Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Monsieur Hire ist ein Einzelgänger. Ein Einzelgänger wider Willen. Niemand im Pariser Vorort Villejuif will etwas zu tun haben mit dem kleinen unförmigen Mann, der seinen Lebensunterhalt mit krummen Geschäften verdient. Als eine Prostituierte ermordet wird, fällt der Verdacht sofort auf ihn. Während Monsieur Hire von der Polizei beschattet wird, beobachtet er selbst weiter seine heimliche Liebe, das hübsche Dienstmädchen Alice im Nachbarhaus. Er kann sein Glück kaum fassen, als Alice eines Tages vor seiner Mansardentür steht und ihn um Hilfe bittet.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 187
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Band 3
Georges Simenon
Die Verlobung des Monsieur Hire
Roman
Aus dem Französischen von Grete Osterwald
Kampa
Die Concierge hüstelte, ehe sie klopfte und mit einem Blick auf den Katalog von La Belle Jardinière, den sie in der Hand hielt, laut und vernehmlich sagte:
»Da ist ein Brief für Sie, Monsieur Hire.«
Sie raffte ihr Umschlagtuch über der Brust zusammen. Es regte sich etwas hinter der braunen Tür. Bald war es links, bald rechts, bald waren es Schritte, bald ein leichtes Stoffrascheln oder das Klicken von Steingut, und die grauen Augen der Concierge schienen durch die Türfüllung hindurch die Spur der unsichtbaren Geräusche zu verfolgen. Diese kamen schließlich näher. Der Schlüssel drehte sich im Schloss. Ein Streifen Licht erschien, eine Tapete mit gelben Blumen, der Marmor eines Waschtisches. Ein Mann streckte die Hand aus, aber die Concierge sah ihn nicht, oder sah ihn schlecht, jedenfalls achtete sie nicht auf ihn, denn ihr forschender Blick war an etwas anderem hängen geblieben: einem blutgetränkten Handtuch, dessen dunkles Rot von dem kalten Marmor abstach.
Die Tür schob sie sanft zurück. Der Schlüssel drehte sich erneut, und während die Concierge die vier Stockwerke hinabstieg, blieb sie ein ums andere Mal stehen, um nachzudenken. Sie war mager. Ihre Kleider hingen um sie herum wie um das kreuzförmige Gestell, das einer Vogelscheuche als Gerippe dient, ihre Nase war feucht, die Lider waren gerötet, die Hände rissig von der Kälte.
Hinter dem Türfenster der Loge stand ein kleines Mädchen im Flanellunterrock vor einem Stuhl mit einer Schüssel Wasser. Ihr Bruder, der schon angezogen war, machte sich einen Spaß daraus, sie nass zu spritzen. Der Tisch neben ihnen war nicht abgedeckt.
Ruckartig ging die Tür auf. Der Junge drehte sich um. Das kleine Mädchen zeigte ein tränenüberströmtes Gesicht.
»Na wartet …«
Der Junge kassierte eine Ohrfeige und wurde von seiner Mutter nach draußen geschubst.
»Mach, dass du in die Schule kommst. Und du, wenn du nicht aufhörst zu weinen …«
Sie schüttelte die Kleine und zog ihr ein Kleid über, zerrte an ihren Armen wie an den Gliedern einer Marionette. Dann versteckte sie die Schüssel mit dem Seifenwasser im Schrank, ging zur Tür, machte wieder kehrt.
»Bist du bald fertig mit Schniefen?«
Sie dachte nach. Sie zögerte. Ihre Stirn lag in Falten, die kleinen Augen blickten unruhig. Mechanisch nickend grüßte sie den Mieter aus dem zweiten Stock, der an der Loge vorbeiging, und nachdem sie die Abzugsklappe des Ofens halb geschlossen hatte, stürzte sie, ein zweites Tuch umwerfend, plötzlich nach draußen.
Es fror. Auf der Straße von Fontainebleau, die durch Villejuif hindurchführt, fuhren die Autos langsam, wegen Glatteisgefahr, und die Kühler dampften. Hundert Meter nach links war die Kreuzung mit den Cafés auf beiden Seiten, dem Verkehrspolizisten in der Mitte, belebten Vorortstraßen, die nach Paris hineinführten, mit Trambahnen, Bussen, Autos. Aber rechter Hand, zwei Häuser weiter, gleich hinter der letzten Werkstatt, begann schon die Landstraße, eine ländliche Gegend, Bäume und Felder weiß von Frost.
