Die Tür - Georges Simenon - E-Book

Die Tür E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Eine heile Welt gerät in Bedrängnis Nachdem er bei der Explosion einer Mine beide Hände verloren hat, kehrt Bernard Foy als Invalide aus dem Krieg zu seiner Frau Nelly zurück, mit der er eine liebevolle Ehe führt. Ihr Glück scheint unerschütterlich, bis zu dem Tag, als unter ihnen der Zeichner Mazaron einzieht – an dem Nelly Gefallen zu finden scheint. Bernard entwickelt eine Obsession für diesen neuen Nachbarn, der dort hinter einer Tür mit Porzellanknauf lebt und seine heile kleine Welt bedroht.  Ein spannender später Roman von Georges Simenon.  

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Georges Simenon

Die Tür

Roman

Aus dem Französischen von Linde Birk

Atlantik

1

Wie in vielen alten Häusern des Viertels waren die Fenster hoch und schmal und lagen dreißig Zentimeter über dem Fußboden. Die Brüstung davor wurde von einem verschnörkelten schmiedeeisernen Geländer getragen. Durch diese Verzierung hindurch sah Foy von seinem Stuhl aus hinaus und verfolgte mehr oder minder bewusst das Geschehen auf der Straße. Er zog die Stirn kraus, als er das kleine blaue Auto von Dr. Aubonne sah, es kam um die Ecke der Rue des Francs-Bourgeois, bog in die Rue de Turenne, und nachdem es die Fahrbahn überquert hatte, hielt es hinter dem Lieferwagen der Papierwarenhandlung Herbiveaux. Der Arzt streckte den Kopf aus der Wagentür, um nachzuprüfen, wie weit er vom Gehsteig entfernt stand, fuhr ein wenig zurück, dann wieder ein Stückchen nach vorn und zwängte sich aus dem winzigen Gefährt.

Foy wusste nicht genau, der Wievielte heute war. Er wusste das nie. Der 5. oder 6. Juli. Höchstens der 7. Noch eine Woche, und sie würden wieder die ganze Nacht von dem Gedudel und Geknall des 14.-Juli-Festes auf der Place des Vosges wach gehalten.

Die Kinder hatten noch keine Ferien. Vor einer halben Stunde waren sie laut schreiend aus der Schule gestürmt und hatten sich ins ganze Viertel verteilt.

Foy wusste das Datum nicht, doch er konnte mit Sicherheit sagen, dass heute Montag war, denn am Tag zuvor hätten Nelly und er bei weit geöffneten Fenstern in ihrer Wohnung fast meinen können, ganz allein in Paris zu sein, so still und verlassen war die Straße. Einmal, so um die Mittagszeit, hatte er einen Hund über den menschenleeren Gehsteig streunen sehen.

Jedenfalls war der Arzt zu früh dran. Sonst kam er immer in der dritten Woche des Monats an einem Spätnachmittag in die Rue de Turenne, nachdem er zuvor seine bettlägerige alte Patientin in der Rue de Sévigné besucht hatte.

Warum fragte Foy sich plötzlich, ob diese Geschichte stimmte, ob es die alte Frau wirklich gab? Dr. Aubonne ließ sich seine allmonatliche Visite nie bezahlen und behauptete, dass er ja weniger als Arzt denn als Freund käme, und das mochte nach ihrer zwanzigjährigen Bekanntschaft auch glaubhaft sein.

Gewöhnlich streckte er nach seinem mehr oder weniger geglückten Rückwärtsmanöver den Kopf aus der Wagentür und sah zum vierten Stockwerk hinauf, wo er sicher sein konnte, Bernard Foy an einer der Fensterbrüstungen sitzen zu sehen, genau wie man an einem Fenster auf der anderen Straßenseite über der Papierwarenhandlung jahraus, jahrein einen Kanarienvogel in seinem Käfig erblickte.

Dann machte Aubonne immer, wie jemand, der zufällig vorbeikommt, eine Geste, die besagen sollte:

»Kann ich hinaufkommen?«

Warum hätte er nicht heraufkommen können? Er störte nie. Er wusste ja, dass Foy um diese Stunde, wie überhaupt die meiste Zeit des Tages, allein inmitten seiner Lampenschirme und seiner Pinsel saß. Diese Geste war zur Tradition geworden. Durch sie erhielt sein Kommen einen kameradschaftlichen Charakter und gleichzeitig auch etwas Zufälliges.

