Die Wächter von Magow Folge 1 - 6 - Regina Mars - E-Book

Die Wächter von Magow Folge 1 - 6 E-Book

Regina Mars

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Beschreibung

Folge 1 bis 6 der humorvollen Urban Fantasy-Serie! Barkeeperin Sofie dachte, sie hätte schon alles gesehen. Bis ein Rattenmonster ihren Club stürmt und drei Stümper mit Schwertern versuchen, es unschädlich zu machen. Nach dem ersten Schock hilft Sofie ihnen ... und wird in das Abenteuer ihres Lebens geschleudert. Harmoniesüchtige Vampire, fleischfressende Einhörner und weitere bizarre Kreaturen lauern in Magow, dem geheimen Bezirk Berlins. * Rendezvous mit dem Rattenkönig * * Golf und Golems * * Bunkerkoller * * Die kleine Spreejungfrau * * Incubussi * * Danach *

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* RENDEZVOUS MIT DEM RATTENKÖNIG *
Magische Nervensägen
Rattenplage
Rattenkönig
Feuer frei
Endlich eine Erklärung
Nachtschicht
Grünes Frühstück
Dennis
Suchfunktion
Halbwissen
Fußgesundheit
Es kommt noch schlimmer
Alte Bekannte
Deal
Ausflug ins Elfenreich
Schlachten und planen
Cassa
Wartezeit
Goldelse
Auf dem Turm
Rattensklavin
Familie
Wachsen
* GOLF UND GOLEMS *
Fisch und Blut
Warteschleife
Stahl gegen Ton
Gefährten
Ablenkung
Verfolgungswahn
Ein Plan
Tote Trolle
Grüner wirds nicht
Gurke
Feuer und Gras
Tiefpunkt
Ausbruch
Ein verdächtiger Verdacht
Die Wiege der Golems
Argento
Die Wahrheit
Endkampf
Morgengrauen
Epilog
* BUNKERKOLLER *
Vor einer Woche
Zimt und Zaudern
Erster Arbeitstag, nachts
Gebunkert
Nach Zahlen
Kampf! Kampf! Kampf!
Tunnelterror
Ungebetene Gäste
Klingt wie ein Plan
Kehle! Kehle! Kehle!
Tür zu, es zieht!
Schwesterkonflikt
Durch den Fleischwolf
Der Alphawolf
Die Geiseln
Um Leben und Tod
Klauenvoll
Blutrausch
Die wilde Jagd
Käfighaltung
Endlich daheim
* DIE KLEINE SPREEJUNGFRAU *
Ein entsetzlicher Einsatz
Ifrit
Versagt
Fette Beute
Spezialeinheit
Ruin und Rettich
Keine Angst
Schlechte Nachrichten
Unter der Spree
Pferderennen
Wasserkampf
Auch das noch
Verfolgungsjagd
Ein Ende mit Schrecken
* INCUBUSSI *
Nur kurze Zeit später
Nur wenige Stunden zuvor
Opernknall
Zugriff
Das schlechteste Team der Welt
Im Zoo
Monster
Schon wieder im Zoo
Irgendwo, nirgendwo
Ein genialer Plan
Gefangen
Ein Horn, viele Probleme
Immer noch gefangen
Ein Löwendienst
Die Gefangenschaft hört nicht auf
Ein gutes Ende
Ein noch besseres Ende
* FATALER FAMILIENAUSFLUG *
Damals, früher
Training
Familienausflug
Vogelfrei
Schwärmerei
Nicht allein im Wald
Vor langer Zeit
Eine Zuflucht
Ein Bier mit der Hexe
Ein Schatz im Keller
Les Minotaures
Nach dem Kampf
Nacht
Mutter-Tochter-Training
Auf einen Schlag
Das Ritual
Im Verlies
Das Ritual der Unsterblichkeit
Familientreffen
Fünf Leben
Angriff
Endkampf
Das Ende
Draußen

 

 

Die Wächter von Magow 1 - 6

 

Regina Mars

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

©Regina Mars

Alle Rechte am Werk liegen beim Autor.

Regina Mars

c/o Block Services

Stuttgarter Str. 106

70736 Fellbach

[email protected]

www.reginamars.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Stockphotos von Adobe Stock

Magisches Symbol: © robin_ph/Adobe Stock

Stadtplan: © pbardocz/Adobe Stock

Stadtsilhouette: © FSEID/Adobe Stock

Schwert: © shaineast/Adobe Stock

 

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

 

 

 

* RENDEZVOUS MIT DEM RATTENKÖNIG *

 

 

Magische Nervensägen

 

Der Abend war schon übel gewesen, bevor eine geköpfte Ratte in ihrem Ausschnitt gelandet war.

 

Es war zu voll, zu laut, zu stickig. Der DJ war nicht aufgetaucht und sie hatten innerhalb von einer Stunde Ersatz finden müssen. Der war entsprechend schlecht und die Gäste hassten ihn. Sie ertränkten ihren Hass in Alkohol, was Sofies Boss nur recht sein würde. Sofie nicht.

Dennis, ihr Kollege war mit einem Mädel im Lager verschwunden und sie musste allein die Stellung halten. Eine Meute wütender, durstiger Partygänger hing halb auf der Bar, brüllend und lechzend nach:

»Biiiier!«

»Drei Caipi, aber schnell, schnell!«

»Zehn Mexikaner, Kleene!«

»He, Rothaar, gibst du einen aus?«

Sofie verneinte und der Kerl zahlte. Der Boden unter ihren Füßen vibrierte von den Bässen. Schweiß, Deo und Trockennebel verpesteten die Luft und setzten sich in ihrer Nasenschleimhaut fest und es war so laut, dass sie kaum die Bestellungen verstand.

Das liebte sie. Keine Chance, sich zu unterhalten. Niemand, der sie mit seiner Lebensgeschichte belästigte oder fragte, warum sie so traurig schaute. Niemand, der kapierte, dass etwas mit der Rothaarigen hinter der Bar nicht stimmte. Nicht, solange sie funktionierte. Solange sie schnell genug hin- und her wuselte, Bier aus dem Kühlschrank riss und in Windeseile Gin Tonic mischte. Solange sie nur nickte, Geld entgegennahm und lieferte.

Pünktlich um Mitternacht kotzte jemand auf die Theke. Eine Brünette mit glattgebügelten Haaren und goldener Handtasche beugte sich vor und würgte einen pinkfarbenen Strahl über die Bar. Mindestens fünf Erdbeer-Daiquiri, schätzte Sofie. Köstlich. Die Freundin der Brünetten brachte sie raus und Sofie holte Lappen und Eimer. Die Luft anhaltend wischte sie. Früher hatte sie mitreihern müssen, wenn jemand sich vor ihr übergab. Das passierte ihr schon lange nicht mehr. Der stechende Geruch nach Erbrochenem verschwand zwischen dem nach verschüttetem Bier und Gras.

Die Luft wurde feuchter. Kondenswasser perlte von den Leitungen über ihren Köpfen. Ein warmer Schweißtropfen traf Sofies Schulter und rann über ihren tätowierten Arm, während sie drei Flaschen Tannenzäpfle öffnete. Vor ihr wogten Leiber, zuckten Lichter und die schmucklose Halle wurde zu einem Ort der Magie. Fast zu etwas Lebendigem. Einem Wesen mit unzähligen Köpfen, das auf und ab sprang, lachte und brüllte, das wie ein flüssiges Monster wirkte.

Dennis war breit grinsend aus dem Lager zurückgekehrt und drehte sich einmal um die eigene Achse, bevor er die flache Hand auf den Zapfhahn knallte.

»Sie ist Medizinerin!«, brüllte er Sofie über die Bässe und das Geschrei der Meute hinweg zu. »Podologin! Du weißt, was das ist, oder?«

»Füße?«, rief Sofie zurück, nahm einen Zehner entgegen und entließ die Flaschen in die Klauen eines Glatzkopfs mit tellergroßen Pupillen.

»Ja!« Dennis’ Grinsen strahlte blau im Licht des Scheinwerfers. »Und weißt du, womit sie sich da besonders auskennt?«

Sofie seufzte. »Blasen?«

Dennis reckte beide Daumen in die Höhe und kicherte wie ein Delfin. Es war sein Traum, den nächsten großen Ballermann-Hit zu schreiben und Sofie wunderte sich, dass er es noch nicht geschafft hatte.

Sie wandte sich dem nächsten Gast zu. Auf seinem Shirt stand »Juans letzter Tag in Freiheit« und er hielt sich mit beiden Händen an der Theke fest, um nicht umzukippen. Hinter ihm schwankten fünf gleich gekleidete Jungs. Einer der Junggesellenabschiede, die am Wochenende über Berlin herfielen.

Doch bevor sie Juans Bestellung entgegennehmen konnte, sah sie etwas glänzen. Zwischen den tanzenden, trinkenden Leibern bewegte sich etwas mit der Präzision eines Panthers, der Beute wittert. Sie verharrte. Ihr Gaumen war plötzlich trocken und ein Schauer lief über ihren schweißnassen Rücken. Die Haut unter dem verklebten Shirt prickelte. Warum? Was war jetzt los?

Zwei Mädels torkelten zur Seite und Sofie erhaschte einen Blick auf den Mann. Da sah sie es.

