Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Werden die Schwestern ihr Glück finden und für mehr als nur ihr Geld geliebt werden? Nora und Ruth Ruperts bewohnen gemeinsam eine luxuriöse Villa in Berlin. Obgleich schon etwas älter, sind die Stiefschwestern noch unverheiratet. Ganz zur Verwirrung der Gesellschaft, denn besonders gegenüber Nora haben schon einige Männer Avancen gemacht. Aber keiner konnte bisher überzeugen. Und das, obwohl Nora allgemein als reiche Erbin gilt. Was jedoch niemand weiß, ist, dass eigentlich Ruth unermesslich viel Geld von ihrer verstorbenen Mutter geerbt hat. Die Schwestern unternehmen nichts, um dieses Missverständnis aufzuklären. Auch nicht als der völlig verarmte Gutsherr Arnold von Rautenau ihre Bekanntschaft macht, denn auch er ist nur auf der Suche nach einer reichen Frau. Oder doch nicht? -
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 351
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Hedwig Courths-Mahler
Saga
Die ungleichen Schwestern
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1931, 2021 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726950168
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
www.sagaegmont.com
Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com
,,Aber wie könnt ihr denn nur einen Augenblick im Zweifel sein? Es ist doch selbstverständlich, dass Nora, die ältere der Schwestern, die reiche Erbin ist. Seht sie euch doch an! Ganz abgesehen davon, dass Nora Rupertus die glänzendere und schönere der beiden Schwestern ist, muss sie doch unbedingt auch die reichere sein.“
„Warum muss sie das, Bert?“ fragte Hilly Sanders ihren Bruder.
,,Nun, Hilly, sieh dir doch den Schmuck an, den Nora Rupertus trägt, sieh dir das sicher in einem führenden Modehaus angefertigte Kleid an, und sieh die stolze Haltung der jungen Dame. Vergleiche damit die bescheidene Erscheinung ihrer Schwester Ruth, dann musst du dir doch selbst sagen, wer von den beiden Schwestern die fabelhaft reiche Erbin ist.“
,,Nun, das weisse Seidenkleid der jüngeren Schwester Ruth ist ganz sicher auch nicht billig gewesen.“
„Schön, ihre reiche Schwester wird sie ja nicht in billigen Fähnchen herumlaufen lassen, aber Ruth trägt nicht ein einziges Schmuckstück, ausser einem Ring mit einer allerdings sehr schönen schwarzen Perle, den ihr wahrscheinlich ihre reiche Schwester geschenkt hat. Wenn also Ruth die reiche Erbin wäre, würde sie sicher ebenso kostbaren Schmuck tragen wie ihre schöne Schwester.“
„Nun, Schönheit ist Ansichtssache“, warf lachend ein junger Herr in das Gespräch ein, „ich finde Ruth Rupertus reizender und lieblicher als die stolze Nora.“
Bert sah ihn lachend an.
„Du bevorzugst eben Blondinen auf jeden Fall.“
„Wenn sie echt und nicht gefärbt sind, ganz sicher, aber du wirst doch nicht in Abrede stellen, dass Ruth Rupertus reizend ist und sich sehr wohl neben ihrer dunkelhaarigen Schwester behaupten könnte, wenn sie nur wollte.
Aber — dass Ruth die arme Schwester ist, scheint auch mir sicher. Ich habe sie neulich im Tiergarten gesehen, in einem mehr als schlichten Strassenkleid; unter uns, es erschien mir schon recht abgetragen, und ich verstehe Nora Rupertus nicht, dass sie ihre Schwester so herumlaufen lässt. Sie hat es doch sicher dazu.
Schade jedenfalls, dass Ruth nicht die reiche Erbin ist, sonst —“
„Nun? Sonst würdest du dich wohl ernsthaft um sie bewerben?“
,,Was mir wenig nützen würde, denn wäre sie die reichere, dann würde sie so stark umlagert sein wie jetzt Nora.“
Ein anderer junger Mann, der herangetreten war und diese Wort mit angehört hatte, lächelte überlegen und warf ins Gespräch:
„Ich weiss es sicher, dass Nora Rupertus die reiche Erbin ist, und zwar von ihr selbst. Sie hat mir das vorhin mit einer sehr deutlichen Anspielung bestätigt.“
Alle sahen zu ihm auf.
„Wie denn? Was hat sie denn gesagt?“
„Ich fragte sie, weshalb ihre jüngere Schwester so selten in Gesellschaft zu sehen sei, denn es ist ja wahr, Ruth Rupertus ist nur selten in grosser Gesellschaft zu finden. Nora Rupertus erwiderte auf meine Frage: ,Ruth ist leider nicht von dem Gedanken abzubringen, dass es ihre Verhältnisse ihr nicht erlauben, so glänzende Gesellschaften zu besuchen. Wenn Sie wüssten, was ich jedesmal für einen Kampf mit ihr führen muss, bis sie sich entschliesst, mich zu begleiten.‘ Nun, Herrschaften, mir scheint, das ist deutlich genug.“
,,Allerdings! Und es bestätigt ja nur unsere eigenen Beobachtungen“, sagte Hilly Sanders, die Tochter der Gastgeber, und ihr Bruder Bert sah mit einem mitleidigen Blick zu Ruth Rupertus hinüber, die gerade in diesem Augenblick ganz vereinsamt an einem der hohen Fenster des Festsaales stand und mit ernsten Augen über das glänzende Gesellschaftsbild hinwegschaute.
Er erhob sich und schritt auf Ruth Rupertus zu, nicht nur, weil er als Haussohn seine Pflicht darin sah, für die Unterhaltung der Gäste seiner Eltern zu sorgen, sondern auch, weil ihm „die arme Schwester“ leid tat, die man so vernachlässigte, während sich um die reiche, glänzende Schwester eine Schar feuriger Verehrer gesammelt hatte, die sich darin überboten, ihr Artigkeiten zu erweisen.
Bert Sanders trat auf Ruth Rupertus zu.
„Mein gnädiges Fräulein, Sie halten sich so ganz von der Gesellschaft fern, das darf ich nicht zugeben.“
Sie sah mit ihren grossen, helleuchtenden Grauaugen, die wie Perlmutter schimmerten, zu ihm auf, und er musste sich zugestehen, dass diese Augen sehr wohl imstande waren, Männer zu fesseln, wenn sie so lebhaft zwischen den dunklen Brauen und Wimpern hervorleuchteten, die so eigenartig im Gegensatz standen zu dem satten Goldton ihres Haares. Freilich war Ruth keine solche berückende Schönheit wie ihre Schwester Nora, aber Bert Sanders musste jenem jungen Herrn recht geben, jetzt, da er Ruth zum erstenmal genauer betrachtete — sie war reizender und lieblicher, als er vorhin bei der flüchtigen Begrüssung hatte feststellen können.
