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Wenige Wochen nach der Befreiung von Paris, im Oktober 1944, schrieb Sartre den vorliegenden Essay. Den ersten Teil, das Porträt des Antisemiten, veröffentlichte er im Dezember 1945 in Les Temps Modernes. Er hatte zunächst gezögert, den vollständigen Text drucken zu lassen, aus Furcht, die Analyse des unauthentischen Juden könne falsch verstanden werden. Es war dann vor allem die positive Reaktion jüdischer Intellektueller, die ihn veranlasste, 1946 den Text ungekürzt der Öffentlichkeit zu übergeben. «Der Antisemit ... ist ein Mensch, der Angst hat. Nicht vor den Juden natürlich: vor sich selbst, vor seinem Bewusstsein, vor seiner Freiheit, vor seinen Trieben, vor seinen Verantwortlichkeiten, vor der Einsamkeit, vor der Veränderung, vor der Gesellschaft und vor der Welt; vor allem, außer vor den Juden. Er ist ein Feigling, der sich seine Feigheit nicht eingestehen will; ein Mörder, der seine Mordlust verdrängt oder zensiert, ohne sie zügeln zu können, und der trotzdem nur in effigie oder in der Anonymität einer Menge zu töten wagt; ein Unzufriedener, der sich nicht aufzulehnen wagt aus Angst vor den Folgen seiner Auflehnung.» (Jean-Paul Sartre)
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Seitenzahl: 475
Jean-Paul Sartre
Wenige Wochen nach der Befreiung von Paris, im Oktober 1944, schrieb Sartre den vorliegenden Essay. Den ersten Teil, das «Porträt des Antisemiten», veröffentlichte er im Dezember 1945 in Les Temps Modernes. Er hatte zunächst gezögert, den vollständigen Text drucken zu lassen, aus Furcht, die Analyse des unauthentischen Juden könnte falsch verstanden werden. Es war dann vor allem die positive Reaktion jüdischer Intellektueller, die ihn veranlasste, 1946 den Text ungekürzt der Öffentlichkeit zu übergeben.
«Der Antisemit … ist ein Mensch, der Angst hat. Nicht vor den Juden natürlich: vor sich selbst, vor seinem Bewußtsein, vor seiner Freiheit, vor seinen Trieben, vor seinen Verantwortlichkeiten, vor der Einsamkeit, vor der Veränderung, vor der Gesellschaft und vor der Welt; vor allem, außer vor den Juden. Er ist ein Feigling, der sich seine Feigheit nicht eingestehen will; ein Mörder, der seine Mordlust verdrängt oder zensiert, ohne sie zügeln zu können, und der trotzdem nur in effigie oder in der Anonymität einer Menge zu töten wagt; ein Unzufriedener, der sich nicht aufzulehnen wagt aus Angst vor den Folgen seiner Auflehnung.» (Jean-Paul Sartre)
Geboren am 21.6.1905, wuchs er nach dem frühen Tod seines Vaters im Jahre 1906 bis zur Wiederheirat seiner Mutter im Jahre 1917 bei seinen Großeltern Schweitzer in Paris auf. 1929, vor seiner Agrégation in Philosophie, lernte er seine Lebensgefährtin Simone de Beauvoir kennen, mit der er eine unkonventionelle Bindung einging, die für viele zu einem emanzipatorischen Vorbild wurde. 1931–1937 war er Gymnasiallehrer in Philosophie in Le Havre und Laon und 1937–1944 in Paris. 1933 Stipendiat des Institut Français in Berlin, wo er sich mit der Philosophie Husserls auseinandersetzte.
Am 2.9.1939 wurde er eingezogen und geriet 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft, aus der er 1941 mit gefälschten Entlassungspapieren entkam. Noch 1943 wurde unter deutscher Besatzung sein erstes Theaterstück «Die Fliegen» aufgeführt; im selben Jahr erschien sein philosophisches Hauptwerk «Das Sein und das Nichts». Unmittelbar nach dem Krieg wurde Sartres Philosophie unter dem journalistischen Schlagwort «Existenzialismus»zu einem modischen Bezugspunkt der Revolte gegen bürgerliche Lebensformen. 1964 lehnte er die Annahme des Nobelpreises ab. Zahlreiche Reisen führten ihn in die USA, die UdSSR, nach China, Haiti, Kuba, Brasilien, Nordafrika, Schwarzafrika, Israel, Japan und in fast alle Länder Europas. Er traf sich mit Roosevelt, Chruschtschow, Mao Tse-tung, Castro, Che Guevara, Tito, Kubitschek, Nasser, Eschkol. Sartre starb am 15.4.1980 in Paris.
Auszeichnungen: Prix du Roman populiste für «Le mur» (1940); Nobelpreis für Literatur (1964, abgelehnt); Ehrendoktor der Universität Jerusalem (1976).
«Reflexions sur la question juive» Copyright © 1954 by Éditions Gallimard, Paris Für Ely Ben Gal «Mardi, chez Sartre» Copyright © 1992 by Flammarion, Paris
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2023
Neuübersetzung Copyright © 1994 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg November 2023
«Reflexions sur la question juive» Copyright © 1954 by Éditions Gallimard, Paris Für Ely Ben Gal
«Mardi, chez Sartre» Copyright © 1992 by Flammarion, Paris
Covergestaltung any.way, Hamburg, nach einem Entwurf von Werner Rebhuhn
ISBN 978-3-644-01887-7
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Wenn jemand das Unglück des Landes oder sein eigenes Unglück der Anwesenheit jüdischer Elemente im Gemeinwesen zuschreibt, wenn er vorschlägt, diesem Zustand abzuhelfen, indem die Juden bestimmter Rechte beraubt oder von bestimmten ökonomischen und sozialen Funktionen ferngehalten oder des Landes verwiesen oder alle ausgerottet werden, sagt man, er habe antisemitische Anschauungen.
Dieses Wort Anschauung macht stutzig … Die Dame des Hauses benutzt es, um eine Diskussion zu beenden, die heftig zu werden droht. Es legt nahe, alle Auffassungen seien gleichwertig, es beruhigt und gibt den Gedanken ein harmloses Aussehen, indem es sie mit Geschmacksurteilen gleichsetzt. Alle Geschmäcke kommen in der Natur vor, jede Meinung ist erlaubt; über Geschmack, Farben und Meinungen soll man nicht streiten. Im Namen der demokratischen Institutionen, im Namen der Meinungsfreiheit fordert der Antisemit das Recht, überall den antijüdischen Kreuzzug zu predigen.
Da wir uns gleichzeitig seit der Revolution daran gewöhnt haben, jeden Gegenstand analytisch zu betrachten, das heißt als ein Zusammengesetztes, das man in seine Elemente zerlegen kann, betrachten wir Personen und Charaktere wie Mosaikbilder, deren einzelne Steine nebeneinder bestehen, ohne davon in ihrer Natur berührt zu werden. So erscheint uns die antisemitische Anschauung als ein Molekül, das sich mit beliebigen anderen Molekülen verbinden kann, ohne sich selbst zu verändern.
Ein Mann kann ein guter Vater und Gatte sein, ein eifriger Staatsbürger, überaus gebildet und Menschenfreund und andererseits Antisemit. Er kann gern angeln und die Freuden der Liebe schätzen, tolerant in religiösen Dingen, voller großzügiger Gedanken über die Lage der Eingeborenen Zentralafrikas sein und andererseits die Juden verabscheuen.
Er mag sie nicht, sagt man, weil seine Erfahrung ihm gezeigt hat, daß sie schlecht sind, weil er den Statistiken entnommen hat, daß sie gefährlich sind, weil bestimmte historische Faktoren sein Urteil beeinflußt haben. So scheint diese Ansicht die Wirkung äußerer Ur-Sachen zu sein, und jene, die sie untersuchen wollen, vernachlässigen die Person des Antisemiten und bringen den Prozentsatz der 1914 eingezogenen Juden, den Prozentsatz jüdischer Bankiers, Industrieller, Ärzte und Anwälte, die Geschichte der Juden in Frankreich seit den Anfängen ins Spiel. Es gelingt ihnen, eine streng objektive Situation zu erkennen, die eine bestimmte, ebenfalls objektive Meinungsströmung determiniert; sie nennen sie Antisemitismus, zeichnen deren Ausbreitung auf oder halten Varianten zwischen 1870 und 1944 fest.
Auf diese Weise scheint der Antisemitismus ein subjektiver Geschmack zu sein, der mit anderen Neigungen verbunden die Person bildet, und zugleich eine unpersönliche und gesellschaftliche Erscheinung, die in Ziffern und Durchschnittswerten ausgedrückt werden kann und durch ökonomische, historische und politische Konstanten bedingt ist.