Die Concierge bibberte, zögerte erneut. Sie winkte einem Mann, der an der Straßenecke stand, aber er sah sie nicht, und so lief sie hin, berührte seinen Arm.
»Kommen Sie einen Augenblick.«
Damit kehrte sie ins Haus zurück, ohne sich weiter um ihn zu kümmern, hob ihre Tochter mit einem Arm hoch und setzte sie auf einen Stuhl in der Ecke, um sie aus dem Weg zu schaffen.
»Kommen Sie rein. Bleiben Sie nicht da, er könnte Sie sehen.«
Sie war außer Atem oder sehr erregt. Ihr Blick wanderte vom Eingang zu dem Mann von etwa dreißig Jahren, der seinen Hut aufbehalten hatte.
»Gestern war ich noch unsicher, aber eben habe ich etwas gesehen, und ich würde meinen Kopf darauf verwetten, dass Monsieur Hire es war.«
»Welcher ist das?«
»Ein Kleiner, etwas dick, mit gezwirbeltem Schnurrbart und immer einer schwarzen Aktentasche unterm Arm.«
»Was macht er?«
»Das weiß man nicht. Er geht morgens weg und kommt abends wieder. Ich habe ihm einen Katalog nach oben gebracht, und als die Tür halb offen stand, habe ich ein Handtuch voller Blut entdeckt …«
Schon seit zwei Wochen verbrachte der Inspektor mit zwei Kollegen seine Tage und manchmal seine Nächte in dem Viertel, darauf abgestellt, alle und jeden zu beobachten, und allmählich kannte er die Leute vom Sehen.
»Und außer diesem Handtuch …«, begann er.
Die Concierge litt Qualen.
»Ich hab doch gleich an ihn gedacht, vom ersten Tag an, dem Sonntag, erinnern Sie sich? Man hatte die Frau gerade auf dem unbebauten Grundstück gefunden. Ihr Kollege hat mich befragt, wie alle anderen Concierges. Und das ist es ja, Monsieur Hire hat das Haus an dem Tag nicht verlassen! Also hat er nicht gegessen, denn sonntags holt er sich immer etwas aus der Metzgerei an der Rue Gambetta. Den ganzen Nachmittag hat er sich nicht gerührt. Achtung …«
Man hörte Schritte auf der Treppe. Im Gang hinter der Türscheibe war es dunkel, aber trotzdem sah man einen Mann von kleiner Statur vorbeigehen, eine Aktentasche unter den linken Arm geklemmt. Die Concierge und der Inspektor beugten sich vor, zogen gleichzeitig die Augenbrauen hoch, dann stürmte der Inspektor hinaus, rannte ein paar Schritte bis ins trübe Tageslicht und kam in aller Ruhe wieder zurück.
»Er hat ein großes Pflaster auf der Wange.«
»Das habe ich gesehen.«
Die harten Augen der Concierge blickten weit in die Ferne, eher nach innen als nach außen.
»Also, dann war’s wohl doch nichts«, folgerte der Mann, schon halb im Gehen.
Doch eine Hand klammerte sich fieberhaft an seinen Arm. Die Concierge litt zunehmend, vielleicht wegen der Anstrengung, mit der sie sich zu erinnern versuchte.
»Warten Sie! Ich will sicher sein … Ich hab ja vor allem auf das Handtuch geachtet, aber …«
Sie schnitt Grimassen wie ein Medium in Trance. Sie sprach langsamer und leiser. Die Kleine ließ sich von ihrem Stuhl rutschen.
»Ich könnte schwören, als ich ihm den Katalog gab, war er unverletzt. Ich hab ihm nicht ins Gesicht geschaut, aber gesehen habe ich ihn trotzdem, und das wäre mir doch aufgefallen.«
Sie kramte noch immer verzweifelt in ihrem Gedächtnis. Der Inspektor runzelte die Stirn.