Trotzdem brachte er seine braun gewordene Arzttasche mit, die schon nicht mehr neu war, als die beiden Männer sich zu Anfang des Krieges kennengelernt hatten.

Warum hob nun der Arzt heute nicht den Kopf und verhielt sich so, als wüsste er nicht, dass Bernard ihn mit den Augen fixierte? Warum vor allem kam er mindestens eine Woche zu früh?

Hatte Nelly ihn vielleicht angerufen und gebeten, den Besuch vorzuverlegen? Und war ihm, da er das nicht zugeben konnte, die Vorstellung peinlich, dass er jetzt würde lügen und eine Rolle spielen müssen?

Auf dem Lieferwagen, von dem zwei Männer in blauem Arbeitsanzug flache und sehr schwere Pakete abluden, stand in gelben Buchstaben zu lesen: Witwe Herbiveaux. Papierwaren en gros. Aber Madame Herbiveaux verkaufte auch en détail, denn die Schulkinder versorgten sich in ihrem Geschäft, das zwei Schaufenster hatte.

Der Arzt machte zwei Versuche, die Wagentür zu schließen, und beim zweiten Mal knallte er sie allzu heftig zu, dann überquerte er mit wackelndem Kopf, als sei dieser zu schwer von Gedanken, und mit seiner Tasche in der Hand die Fahrbahn, ohne auf den Verkehr zu achten.

Woran dachte er? Was dachte er über Bernard und seine Frau, über das Leben, das die beiden seit zwanzig Jahren in ihrer Wohnung über der Konditorei Escandon, Ecke Rue de Turenne und Rue des Minimes, führten?

Er kannte Bernard gewiss besser als jeder andere, kannte ihn als Arzt und als Mensch; er hatte ihn so oft mit seinen großen hervorquellenden Augen, die ihm einen durchdringenden und gleichzeitig naiven Blick verliehen, beobachtet. Aber kannte er ihn wirklich?

Er kam nur einmal im Monat vorbei, früher kam er häufiger. Er hatte auch noch andere Patienten, interessantere Fälle, im Saint-Antoine-Krankenhaus und auch unter seinen Privatpatienten. Er operierte bis zu fünf Kranke am Tag, verkehrte mit Kollegen und Freunden, spielte ab und zu Bridge, und schließlich besaß er auch noch seine Familie, eine Frau, die er einmal geliebt hatte, vielleicht immer noch liebte, drei Kinder, lauter Jungen, von denen zwei verheiratet waren.

Was mehr, als ein kleiner Teil seiner Welt und seiner Sorgen, hätte Bernard schon sein können? Der Arzt blieb ihm treu, gewiss. Nach so langer Zeit suchte er ihn noch immer auf, als sei dies nötig. Machte er sich Gedanken über ihn? Oder meinte er, alle seine Probleme seien gelöst?

Es herrschte eine Gluthitze. Die Sonne war noch nicht hinter den gegenüberliegenden Dächern verschwunden und warf lange flimmernde Rechtecke auf den lackierten Fußboden.

Da zwei Fenster auf die Rue de Turenne und eines auf die Rue des Minimes hinausgingen, strich ihm ein Luftzug wie frisches Wasser über die Haut.

Bernard blieb an seinem Platz, er fühlte sich unbehaglich und beunruhigt, ohne genau zu wissen, warum. Er verfolgte in Gedanken den Arzt, der eben das Haus betrat und beim Vorübergehen an der Portiersloge gewiss an die Krempe seines grauen Hutes, den er jahrein, jahraus auf dem Kopf trug, getippt hatte.

Aufzug gab es keinen. Die Treppenstufen waren ausgetreten, aber sorgfältig gebohnert. Bei jeder Kehre zwischen zwei Stockwerken kam eine schlecht beleuchtete Stelle, und gewöhnlich blieb der Arzt dort einen Augenblick stehen, um Atem zu schöpfen.

Als Foy ihn zum ersten Mal gesehen hatte, damals in Uniform, mit den hellbraunen Ledergamaschen an den dicken Beinen, da war er ihm wie ein als Offizier verkleideter Zivilist erschienen, ein Mann von vierundvierzig oder fünfundvierzig Jahren, dessen Stirn sich zu lichten begann, was seinen gewaltigen Schädel noch mehr hervorhob.

