem, was vorausgeht, kann man sehen, daß dieses angehäufte Kapital nur ein Tauschobjekt war, eben weil jede Bemühung der Menschen darauf gerichtet war, ihre Gedanken von sich selbst zu lösen; und daß dieser ephemere Herr hinter seinem Arsenal politischer Gedanken sich nicht kraft seiner einzigartigen Natur durchsetzte, sondern im Gegenteil durch eine gewollte, gesuchte Übereinkunft mit der Menge und durch die sehr große Menge an Einzelverträgen, die er in der Tasche hatte.

So erscheint es für unsere Augen: in den Augen jener Zeit ist die Wahrheit da, jedes Ding gleichmachend. Mit größerer Promptheit wird sie sicher von den Intriganten gesehen. Aber jeder Citoyen sagt sich für sich, daß, wenn ein Sophist ihm die wahre Idee zeigte, er sie wie jene unfehlbar in seinem Gedächtnis behalten könnte. Wenn Alkibiades auf der Agora eine Idee lanciert hat, gehört sie ja nicht mehr ihm, und er kann seinen Ruf nur behalten, wenn er seinen Vorrat ständig erneuert.

Und als Sokrates stehenblieb, um mit einem Sklaven über die Figuren der Mathematik zu reden, geschah das, als wenn er gesagt hätte: «Dieser Sklave kann ebenso wie ich Prytane sein.»

Das Wesen dieser demokratischen Konstitution, die älter ist als die Geschichte, liegt darin, daß jeder Mensch jederzeit einen anderen ersetzen kann, weil ein sokratischer Dialog durch Übereinkunft und Gründe zwischen ihnen immer möglich ist. Es ist der demokratische Hauch, der unter der absolutesten aller Monarchien den inspirierte, der schrieb:

«Der gesunde Menschenverstand ist die am besten verteilte Sache der Welt.»

Die göttliche Abstammung der Pharaonen, der römische Kaiserkult, das Gottesgnadentum sind nur Scherze, Listen oder Ausschmückungen: ich will mein Sujet nackt sehen, und ich lasse sie beiseite. Fortan ist die Stätte, die ich betrachte, die demokratische Polis, bevölkert von Gleichen.

Hohe Wälle schützen die Menschen vor jedem natürlichen Zugriff, die Wälder sind weit weg und stumm. Nur der Himmel bleibt über diese Mauern gesetzt, und einige schneiden schon Dreiecke hinein. Die Häuser sind nach den Vorschriften des Maßes aufgereiht und schließen alle hinter ihren Fensterläden ein wahres Denken ein. Jeder Citoyen fühlt sich wie von einem Panzer von diesem künstlichen Universum umgeben. Er wendet sich anderen, intelligenten und ausdruckslosen Gesichtern zu und schließt flink unzählige logische Pakte. Die Wahrheit ist ein grausamer und angebeteter Tyrann: in ihrem Namen kann man den glücklichsten der Menschen zum Selbstmord überreden. Man zirkuliere in diesen geraden und regelmäßigen Straßen: alles ist hier Handel, Spitzfindigkeiten, abgezirkelte Erfindungen. Nur der Vogel, der seinen leichten Schatten über das Gewimmel der Schwätzer wirft, fliegt hoch genug, um im Konzert der Geräusche die vage Kraft der großen Naturstimmen wiederzufinden.

Man lernte, dem einzelnen Menschen zu mißtrauen. Die Vorfahren erinnerten sich noch mit Schrecken an die unvorhersehbare und gefährliche Willkür der Tyrannen. Jene riesigen und geheimnisvollen Menschen, die in der Kindheit der Republik geboren waren wie die Riesenarten in der Kindheit der Welt, welche man schließlich erschlagen hatte, weil sie durch sich selbst mächtig waren, brachten plötzlich überraschende Kataklysmen hervor, die in einem solchen Mißverhältnis sogar zu ihrer eigenen Struktur standen, daß es nach dem Ende der Katastrophe nicht möglich war, sie ihnen zuzuschreiben. An die Tore der Polis wurde geschrieben, daß man nur gemeinsam stark ist und daß der, der ohne fremde Hilfe das Werk mehrerer vollbringt, auf Hexerei zurückgreift.