»Na so was! So was! Da hätte er gesehen, wie Ihr Blick auf das Handtuch fiel, und wäre dann auf die Idee gekommen …«
In der Loge, neben dem mit braunem Wachstuch bedeckten Tisch, beeindruckten sich die beiden gegenseitig. Sie waren keine zweihundert Meter von dem unbebauten Grundstück entfernt, wo man vierzehn Tage zuvor, an einem Sonntagmorgen, die Leiche einer Frau gefunden hatte, dermaßen verstümmelt, dass sie nicht identifiziert werden konnte.
»Wann kommt er nach Hause?«
»Um zehn nach sieben.«
Rechts von der Kreuzung, bei der Endstation der Trambahn, reihten sich kleine Marktkarren aneinander, und Monsieur Hire, der sich, die Aktentasche unterm Arm, schaukelnden Schrittes zwischen den Hausfrauen hindurchschlängelte, sah die Auslage eines Metzgers, dann Gemüse, dann wieder Fleisch, dann einen Karren nur mit Blumenkohl vorbeiziehen. Der Trambahnschaffner pfiff, und Monsieur Hire rannte wie jemand, der es nicht gewohnt ist, zu rennen, und indem er die Beine zur Seite warf, wie eine Frau. Dabei machte er andauernd:
»Pfff! … Pfff! …«
Der Arm des Schaffners packte ihn gerade noch rechtzeitig. Neben dem vordersten Wagen stand ein zweiter Inspektor, der die Leute musterte und sich dabei mit den Händen auf die Seiten schlug, um sich aufzuwärmen. Als er Monsieur Hires Pflaster sah, kniff er die Augen zusammen, riss sie dann weit auf, schickte einen Blick in Richtung Landstraße und sprang, als die Trambahn losfuhr, im letzten Moment aufs Trittbrett.
Man hatte Blut und sogar Hautpartikel unter den Fingernägeln der Toten gefunden und, da jede andere Spur fehlte, in den Bericht geschrieben: »Besonders Männer mit Kratzwunden im Gesicht sind strengstens zu überwachen.«
Monsieur Hire saß auf demselben Platz, den er jeden Tag einnahm, ganz hinten im Wagen, die Aktentasche flach auf den Knien, und las Zeitung. Wie jeden Tag hatte er auch seinen Fahrschein schon in der Hand und streckte ihn dem Schaffner hin, ohne auch nur die Augen zu heben.
Er war nicht dick. Er war fett. Sein Leibesumfang übertraf nicht den eines ganz gewöhnlichen Mannes, aber man erkannte weder Fleisch noch Knochen, nur eine einzige glatte, weiche Masse, so glatt und weich, dass seine Bewegungen zweideutig wurden.
In der Rundung seines Gesichts hoben sich kräftig rote Lippen ab, ein kleiner, mit dem Brenneisen geformter Schnurrbart, wie mit Tusche gezeichnet, und auf den Wangen die gleichmäßig rosigen Bäckchen einer Puppe.
Er schaute nach nichts in seiner Umgebung. Er wusste nicht, dass ein Inspektor ihn beobachtete. An der Porte d’Italie stieg er aus, als hätte ihm sein Instinkt gesagt, das Ziel sei erreicht, und bahnte sich hüpfend, selbstsicher, die Schultern wiegend erneut seinen Weg durch das Gewühl, ging die Treppe zur Metro hinunter und nahm seine Zeitungslektüre an der Bahnsteigkante wieder auf.
Lesend betrat er das Abteil, sobald der Wagen hielt, lesend legte er die Fahrt, in einer Ecke stehend, bis zur Place de la République zurück, stieg noch einmal um und an der Station Voltaire endgültig aus.
Der Inspektor folgte ihm noch immer, nicht gerade überzeugt, aber das hier war auch nicht schlechter als an der Kreuzung von Villejuif.
Monsieur Hire ging die Rue Saint-Maur entlang, bog links ab und begab sich in einen mit Fässern vollgestellten Hof, an dessen Ende er verschwand.