»Scheiße«, murmelte sie. »Der Mistkerl hat ein Schwert.«

Der Mistkerl trug die Kleidung eines Security-Mitarbeiters: schwarze Hose, ärmelloses Shirt, schwarze Weste. Kugelsichere Weste? Wirkte zumindest so. Er war groß, durchtrainiert und wäre attraktiv gewesen, wenn er nicht geschaut hätte wie ein Fußballtrainer. So verkniffen, als würde er gleich den Schiedsrichter wegen einer Fehlentscheidung anbrüllen. Die Haare waren so kurz, dass sie einem Schatten glichen und die Haut sepiafarben. Seine Finger umfassten das Heft des Schwertes, das in der Halterung auf seinem Rücken steckte. Ein schmaler Streifen Klinge war zu sehen. Reiner Zufall, dass das Scheinwerferlicht genau darauf gefallen war.

»Dennis!«, brüllte Sofie und packte ihren Kollegen am Arm. »Dennis, der Typ da hinten hat ein Schwert!«

»Was?!« Dennis’ Stirn faltete sich wie ein Fächer.

»Ein Schwert!«, rief sie. »Schmeiß ihn raus!«

»Was, ich?« Dennis erbleichte.

»Du kannst doch Taekwondo!«

»Wing Tsun«, verbesserte er. »Aber ich war da schon ewig nicht mehr. Ich leg mich doch nicht mit einem Kerl mit Schwert an.«

Sofie sah sich nach Len, ihrem Türsteher um, der eigentlich neben dem Eingang postiert sein sollte. War er aber nicht. Warum hatte er jemanden mit einem verdammten Schwert reingelassen?

»Ruf Len an«, rief sie. »Ich geh da jetzt rüber.«

»Hast du sie noch alle?« Dennis reckte den Kopf, um den Kerl mit dem Schwert zu finden. »Lass uns lieber abhauen. Wenn da ein Typ mit Schwert ist, dann ist das bestimmt ein Terroranschlag oder …«

Sofie hörte den Rest nicht, denn sie war schon unterwegs. Sie klappte die Bar auf und marschierte los. Zwischen schwitzenden Trinkern hindurch auf die Tanzfläche. Sie schubste nasse Rücken beiseite und ignorierte Beschwerderufe und Flüche.

Da war er. Mr. Fußballtrainer rempelte sich gerade durch eine weitere Junggesellengruppe, die so besoffen war, dass sie sich nicht einmal an seinem Schwert störte.

»Vooorsicht«, lallte einer von ihnen und torkelte ein paar Schritte zur Seite. Gegen Sofie. Erfreut betrachtete er ihre Brüste. »He, Rothaar, willst du …«

»Nein.« Sofie marschierte weiter. In drei Schritten war sie bei dem Schwertträger und packte ihn an der Schulter. »He! Du!«

Er fuhr herum, griff nach ihrer Hand und schleuderte sie von sich. »Was?«, knurrte er. Etwas stimmte nicht mit ihm. Er wirkte wie ein Wolf unter Schafen, wie etwas mit Reißzähnen unter braven Grasfressern. Na ja, oder braven Biertrinkern. Lag es nur daran, dass er nicht betrunken war? Sein Atem, der ihr ins Gesicht schlug, war frisch,

»Raus hier!«, bellte Sofie. »Pack dein Schwert ein und geh!«

»Welches Schwert?« Selbst seine Stimme klang gefährlich.

»Verarschst du mich?« Sofie stellte sich auf die Zehenspitzen und klopfte auf den Schwertgriff. »Das da. Wie bist du damit reingekommen?«

Er hob eine Augenbraue. »Das kannst du sehen?«

Wunderbar, ein Verrückter. Sofie machte sich so groß wie sie konnte, stemmte die Hände in die Hüften und beugte sich zu ihm vor. Der sollte bloß nicht denken, dass sie Angst vor ihm hatte. »Ja, das kann ich sehen. Raus hier.«

»Nein.«

Eine Blondine torkelte auf ihn zu und prallte an seinem Bizeps ab. Mit einem unwirschen Handgriff schubste er sie von sich weg. Dann erklang eine Stimme links von ihnen.

»Jean? Hast du Ärger?« Wo kam die Frau jetzt her? Breit grinsend tauchte sie neben dem Schwertträger auf.

Sofie blinzelte. Wer hatte die denn reingelassen? Die passte noch weniger ins Koval als Jean, der bewaffnete Fußballtrainer. Nicht, weil sie ebenfalls ein Schwert auf dem Rücken trug. Sondern wegen ihrer Kleidung: eine schweinchenrosa Jogginghose, Birkenstocks und ein Schlabbershirt mit der Aufschrift: »Fußisan – Gut gegen Fußpilz«. Am Ende ihres braunen Zopfes baumelte eine Glitzerhaarspange. In dem Aufzug hätte sie echt richtig dämlich wirken müssen. Hätte sie. Wenn nicht jede ihrer Bewegungen die beiläufige Kraft einer Löwin gehabt hätte. Irgendetwas stimmte hier nicht. Egal.

»Ja, Jean hat Ärger«, zischte Sofie. »Und du auch, wenn du nicht gleich verschwindest.«

»Ganz schön unhöflich.« Die Fußisan-Frau wirkte ehrlich erstaunt. »Haben wir dir was getan?«

»Sie kann mein Schwert sehen«, knurrte Jean.

»Was?« Fußisan-Frau blickte Sofie interessiert an. Sie mussten ungefähr gleich alt sein. Sofie war einundzwanzig. »Ehrlich? Siehst du das hier auch?«

Sie zog ihr Schwert, in einer einzigen, fließenden Bewegung. Das Ding war länger, als Sofie geahnt hatte. Ein Hieb, und diese Verrückte würde alle Umstehenden köpfen. Alle, die weitertanzten, als wäre nichts geschehen. Wie besoffen konnte man sein?

»Raus hier, oder ihr gewinnt eine Freifahrt im Streifenwagen.« Sofie zwang ihre Stimme, ruhig und beherrscht zu klingen, auch wenn Furcht an ihr nagte. Furcht. Die hatte sie lange nicht mehr gespürt. Seit Monaten nicht. Fast hatte sie sie vermisst. »Sofort.«

»Geht leider nicht.« Die Fußisan-Frau zuckte mit den Achseln und lächelte bedauernd. »Wir müssen hier was erledigen. Einen wichtigen Auftrag.«

Bei den Worten »wichtigen Auftrag« verdrehte Jean die Augen. »Ja, total wichtig«, schnaubte er. »Mega wichtig. Wir sind magische Kammerjäger, mehr nicht.«

»He, wenigstens wird’s nicht zu gefährlich.« Die Fußisan-Frau schaute sich um. »Wo ist Nat?« Sie schnupperte. Was? Ja, ihre Nasenflügel zitterten, als würde sie Witterung aufnehmen. »Ah.« Ein Nicken.

»He!«, rief Sofie, die sich übergangen fühlte. »Ich rufe die Bullen, wenn ihr nicht auf der Stelle …«

»In der Herrentoilette ist nichts«, erklang eine Stimme hinter ihr.

Sie fuhr herum. Ein blondgelockter Hänfling in Kampfmontur stand hinter ihr. Seine Brille glänzte im Scheinwerferlicht. Seine Zähne blitzten ebenfalls. Das hasenzähnige Lächeln war so niedlich wie das eines pummeligen Engelchens … wären da nicht die Eckzähne gewesen. Die waren eindeutig zu lang und spitz. Er sah aus wie ein fleischfressendes Kaninchen. Natürlich trug er ebenfalls ein Schwert. Was auch sonst?

Sofie atmete tief ein. »Gut, das war’s. Ich rufe die Polizei.« Sie zückte ihr Handy.

Jean nahm es ihr ab.

»He!« Sofie angelte danach, bevor es ihr zu blöd wurde. Dann trat sie ihm gegen das Schienbein. Hart. Sein Gesicht verzog sich, aber er gab das Handy nicht her.

»Sie kann die Schwerter sehen«, erklärte die Braunhaarige dem Blondgelockten. »Du warst damit dran, die Schwerter mit Oculi ex einzureiben. Hast du es vergessen?«

»Was, ich?« Nat, das Raubkaninchen, schaute erstaunt. Er räusperte sich. »Also, ich glaube nicht. Ich meine, ich kann mich auch nicht erinnern, dass ich es getan hätte, aber …« Der Satz verreckte in der Luft und endete in einem schuldbewussten Grinsen.

Jean, der Fußballtrainer, stöhnte laut und genervt. »Du hast es vergessen. Warum arbeite ich eigentlich mit euch Versagern zusammen?«

»Weil wir so gut aussehen?«, fragte die Fußisan-Frau.

»Weil wir so gut aussehen UND charmant sind?« Nats schräges Lächeln tat offensichtlich nichts, um Jeans Laune zu verbessern. »Ach, komm schon. Das vergisst sie doch eh.«

»Wenn ihr mit ‚Sie‘ mich meint, dann habt ihr sie wohl nicht mehr alle.« Sofie schnaubte. »Warum soll ich die drei Trottel vergessen, die mit Schwertern in meinen Club marschiert sind?« Und warum unterhielt sie sich mit diesen Trotteln? Sie sollte schleunigst zurück zur Bar und Dennis befehlen, die Polizei zu rufen.