Jetzt musste er fünfundsechzig sein. Er hatte ein Herzleiden und war zuckerkrank. Einmal, als auch Nelly dabei gewesen war, hatte er gebeten, sich ins Badezimmer zurückziehen zu dürfen, um sich eine Dosis Insulin zu spritzen.

Foy verfolgte Aubonne in Gedanken beim Treppensteigen, erriet, welche Geräusche er durch die Türen hören mochte, das Schreibmaschinengeklapper im ersten Stock bei Monsieur Jussieu, dem Gerichtsübersetzer, das Klavier im Zweiten bei Mademoiselle Strieb, die kleinen Mädchen Musikunterricht gab, vielleicht den Plattenspieler oder das Radio bei Mademoiselle Renée im dritten Stock oder die Stimme der alten Madame Meilhan gegenüber, die versuchte, sich ihrem tauben Mann verständlich zu machen.

Es schien ihm heute länger zu dauern als gewöhnlich, und ohne besonderen Grund wurde seine Stirn feucht. Er erhob sich, noch bevor die Schritte des Arztes auf dem Treppenabsatz zu hören waren, näherte sich der Tür und bemühte sich, ein Lächeln aufzusetzen.

Es war lächerlich, er wusste das. Er schämte sich ein wenig, dass er so reagierte. Vielleicht war seit einiger Zeit alles an ihm lächerlich. Aber dann war es ja noch schlimmer.

Er stand reglos und bedrückt neben der geschlossenen Tür und horchte auf die Schritte des Arztes, der die letzten Stufen heraufkam und vor dem Anklopfen einen Augenblick abwartete, um Atem zu schöpfen. Foy erriet seine Bewegungen, sah im Geiste, wie er sich mit dem Taschentuch über Stirn und die schlecht rasierten Wangen fuhr, die Zigarette wieder anzündete, die ihm beim Treppensteigen ausgegangen war.

Endlich klopfte Aubonne, und Foy machte zum Schein ein paar Schritte im Kreis, bevor er öffnete.

»Ich hatte schon Angst, Sie nicht anzutreffen …«

Er blickte ihn offen und geradeheraus an. In den letzten Jahren hatte er wegen der Zuckerkrankheit zugenommen. Er trug seinen ewigen marineblauen Anzug, dessen Stoff schon ein wenig glänzte, und die Krawatte hing schief wie gewöhnlich.

Bernard antwortete:

»Es ist schon so lange her, seit ich das letzte Mal vor die Tür gegangen bin …«

»Das ist ein Fehler!«

Er ließ seinen Blick in dem großen, ihm vertrauten Zimmer umherwandern, das gleichzeitig als Ess- und Wohnzimmer und darüber hinaus auch als Werkstatt diente, da Foy seine Lampenschirme hier bemalte. Drei dieser Schirme standen auf dem Tisch, denn er dekorierte immer drei gleichzeitig und malte dabei zuerst alle roten, dann die blauen, die violetten und grünen Flächen aus. Seit mehreren Wochen malte er von der Vorlage, die sie ihm mitgeliefert hatten, immer dasselbe Motiv ab: eine Rose, eine Iris, eine Rose, eine Iris … Warum gerade diese Iris? Er hatte keine Ahnung, und es kümmerte ihn auch nicht.

»Ich bin heute zu Ihnen gekommen, ebenso wie zu meiner gelähmten alten Patientin, weil ich am Samstag zu einem Kongress nach Lissabon fahre. Ich nehme meine Frau mit, auf diese Weise werden wir uns eine oder zwei Wochen Ferien in Portugal gönnen.«

Er verhielt sich nicht wie ein Kranker, obwohl er seinen Zustand gewiss genauer kannte als sonst jemand. Er sprach mit fast kindlicher Freude über diese Reise, stellte seine Tasche ab und setzte sich wie immer in Nellys Sessel.

»Und Sie, mein kleiner Bernard?«

Sein kurzes Bärtchen, das Foy schon an ihm kannte, als es noch schwarz war, und das inzwischen fast weiß geworden war, hatte einen runden braunen Fleck, der aussah wie ein Loch für die Zigarette, die der Arzt ständig, ob brennend oder kalt, zwischen den Lippen hielt.