„Sie irren, Herr Sanders, ich halte mich nicht von der Gesellschaft fern, sondern diese hat sich von mir zurückgezogen“, sagte Ruth mit einem schelmischen Ausdruck, in dem viel mehr Überlegenheit als Verdriesslichkeit über diese Tatsache lag.
„Oh, das darf ich nicht zugeben, es ist sicher nur ein Zufall, dass Sie gerade in diesem Augenblick ohne Gesellschaft blieben. Ich muss deshalb um Verzeihung bitten, denn ich hätte Sie davor bewahren müssen, sich selbst überlassen zu bleiben.“
Sie lachte ihn unbekümmert an.
„Seien Sie ganz unbesorgt, ich bin zuweilen sehr gern in meiner eigenen Gesellschaft, ohne deshalb eingebildet zu sein.“
,,Aber Sie werden mir gestatten, Sie zu meiner Schwester und einigen jungen Herren und Damen hinüberzuführen.“
„Ich möchte nicht stören — ich glaube, ich bin eine sehr wenig unterhaltende Gesellschafterin, und offen gesagt, ich hatte gerade erwogen, ob es nicht an der Zeit sein würde, an die Heimfahrt zu denken.“
„O nein, dazu ist es noch viel zu früh, mein gnädiges Fräulein. Sehen Sie Ihr Fräulein Schwester an, sie unterhält sich anscheinend so gut, dass sie nicht daran denken wird, schon jetzt unser Fest zu verlassen.“
Ruth warf einen flüchtigen Blick zu ihrer strahlenden Schwester hinüber. Es zuckte leicht wie heimlicher Spott um ihre Lippen.
„Ich denke ja auch gar nicht daran, meine Schwester zu veranlassen, mich zu begleiten. Sie ist sehr ausdauernd und würde meiner Aufforderung auch kaum Folge leisten. Aber ich wollte mich gerade von ihr verabschieden.“
„Das lasse ich nicht zu, mein gnädiges Fräulein. Dass Sie schon fortgehen wollen, ist mir ein Zeichen, dass Sie sich auf dem Fest meiner Eltern gelangweilt haben, und mit diesem Eindruck dürfen Sie noch nicht fortgehen.“
Sie schüttelte mit leichter Schelmerei den Kopf.
„Ich habe mich im Gegenteil sehr gut unterhalten, nur pflege ich nicht alle Genüsse bis zur Neige auszukosten, wie es meine Schwester tut. Ich bin auch nicht ein so eingefleischter Gesellschaftsmensch wie meine Schwester, und ausserdem muss ich morgen ziemlich früh aufstehen, um mein Kolleg nicht zu versäumen, während meine Schwester so lange schlafen kann, wie sie will. Deshalb muss ich auch zeitiger zur Ruhe gehen.“
Was Ruth sagte, bestärkte Bert Sanders in der Annahme, dass tatsächlich sie die vermögenslose Schwester war.
„Sie studieren, mein gnädiges Fräulein?“
Einen Augenblick zögerte Ruth, dann sagte sie ruhig:
„Ja, ich studiere Kunstgeschichte.“
Er verneigte sich.
,,Ein Stündchen werden Sie aber noch zugeben, mein gnädiges Fräulein, wir möchten uns doch noch ein Weilchen Ihrer Gesellschaft erfreuen, gerade, weil Sie so selten in Gesellschaft zu treffen sind. Nun ich weiss, dass Sie ein ernstes Studium treiben, kann ich das ja verstehen, aber ich darf Sie gerade deshalb nicht so früh wieder fortlassen.“
Sie sah lächelnd in sein hübsches, noch etwas knabenhaftes Gesicht.
„Also einigen wir uns in der Mitte, ich werde noch eine halbe Stunde zugeben, aber dann helfen Sie mir, dass ich verschwinden kann, ohne aufzufallen.“
„Muss ich das versprechen?“ fragte er, von dem Reiz ihrer Persönlichkeit gefesselt.
„Ja, das müssen Sie, sonst gehe ich gleich.“
„Also gut, aber diese halbe Stunde gehört uns, meiner Schwester und mir, wir wollen Sie doch ein wenig näher kennen lernen.“
Sie nickte bejahend, und er führte sie hinüber zu der Gruppe, in der seine Schwester noch sass. Als er mit ihr nahe herangekommen war, erhob sich Hilly Sanders auf einen Blick ihres Bruders und zog Ruth neben sich auf das kleine Empiresofa.
„Endlich kommen wir noch dazu, Ihre Gesellschaft zu geniessen, Fräulein Rupertus“, sagte sie liebenswürdig.
„Das gnädige Fräulein wollte gerade nach Hause gehen, ich habe sie sehr bitten müssen, uns noch ein halbes Stündchen zu schenken.“
„Ein halbes Stündchen? Das kommt doch gar nicht in Frage! So zeitig dürfen Sie unser Fest nicht verlassen“, sagte Hilly energisch, wie es ihre Art war.
„Ich habe Fräulein Rupertus versprechen müssen, dass sie nach einer halben Stunde fortgehen darf, wenn es uns nicht gelingt, sie länger zu fesseln. Du musst bedenken, Hilly, das gnädige Fräulein studiert Kunstgeschichte und muss morgen frühzeitig ins Kolleg“, sagte Bert.
Ah, sie musste einen Beruf ergreifen, um nicht von der reichen Schwester abhängig zu sein? Die jungen Herren und Damen, die sich vorhin über die Schwestern unterhalten hatten, verstanden das und bemitleideten die junge Dame ein wenig, denn sie alle waren so vorsichtig in der Wahl ihrer Eltern gewesen, dass sie es nicht nötig hatten, ihren Unterhalt selbst zu verdienen.
Aber Ruth Rupertus sah durchaus nicht bemitleidenswert aus, als sie sich nun sehr lebhaft und gut gelaunt mit den jungen Herren und Damen unterhielt. Im Gegenteil, sie hatte eine leise, ruhige Überlegenheit in ihrem Wesen, und sie wirkte ausserdem in ihrem weissen Seidenkreppkleid, das sich weich um ihre jugendschönen, schlanken Glieder legte, sehr vornehm und gediegen, vornehmer eigentlich als ihre glänzende Schwester, die in einem kostbaren Brokatkleid, mit reichem Schmuck behängt, fast etwas überladen wirkte.