Es war ein alter Hof, ein altes Gebäude. Emailleschilder wiesen auf einen Fassgetränke-Händler, einen Tischler und einen Drucker hin. Man hörte die Geräusche einer Säge und einer Druckerpresse. Der Inspektor sah keine Concierge und verharrte einen Moment lang unschlüssig auf dem Gehsteig. Ein rötlicher Widerschein auf dem Pflaster ließ ihn aufmerken. Als er sich umwandte, bemerkte er dicht über dem Boden vergitterte Fenster, die plötzlich erleuchtet waren, und zugleich erblickte er Monsieur Hire, der gerade Schal und Mantel auszog, beides in einen Schrank hängte und sich einem hellen Holztisch näherte.
Es war weder ein richtiger Keller noch ein richtiges Erdgeschoss. Der Hof lag tiefer, weshalb der Raum, in dem sich Monsieur Hire bewegte, einen Meter unter die Erde reichte. Das hatte den komischen Effekt, dass der Gehsteig den guten Mann auf Bauchhöhe abschnitt. An der Decke hing nur eine schlechte Glühbirne ohne Lampenschirm, die ein gelbliches Licht verbreitete, und man hörte nichts von dem, was drinnen geschah.
Monsieur Hire war die Ruhe selbst. Vor einem Stoß Briefe sitzend, schlitzte er diese einen nach dem anderen sorgfältig mit einem Brieföffner auf. Er las sie nicht, sondern begnügte sich damit, die eigentlichen Briefe zur Rechten und die Zahlungsanweisung, die in jedem Umschlag steckte, zur Linken abzulegen. Er rauchte nicht. Zweimal stand er auf, um einen kleinen Ofen zu versorgen.
Der Inspektor drehte eine Runde im Hof, auf der Suche nach einer Concierge, aber der Drucker sagte ihm, es gebe keine. Als er auf den Gehsteig zurückkehrte, war Monsieur Hire dabei, hinter dem vergitterten Fenster, oder vielmehr genau darunter, mit gezielten Griffen kleine Päckchen zu packen. Die Päckchen freilich waren alle gleich.
Von der einen Seite nahm er ein Kästchen aus hellem Holz, von der anderen ein bedrucktes Blatt Papier, schließlich sechs Postkarten von sechs verschiedenen Stapeln, dann wickelte er das Ganze im Handumdrehen ein und verschnürte es mit rotem Bindfaden, der im Knäuel auf Höhe seines Kopfes hing.
Der Kriminalbeamte ging zwei Rum im Bistro trinken. Als er wiederkam, waren etwa zwanzig Päckchen fertig. Zur Mittagszeit waren es etwa sechzig.
Monsieur Hire zog langsam und bedächtig seinen Mantel an, erschien auf dem Gehsteig und lenkte seine Schritte zu einem Restaurant am Boulevard Voltaire, wo er sich wie ein Stammgast niederließ und Zeitung lesend aß.
Um zwei Uhr packte er wieder Päckchen. Um halb vier schrieb er Adressen auf Etikette, und gegen vier begann er diese aufzukleben. Dann packte er die vielen kleinen Päckchen zu einem großen zusammen, und um Punkt fünf betrat er ein Postamt, wo er sich vor dem Schalter für »Einschreiben mit ausgefülltem Formular« anstellte.
Der Postbeamte wog nicht einmal nach. Er kannte das. Monsieur Hire bezahlte und ging, all dessen entledigt, was er zu tragen hatte, außer seiner Aktentasche. Der Inspektor langweilte sich. Wegen der Kälte hatte er seit dem Morgen neun oder zehn Gläser Rum getrunken.
Aber Monsieur Hire war noch nicht fertig. Mit unverändert mechanischer Zielstrebigkeit nahm er einen Bus, stieg gegenüber dem Matin aus und streckte der Angestellten für Kleinanzeigen, die ihn nicht einmal ansah, so oft musste sie ihn schon gesehen haben, ein Blatt Papier und dreißig Franc entgegen.
Die Boulevards waren verlassener als sonst. Die Menschen scharten sich um Kohlebecken. Weißlicher Frost überzog den Asphalt. Monsieur Hire schaukelte einher, sah nicht einmal die Frauen, die dicht an ihm vorbeigingen. Er bog in die Rue de Richelieu ein, betrat das Gebäude des Journal und legte ein vorbereitetes Blatt mit dreißig Franc auf den Kleinanzeigenschalter.