Ich sage nicht, diese beiden Auffassungen widersprechen notwendigerweise einander. Ich sage, sie sind gefährlich und falsch. Ich würde notfalls akzeptieren, daß man zur Weinpolitik der Regierung eine Meinung hat, das heißt, daß man begründet die uneingeschränkte Einfuhr von Wein aus Algerien billigt oder ablehnt: hier geht es darum, seine Ansicht über die Verwaltung von Sachen zu äußern. Ich weigere mich jedoch, eine Lehre, die ausdrücklich auf besondere Personen abzielt und bestrebt ist, ihre Rechte zu beseitigen oder sie auszurotten, eine Meinung zu nennen. Der Jude, den der Antisemit treffen will, ist kein schematisches Wesen, das nur durch seine Funktion wie im Verwaltungsrecht, durch seine Situation und seine Taten wie im Bürgerlichen Gesetzbuch definiert ist. Er ist ein Jude, Kind von Juden, erkennbar an seiner äußeren Erscheinung, seiner Haarfarbe, vielleicht seiner Kleidung und, sagt man, an seinem Charakter. Der Antisemitismus fällt nicht in die Kategorie von Gedanken, die das Recht auf freie Meinungsäußerung schützt.
Außerdem ist er etwas ganz anderes als eine Denkweise. Er ist vor allem eine Leidenschaft. Gewiß kann er in der Form einer theoretischen Aussage auftreten. Der «gemäßigte» Antisemit ist ein höflicher Mensch, der Ihnen sanft sagt: «Ich habe nichts gegen Juden. Ich halte es nur, aus diesem und jenem Grund, für besser, wenn sie am Leben der Nation etwas eingeschränkt teilnehmen.» Doch im nächsten Augenblick, wenn er vertrauter geworden ist, fügt er schon leutseliger hinzu: «Schauen Sie, ‹etwas› muß doch mit den Juden sein: sie sind mir körperlich unangenehm.» Das Argument – ich habe es hundertmal gehört – ist einer Prüfung wert.
Zunächst gehört es zur Logik der Leidenschaft. Denn kann man sich jemanden vorstellen, der allen Ernstes sagen würde: «Es muß etwas an der Tomate sein, da es mir graust, sie zu essen.» Außerdem zeigt es uns, daß der Antisemitismus selbst in seinen gemäßigsten, kultiviertesten Formen eine synkretistische Totalität bleibt, die sich in scheinbar vernunftgeleiteten Diskursen ausdrückt, die jedoch bis zu körperlichen Veränderungen führen kann. Manche Männer werden plötzlich impotent, wenn sie erfahren, daß die Frau, mit der sie schlafen, Jüdin ist. Es gibt bei manchen Leuten einen Abscheu vor Juden, wie es bei manchen Leuten einen Abscheu vor Chinesen oder Negern gibt. Dieser Widerwille kommt nicht vom Körper, denn sie können sehr wohl eine Jüdin lieben, wenn sie ihre Rasse nicht kennen, er kommt zum Körper aus dem Geist; es handelt sich um ein Engagement der Seele, jedoch so tief und umfassend, daß es auf das Physiologische übergreift wie bei der Hysterie.
Dieses Engagement entspringt nicht der Erfahrung. Ich habe hundert Leute über die Gründe für ihren Antisemitismus befragt. Die meisten beschränkten sich darauf, die Makel aufzuzählen, die die Tradition den Juden zuschreibt. «Ich verabscheue sie, weil sie eigennützig, intrigant, aufdringlich, schleimig, taktlos usw. sind.» – «Sie haben also Umgang mit einigen von ihnen?» – «Oh, Gott bewahre!» Ein Maler sagte mir: «Ich mag die Juden nicht, weil sie durch ihr kritisches Auftreten unser Hauspersonal zur Disziplinlosigkeit ermuntern.»
Kommen wir zu detaillierteren Erfahrungen. Ein talentloser junger Schauspieler behauptet, die Juden hätten seine Theaterkarriere verhindert, indem sie ihn auf untergeordnete Rollen festlegten. Eine junge Frau sagt mir: «Ich hatte unerträglichen Ärger mit Kürschnern, sie haben mich bestohlen, sie haben den Pelz verdorben, den ich ihnen anvertraut hatte. Na ja, es waren natürlich alles Juden.» Aber warum hat sie sich entschlossen, eher die Juden als die Kürschner zu hassen? Warum die Juden oder die Kürschner statt dieses besonderen Juden, jenes besonderen Kürschners? Weil sie für den Antisemitismus besonders empfänglich war.
Ein Kollege im Gymnasium sagt mir, die Juden «nerven» ihn wegen der tausend Ungerechtigkeiten «verjudeter» Körperschaften zu ihren Gunsten. «Ein Jude hat in dem Jahr, als ich durchfiel, das Staatsexamen bestanden, und Sie wollen mir doch nicht erzählen, daß dieser Typ, dessen Vater aus Krakau oder Lemberg kam, ein Gedicht von Ronsard oder eine Ekloge von Vergil besser versteht als ich.» Andererseits gesteht er, daß er vom Staatsexamen nichts hält, daß es eine völlig undurchsichtige Geschichte ist und daß er sich nicht auf die Prüfungen vorbereitet hat. Um sein Versagen zu erklären, bedient er sich also zweier Interpretationssysteme wie jene Verrückten, die, wenn sie sich ihrem Wahn überlassen, behaupten, König von Ungarn zu sein, und wenn man sie scharf anfährt, zugeben, daß sie Schuster sind. Sein Denken bewegt sich auf zwei Ebenen, ohne daß es ihn im geringsten stört. Besser noch, er wird seine vergangene Faulheit damit rechtfertigen, daß es wirklich zu dumm wäre, sich auf eine Prüfung vorzubereiten, bei der Juden guten Franzosen vorgezogen werden. Übrigens war er siebenundzwanzigster auf der Abschlußliste. Vor ihm waren sechsundzwanzig, zwölf hatten bestanden, vierzehn nicht. Wäre er besser dran gewesen, wenn man die Juden vom Examen ausgeschlossen hätte ? Und selbst wenn er der erste der Nichtangenommenen gewesen wäre, selbst wenn er durch den Ausschluß eines der erfolgreichen Kandidaten eine Chance bekommen hätte, warum hätte man eher den Juden Weil als den Normannen Mathieu oder den Bretonen Arzell ausschließen sollen? Mein Kollege konnte sich nur deshalb empören, weil er von vornherein eine bestimmte Auffassung vom Juden, seiner Natur und seiner sozialen Rolle hatte. Um zu entscheiden, daß unter sechundzwanzig glücklicheren Konkurrenten der Jude ihm seinen Platz weggenommen hatte, mußte er a priori in seiner Lebensführung den von Leidenschaft diktierten Schlüssen den Vorrang geben. Die Erfahrung ist also weit davon entfernt, den Begriff des Juden hervorzubringen, vielmehr ist es dieser, der die Erfahrung beleuchtet; existierte der Jude nicht, der Antisemit würde ihn erfinden.
Gut, wird man sagen, wenn auch die Erfahrung nicht weiterhilft, muß man dann nicht zugeben, daß der Antisemitismus aus bestimmten historischen Tatsachen zu erklären ist? Denn schließlich fällt er nicht vom Himmel. Es wäre mir ein leichtes, darauf zu erwidern, daß die Geschichte Frankreichs nichts über die Juden lehrt: sie wurden bis 1789 unterdrückt; dann nahmen sie nach ihren Möglichkeiten am Leben der Nation teil, nutzten natürlich den freien Wettbewerb aus und nahmen den Platz der Schwachen ein, jedoch nicht mehr und nicht weniger als die anderen Franzosen: sie haben keine Verbrechen noch Verrat an Frankreich begangen. Und wenn man festzustellen glaubte, die Zahl jüdischer Soldaten sei 1914 geringer gewesen, als sie hätte sein sollen, so weil man neugierig genug war, die Statistiken zu befragen, denn es handelt sich hier nicht um eines jener Fakten, die von selbst ins Auge springen. Kein Einberufener konnte von sich aus darüber erstaunt sein, keinen Juden in dem engen Abschnitt zu sehen, aus dem sein Universum bestand. Da jedoch die Auskünfte, die die Geschichte über die Rolle der Juden gibt, wesentlich von den Auffassungen abhängen, die man von ihr hat, ist es wohl besser, einem anderen Land ein offensichtliches Beispiel «jüdischen Verrats» zu entlehnen und die Folgen zu untersuchen, die dieser Verrat für den zeitgenössischen Antisemitismus haben konnte.