Man wurde sich klar, dass Ruth Rupertus ein kluges, geistvolles und liebenswürdiges Geschöpf sei, deren ungekünstelte Natürlichkeit allerdings zuweilen etwas verblüffte. Sie wusste gut von kanadischen Verhältnissen zu erzählen, denn sie und ihre Schwester hatten ihre Jugend in Kanada verbracht und waren erst seit einem Jahr in Deutschland ansässig. Sie waren mit ihrem Vater herübergekommen, der von Geburt Deutscher war und der seinen Lebensabend in Deutschland hatte beschliessen wollen. Aber kurz nach seiner Übersiedlung war er infolge einer Lungenentzündung plötzlich dahingerafft worden und hatte seine Töchter in Gesellschaft seiner Hausdame, auch einer Deutschen, zurückgelassen. Sie bewohnten nun mit dieser Hausdame, Frau v. Werner, eine Villa im Grunewald, und hatten das Trauerjahr dazu verwendet, sich in europäischen Ländern umzusehen. Erst in der letzten Zeit waren sie in Gesellschaft gegangen, immer in Begleitung von Frau v. Werner, und hauptsächlich Nora Rupertus hatte sich gern in den geselligen Strudel ziehen lassen, während Ruth meist absagte. Nur ab und zu besuchte auch sie einmal eine Festlichkeit, wenn Nora sie ausschalt, dass sie so zurückgezogen lebte.
Die halbe Stunde war schon wesentlich überschritten, als sich Ruth mit einem bittenden Blick auf Bert Sanders erhob. Er begleitete sie artig durch den Saat zu ihrer Schwester hinüber, die noch immer der Mittelpunkt des Festes war. Ruth flüsterte ihr zu:
„Ich fahre heim und schicke dir den Wagen wieder zurück, Nora. Unterhalte dich noch recht gut.“
„Danke, Ruth! Gute Nacht!“ flüsterte die Schwester zurück, die schon gewohnt war, dass Ruth die Gesellschaften früher verliess.
Ruth ging nun zu Frau v. Werner hinüber, die mit einigen älteren Herrschaften zusammensass.
„Gute Nacht, Frau v. Werner! Sie warten auf Nora!“ sagte sie leise zu ihr und wartete gar nicht ab, dass diese eine Einwendung machen konnte. Ruth verabschiedete sich dann von den Gastgebern, die sie noch aufhalten wollten; aber Bert half ihr, loszukommen. Er begleitete sie erst bis zur Garderobe, half ihr selbst in ihren Pelzmantel und brachte sie bis zum Auto, das er hatte heranfahren lassen.
Es war ein sehr elegantes Auto, in dem Bert die junge Dame artig unterbrachte. Sie dankte ihm lächelnd, und er verbeugte sich noch einmal, als sie an ihm vorüberfuhr.
Der Weg war nicht weit, denn auch die Villa Sanders lag im Grunewald, wenn auch einige Strassen entfernt.
Als Ruth vor der Villa Rupertus ausstieg, sagte sie zum Chauffeur:
„Fahren Sie nach Villa Sanders zurück, um meine Schwester und Frau v. Werner abzuholen.“
Dann stieg sie schnell die breite Sandsteintreppe bis zum Portal hinauf und verschwand in der Halle. Dort sass ein Diener, der Damen wartend, und sprang auf, um das elektrische Licht einzuschalten. Er half Ruth aus dem Pelz, und diese gebot ihm in ihrer ruhigen, bestimmten Art, ihr noch eine Tasse Tee zu bringen.
Ruth zog sich in ihr Ankleidezimmer zurück, wo sie die Zofe, die sie und ihre Schwester gemeinsam bediente, von ihr aber viel weniger in Anspruch genommen wurde als von Nora, eingeschlafen in einem Sessel fand. Die Zofe schrak auf und ermunterte sich, eine Entschuldigung stammelnd.
,,Wozu entschuldigen Sie sich, Mary, Sie haben doch ein Recht, müde zu sein. Leider werden Sie noch länger aufbleiben müssen, denn meine Schwester wird mit Frau v. Werner erst später heimkehren. Ich bedarf Ihrer aber jetzt nicht weiter, wenn Sie mir aus meinem Kleid geholfen und mir einen warmen Morgenrock übergestreift haben.“
Die Zofe half ihr aus dem weissen Kleid und legte ihr einen warmen hellblauen Morgenrock aus wattierter Seide über. Inzwischen hatte der Diener den Tee gebracht, und Ruth verabschiedete die beiden Dienstboten in der ihr eigenen freundlichen Weise. Sie zog sich dann in ihren kleinen Salon zurück, wo der Tee auf einem kleinen Tischchen bereitstand, warf sich aufatmend in einen Sessel und streckte die Glieder im wohligen Behagen.
,,Gottlob, das ist wieder einmal überstanden!“ sagte sie vor sich hin. Sinnend liess sie ihren Blick in dem eleganten Zimmer umherschweifen. Sie liebte diese zierlichen Rokokomöbel mit dem hellen geblümten Seidenstoff, aber nur, wenn sie sich ausruhen wollte. Sonst weilte sie lieber in ihrem Arbeitszimmer, das mit schweren dunklen Eichenmöbeln ausgestattet war und smaragdgrünen Samt als Möbelbezug und Fenstervorhänge hatte. Auch der Fussboden war mit smaragdgrünem Velourteppich ausgelegt, auf dem schöne alte Perser ausgebreitet waren. In dies Arbeitszimmer konnte sie von ihrem Platz aus sehen, da es nebenan lag und die Tür offen stand. Da drüben über ihrem Schreibtisch hing das Bild ihres Vaters und schaute zu ihr herüber. Sie nickte diesem Bild lächelnd zu.
„Bist zufrieden mit mir, lieber alter Papa?“
So hatte sie ihn immer genannt, den geliebten Vater, und er hatte ihr dann sanft das Haar aus der Stirn gestrichen und ihr zugenickt mit seinem Lächeln, das in den letzten Jahren so müde und schmerzvoll geworden war, weil ihn ein schweres Leiden plagte.
Er hatte dreissig Jahre seines Lebens in Kanada verbracht, hatte zweimal dort geheiratet, das erstemal Noras Mutter, die französischer Abstammung war, und das zweitemal die Mutter von Ruth, eine Engländerin. Ein schöner Mann war er gewesen, dem die Frauenherzen zugeflogen waren. Und seine erste Frau hatte ihn ebenso leidenschaftlich geliebt, wie er sie. Als sie ihm nach dreijähriger Ehe genommen worden war, hatte Nora kaum zwei Jahre gezählt. Ein Jahr später hatte er Ruths Mutter heimgeführt, die ihn ebenfalls über alles geliebt hatte. Seine Liebe zu dieser zweiten Frau war nicht so leidenschaftlich und feurig gewesen als die zu Noras temperamentvoller Mutter, aber er hatte sie vielleicht tiefer und zärtlicher geliebt. Sie war die Erbin einer grossen Exportfirma für Pelze, und durch diese zweite Heirat war Philipp Rupertus der Chef dieser weltbekannten Firma geworden. Bis dahin hatte er wenig Glück gehabt; mit seiner ersten Frau, die ebenfalls arm gewesen war, hatte er sehr bescheiden leben müssen. Erst durch seine zweite Ehe kam er in grossartige Verhältnisse. Er war jedoch nicht der Erbe der Firma und des Reichtums seiner zweiten Frau geworden, sondern als diese starb, wurde Ruth, ihr einziges Kind, ihre Erbin infolge der Testamentsbestimmungen von Ruths Grosseltern. Ruths Vater hatte nur das Vermögen seiner jüngsten Tochter verwaltet. Als vor vier Jahren seine zweite Gattin starb, war die grosse Exportfirma schon in ein Aktienunternehmen verwandelt, da der Betrieb zu gross geworden war, und weil sich bei Philipp Rupertus schon damals die ersten Vorzeichen seines Leidens bemerkbar gemacht hatten. Er fühlte sich nicht mehr kräftig genug, allein die Leitung des Betriebs in den Händen zu behalten, und seine Gattin war mit der Gründung der Aktiengesellschaft einverstanden gewesen.