Der Inspektor war es leid. Auf die Gefahr hin, seinen Mann zu verlieren, stürzte er an den Schalter, kaum dass der andere gegangen war, und zeigte seinen Ausweis.
»Geben Sie mir die Anzeige.«
Die Angestellte hielt sie ihm ganz selbstverständlich hin. Eine schöne Handschrift.
Achtzig bis hundert Franc Nebenverdienst pro Tag für leichte Heimarbeit. Zuschriften an M. Hire, Rue Saint-Maur 67, Paris.
Am Metroeingang Bourse, wo sie einer hinter dem anderen in der Tiefe verschwanden, fanden die beiden Männer wieder zusammen. Noch immer einer hinter dem anderen, tauchten sie an der Porte d’Italie wieder aus dem Untergrund auf. Monsieur Hire las eine Abendzeitung. Der Inspektor sah ihn böse an.
In der Trambahn saßen sie nebeneinander. Es war fünf nach sieben, als Monsieur Hire an der Endstation in Villejuif ausstieg und auf sein Haus zuging, das er völlig ahnungslos betrat.
Der Inspektor folgte ihm hinein, stieß die Logentür auf und knurrte seinen Kollegen an, der gerade eine Schale heißen Kaffee trank:
»Was machst du denn hier?«
»Und du?«
An einer Ecke des Tisches machte der kleine Junge seine Hausaufgaben. Die Beleuchtung war schlecht. Der Briefträger hatte einen Stapel Post auf dem Wachstuch abgelegt, neben der Kaffekanne aus blauer Emaille.
»Monsieur Hire?«
»Du auch?«
Die Concierge sah die beiden, einen nach dem anderen, mit schmerzlich verzerrter Miene an.
»Sie glauben, dass er es war, stimmt’s? Mein Gott!«
Sie war den Tränen nahe. Sie weinte. Noch war es nur aus Nervosität, aber ihre knochigen Hände zitterten.
»Ich habe Angst … Gehen Sie nicht weg … Vierzehn Tage mache ich das jetzt schon mit, das ist kein Leben mehr …«
Ihr Sohn schielte über das Heft hinweg zu ihr hinüber. Das kleine Mädchen saß auf dem Fußboden.
»Eine Tasse Kaffee?«, fragte der Inspektor, der zuerst da gewesen war.
Er bediente seinen Kollegen.
»Was hat dich auf die Spur gebracht?«
»Die Verletzung … Und sein Gewerbe … Das ist einer von den Typen, die wer weiß wie viel pro Tag für leichte Heimarbeit versprechen und den Leuten gegen Vorleistung von fünfzig oder sechzig Franc einen Kasten Wasserfarben schicken, der nur zwanzig wert ist, und sechs Postkarten zum Ausmalen.«
Die Concierge war enttäuscht. Im Stehen füllte der erste Inspektor mit seiner Masse die ganze Loge aus.
»Wie es scheint, gibt es ein blutiges Wäschestück. Mich juckt nur die Frage, ob er tatsächlich verletzt ist.«
Sie wussten nicht weiter. Der eine schenkte sich noch etwas Kaffee ein.
»Ich würde ihm jedenfalls nicht mehr im Treppenhaus begegnen wollen«, stieß die Concierge aus. »Sowieso habe ich schon immer ein bisschen Angst vor ihm gehabt. Wie alle anderen!«
»Geht er nicht aus?«
»Nur sonntags. Und dann, glaube ich, ins Kino.«
»Kommt ihn niemand besuchen?«
»Niemand.«
»Und wer putzt bei ihm?«
»Er selbst. Ich habe es noch nie geschafft, einen Fuß in seine Wohnung zu setzen. Sicher war es ein Irrtum, dass er heute Morgen diesen Katalog bekommen hat, jedenfalls ist das noch nie passiert, und ich wollte die Gelegenheit nutzen, um einen Blick reinzuwerfen. Ich habe durch die Tür gerufen, da sei ein Brief …«
Die beiden Männer sahen sich verlegen an.