Während der blutigen polnischen Aufstände des 19. Jahrhunderts verhielten sich die Warschauer Juden, die aus politischen Erwägungen von den Zaren geschont wurden, recht distanziert gegenüber den Aufständischen. Da sie an den Erhebungen nicht teilgenommen hatten, konnten sie in dem von der Repression ruinierten Land ihren Umsatz halten oder sogar erhöhen. Ob es tatsächlich so war, weiß ich nicht. Gewiß ist jedoch, daß viele Polen daran glauben, und diese «historische Tatsache» trägt nicht wenig dazu bei, sie gegen die Juden einzunehmen. Betrachte ich die Dinge näher, entdecke ich jedoch einen Teufelskreis: die Zaren, heißt es, behandelten die polnischen Juden nicht schlecht, während sie gegen die russischen Pogrome anordneten. Diese verschiedenen Vorgehensweisen haben eine gemeinsame Ursache: die russische Regierung betrachtete in Rußland wie in Polen die Juden als nicht assimilierbar und ließ sie gemäß ihren politischen Bedürfnissen in Moskau oder Kiew massakrieren, weil sie das moskowitische Reich zu schwächen drohten; in Warschau wurden sie von ihr begünstigt, um bei den Polen Zwietracht zu säen. Diese hatten für die polnischen Juden nur Haß und Verachtung, doch der Grund war derselbe: sie meinten, die Juden können sich nicht in die polnische Gemeinschaft integrieren. Vom Zaren als Juden behandelt, von den Polen ebenso, wider Willen jüdische Interessen innerhalb einer fremden Gemeinschaft verfolgend – ist es erstaunlich, daß sich diese Minderheit entsprechend der Vorstellung verhalten hat, die man von ihr hatte? Anders gesagt, wesentlich ist hier nicht die «historische Tatsache», sondern die Vorstellung, die sich die historischen Akteure vom Juden machten. Und wenn die heutigen Polen den Juden ihr vergangenes Verhalten nachtragen, werden sie von der gleichen VorStellung getrieben: um den Enkeln die Fehler der Großväter vorzuwerfen, muß man zunächst ein sehr primitives Verständnis von Verantwortung haben. Doch das genügt nicht: man muß sich auch eine bestimmte Vorstellung von den Kindern danach bilden, wie die Großväter waren; was die Älteren taten, ist auch den Jüngeren zuzutrauen: man muß den jüdischen Charakter für erblich halten. So behandelten die Polen von 1940 die Juden als Juden, weil ihre Vorfahren von 1848 es mit ihren Zeitgenossen ebenso taten. Und vielleicht hätte diese traditionelle Vorstellung unter anderen Umständen die heutigen Juden dazu veranlaßt, wie die von 48 zu handeln. Es ist also die Idee, die man sich vom Juden macht, die die Geschichte zu bestimmen scheint, und nicht die «historische Tatsache», die die Idee hervorbringt.
Und da man auch von «sozialen Tatsachen» spricht, wollen wir genauer hinschauen, und wir werden den gleichen Zirkelschluß finden: es gibt zu viele jüdische Rechtsanwälte, sagt man uns. Aber beklagt man sich, daß es zu viele normannische Rechtsanwälte gibt? Selbst wenn alle Bretonen Ärzte wären, würde man nicht lediglich sagen: «Die Bretagne versorgt ganz Frankreich mit Ärzten»? Ja, wird man entgegnen, aber das ist doch überhaupt nicht das gleiche. Ohne Zweifel, und zwar eben weil wir die Normannen als Normannen und die Juden als Juden betrachten. Wie wir es auch wenden, die Idee vom Juden erscheint als das Wesentliche.
Es leuchtet ein, daß der Antisemitismus des Antisemiten von keinem äußeren Faktor herstammt. Der Antisemitismus ist eine freie und totale Wahl, eine umfassende Haltung, die man nicht nur den Juden, sondern den Menschen im allgemeinen, der Geschichte und der Gesellschaft gegenüber einnimmt; er ist zugleich eine Leidenschaft und eine Weltanschauung. Gewiß werden bei diesem Antisemiten bestimmte Merkmale ausgeprägter sein als bei jenem. Sie sind jedoch immer alle gleichzeitig vorhanden und bedingen einander. Diese synkretistische Totalität müssen wir jetzt zu beschreiben versuchen.
Ich habe vorhin bemerkt, der Antisemitismus stelle sich als eine Leidenschaft dar. Jeder hat verstanden, daß es sich um einen Haß oder Wutaffekt handelt. Doch gewöhnlich werden Haß und Wut hervorgerufen: ich hasse den, der mir Leid zugefügt hat, der mich herausfordert oder mich beleidigt. Wir sahen, daß die antisemitische Leidenschaft keinen solchen Charakter hat: sie geht den Tatsachen voraus, die sie entstehen lassen müßten, sie sucht sie, um sich von ihnen zu nähren, sie muß sie sogar auf ihre Weise interpretieren, damit sie wirklich beleidigend werden. Wenn Sie mit dem Antisemiten über den Juden sprechen, zeigt er dennoch alle Anzeichen einer heftigen Erregung. Wenn wir ferner daran denken, daß wir uns auf eine Wut immer einlassen müssen, damit sie sich äußern kann, daß man, wie es so richtig heißt, sich in Wut versetzt, müssen wir zugeben, daß der Antisemit gewählt hat, im Modus der Leidenschaft zu leben. Nicht selten entscheidet man sich eher für ein leidenschaftliches als für ein vernünftiges Leben. Doch gewöhnlich liebt man die Gegenstände der Leidenschaft: Frauen, Ruhm, Macht, Geld. Da der Antisemit den Haß gewählt hat, müssen wir schließen, daß er den leidenschaftlichen Zustand liebt. Gewöhnlich ist diese Art von Affekt unbeliebt: wer leidenschaftlich eine Frau begehrt, ist wegen der Frau und trotz der Leidenschaft leidenschaftlich: man mißtraut leidenschaftlichen Schlüssen, die mit allen Mitteln von Liebe, Eifersucht oder Haß diktierte Meinungen zu beweisen suchen; man mißtraut den Verirrungen aus Leidenschaft und dem, was man den Monoideismus genannt hat. Doch das ist es genau, was der Antisemit zuerst gewählt hat. Wie kann man aber wählen, falsch zu schlußfolgern? Man tut es, wenn man sich nach Abgeschlossenheit sehnt.
Der vernünftige Mensch sucht unter Qualen, er weiß, daß seine Schlüsse nur wahrscheinlich sind, daß sie durch andere Betrachtungen zu Zweifeln werden; er weiß nie genau, wohin er geht; er ist «offen», er kann als Zauderer gelten. Es gibt jedoch Menschen, die von der Beständigkeit des Steins angezogen werden. Sie wollen massiv und undurchdringlich sein, sie wollen sich nicht verändern: Wohin würde die Veränderung sie führen? Es handelt sich um eine Urangst vor sich selbst und um Angst vor der Wahrheit. Und was sie erschreckt, ist nicht der Inhalt der Wahrheit, den sie nicht einmal ahnen, sondern die Form des Wahren, jenes Gegenstandes unendlicher Annäherung. Das ist, als wäre ihre eigene Existenz ständig in der Schwebe. Sie wollen jedoch alles auf einmal und alles sofort leben. Sie wollen keine erworbenen Anschauungen, sie erstreben angeborene; da sie Angst vor dem Denken haben, möchten sie eine Lebensweise annehmen, bei der Denken und Nachforschen nur eine untergeordnete Rolle spielen, wo man immer nur nach dem forscht, was man schon gefunden hat, wo man immer nur wird, was man schon war. Es gibt nur eine solche Lebensweise, die Leidenschaft. Nur eine starke gefühlsmäßige Voreingenommenheit kann zu einer überwältigenden Gewißheit führen, nur sie kann das Denken an den Rand drängen, nur sie kann sich der Erfahrung verschließen und ein Leben lang fortbestehen. Der Antisemit hat den Haß gewählt, weil der Haß ein Glaube ist; er hat zuerst gewählt, Wörter und Vernunftgründe abzuwerten.
Wie wohl er sich jetzt fühlt; wie nichtig und müßig scheinen ihm die Diskussionen über die Rechte der Juden: er hat sich von vornherein auf eine andere Ebene gestellt. Wenn er sich aus Höflichkeit einen Augenblick lang dazu herabläßt, seinen Standpunkt zu verteidigen, läßt er sich ein wenig, doch nie ganz ein: er versucht nur seine intuitive Gewißheit auf die Ebene des Diskurses zu projizieren. Ich zitierte vorhin einige «Worte» von Antisemiten, alle gleich absurd: «Ich hasse die Juden, weil sie das Hauspersonal Disziplinlosigkeit lehren, weil ein jüdischer Kürschner mich bestohlen hat usw …» Glauben Sie nicht, die Antisemiten würden sich über die Absurdität dieser Antworten etwas vormachen. Sie wissen, daß ihre Reden oberflächlich und fragwürdig sind; doch darüber lachen sie, ihrem Gegner obliegt die Pflicht, die Wörter in ernster Weise zu verwenden, da er an die Macht des Wortes glaubt; sie haben das Recht zu spielen. Sie spielen sogar gern mit dem Diskurs, denn indem sie lächerliche Gründe nennen, diskreditieren sie den Ernst ihres Gesprächspartners; sie sind genußvoll unaufrichtig, denn ihnen geht es nicht darum, durch gute Argumente zu überzeugen, sondern einzuschüchtern oder irrezuleiten. Wenn Sie sie zu heftig bedrängen, verschließen sie sich und geben Ihnen von oben herab zu verstehen, die Zeit des Argumentierens sei vorüber; nicht, daß sie Angst hätten, überzeugt zu werden: sie fürchten nur, lächerlich zu erscheinen oder einen schlechten Eindruck auf einen Dritten zu machen, den sie in ihr Lager ziehen wollen.
Wenn der Antisemit, wie jeder sehen konnte, sich Vernunftgründen und der Erfahrung verschließt, dann nicht, weil seine Überzeugung stark ist; seine Überzeugung ist vielmehr stark, weil er von vornherein gewählt hat, verschlossen zu sein.