Nachdem er auch seine zweite Gattin durch den Tod verloren hatte, überkam Philipp Rupertus die Sehnsucht nach seiner deutschen Heimat. Er war jetzt geschäftlich nicht mehr gebunden und konnte leben, wo er wollte. Seine beiden Töchter, die er zärtlich liebte, weil jede von ihnen ihrer verstorbenen Mutter sehr ähnlich war, stimmten ihm bei, sie waren bereit, sich mit dem Vater für immer in Deutschland niederzulassen. Und so war es auch geschehen. Aber lange hatte er sich der Heimat nicht freuen können, sein Leiden hatte schon grosse Fortschritte gemacht, ehe er Kanada verliess, und kurze Zeit nach seiner Heimkehr nach Deutschland starb er. Seine Töchter liess er unter dem Schutz Frau v. Werners zurück, die schon seit dem Tode seiner zweiten Gattin Hausdame bei ihm gewesen war.
Ruth Rupertus war also nicht die arme Schwester, sondern die reiche Erbin. Es war irgendwie durchgesickert, dass nur die eine Tochter reich war und über ein grosses Barvermögen und über den grössten Teil der Aktien der grossen Pelzfirma verfügte, aber niemand wusste, welche von beiden die Erbin war.
Ruth hatte ihrem Vater auf dem Totenbett versprochen, stets für ihre völlig vermögenslose Schwester zu sorgen. Philipp Rupertus hatte sich in streng rechtlicher Weise immer nur als Verwalter des Vermögens seiner zweiten Frau betrachtet und nach deren Tod als Vermögensverwalter seiner jüngsten Tochter. Nie hatte er für sich Vorteile gezogen aus dem Umstand, dass er eine reiche Erbin geheiratet hatte, und so hatte er es auch als ganz selbstverständlich gefunden, dass Ruths Grosseltern testamentarische Bestimmungen getroffen hatten, die einen Gatten ihrer Tochter wohl berechtigten, an der Nutzniessung ihres Vermögens teilzuhaben, ihn aber zugunsten etwaiger Kinder von dem Erbe ausschlossen. Ruth war das einzige Kind dieser Ehe, und so war sie nach dem Tode ihrer Mutter die Universalerbin des grossen Betriebes und des gesamten Barvermögens.
Nach des Vaters Tod verblieb also Nora Rupertus keinerlei Vermögen, sie war nur auf die Gnade ihrer Schwester Ruth angewiesen. Aber Ruth hätte es auch als selbstverständlich gefunden, dass sie für Nora in jeder Weise zu sorgen habe, wenn ihr der Vater das Versprechen, es zu tun, nicht abgenommen hätte.
Ruths Mutter hatte Nora mit Liebe und Güte erzogen und sie in keiner Weise hinter ihrem eigenen Kind zurückgestellt, und Ruth sah in Nora die herzlich geliebte Schwester, wenn sich auch mit den Jahren grosse Unterschiede im Wesen und Charakter der beiden Halbschwestern herausstellten. Ruth war ein einfacher, natürlicher Mensch mit grosser Wahrheitsliebe, ehrlichem Empfinden und vornehmer Gesinnung. Sie war viel bescheidener in ihren Ansprüchen an das Leben als ihre Schwester. Nora liebte Glanz und Luxus, war oberflächlich, genusssüchtig und anspruchsvoll. Es erschien ihr selbstverständlich, dass sie Ruth an allem Luxus teilnehmen liess, ja, sie übertraf Ruth darin noch bei weitem und haderte oft mit dem Schicksal, dass sie nicht ebenso reich war wie Ruth. Und ziemlich rücksichtslos nutzte sie die Schwester aus. Ruth liess sich das stillschweigend gefallen, sie tat alles, was sie konnte, um Nora dafür zu entschädigen, dass sie nicht auch eine Erbin war.
Wenn Nora nun auch im Grunde gar nichts entbehrte, sondern eigentlich ein glänzenderes Leben führte als ihre Schwester, so klagte sie doch immer wieder unzufrieden, dass das Schicksal sie stiefmütterlich behandelt habe.
„Was gelte ich denn in der Gesellschaft? Wenn man hier erst erfährt, dass ich vermögenslos bin und aller Reichtum, der uns umgibt, nur dir gehört, dann wird sich kein Mensch um mich kümmern, und ich werde unbeachtet beiseitestehen und nie einen Mann bekommen“, hatte sie eines Tages gesagt, als die Schwestern mit Frau v. Werner nach Ablauf des Trauerjahres um den Vater von ihren Reisen wieder nach Berlin zurückkehrten und nun begannen, in Gesellschaft zu gehen.
Ruth hatte sie ein wenig ausgelacht.
„Das glaubst du doch selbst nicht, Nora, du bist doch entschieden die Schönere und Glänzendere von uns beiden, und überall, wo wir hingekommen sind, hat sich alles nur um dich gedreht.“
,,Nun ja, weil man unterwegs angenommen hat, dass wir beide vermöglich sind. Hier ist es aber bereits durchgesickert, ich weiss nicht wie, dass nur eine von uns die Erbin ist, und nun werde ich schnell im Schatten verschwinden.“
Schelmisch hatte sie Ruth angesehen.
„Ich wette, Nora, dass alle Menschen dich für die Erbin halten, weil du eben zu glänzendem Auftreten mehr Talent hast als ich. Keinem Menschen wird es einfallen, mich für die Erbin zu halten.“
Nora hatte die Schwester mit einem seltsam forschenden Blick angesehen.