Daher kam eine fruchtbare Gefahr: die Wundertäter hatte man vertrieben; aber sie hatten Nachkommen in den Wäldern, und so erschien ein gefährlicher Stamm von tiefen Menschen, wie aus der Erde gewachsen, die alleine herumzogen, auf einen Stock gestützt. Die griechischen Gewässer haben ihre düsteren und gebräunten hohen Gestalten reflektiert, sich selbst offenbart, und jene, die sich so im Spiegelbild der Wellen erkannten als Gefangene ihrer Gesichter, führten ein merkwürdiges Leben mit ihren Gedanken. Manchmal mokierten sie sich mit Zynismus darüber, unbesorgt um jene Wahrheit, die in der Ferne auf den Städten lastete; manchmal, wenn sie sich ihrer eigenen glühenden und zerfurchten Antlitze erinnerten, bekamen sie Angst, die dunklen Veränderungen, die ungeometrischen Formen zu betrachten, die sie in sich trugen, und entflohen bestürzt: keinerlei Maß, Scharlatane oder Selbstbetrüger. Die Natur liebte sie, spendete ihnen ihre Geheimnisse. Die Angst gab ihnen wunderbare Schauspiele. Sie erwachten aus ihren allmächtigen Schrecken, berauscht, erfüllt von Unaufrichtigkeit.

Aus Not, aus Bosheit, aus prophetischer Berufung gingen diese wunderbaren Schurken von Stadt zu Stadt, hielten ihre schrecklichen Kenntnisse wie Bären an der Leine und ertrotzten sich durch Einschüchterung Almosen, indem sie sie ein bißchen an der Leine zerren ließen.

Sie sprachen von jenen unmenschlichen Mächten, die den Menschen umgeben und die die Städter nicht sehen wollten, sie erzählten ihre nächtlichen Schrecken, ihre Freuden unter der Sonne, und vage Anklänge erwachten im verwirrten Geist der Gleichen, als ob hinter ihren sprichwörtlichen Begriffen etwas Ungeheuerliches übriggeblieben wäre, mit dem sie nicht hätten Handel treiben können und das sie zur Einsamkeit verurteilt hätte.

Es versteht sich, daß man diese Scharlatane umbrachte, sobald man sie von hinten packen konnte. Aber als ihre Rasse ausgestorben war, blieb eine diffuse Unruhe zurück: hinter jenen abgeschälten und vertrauten Hügeln, jenen Flintsteinbrüchen, welches schreckliche Schauspiel wartete da auf die Menschen, welche unerhörte Gefahr bedrohte da die Republik? Ein mutiger Senat sandte eine Expedition gegen die Natur aus.

Die ersten, die, von einem ganzen Volk von Gleichen getragen, einen demokratischen Blick über die Dinge streifen ließen, waren schockiert von der großen Ungleichheit der Wirkungen. Ein Keim, den man unter dem Fingernagel halten konnte, ließ den größten der Bäume entstehen, eine etwas starke Schwingung der menschlichen Stimme rief manchmal Steinschläge hervor. Dagegen blieben jedoch die Mineralien, steril und mürrisch, reglos in ihre trockenen Formen gezwängt. Eine weitere und viel gefährlichere Versuchung lag darin, daß bestimmte Naturen zum Geist sprachen und andere nichts sagten. Die natürliche Aristokratie schien diesen guten Citoyens unerträglich. Sie organisierten also die äußere Welt so, daß sie die schönste Errungenschaft des Menschen blieb. Da der Geist ganz von ihren schönen quadratischen Häusern, ihren runden Plätzen, den großen Versammlungen eingenommen war, von wo so viele weise Worte aufstiegen wie über jedem Menschen eine kleine einzelne Rauchwolke, teilten sie die variablen und spontanen Kräfte; aus jedem Gegenstand zogen sie sorgfältig jede persönliche Fähigkeit heraus: wenn jener Stein beim Wegrollen handelte, wenn er Ursache einer Veränderung unter seinesgleichen war, wäre es subversiv gewesen, sich vorzustellen, daß er dafür verantwortlich war. Seine ganze Wirksamkeit rührte bei ihm von einer Delegierung her. Ebenso wußte der unbekannteste der Abstimmenden genau, wenn der Diktator den Krieg erklärte, daß diese gefährliche Macht über Leben und Tod ihm von unten verliehen worden war:

«Ohne mich», dachte er, «der ihn gewählt hat, könnte er mich nicht in den Kampf schicken. Aber hätte ich selbst diese große Umwälzung herbeiführen können? Dazu bedurfte es der Mithilfe meiner Gefährten.»