»Weil, äh …« Nat sah sich hilfesuchend um. »Weil das gar keine echten Schwerter sind. Das sind nur Attrappen, ganz harmlose Pappschwerter. Damit könnte man keiner Fliege was zuleide tun.«

»Ah ja.« Sofie verschränkte die Arme vor der Brust. »Und warum lauft ihr mit Pappschwertern durchs Koval?«

»Weil das unser Hobby ist.« Nat strahlte. Mit den blonden Locken und den großen Augen sah er geradezu herzerwärmend niedlich aus, aber … da war etwas. Eine Ahnung, dass sich hinter der durchscheinend weißen Haut etwas verbarg. Nach Jahren hinter der Bar hatte Sofie genug Menschenkenntnis entwickelt, um die Kunden zu erkennen, mit denen etwas nicht stimmte. Und bei dieser Truppe hier klingelten alle Alarmglocken gleichzeitig.

»Euer Hobby ist es, mit Schwertern durch das Koval zu rennen.« Sie hob eine Augenbraue.

»Ja, also nein.« Er räusperte sich. »Wir sind, äh, harmlose LARPer. Live Action Roleplay. Wir tun nur so. Wir spielen ein Fantasyspiel nach.«

»Mit Vampiren und Werwölfen.« Die Fußisan-Frau schien Spaß an dem bekloppten Märchen zu haben, das sie Sofie da auftischte. »Ich bin ein Werwolf und Nat ist ein Vampir.«

»Und was ist er?« Sofie deutete mit dem Kopf auf den Mistkerl, der immer noch ihr Handy hatte. »Ein Brückentroll?«

Fußisan-Frau lachte. »Ja, genau. Jean, der Brückentroll. Siehst du, es ist alles ganz harmlos. Können wir weiterspielen?«

»Klar, sobald ihr mir eure Pappschwerter ausgehändigt habt.«

Schweigen. Die Drei sahen sich an.

»Aber dann verlieren wir das Spiel«, sagte Nat lahm.

»Mann!« Jean, der Brückentroll, übertönte selbst die Musik. »Ist doch egal, sie vergisst das eh! Können wir jetzt diesen Dämon … He!«

Sofie hatte versucht, sein Schwert aus der Scheide zu ziehen. Und er hatte sich gewehrt, mit einem Griff, der dafür sorgte, dass Sofie jetzt auf dem Boden lag. Mit schmerzendem Hintern und gerissenem Geduldsfaden. Sie sprang auf.

»Gut, das war’s.« Sie wollte sich gerade umdrehen und zurück zur Bar stampfen, als die Nasenlöcher der Fußisan-Frau sich wieder blähten. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, wurde ernst. Eine Falte erschien zwischen ihren Augenbrauen und sie sah sich langsam um, so vorsichtig, als würde etwas über den vor Bässen zitternden Boden kriechen. Als würde es hinter den Tänzern lauern. Sofie spürte einen kalten Lufthauch über ihren verschwitzten Rücken streichen.

»Isa? Riechst du ihn?«, fragte Nat, womit Sofie nun auch noch den letzten Namen hatte.

»Ja.« Isa legte die Hand an ihren Schwertgriff. »Er ist da.«

Rattenplage

 

Sofie folgte den Blicken der anderen. Das Erste, was sie sah, war eine Bewegung hinter den Tanzenden. An der Wand, ganz unten. Winzige Krallen, dunkle, kleine Körper, in die Höhe gereckte Schwänze.

»Igitt«, murmelte sie. »Ratten.«

Es waren nicht die Ersten, die sie im Koval sah. Die Gäste hätten sich ganz schön geekelt, wenn sie gewusst hätten, wie viele Fallen im Vorratsraum standen. Aber für gewöhnlich zeigten die Viecher sich nicht auf der Tanzfläche. Also, höchstens eine oder zwei. Nicht … Dutzende. Kälte rann durch Sofies Magen.

Was zur Hölle war hier los?

Ein Schrei erklang, irgendwo hinten in der Halle. Die Musik setzte einen Moment lang aus und genau in diesem Moment brüllte jemand. Erst eine Frau, dann noch eine, dann mischten sich Männerstimmen in die Kakophonie, die zu angstverzerrtem Kreischen wurde. Zwischen den Füßen der Tanzenden wuselte und wimmelte es. Modriger Gestank waberte durch die Luft.

Sofie drehte sich langsam um die eigene Achse. Überall Hilferufe, überall Panikausbrüche, das Tanzen wurde zu Schubsen und Rempeln, und dem Versuch, voranzukommen, ohne mit den Füßen den Boden zu berühren.

Die drei Trottel mit den Schwertern stürmten los, in entgegengesetzte Richtungen. Sie sah, wie Jean zwei bullige Kerle zur Seite rammte, wie Isa unter einem Stehtisch durch tauchte und verschwand. Nat wurde von einer Horde panischer Junggesellinnen gerammt und konnte knapp verhindern, dass er von ihnen niedergetrampelt wurde.

Etwas streifte Sofies Knöchel. Als sie nach unten sah, blickten ihr glänzend schwarze Augen entgegen. Gelbe Zähne leuchteten unter der behaarten Schnauze, dann huschte die Ratte weiter. Die nächste trippelte über Sofies Fuß.

»Ekelhaft«, flüsterte Sofie, Würgereiz unterdrückend. »So verdammt ekelhaft.«

Sie musste hier raus. Egal, woher die Viecher kamen, sie musste zum Ausgang, nach draußen, weg von hier. Das dachten leider auch alle anderen. Um den Ausgang sah sie geballte Leiber, wild fuchtelnde Hände. Schmerzensschreie hallten zu ihr herüber. Die Leute steckten fest.

Die Musik stoppte.

Sofie sah sich nach dem DJ um und entdeckte, dass er ebenfalls versuchte, zum Ausgang zu kommen. Ratten trippelten über seinen Laptop, der verlassen auf dem Pult stand. Es stank. Nach Schweiß und Panik, und dazwischen waberte Kanalgeruch, faulig und beißend. Die unzähligen haarigen Körper brachten ihn mit sich. Und den nach Blut. Zwischen den wuselnden Leibern, die den Boden bedeckten lagen winzige, zertrampelte. Ratten, die den Davonstürmenden nicht schnell genug ausgewichen waren. Und … Oh, verdammt. Sofie sah Blut an nackten Beinen herunterlaufen. Bisswunden.

Die hohen Kreischlaute der Flüchtenden und die noch höheren Kreischlaute, die die Ratten ausstießen, gellten in Sofies Ohren.

Raus, dachte sie. Du kannst dir später überlegen, was für ein Wahnsinn das hier ist. Raus.

Aber der Eingang war verstopft. Sie würde durch das Lager fliehen müssen, hinter der Bar. Schon als sie sich umdrehte, hörte sie Dennis schreien.

Ihr Atem stockte. Dennis ruderte wie wild mit den Armen. Sein Gold-Schneidezahn funkelte in dem aufgerissenen Mund, Blut lief über seine tätowierten Arme. Ratten schwärmten über ihn. Ratten, die an seinem Körper hochkletterten, die sich von seinem Brüllen nicht abschrecken ließen. Wenn er eine erwischte und von sich schleuderte, kam sofort eine nach. Sofie sah sein Hawaiihemd nicht mehr vor grauschwarzen Leibern.

»Dennis!« Sie sprintete los. Etwas quietschte unter ihrer Sohle, hoch und fiepsig, wand sich und sie rutschte aus. Sie knallte mit dem Hinterkopf auf den Boden.

Einen Moment lang war alles weg. Eine Sekunde lang sah sie Lichter, Sterne, grelle Scheinwerfer, die alle auf sie gerichtet waren. Dann schoss der Schmerz durch ihren Schädel. Sie brüllte, griff um sich, wollte sich hochstemmen. Alles, was sie fühlte, war Fell. Warmes Fell, lebendige, kleine Leiber, winzige Rippen. Ein haarloser Schwanz glitt zwischen ihren Fingern hindurch. Beißender Gestank verätzte ihre Nase. Krallen trippelten über ihre Wange.

Sie wollte aufstehen, drehte sich, wand sich, doch sie fand keinen Halt in diesem Meer aus haarigen Körpern. Sie schoben sich unter sie, windend und stinkend und plötzlich bewegte sie sich. Die Scheinwerfer glitten über ihr weg, sie sah das Kaugummi an der Unterseite eines Stehtischs, so viel, wie Stalaktiten hing es herunter und …

Ich werde von Ratten fortgetragen, dachte sie. Fast hätte sie gekichert, aber sie war zu beschäftigt damit, sich nicht vor Ekel zu übergeben.

»Hilfe«, krächzte sie, viel zu leise.

Doch sie wurde gehört. Eine kräftige Hand packte ihren Oberarm und riss sie hoch. Zähne blitzten und der Boden unter ihren Füßen war wieder fest. Winzige Körper flüchteten kreischend.

»Hallo, Süße.« Isa zwinkerte und ließ sie los.

»Hallo«, würgte Sofie hervor. »Oh Gott.« Dann kotzte sie Isa auf die Sandalen, was die mit einem mitleidigen Schultertätscheln quittierte.

»Das ist bald vorbei«, hörte Sofie. »Wir finden jetzt diesen Rattenkönig, machen den rund und dann können wir alle nach Hause gehen. Und du erinnerst dich an nichts, versprochen.«

»Wie soll ich eine Scheiß-Rattenplage vergessen? Die wollten mich entfüh...« Die letzten Worte gingen in einem trockenen Würgen unter.