„Aber du wirst diesen Irrtum natürlich schnell genug aufklären.“
„Ich? Warum sollte ich das tun? Mir liegt gar nichts daran, als die Erbin zu gelten und mich daraufhin anstarren zu lassen wie ein seltenes Tier im Zoologischen Garten.“
„Ach, du bist töricht. Es ist doch herrlich, wenn man von allen Seiten beneidet wird.“
„Das kann ich nicht herrlich finden. Mir ist es sogar greulich, wenn mich die Menschen nur nach meinem Reichtum werten. Ich habe dann immer das Gefühl, als wenn ich als Mensch an sich überhaupt keine Geltung habe.“
„Oh, mir sollte es nicht schwer fallen, mir Geltung zu verschaffen, wenn ich über dein Vermögen verfügte.“
„Ach, arme Nora, mir scheint, wir spielen beide die falschen Rollen im Leben.“
Eine Weile hatte Nora die Schwester mit ihren dunklen, heissen Augen angesehen, dann hatte sie plötzlich gesagt: „So lass uns doch die Rollen tauschen! Verschweige es doch allen Menschen, dass du die Erbin bist, wie ich es verschweigen würde, dass ich vermögenslos und im Grunde nur von der Gnade meiner Schwester abhängig bin. Das wäre herrlich, wenn ich deine Rolle spielen dürfte. Es würde ja sonst alles beim alten bleiben. Du hältst mich ja wirklich wie eine Prinzessin, das muss ich sagen, Ruth, du bist ein nobler, vornehmer Mensch, und deshalb schäme ich mich zuweilen, weil ich unzufrieden bin mit meinem Los. Also ich könnte sehr gut als die Erbin gelten, denn unbegreiflicherweise stattest du mich immer viel schöner und prächtiger aus als dich selbst. Ich lasse mir das nur zu gern gefallen, denn ich liebe nun einmal Glanz und Luxus und kleide mich gern so elegant als möglich. Wir brauchten also in unserem Auftreten gar nichts zu ändern. Wenn du etwas übriges tun wolltest, müsstest du mir nur zuweilen gestatten, einige Stücke von deinem Schmuck zu tragen, den du von deiner Mutter geerbt hast und den du bedauerlicherweise nie trägst. Mir wäre es eine Wonne, mich dem staunenden Volk im Glanz deiner Brillanten und Perlen zu zeigen. Mit kostbaren Pelzen sind wir ohnedies beide sehr gut ausgestattet, schon um die Kennedy-Aktiengesellschaft zu repräsentieren, was ja Ehrensache für uns ist, da dein Grossvater mütterlicherseits sie gegründet hat und du ihr deinen grossen Reichtum verdankst. Ich gebe dir mein Wort, ich werde die Erbin mit mehr Geschick spielen, als du es je fertig bringen wirst.“
Ruth hatte sie etwas unsicher angesehen.
„Ist das dein Ernst, Nora?“
„Ja doch! Du würdest ausserdem ein gutes Werk an mir tun, denn wenn man mich für die Erbin hält, werde ich schneller einen Mann bekommen, während du als die tatsächliche Erbin sicher einen finden wirst.“
Es hatte um Ruths Mund gezuckt.
„Mir liegt sehr wenig daran, nur wegen meines Reichtums von einem Manne erwählt zu werden.“
„Nun also, diesem Schicksal entgehst du, wenn du dich für die vermögenslose Schwester ausgibst.“
Eine Weile hatte Ruth die Schwester sinnend angesehen. In ihrer Seele lebte immer die Furcht, einmal nur ihres Geldes wegen von einem Mann begehrt zu werden, und es leuchtete ihr ein, dass sie diesem Schicksal entgehen würde, wenn sie tatsächlich vor der Öffentlichkeit mit der Schwester die Rollen tauschte. Aber ihrem geraden, ehrlichen Empfinden widerstand es doch, den Leuten vorzulügen, dass sie vermögenslos sei.
„Ich kann nicht lügen, Nora“, hatte sie gesagt.
„Sollst du auch nicht, brauchst du auch nicht. Mir macht es gar nichts aus, ein wenig Komödie zu spielen. Du brauchst nur zu schweigen, alles andere überlasse mir. Ich werde auch nicht geradezu aussprechen, dass ich die Erbin und Hauptaktionärin der Kennedy-Aktiengesellschaft bin, ich werde es nur durchblicken lassen.“
„Und wenn sich ein Mann um dich bewirbt, Nora, was soll dann geschehen?“
Nora lachte leichtfertig.
„Oh, wenn er mich ehrlich liebt, wird es ihm gleichgültig sein müssen, ob ich Vermögen habe oder nicht, und wenn er sich nur des Geldes wegen um mich bewirbt, geschieht es ihm recht, wenn er dann enttäuscht ist. Ich werde beides nicht tragisch nehmen, da kannst du sicher sein.“
„Du willst diese Komödie also allen Ernstes spielen?“
,,Mit Vergnügen! Natürlich müssen wir Frau v. Werner einweihen — das lass nur meine Sorge sein —, und auch sonst einige Vorkehrungen treffen, damit mein Spiel nicht verraten wird. Du brauchst gar nichts dazu zu tun, denn offen gesagt, deine Art und Weise, dich immer so einfach als möglich zu kleiden, nie Schmuck zu tragen und nun auch noch, wie du dir vorgenommen hast, ernsthaft Kunstgeschichte zu treiben, lässt dich schon ohnedies immer als die vermögenslose Schwester erscheinen. Ich werde dafür sorgen müssen, dass du dieses Bestreben nicht übertreibst, sonst werde ich als Erbin noch mit scheelen Augen angesehen, weil ich meine Schwester nicht besser ausstatte.“
Und Nora hatte über diesen Gedanken herzhaft lachen müssen. Sie hatte es dann auch wirklich durchgesetzt, dass sie die Rolle der Erbin übernahm, und hatte sie mit dem grössten Geschick gespielt.
So galt Ruth mehr und mehr für die vermögenslose Schwester, die von der Gnade Noras abhängig war. Frau v. Werner war eingeweiht. Die Dienstboten, die man ja erst nach der Rückkehr von der Reise neu eingestellt hatte, wussten nichts von den verschiedenen Vermögensverhältnissen der Schwestern, und nur die Zofe Mary, die mit von Kanada herübergekommen war, hätte vielleicht Aufschluss darüber geben können. Doch diese war verschwiegen und zurückhaltend, und es hätte sie auch niemand gefragt.
Dass alle Geldangelegenheiten durch Ruths Hände gingen, erfuhr niemand als Frau v. Werner, die ja den Haushalt leitete und in den Rollentausch eingeweiht war.