Die Kraft ging von den einen auf die andren über und schließlich in den Arm, der den Vertrag zerriß. Eine lange Kette, Versammlungen, geplante, geregelte Aktionen liefen auf jene entscheidende Geste hinaus, und die Kraft gehörte keinem von ihnen: Hätte man einen verdächtigt, sie für sich allein zu haben, hätte man ihn sofort hingerichtet. Jeder war nur der Delegierte eines anderen oder aller anderen: für sich allein war er nur ein Mineral, ein toter Stein.

Es war also legitim und gleichsam pietätvoll gegenüber der Polis, eine ähnliche Delegierung in der Natur anzunehmen: das hieß einen Naturalismus der Demokratie begründen. Auf diese Weise und dank einer ganz menschlichen Erfindungsgabe machte die große Vielfalt der Phänomene einer angemessenen Verschiedenheit von Delegierangen Platz. Kleine Citoyens, die man Atome nannte und die noch unbeweglicher waren als ein redlicher Kaufmann der Stadt, teilten sich, allein gelassen, gegenseitig eine ausgeliehene Kraft mit, verwirklichten die Sonne, den blauen Himmel, den Schwanz der Pfauen, aus Solidarität. Ein Wähler fühlte sich im Schoß der Natur wohl, freute sich über die Moralität des Schauspiels, konnte seinen Söhnen an schönen Beispielen die Wohltaten der gegenseitigen Hilfe erklären.

Zugleich damit verschwanden beunruhigende Mysterien. Wenn seit dem Tod der Wanderer eine Erleichterung bereits von der Idee herkam, daß es niemanden mehr gab, der in nebelhaften Ausdrücken von diesen Geheimnissen sprechen konnte, um wieviel beruhigender, leichter, demokratischer ging der Tag auf, da man erfuhr, daß die Natur keine Geheimnisse mehr hatte: nichts, was in der Tiefe des Herzens bleiben mußte, wie ein alter Haß, weil man keine Wörter hatte, es auszudrücken; ganz einfach die Republik bis zu den unendlich Kleinen, eine immer von draußen kommende abgemessene Bewegung und in derselben Quantität Seiendes herauslassend, wie eingetreten war, das Angesicht des konstanten Universums, nur von einer köstlichen Vielfalt von Lächeln bewegt. Die Gespenster kehrten in die hohlen Bäume zurück.

Wenn der Sieger die sterblichen Überreste des Feindes auf die Knie gezwungen hatte, sagte er:

«Fürchtet euch nicht. Jenseits der Berge habe ich nur eine etwas verrostete, ohne Ökonomie, aber noch gute große Maschine angetroffen. Meine Rolle ist beendet. Andere mögen ihre Mechanismen auseinandernehmen.»

Da sah man Gesellschaften wimmeln, die wegen ihres strikt kollektiven Charakters als gemeinnützig anerkannt waren und die man Gelehrte Gesellschaften nannte. Ihre ersten Mitglieder waren zweifellos demokratische Fanatiker, die ihren Handel oder ihre Aufgaben im Stich ließen, um die Natur auf Distanz zu kolonisieren. Um gelehrt zu sein, mußte man zuerst honnête homme und bon citoyen sein, im höchsten Maße Traditionsgeist besitzen. Sie waren jeweils von einem ihrer Kollegen abhängig und dieser seinerseits von einem andren Gelehrten. Die Gegenstände ihres Studiums erfuhren den Gegenschlag jener Brüderlichkeit: die Natur wurde etwas brüderlicher, die Solidarität der Atome straffte sich, und jeder Gelehrte, an der Vergangenheit hängend, an seinen zahlreichen gegenwärtigen Kollegen, wie das verhakteste der Atome, konnte von der Idee durchdrungen sein, daß er nichts war, nichts ohne seine Vorgänger, nichts ohne seine Neffen, und daß er keine andere Mission hatte, als das Werk der Kollektivität, soviel er konnte, zu polieren.