»Entführen?« Isa lachte herzlich. »Na klar. Sorry, ich muss los. Meine Kumpel sind in Schwierigkeiten.«

Sofie hob den Kopf. Nur wenige Meter entfernt standen Nat und Jean auf dem Tresen und droschen mit ihren Schwertern auf eine nicht endende Flut grauschwarzer Leiber ein. Die Ratten griffen von allen Seiten an, kletterten über Barhocker und trippelten fauchend über das Brett mit den frisch angeschnittenen Zitronenscheiben auf der Bar.

Sofie beschloss, zu kündigen.

Aber erst mal musste sie Dennis retten. Wo war der hin? Hinter Nat und Jean, die inzwischen Rücken an Rücken standen, war nichts zu sehen. Seltsam. Die Ratten hatten es eindeutig auf die beiden abgesehen. Am Ausgang, wo es sich lichtete, wuselten nur noch vereinzelte Leiber herum.

»Keine Angst, Jungs!«, rief Isa und stürmte auf die Bar zu. Sofie folgte ihr. Wo war Dennis?

»Isa!« Nats Gesicht war kalkweiß. Eine Ratte sprang auf ihn zu und er zerteilte sie in der Luft.

»Verreckt, ihr verkackten Drecksviecher!«, brüllte Jean und trat eine Horde Ratten von der Bar. Quiekend segelten sie durch die Luft. Das Schwert blitzte und plötzlich waren es doppelt so viele Rattenteile, die herumflogen.

Es ging so schnell, dass Sofie nicht reagieren konnte. Ein kopfloser Leib schoss auf sie zu, drehte sich in der Luft … und landete in ihrem Ausschnitt. Sie spürte die letzten Zuckungen auf ihrem Brustbein.

»Oh Gott«, murmelte sie und übergab sich zum zweiten Mal in zwei Minuten. Würgend stolperte sie weiter. Die Rattenleiche plumpste unten aus ihrem Shirt heraus und blieb liegen.

Isa nahm Anlauf, duckte sich und sprang auf die Theke. Sie landete genau zwischen Nat und Jean, die ihr Platz machten. Die Ratten flüchteten. Kreischend stoben sie auseinander, als wäre Isa ein Anti-Magnet, der sie abstieß.

Warum?, dachte Sofie und gleich darauf: Egal. Es gab einen rattenfreien Ort im Raum, genau da, wo sie eh hinwollte.

Schwer atmend erreichte sie die Theke und hielt sich daran fest. Wie benommen hörte sie die Unterhaltung über ihrem Kopf.

»Das sind viel zu viele. Es sollten höchstens zwanzig sein. Ist der König endlich aufgetaucht?« Isa.

»Nee, das Vieh lässt sich Zeit.« Jean.

»Sind alle sicher rausgekommen?« Nat. Richtig, die Schreie und das Getrampel der Füße verklangen langsam.

»Bestimmt.« Isa seufzte. »Das ist so ziemlich der ekligste Auftrag, den wie je hatten.«

»Ekliger als der Smorgul von Spandau?«, fragte Nat. »Oder der Panke-Bandwurm?«

»Der war eklig«, stimmte Isa zu. »Aber nichts im Vergleich zu … He, die Barkeeperin ist ja noch da.«

Sofie sah hoch. Drei Gesichter musterten sie. »Was geht hier vor?«, krächzte sie wie ein drittklassiger Detektiv.

»Ihr habt ein Rattenproblem«, sagte Jean.

Nat hielt ihr eine Hand hin und zog sie auf die Theke.

Jean verzog das Gesicht. »Und du stinkst nach Kotze.«

»Das liegt daran, dass mir ein verblödeter Fußballtrainer eine Rattenleiche in den Ausschnitt geworfen hat«, sagte sie.

»Fußballtrainer?« Er schaute, als hätte sein bester Spieler den Elfmeter vergeigt.

»Ja, du …«, begann sie, aber Nat unterbrach sie.

»Schaut mal«, sagte er und sie schauten.

Sie waren allein. Vier Trottel auf einer Bar, in einer leeren, schmucklosen Halle, durch die immer noch Scheinwerfer strichen, als würden sie nach etwas suchen. Rot, blau, gelb … Es roch nach Blut, Kanal und Trockeneis. Und da waren die Ratten. Still wie ein Teppich aus tausend Leibern standen sie da und sahen zu ihnen hoch. Sie bedeckten den gesamten Boden, nur rund um die Bar war er frei. Ein Ring hatte sich um die Theke gebildet. Sofie sah nach hinten und erblickte weitere Ratten im Gang zum Vorratsraum und hinter der Theke. Keine Spur von Dennis. Ihre Kleidung klebte vor Blut und Schweiß wie eine halb abgepellte Haut und trotzdem fror sie.

»Warum kommen sie nicht her?«, fragte Sofie.

»Sie haben Angst vor Isa«, sagte Nat und lächelte. »Glücklicherweise.«

»Warum?« Sie musterte Isa, die auf der Theke stand, die Hände in den Taschen ihrer furchtbaren Jogginghose vergraben und das Rattenmeer musterte.

Nat zuckte mit den Achseln und wich Sofies Blick aus.

»Ratten haben halt Angst vor Kötern«, brummte Jean.

»Vor Wölfen, Loverboy.« Isa zwinkerte Sofie zu. »Ich bin ein Werwolf.«

»Klar.« Sofie wollte ihr sagen, dass sie den Scheiß jemand anderem erzählen könnte. Aber dann fiel ihr auf, dass sie von einer Rattenmeute umgeben waren, die unnatürlich still stand, miteinander zu flüstern schien und eben versucht hatte, sie zu entführen. »Echt jetzt? Ein Werwolf?«

»Jupp.« Isas Lächeln hatte eindeutig etwas Wölfisches. Die Eckzähne waren spitz und … praktisch. Perfekt dafür geeignet, Fleisch von Knochen zu reißen. Sofie schauderte.

Das Flüstern wurde lauter. Das Rascheln scharrender Krallen. Die Ratten verharrten, als hätte man ihnen befohlen, stillzuhalten, egal, was ihre rättische Natur ihnen befahl. Nervös trippelten sie an Ort und Stelle. Ein zitternder Fellteppich breitete sich zwischen den Betonwänden aus.

Ja, ich sollte wirklich kündigen. Sofie atmete tief ein und schmeckte Kanalwasser, Salz und Säure. Sobald ich die Rattenmeute und die Schwerttypen und den Werwolf überlebt habe, kündige ich.

Sie zögerte. Wurde sie verrückt? Hatte sie in Wahrheit Dennis’ Glas mit ihrem verwechselt und, was immer der für lustige Pillen darin auflöste, getrunken? Bildete sie sich das nur ein?

»Schaut nur, wie ruhig sie sind«, flüsterte Nat. Er räusperte sich, und als er wieder sprach, klang er, als wollte er ein Kätzchen von einem Baum locken. »He, ihr Kleinen. Habt ihr Angst vor uns? Keine Sorge, wir wollen nur euren König. Sobald der besiegt ist, seid ihr wieder frei.«

»Was laberst du da?«, zischte Jean, die Ratten nicht aus den Augen lassend.

»Ich versuche, mit ihnen zu reden.«

»Lass das. Du klingst wie ein Idiot.«

»Lass ihn in Ruhe.« Isa schnupperte. »Und konzentriert euch. Er wird gleich da sein. Schaut mal, wie die Kleinen zittern.« Sie tippte an ihr Ohr. Oh, da musste ein kabelloser, hautfarbener Kopfhörer sein. »Babe? Hörst du das? Ist das normal?«

Sie lauschte. Sofie lauschte ebenfalls, konnte aber nichts hören. Wer immer mit Isa kommunizierte, musste sehr leise sprechen. Auf Jeans und Nats Gesichtern erschien der gleiche konzentrierte Gesichtsausdruck und Sofie wünschte sich, auch einen Ohrstecker zu haben.

»Alles klar.« Nat lächelte. »Danke. Dann sollte das kein Problem sein. Einfach den Knoten zerschlagen und die Verbindung zerfällt.«

»Welchen Knoten?«, fragte Sofie Nat.

»Den Schwanzknoten.«

»Den was?«

»Siehst du gleich.« Er deutete mit dem Kopf zum Ausgang. Dort bebte der Fellteppich, zitterten die Ratten, als wäre etwas im Anmarsch. War es auch.

Der Kanalgeruch wurde stärker. Beißender Verwesungsgestank waberte herein. Sofie kannte ihn. Im Sommer roch es so, wenn die überfahrenen Katzen am Straßenrand von Maden zerfressen wurden, wenn die nackten Küken aus den Nestern fielen und verendeten.

Das, was durch die Tür kam, roch schlimmer als jedes tote Tier.

Rattenkönig

 

»Ist das der Rattenkönig?«, fragte Sofie und erwartete nicht, dass jemand ihr antwortete.

Isa tat es trotzdem. »Jupp. Niedlich, oder?« Sie klang angespannt. Ihre Kiefer mahlten. Sie ballte die Finger zu Fäusten und öffnete sie, immer wieder.

Kälte kroch durch den Raum. Sofie spürte eine Bewegung neben sich und ahnte, dass Nat und Jean sich bereit machten, zu springen. Aber sie konnte die Augen nicht von dem Ding lösen, das die Treppenstufen hinunterkam.