Nora spielte also mit Eifer die Rolle der Erbin und behauptete lachend, sie vertrete die Firma Kennedy viel besser, als es Ruth tun könnte. Ruth musste ihr darin recht geben, und sie war, nachdem sie sich an den Gedanken gewöhnt hatte, ganz zufrieden mit dem Tausch, denn er enthob sie vieler lästiger Pflichten und gestattete ihr, viel mehr ein Leben nach ihrem eigenen Geschmack führen zu können. Und vor allem hatte sie dieser Rollentausch von der Furcht befreit, dass sich eines Tages ein Mann nur um ihres Vermögens willen um sie bewerben könne. Diese Furcht hatte sie schon lange gehabt. Sie hatte sich gesagt, dass es ihr furchtbar sein würde, von einem Mann, dem sie vielleicht ihr Herz schenken würde, nur ihres Vermögens wegen begehrt zu werden.
Während Nora nun in Begleitung von Frau v. Werner von einer Festlichkeit zur anderen flog, führte Ruth ein ziemlich zurückgezogenes Leben. Sie trieb mit Eifer ihre Kunststudien, trieb alle Arten Sport, machte ihre gymnastischen Übungen und ging nur in Gesellschaft, wenn Nora sie darum bat und ihr immer wieder vorhielt, dass man sie für eine Rabenschwester halten würde, die das arme Aschenputtel zu Hause sitzen liess, während sie von einem Fest zum anderen fliege. So musste sich Ruth der Schwester wegen zuweilen zum Besuch einer Gesellschaft entschliessen, wie es auch heute der Fall gewesen war.
Das alles ging Ruth durch den Kopf, während sie nach dem Bild ihres verstorbenen Vaters hinübersah, und ihr war, als fliege ein Lächeln über sein schönes Gesicht. Philipp Rupertus war bis zu seinem Tod ein schöner, interessanter Mann gewesen, und seine Töchter hatten ihn sehr geliebt und verehrt.
Aufatmend erhob sich Ruth und begab sich zur Ruhe.
*
Als Ruth am nächsten Morgen fertig für ihren Weg zum Kolleg ins Frühstückszimmer hinunterkam, fand sie dort bereits Frau v. Werner vor. Ruth begrüsste sie freundlich und sagte vorwurfsvoll: „Sie hätten länger schlafen sollen, Frau v. Werner, denn Sie sind sicher sehr spät mit Nora nach Hause gekommen.“
„Es war kurz nach zwei Uhr, Fräulein Ruth.“
„Oh, und schon sind Sie wieder auf dem Posten, da muss ich zanken. Sie haben sicher noch nicht ausgeschlafen.“
Frau v. Werner lächelte, während sie Ruth den Tee in die feine Porzellanschale füllte und ihr alles in erreichbare Nähe rückte.
„In meinem Alter braucht man nicht mehr so viel Schlaf, Fräulein Ruth.“
„Es geht aber nicht an, dass Sie sich überanstrengen. Wenn Sie mit Nora so lange ausgewesen sind, müssen Sie sich unbedingt länger Ruhe gönnen. Nora schläft ja auch noch.“
„Ja, sie wird auch vor zehn oder elf Uhr nicht sichtbar werden.“
„Hat sie sich gut unterhalten gestern abend?“
,,Wie immer! Sie ist wieder von allen Seiten umschwärmt worden.“
Ruth biss mit ihren weissen, regelmässigen Zähnen in ein knuspriges Brötchen.
,,Das gefällt ihr und macht sie glücklich.“
„Und Sie stehen wie immer zurück und lassen neidlos der Schwester den bevorzugten Platz.“
„Nun ja, ein wenig muss ich doch das Schicksal auszugleichen versuchen. Es ist doch nicht mein Verdienst, dass ich eine reiche Mutter gehabt habe, so wenig Nora daran schuld ist, dass ihre Mutter arm war.“
„Gewiss nicht, aber Sie sollten doch nicht in allen Dingen sich so selbstverständlich von Fräulein Nora zurückdrängen lassen.“
Ruth sah Frau v. Werner mit ihren schönen, perlmuttergrauen Augen ernst an.
„Das tue ich doch nur in Dingen, die mir nicht wichtig sind. Ich gönne Nora den Triumph, von allen Seiten umschwärmt und verehrt zu werden. Sie macht es glücklich, und mir würde es nur lästig sein. Übrigens habe ich gestern abend einige ganz nette Stunden verlebt, die netteste war die letzte. Die Geschwister Sanders sind reizende junge Menschen, nicht so der belanglose Durchschnitt. Sie sind beide klug, warmherzig und natürlich, ganz anders als die meisten jungen Menschen unserer Gesellschaft. Und erfreulicherweise scheinen sie an meiner Vermögenslosigkeit keinen Anstoss zu nehmen. Sie waren sehr nett zu mir, und ich habe mich mit ihnen zu regelmässigen Tennisstunden verabredet, die wir teilweise hier bei uns im Garten, teilweise im Sandersschen Garten abhalten wollen.“
„Das freut mich für Sie. Es ist unnatürlich, dass Sie sich so sehr von allen geselligen Freuden zurückhalten.“
„Sofern es wirklich Freuden sind, halte ich mich gewiss nicht zurück. Aber die meisten geselligen Veranstaltungen sind mir keine Freude, sondern langweilen mich, und dazu ist mir meine Zeit zu kostbar.“
„Sie haben ja recht, Fräulein Ruth, nur ist man es nicht gewöhnt, dass junge Menschen so denken wie Sie. Das ist eigentlich die Ansicht des reiferen Alters.“
,,Nun, mir scheint, etwas Erspriessliches habe ich noch nicht versäumt. Aber nun muss ich aufbrechen, sonst komme ich zu spät ins Kolleg, und das wäre mir sehr peinlich, da ich über ein Auto verfüge, während meine Kollegen und Kolleginnen meist einen beschwerlicheren Weg haben. Aber da fällt mir ein, bitte, Frau v. Werner, zahlen Sie doch zweihundert Mark auf der Post ein für Fräulein Susanna Hell, Charlottenstrasse 6, vierter Stock. Geben Sie irgendeinen Absender an und schreiben Sie auf den Abschnitt, dass dieses Geld dafür bestimmt ist, dass Fräulein Hell sich einen warmen Wintermantel kaufen soll. Ich kann es nämlich nicht mehr mit ansehen, wie das arme Ding in ihrem dünnen Mäntelchen friert, während ich mich behaglich in meinen Pelzmantel hülle. Am liebsten würde ich ihr einen meiner Pelzmäntel schenken, aber ich nehme an, dass sie lieber einen einfachen Wintermantel trägt, der neu ist, als einen getragenen Pelz. Sie ist nämlich stolz, und ich möchte sie um alles nicht verletzen. Also schreiben Sie ein paar nette Worte auf den Abschnitt, Sie verstehen das so gut.“
„Und Sie verstehen, zu schenken und zu beglücken.“
Ruth wurde rot und winkte hastig ab.