Sie bewegten sich nicht von zu Hause weg, aber ließen sich von Soldaten, je nach den Eroberungen, große Stücke zerzauster und unbestimmter Natur bringen, die man in den quadratischen Höfen ablegte, im mathematischen Schatten der Häuser.

An diesen verpflanzten Bruchstücken, durch die langen, glühenden Tage des Transports ausgetrocknet, durch das Gerumpel lädiert, durch den unheilvollen Apparat der Zivilisation zerstört, versuchten sie, zunächst zufällig, dann methodisch, die neuesten Wunder der Kunst des Messerschleifers, des Schmieds, des Uhrmachers. Sie goßen sie in Gußformen, erhitzten sie, ließen sie gerinnen, mischten sie, teilten sie; sie verwendeten zu ihrer Bändigung bereits unterworfene Kräfte, so wie man in Kerkern Schafe verwendet, um Schuldige fertig zu machen, die nicht geständig sein wollen. Sie nannten die festgestellten Beziehungen zwischen einer ihrer Maschinen und irgendeiner Naturproduktion «Gesetze». Die Schuldigen gestanden, was man wollte. Was hätten Sie an ihrer Stelle gemacht?

Bei einigen Philosophen, einer Rasse, mit der wir uns beschäftigen werden, kann man lesen, daß der Geist voll ausgerüstet, sorgfältig unterteilt, ein geölter, lautlos gleitender Produzent des Intelligiblen und der Form ist, daß es jedoch eines Anstoßes bedarf, um ihn aus dem Schlaf zu rütteln, in den ihn seine totale Transparenz sinken läßt. Ohne den Fremden, ohne den, der aus dem opaken und unintelligiblen Draußen kommt, würde er sich in diaphane Luzidität verlieren. Aber sobald das Formlose seine Abwesenheit wild zu durchqueren versucht, bemächtigt er sich seiner, betäubt es, zerteilt es, walzt es, entkörpert es, zwingt es, in seiner Klarheit zu verbrennen.

Ich glaube nicht daran, aber ich denke, daß es die mitten unter Maschinen geborenen Philosophen wie die Alten gemacht haben, die die vertrauten Gegenstände ihrer Umgebung bis zum Schoß der Götter erhoben : was sie vom Geist sagen, ist aus einer Reflexion über die Maschinen hervorgegangen und läßt sich sehr gut auf sie anwenden.

Sie sind lange vor der Wissenschaft, ja noch vor der Wahrheit aus einer Idee vom Menschen geboren, die in eine gefügige Materie geworfen war. Die Materie, arm und nackt, ohne Einzelheiten, geriet in Vergessenheit, aber die voll entfaltete Idee wurde auf ihre Kosten fett. So wurden der erste Tempel, der erste Topf, der erste Gegenstand hervorgebracht, der sich nicht dem Tode gemäß anordnete. Sie vervollständigen sich durch Argumentationen, die ihnen eigen waren, mit größeren oder kleineren Vertiefungen im Eisen oder Ton. Ihre Fortschritte verdankten sie nur sich selbst, sie filterten die Zusätze der Außenwelt und bogen die gefügigsten nach den Anforderungen ihrer Form zurecht. Sie markierten den ersten Triumph der praktischen Idee, des Denkens, das nicht erkennen, sondern sich durchsetzen will.

Die demokratische List der Gelehrten Gesellschaften war gerade darauf aus, sie zur Erkenntnis zu benutzen. Wie der Taschenspieler, der die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf seine Ärmel ablenkt, die in Wirklichkeit leer und unschuldig sind, während das Glas in seiner Weste ist, ließen sie jeden Ankömmling ihr Herz lesen und sagten dazu:

«Seht, wir lassen die Tatsachen unterschiedslos an uns herankommen. Wir sind unvoreingenommen, weil wir die kontemplative Haltung eingenommen haben.»