Blaues Scheinwerferlicht huschte über leere Augenhöhlen und verklebtes Fell. Der Gestank wurde unerträglich. Sofie hätte sich ihr Shirt über die Nase gezogen, aber sie konnte sich nicht bewegen. Ein Schweißtropfen lief über ihre Arme und versickerte zwischen ihren Fingern. Erst jetzt kapierte sie, wie absurd dieser Moment war. Das Koval war von Ratten überrannt worden, Dennis war verschwunden und sie stand mit drei Schwertträgern, von denen einer vermutlich ein Werwolf war, auf der Theke und starrte auf … das.

Den Rattenkönig. Oder eher: ein Dutzend gigantische Ratten. In verschiedenen Stadien der Verwesung, an den Schwänzen zusammengewachsen. Wie ein lebendes Rad liefen die Viecher die Treppe hinunter. Sie hätten lächerlich gewirkt, wenn sich nicht alles so falsch angefühlt hätte. Die eckigen Bewegungen. Die glänzenden Rippen, die aus schwärenden Wunden stachen und die augenlosen Blicke aus den blanken Schädelknochen. Fette Fliegen umschwirrten das Monster.

Fiepsen ging durch den Raum, jede einzelne Ratte schrie, zitterte und traute sich doch nicht, sich zu bewegen. Süßlicher Uringestank breitete sich zwischen ihnen aus.

Das grässliche Wesen torkelte durch den Saal. Die untote Riesenratte, die gerade vorn war, packte ins Meer der Nager und holte ein kreischendes, sich windendes Tier aus der Menge.

Sie zerbiss es zwischen ihren gelbliche Hauern. Blut verklebte die Schnurrhaare, die noch an ihrem Totenschädel hingen. Tausend Ratten schrien. Sofies Ohren gellten, aber sie war zu versteinert, um sich zu bewegen.

»Fuck«, murmelte sie. Panik verknotete ihren Magen.

Es kommt auf uns zu. Verdammt, das Mistvieh kommt auf uns zu. Ich hoffe, die anderen wissen, wie man es loswird, weil … Oh, Gott. Es ist fast da.

»Isa?« Nats Stimme schwankte leicht.

»Keen Problem«, brachte Isa hervor, eine Oktave höher als zuvor. »Der ist größer als gedacht, aber gar kein Problem, das haben wir alles besprochen. Ich greife an und ihr zerteilt den Knoten.«

»Ja.« Wenigstens Jean klang halbwegs ruhig. Doch als Sofie ihn ansah, schaute er, als würde seine Mannschaft gerade Null zu Neun verlieren.

»Okay, dann … los.« Isa wirkte, als würde sie alles andere lieber tun. »Okay. Bereit?«

»Bereit.« Jean packte sein Schwert noch fester. Blut glitzerte auf der Klinge.

»Sollen wir nicht versuchen, mit ihm zu reden …«, begann Nat.

»Nein!«, fauchte Jean.

Etwas ratschte. Kleidung. Sofie fuhr herum und sah, wie die Reste des Fußisan-Shirts von fellbedeckten Muskeln zerrissen wurden. Giftgrüne Streifen flogen durch die Luft.

Ach, deshalb, dachte Sofie, klar und ruhig, als wäre das alles nur ein Traum. Logisch, wenn sie die Sachen eh zerreißt, sollten die billig sein. Bei der Verwandlung. In einen Werwolf.

Klauen kratzten über die klebrige Theke. Das Fiepen der Ratten schraubte sich in unerträgliche Höhen. Kein Wunder. Das Vieh war riesig. Das Vieh, das gerade noch Isa gewesen war. Selbst geduckt überragte es Sofie. Gigantische Reißzähne wuchsen aus einem Raubtiermaul, viel zu viele Zähne, und viel zu spitz und … Oh, fuck. Der Wolfsschädel wandte sich Sofie zu, die rotglühenden Augen fixierten sie.

Die Wölfin zwinkerte. In ihrem Fell entdeckte Sofie die Glitzerhaarspange, die immer noch am Ende eines aufwendig geflochtenen Zopfes hing.

Ein Werwolf. Eine Werwölfin. Sofie zwang sich, nicht zurückzuweichen, auch wenn alles in ihr danach schrie, abzuhauen.

Bitte, lass es bald vorbei sein, dachte sie.

Aber das war es nicht. Als die Werwölfin die Muskeln anspannte, den Rattenkönig fixierte, einen Schritt vor machte, um zu springen …. trat sie auf ein Messer. Ein lächerlich kleines Messer mit gelbem Plastikgriff, mit dem Sofie die Zitronenscheiben für die Cocktails geschnitten hatte. Als es zwischen den gebogenen Klauen der Wölfin verschwand, wirkte es wie ein Kinderspielzeug. Es wirkte auch wie ein Kinderspielzeug, als die Wölfin fiepste, die Pfote hob und die winzige Klinge betrachtete, die in der schwarzen Hornhaut steckte. Ein Tropfen Blut rann über den gelben Griff und zerplatzte auf den Zitronenscheiben.

Die Wölfin verdrehte die Augen und kippte um. Wie ein Erdrutsch krachte ihr mächtiger Körper von der Bar und zu Boden. Ihr Fell zitterte und kam zum Stillstand.

Schweigen. Selbst die Ratten waren ruhig.

Alle starrten auf den gigantischen Wolf, der vor ihnen auf dem Rücken lag und die Pranken in alle Richtungen streckte.

»Nicht schon wieder«, knurrte Jean.

»Was ist mit ihr?«, kreischte Sofie. Ihre Fingernägel krallten sich in ihre Handflächen.

»Alles gut.« Nats Stimme wackelte. Panisch lächelte er sie an. »Sie kann kein Blut sehen. Also ihr eigenes. Aber wir schaffen es trotzdem. Jean und ich kriegen das auch alleine hin, richtig, Jean?«

»Ja.« Jean sprang. Er landete inmitten des Rattenmeeres und rannte los, das Schwert senkrecht haltend wie ein Samurai. Innerhalb von Sekunden war er von Ratten bedeckt. Sie schwärmten über ihn wie eine Flutwelle.

»Jean!« Nat sprang hinterher. »Jean, stürm doch nicht einfach so los! Wir sind ein Team! Teamwork!«

Jean rief etwas, das wie ein gedämpftes »Ich scheiß auf Teamwork« klang, aber Sofie war nicht sicher. Hörte sich an, als hätte er eine Ratte im Mund.

Aber er hielt nicht an. Egal, wie viele Nager sich ihm vor die Füße warfen, er mähte durch das graue Meer wie ein Eisbrecher.

Der Rattenkönig hob die Köpfe. Ein Dutzend Totenschädel mit spitzen Zähnen lauschte. Jean war fast bei ihm.

Der König schrie.

Dolche stießen in Sofies Trommelfell, Gläser rutschten von der Bar und zerschellten. Fast wäre sie hinterhergestürzt. Der Schrei presste sie rückwärts, doch sie ging in die Knie und klammerte sich an der Kante fest.

Nat und Jean hatten nicht so viel Glück. Die Schallwelle erfasste sie und schleuderte sie rückwärts. Ihre Körper prallten gegen die Bar. Sofie spürte die Erschütterung unter ihren Knien.

Vorsichtig lugte sie über den Rand und sah die beiden regungslos daliegen, nicht weit von Isa. Nat hatte seine Brille verloren und Jean lag flach auf dem Gesicht.

Der Schrei verstummte. Die Knochenkiefer schlossen sich und der Rattenkönig verharrte. Um ihn herum schlossen wuselnde Ratten die Löcher, die die Schallwellen in ihr Meer gerissen hatten: strahlenförmig von der Mitte ausgehende Schneisen, die augenblicklich verschwanden.

Der König verharrte. Und dann wandten die vordersten Ratten die Köpfe und sahen Sofie an.

Klebrige Theke unter ihren klammen Fingern. Hektischer Atem, enge Brust. Sie war allein.

Ich werde sterben, dachte sie.

Der König wankte los, auf sie zu. Und Sofie verschwand.

 

Einen Moment lang hörte sie Vögel zwitschern und die weit entfernte Straße brummen. Sonnenstrahlen drangen durch das Blätterdach und zauberten gleißende Flecken auf den Tisch und den flachen, weißen Karton. Sie hatten Pizza bestellt, weil sie keine Lust gehabt hatten zu kochen. Eine Familienpizza mit Bergen von Spargel und Sauce Hollandaise, weil sie Papa das Bestellen überlassen hatten. Sofie spürte Leons Arm um ihre Schultern, den Duft seines Lemon Fresh-Duschgels. Sie sah sie lachen, Papa, Monika und Cassa. Ja, in diesem Moment war alles perfekt. Sie hatte eine Familie. Einen Vater, die liebste Stiefmutter der Welt, eine beste Freundin. Und einen Freund.

Vor dem Unfall war es so gewesen.

Sie sah Cassa wild gestikulieren. Ihre beste Freundin erzählte, was sie nach dem Abi vorhatte, wenn sie endlich frei war. Nach Berlin ziehen, feiern, studieren, Spaß haben.

Leon brummte etwas in Sofies Ohr und ließ sie von seinem Pizzastück abbeißen.

»Was?«, fragte Sofie. »Was hast du gesagt?«

»Der Rattenkönig kommt«, sagte Leon. »Reiß dich zusammen.«

Oh, richtig.