„Auf Wiedersehen, Frau v. Werner, bitte grüssen Sie Nora, wenn sie ausgeschlafen hat. Bis elf Uhr habe ich Kolleg, dann komme ich nach Hause.“
„Ich werde es bestellen und die Postanweisung bestens besorgen. Auf Wiedersehen, Fräulein Ruth!“
Ruth liess sich draussen von dem Diener einen schlichten grauen Fehmantel umgeben. Es war der einfachste ihrer Pelzmäntel, und diesen trug sie immer, wenn sie ins Kolleg ging. Stach sie doch schon darin sehr gegen ihre Kolleginnen ab.
Sie wurde teils mit Neid, teils mit Bewunderung wegen dieses Fehmantels betrachtet, ohne das zu ahnen. Und als sie heute Fräulein Susanna Hell, ein blasses, unscheinbares Ding, in ihrem dünnen Mäntelchen an sich vorüberhuschen sah, atmete sie auf, wie von einer Last befreit. Susanna Hell würde bald einen warmen Wintermäntel haben.
Einige Tage später hatte Ruth wirklich das Vergnügen, Susanna Hell in einem warmen grauen Flauschmantel zu sehen. Diese hing ihr Prachtstück, das ihr gleichsam vom Himmel heruntergefallen war, neben Ruths Fehmantel und strich zärtlich über den warmen Flausch.
„Ich glaube, mein neuer Mantel ist mindestens so warm wie Ihr schöner und kostbarer Pelz, Fräulein Rupertus“, sagte sie mit verschämtem Stolz.
Ruth strich wie prüfend über den flauschigen Stoff.
„Ja, wirklich, er ist schön weich und warm. Mein Pelz ist übrigens gar nicht so kostbar, ich — ich habe ihn von Kanada mitgebracht, und zwar aus unserer eigenen Firma, die mit Pelzen handelt. So bin ich sehr billig dazugekommen.“
Susanna Hell lachte froh.
„Aber ich bin noch viel billiger zu meinem schönen Mantel gekommen. Denken Sie, irgendein Menschenfreund hat mir gestern zweihundert Mark geschickt mit dem ausdrücklichen und dringlichen Befehl, mir dafür einen warmen Wintermantel zu kaufen, und mit der Zusicherung, dass ich die zweihundert Mark zurückzahlen kann, wenn ich sie ohne Not entbehren kann. Der edle Spender dieser zweihundert Mark hat seinen Namen und seine Wohnung, die wahrscheinlich auch noch falsch angegeben sind, so undeutlich geschrieben, dass ich sie nicht entziffern konnte. Wenn er sich nun nicht selber meldet, wenn ich eines Tages so viel Geld habe, dass ich diese Schuld begleichen kann, dann weiss ich gar nicht, an wen ich mich wenden soll. Im ersten Augenblick wollte ich das Geld zurücksenden, nur wusste ich nicht, wohin. Aber dann habe ich mir gesagt, ich könne meine Dankbarkeit nicht besser beweisen, als wenn ich mir wirklich einen warmen Wintermantel kaufe. Und so habe ich es getan. Er kostet aber nur hundert Mark. Die anderen hundert Mark habe ich auf die Sparkasse getragen, damit ich nicht in Versuchung komme, sie auszugeben.“
„Das hätten Sie aber doch tun können. Sicher haben Sie noch manches andere nötig, und man hat Ihnen doch sicher das Geld in der Absicht geschickt, dass Sie es für sich verwenden sollen“, sagte Ruth gerührt. Susanna Hell lachte, was sonst selten geschah.
,,Ach, was meinen Sie, was mir das für ein Gefühl gibt, hundert Mark auf der Sparkasse zu haben. Die tragen Zinsen! Und ich bin die schreckliche Angst los, dass mein Vater mir mal nicht zur Zeit meinen kleinen Wechsel schicken könnte, es wird ihm ja so sauer, das Geld für mich zusammenzubringen, und manchmal geht es mit dem besten Willen nicht. Aber wir verschwatzen uns, ich bin heute ganz aus dem Gleichgewicht vor Freude und vor Stolz über den schönen Mantel. Sie sprechen nicht darüber, wie ich in den Besitz dieses Prachtstückes gekommen bin — nicht jedem möchte ich das anvertrauen. Aber Ihnen kann man so etwas sagen.“
Ruth nickte ihr zu, und während sie dann ihren Platz einnahm, dachte sie darüber nach, wie man der kleinen Susanna Hell noch ein bisschen besser helfen könne. Und da kam ihr ein Gedanke, den Sie nach Schluss des Kollegs gleich ausführte. Sie hielt Susanna Hell am Arm fest und sagte lachend: „Ich habe eine grosse Bitte an Sie, Fräulein Hell.“
„Oh, nur heraus damit, ich bin stolz, wenn ich Ihnen irgendeinen Wunsch erfüllen kann — ich mag Sie so gern leiden.“
„Das beruht auf Gegenseitigkeit. Also hören Sie zu. Ich habe bemerkt, dass Sie sehr viel mehr wissen als ich, und dass Sie besonders in der französischen Kunstgeschichte durchaus bewandert sind, während gerade diese meine schwache Seite ist. Würden Sie mir vielleicht einige Stunden in der Woche Unterricht geben und mich an Ihrem Wissen teilnehmen lassen? Ich sage Ihnen aber gleich, dass ich nicht mehr als zehn Mark für die Stunde bezahlen kann.“
Susannna Hell sah Ruth mit grossen, fassungslosen Augen an.
„Unterricht? Von mir? Sie sind doch viel klüger als ich. Und zehn Mark die Stunde — das ist ja unglaublich.“
Es zuckte leise um Ruths Mund. Zum erstenmal sprach sie wissentlich die Lüge aus, gegen die sie sich verwehrt hatte.
„Das erscheint Ihnen zu wenig, Fräulein Hell, aber Sie müssen nicht denken, dass ich mehr bezahlen kann — ich — ich bin nämlich von meiner Schwester abhängig — ich bin — nicht vermögend, wie es scheinen mag. Aber gerade die französische Kunstgeschichte macht mir zu schaffen, und Sie sind so sicher darin, wie ich bemerkt habe. Deshalb könnten mir die Stunden von Vorteil sein. Aber mehr als drei Stunden in der Woche und zehn Mark die Stunde kann ich mir nicht leisten.“
Ein unterdrücktes Lachen kam aus Susanna Hells Brust.