In der Tat. Aber mit dieser Annahme selbst hatten sie es leicht: zwischen ihre passiv geöffnete, harmlose Seele und das Ereignis schoben sie die vorgefaßte Idee, die deformierende Voreingenommenheit, den unmenschlichen und mechanischen Eigensinn. Die Maschinen lauern in den Ecken. Es bedarf nur eines Strohhalms, um ihr Räderwerk in Gang zu setzen. Sie schnappen nach einer Fliege, verdauen sie, geben eine Maschine zurück. Sorgfältig dafür montiert, nur eine einzige Bewegung auszuführen, dient ihnen alles zum Anlaß, sie auszuführen. Das abgewogene, gereinigte, zusammengedrückte Quecksilber des Barometers kann steigen und fallen, das ist alles. Immerhin bedarf es, wird man sagen, einer Spur Homogenität zwischen den Maschinen und bestimmten Aspekten der Natur. Gewiß: es ist Sache des Gelehrten, auf das geringste Raunen zu lauschen und sich den Apparat vorzustellen, der es enthüllen kann. Aber dieses Raunen der Erde und dieses strenge Denken der einen Augenblick durch Zwang verbundenen Menschen gehen nicht in dieselbe Richtung. Wenn die rote Tinte dieses leichte Zittern auf dem Diagramm fixiert, ist es schon nicht mehr dasselbe. Und wenn das hierhin und dorthin transportierte Barometer stumm bliebe, sind ja schon Vorkehrungen getroffen, solche Verstummungen heißen Konstanz.

Ein Volkstribun sollte sich über solche Gewaltsamkeiten beunruhigen:

«Seid ihr sicher», sagte er ihnen, «daß alles legal geschieht?»

«Gewiß, wir wissen genau, daß die undankbare Natur uns niemals das geringste Zeichen von Billigung gegeben hat. Aber sie kann sehr gut nein sagen, wenn sie will: ihr Schweigen ist Zustimmung.» Der Politiker schwieg: er erkannte beiläufig eines seiner Argumente wieder:

«Ihr sagt, daß die Afrikaner unter der Kolonisierung leiden? Ach was, sie würden es doch sagen, sie würden revoltieren. Doch ihr könnt sie zu jeder Zeit ernst und friedlich sehen. Sie sind zu undankbar, sich öffentlich zu unserem Schutz zu beglückwünschen. Aber sie sagen nichts, was auf das gleiche hinausläuft.»

Aber die Natur sagt weder ja noch nein. Sie kann nicht in Gegensätzen denken: sie schweigt. Die Gedanken sagen nein, die Maschinen sagen nein, zänkische Ideen, die ein Stück Gußeisen oder Stahl mit den Krallen umklammern.

Ursprünglich war der Gelehrte frei in dem jungfräulichen Bereich, den er gewählt hatte, allerdings unter zwei Bedingungen: er mußte bei der Behandlung der Natur durch eine Maschine genauen Aufschluß über die erzielten Resultate geben; sein Denken mußte auf den ersten Blick einen vernünftig staatsbürgerlichen Aspekt bieten. Aber die Gelehrten Gesellschaften sind traditionalistisch, und in der folgenden Generation trat eine dritte Bedingung zu den beiden anderen hinzu: die neuen Theorien mußten mit denen der gestorbenen Kollegen übereinstimmen. Von Jahr zu Jahr straffte sich das Raster: verhüllte Gründe widerstanden insgeheim allzu persönlichen Versuchen. Ein Kritiker kam, der sie an den Tag brachte: der erste Widerspruch brachte das neue Gerüst zu Fall. Es war Descartes, der Newton nach seinem Tode des Irrtums überführte, und nicht die Sonne, die sich nicht darum kümmerte, ob sie dem Blick der Menschen ganz kleine Partikel oder ganz schnelle Wellen sandte.

Zwar warf in mehr als einem Fall der Neuankömmling die Behauptungen seiner Vorläufer um. Das geschah, sagt man, weil er ein neues, unreduzierbares Faktum gefunden hatte. Aber das verweist uns auf die Maschinen, weil dieses Faktum, wie ich gesagt habe, durch sie verfertigt ist. Doch zwischen einer theoretischen Behauptung und den Maschinen kann der Gelehrte immer wählen: aber er wählt eben immer die letzteren, weil sie das Traditionellste an der Wissenschaft sind. Unter ihrer offiziellen Devise «Die Phänomene retten» errate ich die geheime Formel «Die Instrumente retten». Ihre Kraft ist da, denn sie haben ja nicht irgendeiner Aussage vertraut, deren Urheber man wiederfinden könnte, sondern den dunkelsten, den ältesten Fundamenten, den Verfahren, den Maßen, den Begriffen, die so eingenommen waren, daß sie unsichtbar geworden sind, kurz, dem Wesentlichen: was von niemandem erfunden wurde. Sie verwerfen letztlich nur das Werk der Menschen, die sich nicht genug vergessen, schlechte Citoyens.