 

Dann war sie zurück. Der König war fast bei ihr und der Verwesungsgestank, der von ihm ausging, sickerte in ihre Kehle. Die Ratten kamen mit ihm, jetzt, wo Isa keine Gefahr mehr darstellte. Hinter sich hörte sie Rascheln und Scharren.

Denk, Sofie. Du musst abhauen. Nach hinten, ins Lager. Aber da sind noch mehr Ratten. Am König kommst du auch nicht vorbei. Vor allem, wenn er schreit …

Eine Ratte lief über ihren Fuß. Sie kletterten auf die Theke.

Fuck, dachte Sofie. Und dann fiel ihr Blick auf die Vitrine hinter der Bar. Glänzende Schnapsflaschen, angestrahlt von Leuchtröhren, verblasste Fotos, die Kasse.

Ein Kitzeln am Bein. Sie schleuderte die Ratte fort, die versucht hatte, hochzukriechen.

»Haut ab, ihr Drecksviecher!«, brüllte sie.

»Was?« Ein blonder Lockenschopf erschien hinter der Theke. Blut rann über Nats Gesicht, von einer Platzwunde auf seiner Stirn. Er schaute verwirrt. Dann packte er in einer blitzschnellen Bewegung zu und erwischte eine Ratte, die über die Theke trippelte. Sekunden später zappelte sie zwischen seinen Zähnen und schrie. Dann schrie sie nicht mehr. Schlürfen erklang und Sofie hätte beinahe zum dritten Mal gekotzt.

»Nat?«, krächzte sie.

»Ja?« Nat warf die Ratte hinter sich und lächelte. Grauenerregend, mit blutverschmiertem Mund.

»Kannst du ihn ablenken?« Sofie suchte die Theke nach den Resten von Isas Shirt ab. Ah, da. »Ich habe einen Plan. Vielleicht.«

»Wen ablenken?«, fragte Nat und der Rattenkönig schrie erneut. Die Theke zersplitterte. Da, wo die Schallwelle sie getroffen hatte, entstand eine Schneise.

Zu nah, dachte Sofie, schnappte sich einen Stofffetzen, sprang über das Spülbecken und rannte über die Bar. Nat war zur anderen Seite ausgewichen. Er rollte sich ab und kam wieder auf die Füße.

»Hallo, Herr Rattenkönig!« Er winkte im Laufen. »Haben Sie keine Angst, wir wollen Ihnen nichts … Ah!« Ein hohes Kreischen und Nat wich einer Schallwelle aus. Knapp. »Eigentlich sollten Sie das nicht können!« Er klang panisch.

Sofie schnappte sich eine Rumflasche aus der Vitrine und angelte mit der anderen Hand einen Barhocker. Sofort sprang eine Ratte sie an. Spitze Zähne gruben sich in ihren Arm. Sie riss ihn hoch.

»Au!« Reißender Schmerz. Die Ratte segelte kreischend durch die Luft. Blut rann über Sofies tätowierte Haut.

Keine Zeit.

Sie stellte den Hocker auf die Bar, steckte sich die Flasche hinten in den Hosenbund, streckte die Arme aus und sprang.

Feuer frei

 

Das Gestänge unter der Decke, an dem die Scheinwerfer und Rauchmelder hingen, war eigentlich zu hoch, um daran zu kommen. Sonst hätten sie jedes Wochenende besoffene Junggesellen herunterholen müssen. Aber wenn man einen Hocker auf die Bar stellte, über eine gute Sprungkraft verfügte und leicht war, konnte man es fast schaffen.

Fast.

»Verdammte Fickscheiße«, keuchte Sofie, als ihre Finger abrutschten. Links hing sie nur noch mit Mittel- und Zeigefinger an den Metallstreben. Mit der Rechten sah es besser aus, aber auch die glitt langsam ab. Die Schwerkraft zog an ihrem Körper, tonnenschwer. Zu schwer.

Unter ihr versuchte Nat immer noch, mit dem Rattenkönig zu reden und ihm gleichzeitig auszuweichen. Nur eine der Strategien hatte Erfolg. Rollend und Hechtsprünge ausführend bewegte er sich durch den Raum, viel zu knapp entkommend. Die Schreie des Rattenkönigs drangen an Sofies Ohren, aber die Schallwellen erreichten sie nicht. Die schoss das Vieh präzise parallel zum Boden ab. Rasend schnell.

Ihre einzige Chance war es, das Tier von oben zu erwischen.

Aber doch nicht, indem ich drauf falle, dachte sie verzweifelt. In diesen Haufen verwesender Rattenteile. Wahrscheinlich richtet es nicht mal was aus.

Ihre Finger rutschten weiter. Der linke Mittelfinger verlor den Halt und sie verkrampfte sich. Die Flasche drückte gegen ihr Steißbein und sie spürte den Rum darin gluckern.

»Nicht aufgeben, Mädchen«, flüsterte sie und versuchte dabei, ihren alten Ausbilder zu imitieren. »Los jetzt.«

Sie bündelte alle Kraft in der rechten Hand, riss die linke hoch und umklammerte die Stange weiter oben. Das verdammte Ding quietschte und knackte. Aber nun hatte sie Halt. Ächzend zog sie sich hoch. Alles tat weh, ihr Schädel brummte und der Rattenbiss brannte. Egal. Über den Stangen verlief ein schmaler Steg, ein Metallträger, auf dem ihre Füße kaum nebeneinander Platz hatten. Darüber krabbelte sie.

Sie wollte nicht nach unten schauen. Aber das musste sie, um die richtige Stelle zu finden. Vorwärts kriechend positionierte sie sich direkt über dem Rattenkönig. Dann holte sie die Flasche hervor. Verkrampft wühlte sie den Streifen giftgrünen Stoffs hervor, den sie eingesteckt hatte und stopfte ihn in die Flaschen. Gut. Oder nicht.

Schlagartig wurde ihr klar, dass sie noch nie einen Molotov-Cocktail gezündet hatte. Was, wenn der in ihrer Hand explodierte? Was, wenn er ihre Finger zerfetzte? Was, wenn er einfach nicht funktionierte?

Sie sah nach unten. Nat hechtete gerade nach vorn, rutschte aus und landete auf dem Bauch. Sofort waren die Ratten über ihm. Er versuchte, hochzukommen, aber es waren zu viele.

Wollen sie ihn fressen?, dachte Sofie.

Ach, sie hatte eh mehr Finger als sie brauchte. Sie wühlte die zerquetschte Tabakpackung aus ihrer Hosentasche, in der das Feuerzeug …

Nein.

Entsetzt sah sie, wie die Packung Zigarettenpapier, die sie locker unter die Lasche geklemmt hatte, rutschte. Und fiel. Die blaue Packung segelte genau auf den König zu, drehte sich im Fall …

»Verreck, du Scheißkönig!«

Ein Barhocker flog auf das Monster zu. Oh, Jean war wieder wach. Der König schrie und der Hocker zerriss in der Luft. Holzspäne sprühten. Jean wurde zurück gegen die Theke geschleudert.

Aber es reichte. Die Zigarettenpapiere fielen unbemerkt zu Boden. Mit zitternden Fingern entzündete Sofie den giftgrünen Stoffstreifen.

Sei brennbar, dachte sie. Bitte sei brennbar!

Er war brennbar. Verdammt! Ruckartig ließ sie die Flasche los und sie segelte nach unten, den Stoffstreifen und die Flamme hinter sich her ziehend wie einen Kometenschweif.

Der Rattenkönig sah auf. Alle Schädel ruckten gleichzeitig hoch. Wie hatten sie es gemerkt?

Die weißen Kiefer öffneten sich zum Schrei.

Die Flasche landete in einem von ihnen, zwischen gelben Nagezähnen, und dann explodierte sie.

Sofie zuckte zurück. Glassplitter schossen an ihr vorbei, schnitten in ihre Hosenbeine, verfehlten ihre Augen.

»Es hat funktioniert«, sagte sie und rutschte ab. Schreiend fiel sie rückwärts. Sie sah das Gestänge kleiner werden, ihre Haare flattern. Ihr Magen hob sich.

Sie prallte auf Fell. Jemand ächzte.

Bin ich auf Ratten gelandet?

Dann sah sie das grinsende Maul über sich.

»Isa?«, ächzte sie.

»Ja. Sorry, muss weiter.«

Sofie verstand die Antwort kaum hinter all den schrillen Rattenschreien. Und, weil so ein Werwolfskiefer wohl nicht zum Sprechen gedacht war. Die Worte klangen seltsam flach.

Sie wurde auf dem Boden abgesetzt, und erhob sich schwankend. Um sie herrschte Chaos. Ratten rannten unkontrolliert in alle Richtungen, versuchten, die Wände hochzulaufen, und schafften es zum Teil sogar. Und sie fiepsten, ohrenbetäubend. Aber nicht so schrill wie ihr König.

Der Rattenkönig brannte. Lichterloh. Aufgerissene Knochenmäuler hinter Flammen, warf er sich von einem Ende des Raums zum anderen, überschlug sich und wurde zu einem wilden Ballen aus brennenden Körperteilen. Jede Ratte, die nicht schnell genug auswich, wurde in Brand gesetzt.

Sie sah, wie Jean sich fluchend aufrichtete. Über Nat stand Isa, gigantisch, knurrend und verjagte die Ratten, die kreischend vor ihr flüchteten. Ihr Rückenfell war aufgerichtet und sah aus wie ein Meer aus Stacheln.