Er hat auch gewählt, furchterregend zu sein. Man darf ihn nicht reizen. Niemand weiß, bis zu welchen Gewalttätigkeiten die Verirrungen seiner Leidenschaft ihn treiben können, niemand außer ihm selbst: denn diese Leidenschaft ist nicht von außen provoziert. Er hält sie fest in der Hand, er gibt ihr gerade soviel nach, wie er will, mal läßt er die Zügel locker, dann zieht er sie wieder an. Vor sich selbst hat er keine Angst: in den Augen der anderen sieht er jedoch sein furchterregendes Bild, und er paßt dem seine Worte, seine Gesten an. Dieses äußere Modell befreit ihn davon, seine Persönlichkeit in sich selbst zu suchen; er hat gewählt, ganz draußen zu sein, sich niemals sich selbst zuzuwenden, nichts anderes zu sein als die Angst, die er anderen einflößt: mehr noch als vor der Vernunft flieht er vor dem intimen Bewußtsein seiner selbst.
Doch wenn er sich nur den Juden gegenüber so verhielte? wird man sagen. Wenn er sich sonst vernünftig benimmt? Ich antworte, daß das unmöglich ist: man nehme diesen Fischhändler, 1942, der verärgert von der Konkurrenz zweier jüdischer Fischhändler, die ihre Rasse verheimlichten, eines Tages zur Feder griff und sie denunzierte. Man versichert mir, daß er ansonsten sanft und fröhlich und der beste Sohn der Welt war. Das glaube ich nicht: ein Mensch, der es normal findet, Menschen zu denunzieren, kann nicht unsere Auffassung über das Menschliche teilen; selbst die, denen er sich zum Wohltäter macht, sieht er nicht mit unseren Augen; seine Großmut, seine Sanftmut gleichen nicht unserer Sanftmut, unserer Großmut, die Leidenschaft kann man nicht eingrenzen.
Der Antisemit anerkennt bereitwillig, daß der Jude intelligent und fleißig ist; er wird sogar einräumen, ihm in dieser Hinsicht unterlegen zu sein. Dieses Zugeständnis kostet ihn nicht viel: er hat diese Eigenschaften eingeklammert. Oder genauer, sie erhalten ihren Wert von dem, der sie besitzt: je mehr Tugenden der Jude hat, desto gefährlicher ist er. Der Antisemit macht sich keine Ilusionen über sich selbst. Er betrachtet sich als Durchschnittsmenschen, als einen Menschen des unteren Durchschnitts, im Grunde als Mittelmaß; es gibt kein Beispiel dafür, daß ein Antisemit behauptet, den Juden individuell überlegen zu sein. Doch sollte man nicht annehmen, er schäme sich seiner Mittelmäßigkeit: er gefällt sich im Gegenteil in ihr; ich würde sogar sagen, er hat sie gewählt.
Dieser Mensch fürchtet jede Art von Einsamkeit, die des Genies eben so wie die des Mörders: er ist der Mensch der Massen; so klein er auch sein mag, vorsichtshalber duckt er sich noch, um nicht aus der Herde herauszuragen und sich plötzlich selbst gegenüberzustehen. Er hat sich zum Antisemiten gemacht, weil man das nicht ganz allein sein kann. Der Satz: «Ich hasse die Juden» gehört zu denen, die man in der Gruppe ausspricht; indem man ihn ausspricht, schließt man sich einer Tradition und einer Gemeinschaft an: der der Mittelmäßigen. Es sei daran erinnert, daß man nicht notwendig schlicht oder gar bescheiden ist, weil man sich mit der Mittelmäßigkeit abgefunden hat. Ganz im Gegenteil: es gibt einen leidenschaftlichen Stolz der Mittelmäßigen, und der Antisemitismus ist der Versuch, die Mittelmäßigkeit als solche aufzuwerten, um die Elite der Mittelmäßigen zu schaffen. Für den Antisemiten ist Intelligenz jüdisch, er kann sie also in aller Ruhe verachten wie alle anderen Tugenden des Juden: sie sind ein Ersatz,[1] den die Juden benutzen, um diese ausgewogene Mittelmäßigkeit zu ersetzen, deren sie immer ermangeln werden.
Der wahre Franzose, in seiner Provinz, in seinem Land verwurzelt, von einer zweitausendjährigen Tradition getragen, von der Weisheit der Vorfahren zehrend, geleitet von bewährten Bräuchen, braucht keine Intelligenz. Seine Tugend gründet in der Aneignung der Qualitäten, die die Arbeit von hundert Generationen den Gegenständen eingeprägt hat, die ihn umgeben, sie gründet im Eigentum. Selbstverständlich handelt es sich um ererbtes, nicht um käufliches Eigentum. Der Antisemit zeigt ein prinzipielles Unverständnis für die verschiedenen Formen modernen Eigentums: Geld, Aktien usw.; das sind Abstraktionen, Vernunftwesen, der abstrakten Intelligenz des Semiten verwandt; die Aktie gehört niemandem, da sie allen gehören kann, außerdem ist sie ein Zeichen von Reichtum, nicht ein konkretes Gut. Der Antisemit begreift nur eine Art ursprünglicher und erdverbundener Aneignung, die auf einer echten magischen Besitzbeziehung beruht, bei der das besessene Objekt und sein Besitzer durch ein Band mystischer Teilhabe verbunden sind; er ist der Poet des Grundeigentums.
Dieses verwandelt den Eigentümer und stattet ihn mit einer besonderen und konkreten Sensibilität aus. Natürlich ist diese Sensibilität nicht auf die ewigen Wahrheiten, auf die allgemeinen Werte gerichtet: das Allgemeine ist jüdisch, da es Gegenstand von Intelligenz ist. Dieser feine Sinn wird dagegen das erfassen, was die Intelligenz nicht sehen kann. Anders gesagt, das Prinzip des Antisemitismus besteht darin, daß der konkrete Besitz eines einzelnen Gegenstandes in magischer Weise den Sinn dieses Gegenstandes offenbart. Maurras bestätigt es: ein Jude wird niemals fähig sein, diesen Vers von Racine zu verstehen:
Dans l'Orient désert, quel devint mon ennui.
Und warum sollte ich, ich Mittelmäßiger, verstehen können, was der scharfsinnigste, kultivierteste Verstand nicht erfassen konnte? Weil ich Racine besitze. Racine und meine Sprache und meinen Grund und Boden. Vielleicht spricht der Jude ein reineres Französisch als ich, vielleicht kennt er die Syntax und die Grammatik besser, vielleicht ist er sogar Schriftsteller: das macht nichts. Diese Sprache spricht er erst seit zwanzig, ich seit tausend Jahren. Die Korrektheit seines Stils ist abstrakt, angelernt; meine Französischfehler sind dem Genius der Sprache gemäß. Wir erkennen hier die Argumente wieder, die Barrés gegen die Börsianer vorbrachte. Was ist daran erstaunlich? Sind die Juden nicht die Börsianer der Nation? Alles, was der Verstand, was das Geld erwerben kann, überlassen wir ihnen; es ist flüchtig wie der Wind. Was zählt, sind allein die irrationalen Werte, und eben diese sind es, die ihnen ewig verschlossen bleiben.
So bekennt sich der Antisemit von Anfang an zu einem faktischen Irrationalismus. Er stellt sich in einen Gegensatz zum Juden wie das Gefühl zum Verstand, wie das Besondere zum Allgemeinen, wie die Vergangenheit zur Gegenwart, wie das Konkrete zum Abstrakten, wie der Grundbesitzer zum Eigentümer von Immobilien. Dabei gehören viele Antisemiten – vielleicht die Mehrheit – dem städtischen Kleinbürgertum an; sie sind Beamte, Angestellte, kleine Kaufleute, die nichts besitzen. Doch gerade indem sie sich gegen den Juden stellen, nehmen sie plötzlich das Bewußtsein an, Eigentümer zu sein: indem sie sich den Juden als Dieb vorstellen, versetzen sie sich in die beneidenswerte Position von Leuten, die bestohlen werden könnten; da der Jude sie Frankreichs berauben will, gehört ihnen Frankreich. So haben sie den Antisemitismus als Mittel gewählt, ihre Eigenschaft als Besitzende zu realisieren. Der Jude hat mehr Geld als sie? Um so besser: das Geld ist jüdisch, sie können es verachten, wie sie den Verstand verachten. Sie besitzen weniger als der Junker aus dem Périgord, als der Großbauer aus der Beauce? Was tut es: sie brauchen nur ihrem rächenden Zorn gegen die jüdischen Diebe freien Lauf zu lassen, und schon fühlen sie, wie das ganze Land mit ihnen ist. Die wahren Franzosen, die guten Franzosen sind alle gleich, denn ein jeder von ihnen besitzt für sich allein das ungeteilte Frankreich. Deshalb würde ich den Antisemitismus gern als Snobismus der Armen bezeichnen.