So bewahren sie ihre Kräfte verkettet, die gierig und wild nach Billigung sind, den Stolz, die Wut, die blinde und heftige Parteilichkeit, die Ungerechtigkeit, alles, was aus der Zustimmung ein obszönes und fröhliches Bacchanal macht, alles, was ein starkes Denken – hélas selbst die Liebe – bedingt. Die Menge, allein die Menge äußerte sich in ihrem Kopf mit einem stummen Murmeln; und jeder betrachtete die Ideen, die sie hervorbrachten, immer nur vom Gesichtspunkt anderer.

Die Polis kümmerte sich um ihre Waisenkinder, zog sie mit ihren reinen Fingern auf. Es gibt niemanden, der sie nicht zur festgesetzten Stunde in Reih und Glied in der spröden Pracht ihrer Schönheit hat durch die Straßen ziehen sehen können. Dann blieb jeder respektvoll stehen, seine Blicke über die düsteren Uniformen schweifen lassend, ohne sie auf irgendein Gesicht heften zu können. Aber keiner neigte sich jemals zärtlich zu ihnen herab und dachte: «Das ist mein Kind.»

Ich halte hier inne: ein großer und schwerer Frieden herrscht über die Welt, der, den die erobernden Völker herzustellen wissen. Alles ist ruhig. Die Eingeborenen der fernen Meere schicken Ambra und Purpur als Tribut; das Trockene und das Feuchte, das Warme und das Kalte zahlen unterschiedslos die Steuer des Wahren. Soldaten und Gelehrte haben kein anderes Mittel, sich zu zerstreuen, als an den Grenzen Schikanen zu erfinden, die einen, indem sie Aufstände provozieren, um sie unterdrücken zu können, die anderen, indem sie die dissidenten Atome mit einem grünen Netz vertreiben. Die Polis langweilt sich im Zentrum ihrer Eroberungen, das Auge auf jene unermeßliche und vielfarbige Erde geheftet, die sie zweimal zu unterwerfen wußte.

Der Leser lächelt: «Sie sprechen uns von einer weit zurückliegenden Epoche und von Kinderspielen. Die Zeit des Köhlerglaubens ist vorbei. Ich sage Ihnen nur, daß zum Thema der wissenschaftlichen Wahrheiten selbst jeder heute seine Vorbehalte bewahrt. Sie sollten lieber den Fortschritt und den Übergang von jener Barbarei zu unserer Aufklärung besingen.»

Ich werde es tun. Ich werde die Geburt des Wahrscheinlichen sagen, das wahrer ist als das Wahre, mit seinem Gefolge von Philosophen. Ich werde diesen nachgeborenen Sohn der Langeweile und der Wahrheit besingen.

Aber das ist eine Legende für Erwachsene.

1931

Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität

«Er verschlang sie mit den Augen.» Dieser Satz und viele andere Anzeichen verdeutlichen zur Genüge die dem Realismus und Idealismus gemeinsame Illusion, nach der Erkennen Essen heißt. Bei der französischen Philosophie ist das nach hundert Jahren Akademismus noch immer der Fall. Wir haben alle Brunschvicg, Lalande und Meyerson gelesen, wir haben alle geglaubt, daß der Spinnen-Geist die Dinge in sein Netz locke, sie mit einem weißen Seidenfaden überziehe und langsam verschlucke, sie auf seine eigene Substanz reduziere. Was ist ein Tisch, ein Felsen, ein Haus? Ein gewisser Verbund von «Bewußtseinsinhalten», eine Ordnung dieser Inhalte. O Ernährungsphilosophie! Dennoch schien nichts evidenter: ist der Tisch nicht der aktuelle Inhalt meiner Wahrnehmung, ist meine Wahrnehmung nicht der gegenwärtige Zustand meines Bewußtseins? Nahrungsaufnahme, Assimilation. Lalande sagte: Assimilation der Dinge zu Ideen, der Ideen untereinander und der Geister untereinander.[2] Die mächtigen Kanten der Welt wurden von jenen eifrigen Diastasen zerfressen: Assimilation, Vereinheitlichung, Identifikation. Vergeblich suchten die Einfachsten und Rüdesten unter uns etwas Solides, kurz, etwas, was nicht der Geist wäre; sie stießen überall nur auf einen feuchten und ja so distinguierten Nebel: sich selbst.