Eigentlich ist so ein Wolf nur ein großer Hund, dachte Sofie. Ein sehr großer Hund. Drei Meter Rückenhöhe, würde ich sagen.

Ihr Nachbar daheim hatte zwei Mastiffs gehabt, die ihr eine Höllenangst eingejagt hatten. Neben diesem Werwolf hätten sie wie Welpen gewirkt. Trotz der hohen Schreie, des brennenden Monsters und der Ratte, die versuchte, in Sofies Hosenbein zu kriechen, fühlte sie sich seltsam ruhig.

Ich glaube, es ist geschafft, dachte sie.

Ein Zischen. Die Sprinkleranlage setzte ein.

Endlich eine Erklärung

 

»Keine Sorge, dit wird wieder«, knurrte der Sanitäter, der Desinfektionsmittel auf Sofies Arm gesprüht hatte und nun ein gigantisches Pflaster darauf pappte. »Nur dit Pferdchen hat kein Auge mehr.«

Sofie betrachtete ihr Pegasus-Tattoo und seufzte. »Kann man reparieren, schätze ich. Sobald es verheilt ist.«

»Jenau.« Der Mann schüttelte den Kopf. »Ick versteh eh nicht, warum ihr dit macht. Ein hübsches Mädchen wie du. Und dich dann so vollkritzeln lassen.«

Sofie zuckte mit den Achseln. Sie war zu müde für Diskussionen. Um sie herum herrschte Chaos. Die Nachwirkungen ihres Kampfes mit dem Rattenkönig. Der Boden war überflutet und aus der Sprinkleranlage tropfte es. Der Verwesungsgestank hatte sich verzogen, seit das Monster abgehauen war, und die Ratten ebenfalls. Nur die toten lagen noch herum, verkrümmt und mit nassem Fell.

Sofie schniefte. Sie bekam den Geruch des brennenden Königs nicht aus der Nase. Irgendwo hinter ihr wurden Isa, Nat und Jean zur Schnecke gemacht, weil der Rattenkönig entkommen war. Ein neues Team war angerückt, ebenfalls in schwarzer Kampfkleidung. Vier Leute mit Schwertern und festen Stiefeln, die ernst schauten und den Raum untersuchten. Bis auf ihren Anführer, dessen Stimme gerade eine Lautstärke erreichte, die die Pfützen auf dem Boden beben ließ.

»Ihr bekloppten Versager!«, brüllte er. »Ein Rattenkönig ist gerade mal Stufe zwei und nicht mal das kriegt ihr hin! Warum?«

Nat murmelte etwas.

»Was?! Nimm den Fuß aus dem Maul, wenn du mit mir redest!«

»Er konnte Schallwellen schießen«, sagte Nat. »Das wussten wir nicht.«

»Sag mal, bist du jetzt total verblödet?« Der Mann fuhr sich mit der Pranke über das Gesicht. »Rattenkönige können keine … Schallwellen? Ernsthaft? Was für Märchenfähigkeiten hatte er denn noch? Hat er Feuer gespuckt? Stinkt’s hier deshalb so erbärmlich nach verkohltem Fell?«

»Nein, das ist, weil, äh.« Isa räusperte sich. »Er wurde angezündet.«

Leises Stöhnen. »Und wie seid ihr auf die geniale Idee gekommen, einen Rattenkönig anzuzünden?«

»Es hätte fast funktioniert. Wenn die Sprinkleranlage nicht …«

»Warum habt ihr nicht daran gedacht, dass es eine Sprinkleranlage gibt? Ich habe euch die verdammten Gebäudepläne doch gezeigt.«

»Öh …«

Jean, der die Arme vor der Brust verschränkt hielt, knurrte leise. »Das waren wir nicht. Das war sie.« Er deutete mit dem Kopf auf Sofie.

Die wandte sich schnell ab. Der Sanitäter war fertig mit seiner Untersuchung und nickte zufrieden.

»Hast es gut überstanden, Kleene. Keine Brüche, keine Gehirnerschütterung. Lass dit Pflaster erst mal drauf, dann bist du bald wieder gesund. Beim Duschen schön trocken halten, klar? Okay. Noch Fragen?«

»Ja, eine.« Sofie räusperte sich. »Sind Sie ein Zwerg?«

Der Sanitäter kratzte seinen Vollbart und sah aus einem knappen Meter Höhe zu ihr auf. »Mensch, wie hast du denn dit erraten?«

»Glück.«

Was für ein bizarrer Tag. Werwölfe, Vampire, Zwerge. Und diese Ausgeburt der Hölle, der Rattenkönig. Hatte sie sich je so müde gefühlt? Wenn sie jetzt die Augen schloss, würde sie einpennen, im Stehen. Und vermutlich sehr schlecht träumen.

»Ein echter Zwerg aus Zehlendorf«, sagte der Sanitäter stolz. »Da hatte meine Familie früher Tunnel, vor zweihundert Jahren oder so, bevor wir alle Bodenschätze abgegrast hatten. War ’ne gute Zeit, sagt Uropi. Natürlich hat er dit nicht mehr erlebt.«

Die Buchstaben seiner Goldkette glitzerten. Was stand da? Ah. ‚Gold‘.

»Bist du fertig damit, einem Menschen deine Familiengeschichte zu erzählen?« Huch, der Kerl, der eben noch rumgebrüllt hatte. Muskulös, mittelalt, brutal. Die Haare in seinem Stiernacken waren schon grau und auf seiner Nase thronte eine goldgerahmte Brille. »Kannst gehen, Hinnerk.«

»Zu gütig.« Hinnerk, der Zwerg, packte seinen Sanitätskoffer zusammen und stand auf. Machte keinen großen Unterschied.

»Tschüss.« Sofie winkte ihm matt. Er grunzte und ging davon. Auf dem Weg zum Ausgang trat er eine tote Ratte beiseite.

Sie war so verdammt müde.

»Junge Dame.« Der Mann musterte sie. Kalte graue Augen hinter blitzblanken Brillengläsern. »Was ist heute Abend geschehen?«

»Keine Ahnung«, sagte Sofie. »Ich war hinter der Bar und dann habe ich diesen Kerl mit dem Schwert gesehen.«

»Gesehen?« Die Zornesfalte vertiefte sich. »Welchen?« Er deutete auf die Drei, die hinter ihm standen. Sie schauten wie Hunde, denen man befohlen hat, stillzusitzen und auf ihre Strafe zu warten. Isa trug wieder ihre Birkenstocks und ein dünnes, mülltütenartiges Kleid, das Nat aus seiner Hosentasche gezaubert hatte. Zusammengefaltet hatte es Mandarinengröße. Jetzt war es knielang und sehr verknittert. Isas linke Hand war verbunden, und die Köpfe der beiden Jungs ebenfalls.

»Was?«, fragte Sofie den Grauhaarigen.

»Welchen der Drei hast du gesehen?«, wiederholte er mit hart erkämpfter Geduld. »Den Milchbubi?«

»Äh, nein. Den da.« Kurz hatte sie ein schlechtes Gewissen, als sie auf Jean zeigte. Aber der hatte ja auch verraten, dass sie den König angezündet hatte.

Jean setzte seine beste Sauerbiermiene auf. »Das war nicht meine Schuld. Nat hat vergessen, die Schwerter mit Oculi einzureiben.«

»Habe ich nicht!« Nat zögerte. »Glaube ich.« Seine Brille saß wieder auf seiner Nase, etwas schief.

»Musst du ja wohl«, sagte Jean. »Sonst hätte sie nicht …«

»Fresse!«, brüllte der Grauhaarige und alle waren ruhig. »Du da, weiter im Text.«

»Ich heiße Sofie.«

»Interessiert mich nicht.«

Sofie reckte das Kinn in die Höhe. »Wer sind Sie überhaupt? Warum sollte ich Ihnen etwas erzählen? Sie sind doch nur irgendein dahergelaufener Zausel, der sich aufspielt.«

Hinter dem Rücken des Grauhaarigen machten Isa und Nat abwehrende Bewegungen. Zu spät. Ganz langsam zog der Grauhaarige sein Schwert aus der Scheide.

»Ich bin der, dem du die Wahrheit sagst«, knurrte er.

»Ist ja gut!« Sofie wollte zurückweichen, aber in einer blitzschnellen Bewegung brachte er die Klinge auf ihrer Schulter nieder. Und stoppte. Kühler Stahl berührte ihren Hals, da, wo der Ärmel des Shirts aufhörte.

»Erzähl mir, was heute passiert ist«, wiederholte er, das Schwert locker gegen ihre Haut drückend. »Alles.«

Plötzlich hatte sie furchtbare Lust, ihm alles zu erzählen.

»Also, Dennis war im Lager und hat eine Podologin genagelt. Der DJ ist nicht aufgetaucht und der Ersatz war richtig schlecht …«

Sie plapperte, bis ihr Mund trocken wurde. Irgendwann zwischendurch erzählte sie sogar davon, wie die Ratte in ihrem Ausschnitt gezuckt hatte, bevor sie gestorben war.

»… und dann hat das Wasser den Rattenkönig gelöscht und er ist abgehauen.«

»Wohin?«, fragte der Grauhaarige.