Die meisten Reichen scheinen diese Leidenschaft ja eher zu benutzen, als sich ihr hinzugeben: sie haben Besseres zu tun. Sie breitet sich gewöhnlich in den Mittelklassen aus, eben weil diese weder Land noch Schlösser, noch ein Haus besitzen, sondern nur Bargeld und einige Aktien auf der Bank. Es ist kein Zufall, daß das deutsche Kleinbürgertum von 1925 antisemitisch war. Diesem «Stehkragenproletariat» ging es vor allem darum, sich vom wirklichen Proletariat zu unterscheiden. Von der Großindustrie ruiniert, von den Junkern verhöhnt, schlug sein Herz ganz für die Junker und die Großindustriellen. Es gab sich dem Antisemitismus mit derselben Begeisterung hin, mit der es bürgerliche Kleidung trug: weil die Arbeiter internationalistisch waren, weil die Junker Deutschland besaßen und er es auch besitzen wollte.
Der Antisemitismus ist nicht nur die Freude am Haß; er verschafft auch positive Lust: indem ich den Juden als ein niederes und schädliches Wesen behandle, behaupte ich zugleich, einer Elite anzugehören. Und ganz im Unterschied zu den modernen Eliten, die auf Verdienst oder Arbeit beruhen, gleicht diese in jeder Hinsicht einem Geburtsadel. Ich brauche nichts zu tun, um meine Höherwertigkeit zu verdienen, und ich kann sie auch nicht verlieren. Sie ist mir ein für allemal gegeben: sie ist ein Ding.
Verwechseln wir jedoch nicht diesen prinzipiellen Vorrang mit dem Wert. Der Antisemit ist nicht so sehr auf Wert aus. Den Wert sucht man ebenso wie die Wahrheit, er ist schwer zu entdecken, man muß ihn verdienen, und einmal erworben, ist er stets wieder in Frage gestellt: ein Fehltritt, ein Irrtum, und er verflüchtigt sich; so sind wir ohne Unterlaß, von der Wiege bis zum Grab, für das verantwortlich, was wir wert sind. Der Antisemit flieht die Verantwortung wie das eigene Bewußtsein; und indem er für die eigene Person die Beständigkeit des Gesteins wählt, wählt er für seine Moral eine versteinerte Werteskala. Was er auch tut, er weiß, daß er an der Spitze der Stufenleiter bleiben wird; was der Jude auch tut, er wird nie über die erste Sprosse hinauskommen.
Wir beginnen den Sinn der Wahl zu erkennen, die der Antisemit für sich getroffen hat: er wählt das Unabänderliche aus Angst vor seiner Freiheit, die Mittelmäßigkeit aus Angst vor der Einsamkeit, und diese unabänderliche Mittelmäßigkeit erhebt er zu einem dünkelhaften, versteinerten Adel. Für diese verschiedenen Schritte braucht er unbedingt die Existenz des Juden: Wem wäre er sonst überlegen? Mehr noch: gegenüber dem Juden und nur ihm gegenüber kann sich der Antisemit als Träger von Rechten realisieren.
Wenn durch ein Wunder alle Juden ausgerottet würden, wie er es wünscht, fände er sich als Hausmeister oder Krämer in einer stark hierarchisierten Gesellschaft wieder, in der die Eigenschaft «wahrer Franzose» wohlfeil wäre, da alle sie besitzen würden. Er verlöre das Gefühl seiner Rechte an seinem Land, da niemand mehr sie anfechten würde, und die tiefe Gleichheit, die ihn mit dem Adligen und dem Reichen verband, verschwände plötzlich, da sie vor allem negativer Art war. Für seine Mißerfolge, die er der unlauteren Konkurrenz der Juden zuschrieb, müßte er schleunigst eine andere Ursache finden, oder er müßte sich selbst in Frage stellen. Er liefe Gefahr, zu verbittern oder einem melancholischen Haß gegen die privilegierten Schichten zu verfallen. Es ist das Unglück des Antisemiten, ein vitales Bedürfnis nach dem Feind zu haben, den er vernichten will.
Der Egalitarismus, nach dem der Antisemit mit soviel Eifer strebt, hat mit der Gleichheit, die die Demokratien zum Programm erhoben haben, nichts zu tun. Diese muß in einer wirtschaftlich hierarchisierten Gesellschaft realisiert werden und mit der Vielfalt der Funktionen vereinbar bleiben. Der Antisemit fordert die Gleichheit der Arier gegen die Hierarchie der Funktionen. Er versteht nichts von der Arbeitsteilung und kümmert sich auch nicht darum: wenn seiner Ansicht nach jeder Bürger den Titel eines Franzosen beanspruchen kann, dann nicht, weil er an seinem Platz, in seinem Beruf, gemeinsam mit allen anderen am ökonomischen, sozialen und kulturellen Leben der Nation mitarbeitet, sondern weil er wie jeder andere ein unveräußerliches und angeborenes Recht auf die ungeteilte Totalität des Landes hat. So ist die Gesellschaft, wie der Antisemit sie begreift, eine Gesellschaft des Nebeneinanders, was man sich übrigens denken konnte, da sein Ideal von Eigentum das Grundeigentum ist. Und da die Antisemiten zahlreich sind, trägt jeder von ihnen dazu bei, innerhalb der organisierten Gesellschaft eine Gemeinschaft mechanischer Solidarität zu konstituieren. Der Integrationsgrad eines jeden Antisemiten in diese Gemeinschaft sowie ihre egalitäre Schattierung hängen von dem ab, was ich die Temperatur der Gemeinschaft nennen würde.
Proust hat zum Beispiel gezeigt, wie der Anti-Dreyfusianismus den Herzog seinem Kutscher näherbrachte, wie sich bürgerliche Familien dank ihrem Haß gegen Dreyfus Zutritt zu den Häusern des Adels erzwangen. Die egalitäre Gemeinschaft, der sich der Antisemit zugehörig fühlt, ist vom Typ jener Massenaufläufe oder spontanen Ansammlungen, die anläßlich von Lynchjustiz oder Skandalen entstehen. Die Gleichheit ist hier die Frucht der Nichtdifferenzierung der Funktionen. Das soziale Band ist der Zorn; die Gemeinschaft verfolgt kein anderes Ziel, als eine diffuse repressive Sanktion gegen bestimmte Individuen zu richten; die kollektiven Triebe und Vorstellungen ergreifen um so stärker die einzelnen Individuen, als keiner von ihnen durch eine spezialisierte Funktion geschützt ist. So tauchen die Personen in der Menge unter, und die Denkweisen, die Gruppenreaktionen sind rein primitiven Typs. Gewiß werden diese Art von Kollektiven nicht nur vom Antisemitismus hervorgebracht: eine Meuterei, ein Verbrechen, eine Ungerechtigkeit können sie plötzlich hervorbringen. Nur handelt es sich dann um flüchtige Gebilde, die sich sehr schnell wieder auflösen, ohne Spuren zu hinterlassen. Da der Antisemitismus die großen Haßausbrüche gegen die Juden überdauert, bleibt die von den Antisemiten gebildete Gesellschaft in normalen Perioden latent bestehen, und jeder Antisemit fühlt sich ihr zugehörig. Unfähig, die moderne Organisationsform der Gesellschaft zu verstehen, sehnt er sich nach den Krisenperioden, in denen gemeinschaftliche Urformen plötzlich wieder auftauchen und ihre Fusionstemperatur erreichen. Er wünscht, seine Person möge plötzlich mit der Gruppe verschmelzen und vom kollektiven Strom fortgerissen werden. Diese Pogromatmosphäre meint er, wenn er «die Einheit aller Franzosen» fordert. In diesem Sinn ist der Antisemitismus in einer demokratischen Ordnung eine hinterhältige Form dessen, was man den Kampf des Bürgers gegen die Staatsgewalt nennt.
Befragen Sie einen dieser lärmenden Jugendlichen, die in aller Ruhe das Gesetz übertreten und sich zusammentun, um in einer verlassenen Straße einen Juden zusammenzuschlagen: er wird Ihnen sagen, er wünscht sich eine starke Staatsmacht, die ihn der erdrückenden Verantwortung enthebt, selbständig zu denken; da die Republik eine schwache Macht ist, treibt ihn die Liebe zum Gehorsam zur Disziplinlosigkeit. Aber wünscht er tatsächlich eine starke Macht? In Wirklichkeit verlangt er für die anderen eine strenge Ordnung und für sich eine Unordnung ohne Verantwortung; er möchte sich über die Gesetze erheben und zugleich dem Bewußtsein seiner Freiheit und seiner Einsamkeit entrinnen. Also greift er zu einem Trick: der Jude nimmt an den Wahlen teil, in der Regierung sind Juden, folglich ist die legale Macht von Grund auf faul; mehr noch, sie existiert nicht mehr, und es ist legitim, ihre Anordnungen nicht zu beachten; es handelt sich übrigens nicht um Ungehorsam: Wie sollte man dem gehorchen, das gar nicht existiert?