»Ganz gut, danke.«

»Immer an der Arbeit?«

Der Arzt deutete auf die Lampenschirme, die kleinen bemalten Keramiktöpfe.

»Man kann ja nicht den ganzen Tag herumsitzen und nichts tun. Außerdem wäre es auch ungerecht gegenüber meiner Frau.«

Er versuchte der Reaktion seines Gesprächspartners zu entnehmen, ob Nelly ihn angerufen hatte.

»Wie geht es ihr?«

»Gut, sie ist jünger denn je.«

Diese Worte, die an sich sinnlos waren und nur seine geheimen Sorgen verrieten, hatte er nicht zurückhalten können. In Wirklichkeit war Nelly gar nicht so viel jünger als er. Bei ihrer Heirat war sie achtzehn und er zweiundzwanzig gewesen. Jetzt war sie achtunddreißig.

Hatte diese Anspielung auf das Alter seiner Frau Aubonne stutzig gemacht? Hatte er bei Bernard bereits eine innere Unruhe gespürt, oder war er durch einen Anruf Nellys darauf gebracht worden?

In eindringlichem Ton sagte er:

»Sie ist eine großartige Frau.«

Worauf Bernard bitter entgegnete:

»Sie ist etwas Besonderes, ja.«

»Gehen Sie beide nicht auch in Ferien?«

»Sie bekommt Ende des Monats Urlaub, aber wir werden in Paris bleiben.«

»Warum denn?«

Foy wandte den Blick ab.

»Was kann es schon bringen?«, murmelte er.

»Immer noch Schwindelanfälle?«

»Immer noch, ja.«

»Mehrmals am Tag?«

»Mehrmals, natürlich.«

»Zu welcher Tageszeit am häufigsten?«

»Zu jeder Zeit. Manchmal schon beim Aufstehen. Manchmal zum Beispiel, wenn ich mich gerade zum Essen an den Tisch setze oder wenn ich mich auch nur von einem Stuhl auf einen anderen setze.«

Er hatte es ihm doch schon gesagt, nicht einmal, mindestens zehnmal, musste er sich da nicht fragen, ob ihm überhaupt geglaubt wurde oder ob man ihn vielleicht für einen Simulanten hielt?

Warum zum Teufel hätte er denn simulieren sollen? Simulierte der Arzt vielleicht seine Zuckerkrankheit? Hatte er es damals darauf angelegt, seine beiden Herzanfälle zu bekommen?

Er konnte Aubonne gut leiden. Außer Nelly war er der einzige Mensch, der ihm nahestand, der Einzige, zu dem er seit zwanzig Jahren Vertrauen hatte.

Heute aber war er wütend auf ihn und empfand das Bedürfnis, sich bei ihm dafür zu entschuldigen.

»Pellet meint ja, es müsste bald besser werden.«

Denn Aubonne hatte Bernard schon vor einigen Monaten, als er anfing, über Schwindelanfälle zu klagen, zu Professor Pellet geschickt. Die beiden Männer waren so verschieden wie überhaupt nur denkbar. Der Professor war ein großer Chef und vergaß das keinen Augenblick. Als er Foy in seiner Klinik vorließ, war er von vier oder fünf Assistenten umringt, die ihm andächtig zuhörten, und alles, was er sagte und fragte, war nur für sie gedacht.

»Dann wollen wir einmal sehen! Sie sind 1940 durch eine Granate verletzt worden und haben dabei beide Hände verloren …«

»Nicht durch eine Granate, durch eine Mine. Wir befanden uns auf Patrouille in einem Wald zwischen der Maginot- und der Siegfried-Linie. Ich robbte durch den Schnee, und dabei kam ich wohl mit den Händen an eine Mine, die explodierte …«

»Wurden Sie auch am Kopf verletzt?«

»Am Kopf nicht. Nur an den Händen. Als ich in dem als Lazarett genutzten Schloss wieder zu mir kam, hatte ich keine Hände mehr und …«

Der Professor hörte nicht mehr zu. Im Gegensatz zu Aubonne wollte er knappe und genaue Antworten, alles Übrige interessierte ihn nicht. Dann unterbrach er kurz angebunden:

»Wer hat Sie als Erster behandelt? Wissen Sie das?«

»Dr. Aubonne.«

»Sie haben also beide Hände verloren, aber sonst keine Verletzung erlitten, ist das richtig?«

»Jawohl, Doktor …«

»Und seither haben Sie nie Kopfschmerzen gehabt?«

»Erst in den allerletzten Monaten.«

»Beschreiben Sie mir diese Schmerzen genau.«

Er machte sich Notizen mit einer Miene, als zeichnete er Strichmännchen während einer Rede. Er war groß und hager, und seine vorstehenden Zähne verliehen ihm einen aggressiven Zug, sogar wenn er lächelte.