»Sie müssen etwas tun, ihn verhaften, was weiß ich! Ich kann nicht mehr mit dem Gedanken leben, dass … Verstehen Sie, wenn der hier vorbeigeht, streicht er meiner Kleinen jedes Mal über den Kopf. Also, das macht mir Angst, als ob …«
Jetzt weinte sie richtig, ohne sich die Augen zu wischen, da sie gerade dabei war, Kohlen nachzulegen. Man hörte Autos vorbeifahren, etwas weiter weg das Klingeln der Trambahnen. Es war warm, nur die Füße blieben eisig.
»Und wenn wir unter einem Vorwand raufgingen?«
Sie hatten kein gutes Gefühl.
»Vielleicht wäre es besser, ihn nach unten zu locken. Gehen Sie doch einfach hoch und sagen ihm, jemand will ihn sprechen.«
»Ich? Nie und nimmer! Nein, niemals!«
Sie zitterte, weinte, aber eher gewollt, mit kleinen Schluchzern.
»Ich habe nicht mal einen Mann, um mich zu verteidigen. In der Nacht ist hier alles tot, bis auf die Autos, die mit hundert Sachen vorbeirasen …«
Mit einem Handgriff stellte sie ihre Tochter auf die Beine.
»Setz dich auf einen Stuhl.«
»Sind Sie sicher, dass er heute Morgen noch keine Verletzung hatte?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube. Aber ich könnte es schwören. Ich habe den ganzen Tag darüber nachgedacht, dass mir der Schädel brummt.«
»Los, Alter, gehen wir rauf?«
Es war nicht mehr nötig. Jemand kam die Treppe herunter. Die Concierge horchte, eilte zur Tür und machte sie auf.
»Monsieur Hire!«
Sie schlotterte, blieb hinter der geöffneten Tür und sah die beiden Männer an, wie um zu sagen:
»Jetzt seid ihr dran!«
»Pardon …«
Monsieur Hire entschuldigte sich, zögerte an der Türschwelle, ging zwei Schritte vorwärts, erstaunt, verlegen.
»Was ist …«
Er konnte die hinter der Tür verborgene Concierge nicht sehen. Die Inspektoren stießen einander mit den Ellbogen an. Die Kleine brach plötzlich in Tränen aus, als sie ihn sah.
»Man hat mich gerufen?«
»Reiner Zufall. Meine Cousine sagt, Sie hätten sich verletzt …«
Es war der erste Inspektor, der sich kopfüber ins Abenteuer stürzte. Er war blass, schluckte nach jedem Wort.
»Ich bin Krankenpfleger und …«
Und um es hinter sich zu bringen, streckte er seine grobe, ungeschickte Hand aus, bekam das Pflaster an einer Ecke zu fassen und riss es ab. In der engen Loge stand jeder jedem im Weg. Das kleine Mädchen weinte noch lauter.
Monsieur Hire hob eine Hand an die Wange und zog sie blutlackiert wieder zurück. Er hatte bereits Blut auf dem Kragen, auf der Schulter. Es quoll heraus, rot und flüssig, zumal die Wunde unter dem Druck seiner Hand nur noch weiter aufgeplatzt war.
»Was …«
Die Concierge verhakte die Finger ineinander, dass sie sich fast die Knochen brach. Der frische und scharfe Rasiermesserschnitt versetzte den Inspektor in Panik.
»Entschuldigen Sie … Ich …«
Er suchte den Wasserhahn, ein Tuch, irgendetwas, um das Blut zu stillen, um dem ein Ende zu bereiten.
Monsieur Hire hatte ganz runde braune Augen. Er sah der Reihe nach alle an, die in der Loge waren, und wusste auch nicht, was tun gegen das ganze Blut, von dem sich jetzt dicke Tropfen auf dem Zementboden zeigten.
Der kleine Junge saß starr vor seinem Heft, den Federhalter in der Luft. Seine Schwester wälzte sich am Boden.
»Das ist … Ein Missgeschick … Wenn Sie gestatten, würde ich Ihnen gern helfen …«
Monsieur Hire war ganz entstellt von all dem Blut, das seine Wange verschmierte und über das Kinn lief, als hätte man ihm den Mund aufgeschlitzt. Und er war betroffen. Aus seinen Bäckchen war alle Farbe gewichen.
»Danke …«
Er schien sich noch immer entschuldigen zu wollen, wie ein Gentleman, der unabsichtlich das Haus derer beschmutzt, die ihn eingeladen haben. Er stieß gegen den Türrahmen.