So gibt es für den Antisemiten ein reales Frankreich mit einer realen, jedoch diffusen Regierung ohne spezialisierte Organe und ein abstraktes, offizielles, verjudetes Frankreich, gegen das sich zu erheben zum guten Ton gehört. Natürlich ist dieser permanente Aufstand die Angelegenheit der Gruppe: in keinem Fall würde der Antisemit allein handeln oder denken. Und auch die Gruppe ist nicht fähig, sich als Minderheitspartei zu begreifen: eine Partei ist gezwungen, ihr Programm zu erfinden, sich eine politische Linie zu geben, und das schließt Initiative, Verantwortung, Freiheit ein. Die antisemitischen Vereinigungen wollen nichts erfinden, sie lehnen es ab, Verantwortung zu übernehmen, es wäre ihnen ein Grauen, sich als ein Teil der öffentlichen französischen Meinung zu geben, denn dann müßten sie sich auf ein Programm festlegen und nach legalen Aktionsmitteln suchen. Sie wollen sich lieber als den ganz und gar reinen und passiven Ausdruck der Gefühle des realen Landes in seiner Unteilbarkeit darstellen. Jeder Antisemit ist also, in einem bestimmten Maß, Feind der regulären Machtorgane, er möchte das disziplinierte Mitglied einer undisziplinierten Gruppe sein; er verehrt die Ordnung, jedoch die soziale Ordnung. Man könnte sagen, er will die politische Unordnung provozieren, um die soziale Ordnung zu restaurieren, und die soziale Ordnung faßt er als eine egalitäre, primitive Gesellschaft des Nebeneinanders mit hoher Temperatur auf, aus der die Juden ausgeschlossen sind. Diese Prinzipien verleihen ihm eine eigenartige Unabhängigkeit, die ich eine Freiheit gegen den Strich nennen möchte.
Denn die authentische Freiheit nimmt ihre Verantwortungen auf sich, während die des Antisemiten daraus resultiert, daß er sich den seinen entzieht. Indem er zwischen einer noch nicht existierenden autoritären und einer von ihm angefochtenen offiziellen und toleranten Gesellschaft schwebt, kann er sich alles erlauben, ohne fürchten zu müssen, als Anarchist zu gelten, was ihm ein Grauen wäre. Der tiefe Ernst seiner Ziele, die kein Wort, kein Diskurs, keine Tat ausdrücken kann, berechtigt ihn zu einer gewissen Leichtigkeit.
Er ist ein Lausbub, macht Streiche, verprügelt, räumt auf, stiehlt: alles für die gute Sache. Wenn die Regierung stark ist, nimmt der Antisemitismus ab, es sei denn, die Regierung hat ihn zu ihrem eigenen Programm erhoben. Doch in diesem Fall ändert er seine Natur. Feind der Juden braucht der Antisemit sie; Antidemokrat ist er ein natürliches Produkt der Demokratien und kann sich nur im Rahmen der Republik äußern.
Wir beginnen zu verstehen, daß der Antisemitismus nicht einfach eine «Meinung» über die Juden ist und daß er die ganze Person des Antisemiten engagiert. Wir sind jedoch mit ihm noch nicht fertig: er beschränkt sich nicht darauf, moralische und politische Richtlinien aufzustellen; er ist für sich ganz allein eine Denkweise und eine Weltanschauung. Es ist nämlich nicht möglich zu behaupten, was er behauptet, ohne sich implizit auf gewisse intellektuelle Prinzipien zu beziehen.
Der Jude, sagt er, ist ganz und gar schlecht, ganz und gar Jude; seine Tugenden, sofern er welche hat, verkehren sich dadurch, daß sie die seinen sind, zu Lastern, die aus seinen Händen hervorgehenden Werke tragen notwendigerweise seinen Stempel: baut er eine Brücke, ist diese Brücke schlecht, da jüdisch, und zwar vom ersten bis zum letzten Bogen. Die gleiche Tat, begangen von einem Juden und von einem Christen, hat in beiden Fällen nicht den gleichen Sinn, da er auf alles, was er berührt, ich weiß nicht welche scheußliche Eigenschaft überträgt.
Der Zutritt zu den Schwimmbädern war das erste, was die Deutschen den Juden verboten: sie meinten, wenn der Körper eines Juden in dieses alles aufnehmende Wasser eintauchte, wäre es ganz und gar beschmutzt. Der Jude besudelt im wörtlichen Sinne alles bis hin zur Luft, die er einatmet. Wenn wir versuchen, das Prinzip, auf das man sich hier bezieht, als abstrakte Aussagen zu formulieren, erhalten wir: das Ganze ist mehr und etwas anderes als die Summe seiner Teile; das Ganze bestimmt den Sinn und die tieferen Merkmale der Teile, aus denen es zusammengesetzt ist. Es gibt nicht eine Tugend des Mutes, die unterschiedslos in einen jüdischen oder in einen christlichen Charakter Eingang fände, so wie der Sauerstoff unterschiedslos mit Stickstoff und Argon Luft und mit Wasserstoff Wasser bildet; jede Person ist eine nicht zerlegbare Totalität mit ihrem Mut, ihrer Großzügigkeit, ihrer Art, zu denken, zu lachen, zu trinken und zu essen. Was heißt das anderes, als daß der Antisemit, um die Welt zu verstehen, auf das synthetische Denken zurückgreift. Das synthetische Denken erlaubt ihm, sich in einer unauflösbaren Einheit mit Frankreich als Ganzem zu sehen. Im Namen des synthetischen Denken denunziert er die rein analytische und kritische Intelligenz der Juden.
Doch man muß präzisieren : seit einiger Zeit beruft man sich rechts wie links, bei den Traditionalisten und bei den Sozialisten, auf die synthetischen Prinzipien gegen das analytische Denken, das die Grundlegung der bürgerlichen Demokratie leitete. Es kann sich bei den einen und bei den anderen nicht um die gleichen Prinzipien handeln, oder die einen und die anderen machen von diesen Prinzipien wenigstens unterschiedlichen Gebrauch. Welchen Gebrauch macht der Antisemit von ihnen?
Bei den Arbeitern findet man kaum Antisemitismus. Weil unter ihnen keine Juden sind, wird man sagen. Aber diese Erklärung ist absurd: sie müßten sich gerade, vorausgesetzt die unterstellte Tatsache träfe zu, über diese Abwesenheit beklagen. Die Nazis wußten das sehr wohl, denn sie verbreiteten, als sie ihre Propaganda auf das Proletariat ausdehnen wollten, die Losung vom «jüdischen Kapitalismus». Dennoch denkt die Arbeiterklasse die soziale Situation synthetisch: allerdings gebraucht sie nicht die antisemitischen Methoden. Sie zerlegt die Ganzheiten nicht nach technischen Gegebenheiten, sondern nach den ökonomischen Funktionen. Die Bourgeoisie, die Klasse der Bauern, das Proletariat: das sind die synthetischen Realitäten, mit denen sie sich befaßt; und in diesen Totalitäten unterscheidet sie sekundäre synthetische Strukturen: Gewerkschaften, Unternehmerverbände, Trusts, Kartelle, Parteien. So entsprechen ihre Erklärungen der historischen Erscheinungen völlig der differenzierten Struktur einer auf Arbeitsteilung gegründeten Gesellschaft. Nach ihrer Auffassung ist die Geschichte Ergebnis des Spiels ökonomischer Organismen und der Wechselwirkung synthetischer Gruppen.
Die Mehrheit der Antisemiten gehört im Gegenteil zu den Mittelschichten, das heißt zu den Menschen, die ein ebenso hohes oder ein höheres Lebensniveau als die Juden haben, oder, wenn man will, zu den Nichtproduzenten (Unternehmer, Transportfirmen, Händler, freie Berufe, Parasiten). In der Tat produziert der Bourgeois nicht: er leitet, verwaltet, verteilt, kauft und verkauft; seine Funktion besteht darin, in direkte Beziehung zum Konsumenten zu treten, das heißt, seine Tätigkeit beruht auf einem ständigen Verkehr mit Menschen, während der Arbeiter in der Ausübung seines Berufs in ständiger Berührung mit den Dingen ist. Jeder beurteilt die Geschichte entsprechend seinem Beruf. Von seinem täglichen Einwirken auf die Materie geformt, sieht der Arbeiter die Gesellschaft als Produkt realer Kräfte an, die nach strengen Gesetzen wirken. Sein dialektischer «Materialismus» bedeutet, daß er die soziale Welt genauso betrachtet wie die materielle Welt. Der Bourgeois dagegen, und insbesondere der Antisemit, haben gewählt, die Geschichte durch das Handeln vieler individueller Willen zu erklären. Hängen sie nicht von eben diesen Willen in der Ausübung ihres Berufs ab?[2] Sie verhalten sich gegenüber den sozialen Tatsachen wie primitive Völker, die den Wind oder die Sonne mit einer kleinen Seele ausstatten. Intrigen, Ränke, die Bosheit des einen, der Mut und die Tugend des anderen: das ist es, was den Gang ihrer Geschäfte und den Lauf der Welt bestimmt. Der Antisemitismus, ein bürgerliches Phänomen, erscheint also als die Wahl, die kollektiven Ereignisse durch die Initiative der einzelnen Individuen zu erklären.