»Auf der Straße …«

»Auf der Straße haben Sie die ersten Symptome wahrgenommen?«

»Ja … ich glaube … Ich überquerte … Es war sehr laut, Verkehr, Arbeiter hämmerten den Asphalt auf … Schon seit einiger Zeit …«

Er bemühte sich, objektiv zu sein, suchte nach Worten. Nach seiner Kriegsverletzung hatte man ihn von einem Hospital ins andere geschickt, und jedes Mal hatten Männer in weißen Kitteln um ihn herumgestanden und ihn befragt. Doch noch keiner hatte ihn so eingeschüchtert wie dieser Professor Pellet.

»Ich hatte den Eindruck, dass mein Kopf sich drehte, so wie wenn man aus einem Karussell aussteigt … Ich dachte, ich würde jeden Augenblick überfahren …«

Der Arzt warf seinen Assistenten einen befriedigten Blick zu und wiederholte, wobei er jede Silbe einzeln betonte:

»So wie wenn man aus einem Karussell aussteigt, nicht wahr?«

»Ja.«

»Ihr Kopf drehte sich.«

»Ja.«

»Und war Ihnen übel? Fühlten Sie sich wie seekrank?«

»Ich war noch nie auf See.«

»Spürten Sie Brechreiz?«

»Nein.«

Jetzt blickte er misstrauisch, als verdächtigte er Foy eines Täuschungsmanövers.

»Und seit einiger Zeit hören Sie nicht mehr so gut?«

»Im Gegenteil. Mein Gehör ist schärfer geworden. Es gibt Geräusche, vor allem hohe Töne, die mir buchstäblich wehtun, so, als würde man mich mit einem Instrument malträtieren … Das macht mich griesgrämig und unduldsam …«

Der Gemütszustand seines Patienten interessierte den Professor nicht. So verlief die erste Untersuchung. Es folgten noch zwei weitere. Man hatte eine Reihe ziemlich unangenehmer Tests mit ihm durchgeführt, ihm zum Beispiel eiskaltes Wasser in die Ohren eingeführt und ihn schnell im Kreis gedreht. Man hatte ihn geröntgt. Man hatte ihm andere Fragen und wieder dieselben Fragen gestellt, doch mit mehr Nachdruck, als hoffte man, dass er sich in einen Widerspruch verwickeln würde.

Vor allem wollte man von ihm wissen, ob er sicher sei, keine Kopfverletzung erlitten zu haben, denn auf dem Röntgenbild war etwas zu sehen, das Pellet »einen mikroskopischen Bruch des Felsenbeins« nannte.

»Fragen Sie Dr. Aubonne. Er muss es wissen. Damals war ich unfähig, mir über meinen Zustand ein klares Bild zu verschaffen …«

Der Professor ärgerte sich, dass die Tatsachen sich nicht mit seinen Theorien vereinbaren ließen, denn er hatte mehrere Bücher über diese Frage verfasst.

Zu guter Letzt hatte er dann Beruhigungsmittel verschrieben.

»Schlafen Sie gut?«

»Früher schlief ich immer gut.«

»Und seit wann ist das nicht mehr so?«

»Seit kurzem.«

»So leiden Sie jetzt also an Schlaflosigkeit?«

»Ich liege jeden Abend fast zwei Stunden wach, bis ich einschlafe.«

»Macht Sie das nervös?«

»Nein, ich warte.«

»Werden Sie vielleicht von irgendetwas gequält?«

»Nein.«

»Ist irgendeine Änderung in Ihrem Leben eingetreten?«

»Nein.«

»Gehen Sie auch trotz Ihrer Schwindelanfälle aus?«

»So wenig wie möglich.«

»Weil Sie Angst haben, auf der Straße umzufallen? Weil Sie das Gefühl haben, dass Sie umfallen könnten?«