Gegen die Verdauungsphilosophie des Empiriokritizismus, des Neukantianismus und gegen jeden «Psychologismus» wird Husserl nicht müde zu behaupten, man könne die Dinge nicht im Bewußtsein auflösen.[3] Sie sehen diesen Baum hier, gut. Aber sie sehen ihn an eben diesem Platz, wo er steht: am Straßenrand, mitten im Staub, allein und unter der Hitze gekrümmt, zwanzig Meilen von der Mittelmeerküste entfernt. Er könnte nicht in Ihr Bewußtsein eintreten, denn er ist nicht von der gleichen Natur wie das Bewußtsein. Sie glauben, hier Bergson und das erste Kapitel aus Matière et mémoire[4] wiederzuerkennen. Aber Husserl ist keineswegs Realist: aus diesem Baum auf seinem rissigen Stückchen Land macht er kein Absolutes, das von da an mit uns in Kommunikation treten würde. Das Bewußtsein und die Welt sind beide auf einmal gegeben: ihrem Wesen nach dem Bewußtsein äußerlich, ist die Welt ihrem Wesen nach relativ zu ihm. Daher sieht Husserl im Bewußtsein ein unreduzierbares Faktum, das kein einziges physisches Bild wiedergeben kann. Abgesehen von dem flüchtigen und dunklen Bild des Berstens vielleicht. Erkennen ist «bersten nach», sich von der feuchten, gastrischen Intimität losreißen, um da hinten über sich hinaus nach dem zu entweichen, was nicht es ist, dort hinten, bei dem Baum und dennoch außerhalb von ihm, denn er entgeht mir und stößt mich zurück, und ich kann mich ebensowenig in ihm verlieren, wie er sich in mir auflösen kann: außerhalb von ihm, außerhalb von mir. Erkennen Sie in dieser Beschreibung nicht Ihre Ansprüche und Ahnungen wieder? Sie wußten sehr wohl, daß der Baum nicht Sie war, daß Sie ihn nicht in Ihre düsteren Mägen hineinbringen konnten und daß die Erkenntnis sich nicht ohne Unredlichkeit mit dem Besitzen vergleichen ließ. Gleichzeitig hat sich das Bewußtsein gereinigt, es ist klar wie ein starker Wind, es gibt nichts mehr in ihm außer einer Bewegung, vor sich zu fliehen, aus sich herauszugleiten; falls Sie, unmöglicherweise, «in» ein Bewußtsein eindrängen, würden Sie von einem Wirbelsturm erfaßt und nach draußen, in die Nähe des Baums, mitten in den Staub, zurückgeworfen werden, denn das Bewußtsein hat kein «Drinnen» ; es ist nichts als das Draußen seiner selbst, und diese absolute Flucht, diese Weigerung, Substanz zu sein, konstituieren es als ein Bewußtsein. Stellen Sie sich jetzt ein fortgesetztes Bersten vor, das uns von uns selbst losreißt, das sogar einem «uns selbst» keine Muße läßt, sich hinter ihm zu bilden, sondern das uns im Gegenteil über es hinaus wirft, in den trockenen Staub der Welt, auf die harte Erde, mitten unter die Dinge; stellen Sie sich vor, daß wir, eben durch unsere Natur, so in eine indifferente, feindselige und widerspenstige Welt geworfen und ausgesetzt sind; Sie werden den grundlegenden Sinn der Entdeckung begriffen haben, die Husserl in jener berühmten Wendung zum Ausdruck bringt: «Alles Bewußtsein ist Bewußtsein von etwas».[5] Mehr braucht man nicht, um der bequemen Immanenzphilosophie, in der alles durch Kompromiß, Protoplasmaaustausch, durch eine lauwarme Zellularchemie zustande kommt, ein Ende zu bereiten. Die Transzendenzphilosophie wirft uns auf die Landstraße, mitten in Gefahren, unter ein grelles Licht. Sein, sagt Heidegger, ist In-der-Welt-sein.[6] Verstehen Sie dieses «In-Sein»[7] im Sinne von Bewegung. Sein ist in die Welt zerbersten, von einem Nichts an Welt und Bewußtsein ausgehen, um plötzlich als-Bewußtsein-in-die-Welt-zu-zerbersten. Wenn das Bewußtsein versucht, sich wieder zu ergreifen, endlich mit sich selbst zu koinzidieren, ganz warm, bei geschlossenen Fensterläden, dann vernichtet es sich. Diese Notwendigkeit für das Bewußtsein, als Bewußtsein von etwas anderem als von sich zu existieren, nennt Husserl «Intentionalität».