Gewiß kommt es vor, daß das Proletariat auf seinen Plakaten und in seinen Zeitungen «den Bourgeois» ebenso karikiert, wie der Antisemit «den Juden» karikiert. Diese äußere Ähnlichkeit darf jedoch nicht täuschen. Was für den Arbeiter den Bourgeois hervorbringt, ist seine Stellung als Bourgeois, das heißt eine Gesamtheit äußerer Faktoren; der Bourgeois selbst reduziert sich auf die synthetische Einheit dieser erkennbaren äußeren Merkmale. Er ist eine Gesamtheit miteinander verbundener Verhaltensweisen. Was für den Antisemiten den Juden ausmacht, ist das Vorhandensein des «Judentums» in ihm, eines jüdischen Prinzips, vergleichbar dem Phlogiston oder der einschläfernden Macht des Opiums.
Man täusche sich nicht: die Erklärungen durch Vererbung und Rasse kamen später, sie sind nichts als ein dünnes wissenschaftliches Mäntelchen für diese primitive Überzeugung; lange vor Mendel und Gobineau gab es einen Abscheu vor dem Juden, und die ihn empfanden, hätten ihn nur so erklären können wie Montaigne seine Freundschaft zu La Boétie: «Weil er es ist, weil ich es bin.»
Ohne diese metaphysische Kraft wären die dem Juden zugesprochenen Verhaltensweisen völlig unverständlich. Wie soll man tatsächlich den verbohrten Wahn eines reichen jüdischen Händlers begreifen, der, wäre er vernünftig, das Gedeihen des Landes, in dem er Handel treibt, wünschen müßte, sich jedoch, wie man uns berichtet, darauf versteift, es zu ruinieren? Wie soll man den unheilvollen Internationalismus von Menschen verstehen, die ihre Familie, ihre Gefühle, ihre Gewohnheiten, ihre Interessen, die Natur und die Quelle ihres Reichtums doch an das Schicksal eines besonderen Landes binden müßten ? Gewiefte sprechen von einem jüdischen Willen zur Weltherrschaft: doch auch hier werden wir, solange wir den Schlüssel nicht besitzen, die Ausdrucksformen dieses Willens unverständlich finden; denn mal zeigt man uns hinter dem Juden den internationalen Kapitalismus, den Imperialismus der Trusts und der Waffenhändler, mal den Bolschewismus mit seinem Messer zwischen den Zähnen, und man scheut sich nicht, in gleicher Weise die jüdischen Bankiers für den Kommunismus, der ihnen doch Furcht einflößen müßte, und die armseligen Juden, die die Pariser Rue des Rosiers bevölkern, für den kapitalistischen Imperialismus verantwortlich zu machen.
Doch alles klärt sich auf, wenn wir darauf verzichten, vom Juden ein vernünftiges und seinen Interessen entsprechendes Verhalten zu erwarten, wenn wir im Gegenteil in ihm ein metaphysisches Prinzip erkennen, das ihn treibt, unter allen Umständen das Böse zu tun, und müßte er sich dabei selbst zerstören. Dieses Prinzip, man ahnt es wohl, ist magisch: einerseits ist es eine Wesenheit, eine substantielle Form, und der Jude kann sie, was er auch tut, nicht modifizieren, ebensowenig wie das Feuer es lassen kann zu brennen. Da man aber andererseits die Möglichkeit haben muß, den Juden zu hassen, und man ein Erdbeben oder die Reblaus nicht haßt, ist diese Kraft auch Freiheit. Nur daß diese Freiheit sorgfältig begrenzt ist: der Jude ist frei, das Böse zu tun, nicht das Gute, sein freier Wille reicht gerade nur so weit wie nötig, um die volle Verantwortung für die von ihm begangenen Verbrechen zu tragen, nicht jedoch so weit, daß er sich ändern könnte.
Sonderbare Freiheit, die, statt dem Wesen vorauszugehen und es zu konstituieren, ihm völlig unterworfen bleibt, nur eine irrationale Eigenschaft von ihm ist und dennoch Freiheit bleibt. Es gibt meines Wissens nur eine Kreatur, die dergestalt völlig frei und an das Böse gekettet ist, es ist der Geist des Bösen selbst, Satan.
So gleicht der Jude dem Geist des Bösen. Sein Wille ist, in Umkehrung des Kantschen Willens, ein Wille, der rein, grundlos und allgemein böse sein will, es ist der böse Wille schlechthin. Durch ihn kommt das Böse auf die Erde, alles Böse in der Gesellschaft (Krisen, Kriege, Hungersnöte, Umsturz und Aufruhr) geht direkt oder indirekt zu seinen Lasten.
Der Antisemit fürchtet sich vor der Erkenntnis, daß die Welt schlecht eingerichtet ist: man müßte ja dann erfinden, verändern, und der Mensch wäre wieder Herr seines eigenen Schicksals, beladen mit einer furchteinflößenden und unendlichen Verantwortung. Deshalb begrenzt er alles Übel der Welt auf den Juden. Wenn die Nationen Krieg führen, so nicht, weil der Gedanke der Nationalität in seiner gegenwärtigen Form Imperialismus und Interessenkonflikte impliziert. Nein, weil der Jude da ist, hinter den Regierungen Zwietracht säend. Wenn es einen Klassenkampf gibt, so nicht, weil die wirtschaftliche Organisationsform zu wünschen übrigläßt, sondern weil die jüdischen Rädelsführer, die krummnasigen Agitatoren, die Arbeiter verführt haben.
Demnach ist der Antisemitismus ursprünglich ein Manichäismus; er erklärt den Lauf der Welt aus dem Kampf des Prinzips des Guten gegen das Prinzip des Bösen. Zwischen diesen beiden Prinzipien ist kein Ausgleich denkbar: das eine muß siegen, das andere vernichtet werden.
Nehmen Sie Céline: sein Weltbild ist durch Katastrophen gezeichnet; der Jude ist überall, die Erde ist verloren, für den Arier kommt es darauf an, sich auf nichts einzulassen, niemals zu paktieren. Er muß wachsam sein: wenn er atmet, hat er schon seine Reinheit verloren, denn selbst die Luft, die in seine Lungen eindringt, ist verseucht. Klingt das nicht wie die Predigt eines Katharers? Céline brachte es fertig, die sozialistischen Thesen der Nazis zu unterstützen, weil er dafür bezahlt wurde. Im Grunde seines Herzen glaubte er nicht an sie: für ihn existiert eine Lösung nur im kollektiven Selbstmord, der Nicht- Zeugung, dem Tod. Andere – Maurras oder der P.P.F.[3] – sind weniger entmutigend: sie richten sich auf einen langen, oft unentschiedenen Kampf ein, bei dem schließlich das Gute siegt. Es ist Ormuzd gegen Ahriman.
Der Leser hat verstanden, daß der Antisemit den Manichäismus nicht als abgeleitetes Erklärungsprinzip benutzt. Es ist vielmehr die ursprüngliche Wahl des Manichäismus, die den Antisemitismus erklärt und bedingt. Wir müssen uns also fragen, was diese ursprüngliche Wahl für einen Menschen von heute bedeuten kann.
Vergleichen wir einen Augenblick lang die revolutionäre Idee des Klassenkampfes mit dem antisemitischen Manichäismus. Für den Marxisten ist der Klassenkampf keineswegs ein Ringen des Guten gegen das Böse: er ist ein Interessenkonflikt zwischen menschlichen Gruppen. Der Revolutionär nimmt den Standpunkt des Proletariats zunächst ein, weil diese Klasse seine Klasse ist, dann weil sie unterdrückt ist, weil sie mit Abstand die zahlreichste ist, ferner weil ihr Schicksal dahin tendiert, mit dem der Menschheit zu verschmelzen, schließlich weil die Konsequenzen seines Sieges notwendigerweise die Aufhebung der Klassen überhaupt einschließen werden. Das Ziel des Revolutionärs ist die Veränderung der gesellschaftlichen Organisationsform.
Dazu muß man zweifellos die alte Ordnung zerstören, doch das genügt nicht: es kommt vor allem darauf an, eine neue Ordnung zu errichten. Wenn unerwarteter Weise die privilegierte Klasse sich am sozialistischen Aufbau beteiligen wollte und man handfeste Beweise für ihren guten Willen hätte, gäbe es keinen Grund, sie zurückzustoßen. Allerdings bleibt es höchst unwahrscheinlich, daß sie gutwillig den Sozialisten ihre Unterstützung anbietet, und zwar weil eben ihre Situation als privilegierte Klasse sie daran hindert und nicht weil irgendein innerer Dämon sie gegen ihren Willen dazu drängen würde, das Böse zu tun. Jedenfalls können Teile dieser Klasse, wenn sie sich von ihr lösen, stets von der unterdrückten Klasse aufgenommen werden, und diese Teile werden nach ihren Taten beurteilt werden, nicht nach ihrem Wesen. «Ihr ewiges Wesen ist mir schnuppe», sagte mir Politzer eines Tages.