»Bleiben Sie … Ich werde …«
Der Inspektor hatte ein Küchentuch gefunden und hielt es ihm hin.
»Danke … danke … Pardon …«
Schon war er ins kalte Dunkel des Treppenhauses eingetaucht, und man hörte ihn hinaufgehen, schwerfällig, zögernd, man glaubte zu ahnen, wie die Blutstropfen auf die Stufen fielen.
»Sei endlich still!«, brüllte plötzlich die Concierge und brachte ihre Tochter mit einer Ohrfeige zur Ruhe.
Ihr Haar war aufgelöst, ihr Blick verloren. Sie schüttelte den Jungen.
»Und du sitzt einfach da, ohne was zu sagen!«
Die Inspektoren wanden sich vor Unbehagen.
»Beruhigen Sie sich. Der Kommissar wird gleich morgen …«
»Glauben Sie, ich verbringe die Nacht hier ganz allein? Glauben Sie das?«
Man sah den Nervenzusammenbruch kommen. Es war nur noch eine Frage von Sekunden. Sie zuckte zusammen, als sie aus Versehen in einen Blutstropfen fasste, der sich auf dem Tisch ausgebreitet hatte.
»Wir bleiben ja … Zumindest einer von uns.«
Sie wusste noch nicht, ob sie das beruhigen konnte. Sie betrachtete die Männer, die versuchten, Haltung anzunehmen.
»Geh du den Bericht machen.«
Das Wasser kochte seit einer Viertelstunde. Die Scheiben waren beschlagen.
»Aber du kommst wieder, ja?«
Die Concierge nahm den Kessel von der Feuerstelle, stocherte mit der Spitze des Schürhakens in den glühenden Kohlen.
»Seit vierzehn Tagen schlafe ich nicht mehr«, schloss sie. »Sie haben ihn gesehen. Ich bin nicht verrückt.«
Als das Blut endlich nicht mehr floss, musste Monsieur Hire sehr vorsichtig gehen, den Kopf immer schön gerade, damit die Wunde nicht wieder aufplatzte. Eine Spitze seines Schnurrbarts zeigte nach unten, und das mit Wasser vermischte Blut hatte sein Gesicht mit einer rosa Aquarelllavur überzogen.
Er leerte zuerst die Waschschüssel und wischte sie mit einem Tuch aus. Dann fiel sein Blick auf den gusseisernen Ofen, der kalt war. Abgesehen von dem steifen Kopf, den er wie einen Fremdkörper trug, war er derselbe wie in der Tram, in der Metro oder im Keller an der Rue Saint-Maur, ruhig und bemessen in allen seinen Gesten, so geordnet wie der rituelle Ablauf einer Zeremonie.
Er nahm eine Zeitung aus der Tasche seines Mantels, und nachdem er die Seiten zusammengeknüllt hatte, stopfte er sie tief in den Ofen hinein. Auf dem schwarzen Marmor des Kamins lag ein Bündel Kleinholz, das er auf dem Papier verteilte. Er war in Schweigen und Kälte gehüllt. Die einzigen Geräusche waren die, die er selber machte, wenn er an den Schürhaken oder die Kohlenschütte stieß. Er kniete sich hin, den Kopf immer gerade, den Hals gereckt, um ein Streichholz unter den Rost zu halten und das Papier anzuzünden. Er behalf sich tastend. Rieb drei Streichhölzer ab, ehe es ihm gelang und endlich Qualm aus allen Ritzen drang.
Im Zimmer war es kälter als draußen. Bis das Feuer richtig wärmte, zog Monsieur Hire seinen Mantel wieder an, einen dicken, genoppten schwarzen Wollmantel mit Samtkragen. Er öffnete den Schrank, der ihm als Küche diente, zündete einen Gaskocher an und gab Wasser in einen Stieltopf. Seine Hand fand auf Anhieb alle Gegenstände, ohne erst zu suchen. Er stellte eine Schale auf den Tisch, legte ein Messer dazu, nahm einen Teller, überlegte kurz und stellte den Teller wieder in den Schrank, vermutlich weil ihm eingefallen war, dass der Zwischenfall in der Loge ihn daran gehindert hatte, seine Einkäufe zu machen.