,,Ach, du lieber Gott, Sie glauben, es sei mir zu wenig? Nein, nein, es erscheint mir zuviel. Dreimal die Woche zehn Mark, das sind ja im Monat mindestens einhundertzwanzig Mark. Einhundertfünfzig Mark bekomme ich von zu Hause. Ach, das ist ja viel zu schön, um wahr zu sein. Sie machen einen Scherz mit mir! Was könnte ich Sie lehren? Nein, das darf ich nicht annehmen.“
„Aber ich bitte Sie so sehr darum. Ich verspreche mir eine grosse Förderung meiner Kenntnisse, wenn ich mit Ihnen zusammenarbeite. Bitte, sagen Sie ja. Ich nehme Sie dann immer gleich in meinem — ich meine im Auto meiner Schwester mit zu uns hinaus, lasse Sie auch wieder nach Haufe fahren, damit Sie nicht zuviel Zeit versäumen.“
Susanna Hell strich sich mit bebender Hand über ihr glattgekämmtes Haar, dem man ansah, dass auf seine Pflege nicht viel Zeit verwendet werden konnte.
„Im Auto soll ich auch noch fahren? In dem feinen Auto, in dem Sie immer ankommen? Was ist denn nur mit mir los? Auf einmal regnet es Glück auf mich herab. Aber wenn ich Ihnen nur auch wirklich nützen kann. Ich bin ja allerdings in der französischen Kunstgeschichte ziemlich sicher, weil sie mich besonders fesselt, aber Sie wissen doch sicher ebensoviel wie ich.“
Ruth wusste das sehr wohl, gab sich aber den Anschein, als sei das nicht der Fall. Und so wurde vereinbart, dass Susanna Hell jeden Montag, Mittwoch und Freitag Ruth begleiten sollte, um ihr Unterricht zu geben.
Als Ruth dann in ihrem Auto davonfuhr, sah ihr Susanna mit feuchtglänzenden Augen nach.
„Ob sie mir vielleicht die zweihundert Mark geschickt hat? Zuzutrauen wäre es ihr schon. Aber sie ist doch selbst von einer vermöglichen Schwester abhängig! Vielleicht hat sie auch nur bei ihrer Schwester ein gutes Wort für mich eingelegt? Nun — wie es auch sei, ich werde ihr von ganzem Herzen dankbar sein und will gleich nach Hause schreiben, dass sie mir nur die Hälfte zu schicken brauchen, solange ich Fräulein Rupertus Unterricht erteilen darf. Und in dem schönen Wagen werde ich nun dreimal in der Woche fahren dürfen? Nur gut, dass ich einen anständigen Mantel habe.“
So dachte die kleine Susanna Hell und ging wie im Traum ihrer ärmlichen Behausung zu. Sie wohnte bei einer Lehrerwitwe, die Zimmer vermietete, und bei der Susanna auch in voller Verpflegung war, wofür sie hundert Mark im Monat zahlen musste.
*
Als Ruth heute aus dem Kolleg nach Hause kam, sah sie ihre Schwester in der hellen, warmen Oktobersonne mit einigen Herren und Damen auf dem Tennisplatz. Es fiel ihr ein, dass sie sich für heute mit Bert und Hilly Sanders verabredet hatte, und sie erkannte die Geschwister in der Gesellschaft ihrer Schwester. Sie winkte ihnen zu und rief: „Bitte noch fünf Minuten um Entschuldigung!“
Man rief ihr Grüsse zu, und Ruth begab sich schnell in ihre Zimmer, wo Mary schon den Tennisdress für sie bereitgelegt hatte. Sie war wirklich in fünf Minuten fertig, nahm ihr Rakett und eilte in den Garten.
„Habe ich lange warten lassen?“ fragte sie die Geschwister Sanders.
„Du kannst dich beruhigen, Ruth, wir sind gerade erst mit unserer Partie fertig geworden. Aber nun ist der Platz frei.“
Nora hatte mit zwei Herren und einer Dame gespielt, und diese vier Personen nahmen nun in den Korbmöbeln Platz, die in einer kleinen offenen Gartenhalle am Rand des Tennisplatzes aufgestellt waren. Sie hüllten sich in ihre weissen Flauschmäntel und wollten noch eine Weile bei der neuen Partie zusehen, die Ruth mit den Geschwistern und einem Verehrer von Hilly Sanders spielte.
Die beiden Herren und die Dame in Noras Gesellschaft beachteten Ruth nicht viel, in der sie eben auch nur die vermögenslose Schwester sahen, die von Noras Gnade abhängig war. Sie hatten Ruth nur flüchtig begrüsst.
Aber Ruth beachtete sie ebensowenig und widmete sich dem Spiel mit der ganzen völligen Hingabe, mit der sie alles im Leben betrieb. Sie freute sich, gleichwertige Mitspieler gefunden zu haben, und nach einer Weile wurden die anderen doch aufmerksam, als sie merkten, wie gut die neue Partei spielte. Ruth liess sich aber auch nicht durch den Beifall der erst so gleichgültigen Herrschaften stören und achtete auch nicht darauf, dass diese sich dann mit ihrer Schwester ins Haus zurückzogen, weil es ihnen zu kühl wurde.
Als die Partie zu Ende war, sagte Bert Sanders begeistert: „Sie spielen grossartig, mein gnädiges Fräulein, wir müssen öfter zusammen spielen.“
„Das soll mich freuen, Herr Sanders, zumal sie alle mindestens ebenso gut gespielt haben wie ich. Es bleibt also dabei, dass wir jede Woche einigemal spielen.“
„Jawohl, das nächstemal dann bei uns“, sagte Hilly Sanders und liess sich von ihrem Verehrer in ihren weissen Flauschmantel helfen.
,,Bitte, lassen Sie uns nun ins Haus gehen. Sie müssen eine Erfrischung nehmen oder besser einen warmen Trank.“
Sie schritten nun auch dem Hause zu, Ruth an Bert Sanders Seite, während Hilly mit ihrem Verehrer folgte. Bert brachte Ruth durch seine drolligen Bemerkungen oft zum Lachen. Der hübsche, blonde Bursche hatte Witz und Humor und gab sich augenscheinlich gutherzig Mühe, die „arme Schwester“ aufzuheitern.
„Sie kamen vorhin vom Kolleg, mein gnädiges Fräulein?“
„Ja, Herr Sanders.“
„Und ist Ihnen das wirklich nun ganz ernst mit dem Studium?“
„Ganz ernst!“
„Sie wollen gar den Doktor machen?“
,,Wenn ich es irgend schaffe, ja.“
„Aber Sie haben das doch wohl nicht nötig? Ihr Fräulein Schwester wird es sich doch nicht nehmen lassen, immer für Sie zu sorgen?“ fragte er ein wenig mitleidig.
Ruth lachte ihn an, so recht von Herzen unbekümmert, dass er merkte, dass sein Mitleid überflüssig war.
„Ich ziehe es aber vor, für mich selbst zu sorgen, Herr Sanders, wenn meine Schwester auch selbstverständlich gern alles für mich tun würde, was in ihren Kräften steht.“
„Also Unabhängigkeitsbedürfnis?“ neckte er.