Der antisemitische Manichäist betont dagegen die Zerstörung. Es geht nicht um einen Interessenkonflikt, sondern um die Schäden, die eine böse Macht der Gesellschaft zufügt. Folglich besteht das Gute darin, das Böse zu zerstören. Hinter der Verbitterung des Antisemiten verbirgt sich der optimistische Glauben, nach der Vertreibung des Bösen werde sich die Harmonie von selbst wieder einstellen. Seine Aufgabe ist also rein negativ: es geht nicht darum, eine Gesellschaft aufzubauen, sondern nur darum, die bestehende zu reinigen. Um dieses Ziel zu erreichen, wäre die Mitwirkung der Juden guten Willens überflüssig, ja unheilvoll, überdies kann ein Jude nicht guten Willens sein. Ritter des Guten, ist der Antisemit heilig, und auch der Jude ist es auf seine Weise: heilig wie die Unberührbaren, wie die unter einem Tabu stehenden Eingeborenen. So wird der Kampf auf religiöser Ebene geführt, und sein Ende kann nur die heilige Vernichtung sein. Die Vorteile dieser Position sind mannigfaltig: zunächst begünstigt sie die Denkfaulheit. Wir sahen, daß der Antisemit von der modernen Gesellschaft nichts versteht, daß er unfähig ist, einen konstruktiven Plan zu entwickeln; sein Handeln stellt sich nie auf die technische Ebene, es verharrt auf dem Boden der Leidenschaft. Ein Wutausbruch gleich dem Amok der Malaien ist ihm lieber als eine Ausdauer erfordernde Unternehmung. Seine geistige Tätigkeit beschränkt sich auf die Interpretation: in den historischen Ereignissen sucht er Zeichen für die Präsenz einer bösen Macht. Daher kommen diese kindischen und umständlichen Erfindungen, die ihn in die Nähe der großen Paranoiker rücken. Außerdem lenkt der Antisemitismus die revolutionären Schübe auf die Vernichtung bestimmter Menschen an Stelle von Institutionen ab; eine antisemitische Menge glaubt genug getan zu haben, wenn sie einige Juden niedergemetzelt und einige Synagogen in Brand gesteckt hat. Er stellt also ein Sicherheitsventil für die besitzenden Klassen dar, die ihn fördern und somit den ihr Regime gefährdenden Haß durch einen für sie harmlosen Haß gegen einzelne ersetzen.
Vor allem aber ist dieser naive Dualismus für den Antisemiten selbst außerordentlich beruhigend: es geht nur darum, das Böse zu entfernen, weil das Gute schon gegeben ist. Man muß es nicht angstvoll suchen, nicht erfinden und, ist es einmal gefunden, nicht immer wieder in Frage stellen, nicht im Handeln der Bewährung aussetzen, nicht an seinen Folgen prüfen und schließlich nicht die Verantwortung für die getroffene moralische Wahl auf sich nehmen.
Es ist kein Zufall, daß sich hinter den großen antisemitischen Wutausbrüchen ein Optimismus verbirgt: der Antisemit hat entschieden, was das Böse ist, um nicht entscheiden zu müssen, was das Gute ist. Je mehr ich mich darin verliere, das Böse zu bekämpfen, desto weniger bin ich versucht, das Gute in Frage zu stellen. Von diesem spricht man nicht, doch es ist stillschweigend in den Reden des Antisemiten enthalten, es bleibt unterschwellig in seinem Denken. Wenn er seine Mission als heiliger Zerstörer erfüllt haben wird, wird das Verlorene Paradies von selbst neu erstehen. Er ist jedoch im Moment derart beansprucht, daß er keine Zeit hat, darüber nachzudenken: er ist einsatzbereit, er kämpft, und jede seiner Entrüstungen ist ein Vorwand, der ihn davon ablenkt, angstvoll das Gute zu suchen.
Doch dabei bleibt es nicht, und wir begeben uns hier auf das Gebiet der Psychoanalyse. Der Manichäismus verbirgt einen tiefen Hang zum Bösen. Für den Antisemiten ist das Böse sein Schicksal, sein «Job». Andere werden nach ihm kommen und sich um das Gute kümmern, wenn es sein muß. Er steht an vorderster Front der Gesellschaft, er wendet den reinen Tugenden, die er verteidigt, den Rücken zu : er hat nur mit dem Bösen zu tun, seine Pflicht ist es, es zu enthüllen, bloßzustellen, sein Ausmaß zu ermessen. Seine einzige Sorge besteht darin, Geschichten zu sammeln, die die Geilheit des Juden offenbaren, seine Gewinnsucht, seine Schlauheit, seine Wortbrüchigkeit. Er wäscht seine Hände in Unrat. Man lese in «Das jüdische Frankreich» von Drumont nach: dieses Buch von «hoher französischer Moralität» ist eine Sammlung widerlicher und obszöner Geschichten. Nichts spiegelt besser die komplexe Natur des Antisemiten wider: da er nicht für sich das Gute wählen wollte, sondern aus Furcht, als einzelner aufzufallen, das Gute von jedermann übernommen hat, gründet sich die Moral bei ihm niemals auf der Anschauung der Werte noch auf dem, was Platon Liebe nennt; sie äußert sich nur in den strengsten Tabus, in den rigorosesten und grundlosesten Imperativen.
Das, was er jedoch ohne Unterlaß betrachtet, wofür er einen besonderen Sinn und so etwas wie Lust entwickelt, ist das Böse. Er kann wie besessen obszöne oder kriminelle Taten wiederkäuen, die ihn erregen und seine perversen Neigungen befriedigen; aber da er sie zu gleicher Zeit diesen nichtswürdigen Juden zuschreibt, die er mit Verachtung straft, erleichtert er sich, ohne sich zu kompromittieren.
Ich kannte in Berlin einen Protestanten, bei dem das Begehren die Form der Entrüstung annahm. Der Anblick von Frauen in Badeanzügen versetzte ihn in Wut; er ließ sich gern in diese Wut versetzen und verbrachte seine Tage in Schwimmbädern. Genauso ist der Antisemit. Eine Komponente seines Hasses ist ein tiefer und sexueller Hang zu den Juden. Es handelt sich zunächst um eine faszinierte Neugier auf das Böse. Aber sie gehört vor allem, glaube ich, in das Gebiet des Sadismus. Man wird vom Antisemitismus nichts begreifen, wenn man nicht bedenkt, daß der Jude, Gegenstand von soviel Abscheu, völlig unschuldig, ja sogar harmlos ist. Darum versäumt es der Antisemit nicht, von jüdischen Geheimbünden, von furchteinflößenden, im Untergrund wirkenden Freimaurerverbänden zu berichten. Doch der Jude, dem er von Angesicht zu Angesicht begegnet, ist meistens ein schwaches Wesen, das schlecht auf Gewalt vorbereitet ist und sich nicht mal verteidigen kann. Diese individuelle Schwäche des Juden, die ihn mit gebundenen Füßen und Händen den Pogromen ausliefert, ist dem Antisemiten natürlich bekannt, und er ergötzt sich schon im voraus an ihr.
Deshalb ist sein Haß gegen die Juden nicht vergleichbar dem der Italiener von 1830 gegen die Österreicher oder dem der Franzosen gegen die Deutschen 1942. In diesen beiden Fällen handelte es sich um Unterdrücker, um harte, grausame und starke Männer, die Waffen, Geld und Macht besaßen und den Aufständischen mehr Unheil antun konnten, als diese träumen konnten, es ihnen zuzufügen. Bei diesem Haß ist kein Raum für sadistische Neigungen.
Da das Böse für den Antisemiten von diesen hilflosen und so wenig furchterregenden Menschen verkörpert wird, ist er nie in der peinlichen Lage, ein Held sein zu müssen: es ist amüsant, Antisemit zu sein. Furchtlos kann man die Juden schlagen und foltern: schlimmstenfalls werden sie die Gesetze der Republik anrufen; die Gesetze jedoch sind milde. Der sadistische Hang des Antisemiten zum Juden ist so stark, daß diese eingeschworenen Judenfeinde sich nicht selten mit jüdischen Freunden umgeben. Natürlich taufen sie sie «Ausnahmejuden» und betonen: «Die sind nicht wie die anderen.» Im Atelier des Malers, von dem ich vorhin erzählte und der die Morde von Lublin keineswegs verurteilte, hing gut sichtbar das Porträt eines Juden, der ihm nahestand und den die Gestapo erschossen hatte. Ihre Freundschaftsbeteuerungen sind jedoch nicht aufrichtig, denn sie ziehen es in ihren Äußerungen nicht einmal in Betracht, die «guten Juden» zu verschonen, und obwohl sie denen, die sie kennen, einige Tugenden zubilligen, schließen sie aus, daß ihre Gesprächspartner anderen ebenso tugendhaften begegnet sind. In Wirklichkeit gefallen sie sich darin, diese wenigen Personen zu schützen, in einer Art Umkehrung ihres Sadismus gefällt es ihnen, das lebende Abbild dieses Volkes, das sie so sehr verabscheuen, vor Augen zu haben.
Antisemitische Frauen sind häufig von den Juden zugleich sexuell abgestoßen und angezogen. Ich kannte eine von ihnen, die intime Beziehungen mit einem polnischen Juden hatte. Sie ging manchmal zu ihm ins Bett und ließ sich Brust und Schultern streicheln, aber nicht mehr. Sie empfand Lust dabei, seinen Respekt und seinen Gehorsam zu spüren, sein heftiges, im Zaum gehaltenes, gedemütigtes Begehren zu erraten. Mit anderen Männern hatte sie später normale sexuelle Beziehungen.