Ich habe zunächst von der Erkenntnis gesprochen, um mich besser verständlich zu machen: die französische Philosophie, die uns geformt hat, kennt kaum mehr als die Epistemologie[8]. Für Husserl und die Phänomenologen jedoch beschränkt sich das Bewußtsein, das wir von den Dingen gewinnen, keineswegs auf deren Erkenntnis. Die Erkenntnis oder reine «Vorstellung [représentation]» ist nur eine der möglichen Formen meines Bewußtseins «von» diesem Baum; ich kann ihn auch lieben, fürchten, hassen, und diese Überschreitung des Bewußtseins durch sich selbst, die man «Intentionalität» nennt, findet sich in der Furcht, dem Haß und der Liebe wieder. Einen Anderen hassen ist ebenfalls eine Art und Weise, zu ihm hin zu zerbersten, sich plötzlich einem Fremden gegenüber zu finden, bei dem man zunächst die objektive Qualität «hassenswert» erlebt und erleidet. Da sieht man, wie mit einemmal jene berüchtigten «subjektiven» Reaktionen, Haß, Liebe, Furcht, Sympathie, die in der übelriechenden Lauge des Geistes trieben, sich davon losreißen; sie sind lediglich Weisen, die Welt zu entdecken. Es sind die Dinge, die sich uns plötzlich als hassenswerte, sympathische, entsetzliche, liebenswerte enthüllen. Es ist eine Eigentümlichkeit jener japanischen Maske, furchterregend zu sein, eine unerschöpfliche , unreduzierbare Eigentümlichkeit, die ihre Natur selbst konstituiert– und nicht die Summe unserer subjektiven Reaktionen auf ein Stück geschnitztes Holz. Husserl hat das Entsetzen und den Reiz wieder in die Dinge hineinversetzt. Er hat uns die Welt der Künstler und Propheten zurückerstattet: fürchterlich, feindselig, gefährlich, mit Häfen der Anmut und der Liebe. Er hat für eine neue[9] Abhandlung über die Leidenschaften Platz geschaffen, die sich von dieser so simplen und so grundlegend von unseren Kennern verkannten Wahrheit leiten lassen würde: wenn wir eine Frau lieben, dann weil sie liebenswert ist. So sind wir von Proust befreit. Befreit gleichzeitig vom «Innenleben [vie intérieure]»[10]: vergeblich würden wir, wie Amiel [11], wie ein Kind, das sich die Schulter küßt, die Liebkosungen, die Verhätschelungen unserer Intimität suchen, weil doch schließlich alles draußen ist, alles, sogar noch wir selbst: draußen, in der Welt, mitten unter den Anderen. Nicht in irgendeinem Schlupfwinkel werden wir uns entdecken: sondern auf der Straße, in der Stadt, mitten in der Menge, Ding unter Dingen, Mensch unter Menschen.

1939

Die Transzendenz des Ego

Skizze einer phänomenologischen Beschreibung

Für die meisten Philosophen ist das Ego ein «Bewohner» des Bewußtseins. Manche behaupten seine formale Präsenz im Inneren der «Erlebnisse» [12] als ein leeres Vereinigungsprinzip. Andere– meist Psychologen– glauben, in jedem Moment unseres psychischen Lebens seine materiale Präsenz zu entdecken als Zentrum der Begierden und Handlungen. Wir wollen hier zeigen, daß das Ego weder formal noch material im Bewußtsein ist: es ist außerhalb, in der Welt; es ist ein Sein der Welt, wie das Ego anderer.