»Ich glaube nicht, aber ich fühle mich auch nicht sicher, vor allem bei großem Gedränge und Lärm. Abends, wenn die Straßen fast menschenleer sind, kommt es vor, dass ich mit meiner Frau zwei- oder dreimal um die Place des Vosges gehe …«

»Und dabei fühlen Sie sich nicht unbehaglich?«

»Doch. Manchmal muss ich für einen Augenblick stehen bleiben …«

»Weil sich alles um Sie herum zu drehen beginnt?«

»Ja … Nein … Es ist nicht ganz so … Ich verliere irgendwie das Gleichgewicht … Es überfällt mich ein Gefühl der Unsicherheit, fast der Panik, ich bekomme weiche Knie und eine feuchte Stirn …«

Glaubten sie es ihm nun endlich, nicht nur Professor Pellet mit seinen Assistenten, unter denen sich eine sehr schöne Frau befand, sondern auch Aubonne, der von seinem Kollegen einen Bericht erhalten hatte?

Nun jedenfalls sah ihn Aubonne immer noch mit seinen großen Augen an, als versuchte er, die Wahrheit herauszufinden. Er stellte weniger direkte, weniger persönliche Fragen.

»Pellet zufolge …«

Foy hätte ihm am liebsten ins Gesicht geschrien:

»Ich bin doch nicht krank, weil ich Professor Pellet widerlegen will! Es ist doch nicht meine Schuld, wenn mein Fall anders verläuft, als er es in seinen Büchern beschreibt. Ich werde ja wohl besser wissen als er, wie ich mich fühle, oder?«

»Ich überlege wirklich, ob es für Ihre Frau und Sie nicht besser wäre, wenn Sie zwei oder drei Wochen aufs Land oder ans Meer führen. Gefällt es Ihnen am Meer?«

Er redete gerade so, als ob das Meer gleich um die Straßenecke läge!

»Ich habe es nie gesehen.«

Nelly übrigens auch nicht. Als Kind war er so arm, dass er in den Ferien nie ans Meer geschickt wurde. Dasselbe galt für sie. Seinen Militärdienst hatte er dann in Épinal geleistet, weit weg vom Meer, und dort hatte er Nelly kennengelernt.

Danach, gleich nach der Hochzeit, waren sie hierhergezogen, zwei Schritte von der Place des Vosges entfernt, wo er geboren worden und wo seine Mutter damals noch Concierge gewesen war.

Das war Anfang 1939. Einige Monate später brach der Krieg aus, und er wurde eingezogen. Im Februar, als nichts los war und man auf Patrouillen geschickt wurde, die eher Manövern glichen, hatte er durch eine Mine beide Hände verloren.

Wann hätte er da je ans Meer gehen sollen? Jedenfalls nicht, solange er von einem Krankenhaus zum anderen und von einer Spezialklinik in die nächste geschickt worden war! Und seither, mit seinen beiden Greifern, an die er sich im Laufe der Zeit irgendwie gewöhnt hatte, fühlte er sich nur zu Hause wirklich wohl. Erst recht jetzt, wo er alle Augenblicke Schwindelanfälle bekam.

»Ich frage mich, Bernard, ob Sie, der Sie immer so tapfer gewesen sind, nicht seit einigen Wochen seelisch irgendwie …«

Und er, Foy, überlegte, ob der Arzt ihm diese Frage wirklich von sich aus stellte oder ob Nelly ihn darauf gebracht hatte. Sie hätte es nicht gewagt, diese Frage selbst zu stellen. Sie machte niemals eine Anspielung auf seinen Zustand und gab sich so munter wie gewöhnlich. Und dennoch war er überzeugt, dass sie irgendetwas bedrückte.

Aber was bedrückte sie eigentlich? Das hätte er gern gewusst, und er versuchte nun, es aus den Worten Aubonnes herauszuhören.

»Auch für Ihre Frau wären richtige Ferien, selbst an einem abgelegenen Ort …«

»Haben Sie sie gesehen?«

»Nicht seit ich das letzte Mal hier mit ihr zusammentraf …«

Der Arzt blickte ihn unbeirrt mit seinen blauen Augen an. Und er, Foy, fühlte sich befangen, beschämt, war unzufrieden mit sich selbst. Denn vielleicht täuschte er sich auch, und dann war sein Verhalten einfach nur widerwärtig! Und die Wahrscheinlichkeit, dass er sich täuschte, war mindestens genauso groß wie die, dass er mit seinem Verdacht recht hatte.

»Ich fühle mich nur hier wohl, Doktor.«

»Ich verstehe das. Trotzdem sollten Sie sich aufraffen. Sie drehen hier durch, und damit ist niemandem gedient. Seit wie langer Zeit sind Sie nicht mehr ausgegangen?«

»Vor zwei Wochen waren wir im Kino, am Boulevard du Temple.«

»Und seither?«

»Sind wir zwei- oder dreimal zur Place des Vosges Luft schnappen gegangen.«

Wie sollte er erklären, dass es für ihn immer beschwerlicher, ja beängstigender wurde, aus seiner kleinen Welt herauszugehen? Professor Pellet hatte fast wütend zu ihm gesagt:

»Genau genommen verstecken Sie sich also …«

Das stimmte nicht. Niemals zuvor hatte er sich so stark für das Leben der anderen draußen auf der Straße oder hier im Haus interessiert. Er kannte es inzwischen so bis in alle Einzelheiten, dass er die Schritte der Hausbewohner und der Lieferanten erkannte, und wenn eine Tür auf- oder zuging, immer wusste, wer eintrat oder hinausging.

Er hätte fast zu sagen vermocht, was die Leute sprachen, wenn sie sich trafen, und was sie dabei für Bewegungen machten.

Pellet und dem Audiometer zufolge ließ sein Gehör nach. Dabei hatte er im Gegenteil die Töne noch nie so scharf wahrgenommen wie jetzt, und bei Schulschluss, der immer von großem Lärm begleitet wurde, litt er Qualen.

Am Ende war er nun so weit gekommen, dass er die Schulferien herbeisehnte und die Rougin-Zwillinge nebenan geradezu hasste, weil sie die Tür immer so heftig zuschlugen wie der Arzt die Tür seines 4cv.

»Die Hände?«

Aubonne sprach immer von den Händen, er wusste, dass sie für Foy noch existierten, denn sie taten ihm oft weh.

»Es geht! Außer wenn es sehr feucht ist oder gewittrig … Ich habe mich daran gewöhnt …«

»Keine Ekzeme?«

Anfangs hatte er viele Ekzeme gehabt, bis er sich an seine Greifer gewöhnte. Jetzt blieb die Haut gesund. Er achtete darauf.

»Ist es schon lange her, seit Sie zuletzt beim alten Hélias waren?«

»Einen Monat. Er hat meine Apparate nachgestellt, und ich soll in drei oder vier Wochen wieder vorbeikommen.«

Das war sein Orthopäde aus der Rue du Chemin-Vert. Er hatte ihm die einzigen Prothesen gebaut, die er ertragen konnte, und seit achtzehn Jahren pflegte der alte Mann sie, brachte sie wieder in Ordnung und verbesserte sie von Zeit zu Zeit ein wenig.

»Ich würde gern einmal Ihren Blutdruck messen …«

Das unterließ Aubonne nie, es war die einzige ärztliche Geste während seines Besuches. Er öffnete seine Tasche mit denselben präzisen, fast verliebten Bewegungen, mit denen auch Vater Hélias seine Präzisionsapparate handhabte.

»135 … Völlig normal … Wahrscheinlich sinkt der Blutdruck immer, wenn Sie Schwindelanfälle bekommen … Aber um das sicher sagen zu können, müsste ich einmal dabei sein, wenn es passiert … Sie trinken doch noch immer keinen Alkohol, keinen Wein?«

»Ein halbes Glas Wein mit Wasser zu jeder Mahlzeit.«

Schon seit langem hatte man ihm, wie allen Amputierten, das Trinken untersagt. Auch Pellet hatte ihm wegen der Schwindelanfälle von Alkohol und Kaffee abgeraten. Nur der Verzicht auf Kaffee fiel ihm schwer, sonst machte es ihm nichts aus, dass er Diät halten musste. Das Trinken reizte ihn nicht, er war immer noch fähig, dem Leben ins Angesicht zu sehen.