»Die Treppe hoch.« Sofie zeigte zum Ausgang. »Zum Glück, der Gestank war echt das Widerlichste, was ich je gerochen habe. Und ich habe eine Menge …«

»Wann war das?«

»Kurz, bevor ihr hier angekommen seid. Die anderen Schwert-Psychos und Sie.« Sie legte den Kopf schief. »He, Sie sahen bestimmt mal ganz gut aus, als Sie jung waren, oder?«

»Ich war eine Augenweide«, knurrte er. »Dann brauche ich noch deinen Namen und deine Adresse. Her damit.«

»Sofie Ritter, Manteuffelstraße 28.«

Er nahm das Schwert von ihrem Hals und sie blinzelte.

»He.« Sie berührte die Stelle, an der das Schwert eben noch gewesen war. Sie kribbelte. »Ist das … Haben Sie mich gezwungen, die Wahrheit zu sagen? Mit Magie?«

»Blöd bist du nicht.« Er wandte sich zu den anderen um, die immer noch hinter ihm standen. »Ganz im Gegensatz zu denen da. Ihr habt zwei Wochen Tatort-Putzdienst, klar? Und ihr fangt gleich an. Wenn hier morgen auch noch eine Ratte rumliegt, gibt’s Ärger.«

»Warum?« Jean hob das Kinn. »Sie haben doch gehört, dass der König Schallwellen schießen kann.«

Der Grauhaarige knurrte leise. »Ja, und dass du wieder vorgestürmt bist, de Sangeville mit dem Vieh reden wollte und Grimm schon wieder umgekippt ist. Ihr putzt.«

»Ich bin verletzt.« Isa hob ihre Hand.

»Dann putz mit der anderen! Und kümmert euch um die Zivilistin!« Der Mann stürmte davon. Zu einem der Neuankömmlinge, mit dem er sich unterhielt. Was sie wohl untersuchten?

»Was ist hier überhaupt los?«, murmelte Sofie.

»Wir sind Wächter«, sagte Nat. Seine spitzen Eckzähne blitzten. Sie erinnerte sich daran, wie er sie vorhin in die Ratte geschlagen hatte und schauderte.

»Wächter.« Sie nickte. »Magische Wächter. Alles klar. Kann ich jetzt gehen?«

Eine Falte erschien auf seiner Stirn. »Du nimmst das alles erstaunlich gut auf«, sagte er. »Die Ratten und die Magie und die Schwerter. Die meisten Leute rasten völlig aus, wenn sie damit in Kontakt kommen.«

Sofie blickte in sein Milchbubigesicht. »Es gibt Schlimmeres.« Sie war so unendlich müde. »Auch wenn es echt widerlich war.«

Er legte den Kopf schief, als wollte er etwas herausfinden. Dann nickte er. »Ja. Trotzdem, du hast dich gut gehalten. Danke für die Hilfe.« Er lächelte.

»Danke für eure.« Sie war wirklich dankbar, stellte sie verwundert fest. Wann hatte sie das letzte Mal Dankbarkeit empfunden? Lange her. Sehr lange. »Was passiert jetzt? Ihr sollt euch um mich kümmern. Was bedeutet das?«

Einschüchterung? Mord? Kälte breitete sich in ihrem Magen aus und der Schleier der Müdigkeit hob sich einen Moment lang.

»Nichts Schlimmes. Wir löschen dein Gedächtnis, aber das ist ganz einfach. Tut nicht mal weh.« Er wandte sich zu Isa um. Die ging inzwischen auf und ab und telefonierte.

»Nein«, sagte sie und grinste schwach. »Babe. Das war ganz harmlos. Ich bin nur mal wieder umgekippt. Wegen dem Blut. He, mir ist nichts passiert und gefährlich war das auch nicht …« Sie lauschte. »Aber ich war vorsichtig! Was hätte ich denn machen sollen? Wir mussten den König angreifen … Nein, das … Ach, Süße. Ich räume hier nur noch auf und dann fahre ich sofort zu dir, okay? Und dann nehme ich dich in den Arm und …«

»Isa!« Nat winkte. »Ich lösche Sofies Gedächtnis. Willst du noch Tschüss sagen?«

Isa winkte zurück. »Na klar! Moment …« Sie flüsterte in den Hörer, als wollte sie ein Kätzchen beruhigen. Dann steckte sie das Handy in die Tasche des Müllsackkleides und schlenderte zu Nat und Sofie. »Sofie! Total schade, dass wir dein Gedächtnis löschen müssen.« Sie grinste. »Wir könnten jemanden brauchen, der gern Rattenkönige anzündet.«

Sofie lächelte schwach. »Danke. Aber es hat ja nicht viel gebracht, ihn abzufackeln.« Sie wusste nicht genau, was sie noch sagen sollte. »Hat deine Freundin sich Sorgen gemacht?«

»Ja.« Isa rieb sich den Nacken. »Macht sie immer. Na, kein Wunder, bei unserem Job. Der ist nicht ungefährlich.«

»Und wir sind scheißschlecht darin.« Jean rumpelte die Treppen hinunter, eine große Kiste in den Händen. »Helft ihr jetzt oder labert ihr weiter mit der Kellnerin?«

»Wir haben uns nur verabschiedet«, sagte Nat. »Willst du auch …«

»Tschüss«, sagte Jean, streifte sich grobe Arbeitshandschuhe über und begann, Ratten einzusammeln.

»Es war mir ein Vergnügen, dich kennengelernt zu haben«, zwitscherte Sofie und wandte sich wieder den anderen beiden zu. »Also, wie funktioniert so eine Gedächtnislö...«

Nat sprühte ihr Spülwasser ins Gesicht. Zumindest roch es wie Spülwasser. Zitronig, mit einer Note Bratenfett. Sie wischte sich über die Augen und betrachtete den winzigen Sprühkopf aus Plastik, den er auf die richtete.

»Was zur Hölle ist das?«

»Memorial ex«, sagte er fröhlich und schwenkte die billige Plastiksprühflasche. »In ein paar Minuten wirst du alles vergessen haben. Also, alles, was mit Magie zu tun hat. Dein Gedächtnis wird die Lücken füllen und eine plausible Geschichte daraus machen.«

»Was für eine plausible Geschichte denn?«

»Eine ganz normale Rattenplage.« Er überlegte. »Ich schätze, die offizielle Version wird sein, dass es eine Überschwemmung in der Kanalisation gab, die die Ratten aufgescheucht hat. Oder so.«

»Okay. Super.« Gar nicht super. Sie stank nach Verwesung, verschmortem Fell und wollte heim.

»Komm, wir bringen dich hoch.« Er bot ihr seinen Arm an und sie hakte sich ein. Isa ging neben ihnen die Treppen hoch.

Draußen war es finster und schwül. Die Tageshitze hielt sich im Beton und strahlte noch Stunden nach Sonnenuntergang ab. Auf dem Parkplatz hinter dem Koval parkten mehrere zerbeulte Transporter, auf denen wahlweise »Security Service« oder »Schädlingsbekämpfung« stand. Neben einem Rettungswagen saß ein kleinwüchsiger Kerl auf dem Asphalt und rauchte. Einen mächtigen Bart hatte der. Der Himmel über den Silhouetten der Altbauten war grau und sternenlos. Ganz hinten sah sie den Fernsehturm. Ein Polizeiauto verließ den Parkplatz und Sofie roch die Abgase aus dem Auspuff.

»Weißt du, wie du nach Hause kommst?«, fragte der fremde Mann neben ihr. Was für ein Milchgesicht war das denn?

Sie machte sich von ihm los. »Ja, finde ich. Wer bist du?«

»Niemand.« Er nickte ihr zu. »Mach’s gut.«

Was? Verwirrt sah sie ihm und der komischen Frau in dem verknitterten Kleid zu, wie sie die Stufen vom Koval hinuntergingen. Keine zehn Pferde würden Sofie zurück in den Laden bringen. Nach der Rattenplage heute Abend würde er eh geschlossen werden, schätzte sie.

Ich brauche also einen neuen Job, dachte sie. Aber als Erstes brauche ich Schlaf. Vierundzwanzig Stunden, mindestens.

Müde trottete sie los.

Nachtschicht

 

Die U-Bahn-Türen schlossen sich zischend und Sofie schreckte hoch. Verschlafen? Verwirrt sah sie sich im halb leeren Waggon um. Aber nein, sie hatte Glück gehabt. Noch zwei Stationen bis nach Hause.

Erschöpft sank sie in die nach Schweiß stinkenden Plastikpolster zurück. Neben ihr unterhielt sich eine Gruppe Mädchen auf Englisch. Extrem fit für die Uhrzeit. Es war drei Uhr morgens, aber alle waren munter und energiegeladen, bis auf Sofie. Und den jungen Mann, dessen Kopf bei jedem Ruckeln gegen die Fensterscheibe knallte. Sein Schädel baumelte hin und her, als hätte er keinerlei Spannung im Körper. Zwischen seinen Sneakers glänzte eine Kotzlache und die Haare hingen ihm nass in die Stirn.

Am Görlitzer Bahnhof stieg sie aus. Latschte über den kaugummiverkrusteten Bahnsteig, schlurfte vorbei an den Dealern auf der Treppe und kletterte über die Absperrung zur Straße. Es waren eh kaum Autos unterwegs. Dafür Menschen. All die Dönerläden waren noch erleuchtet und Gespräche und Geschrei mischten sich mit dem Quietschen der nächsten Bahn, die über ihren Köpfen hielt.

Zum Glück hatte sie es nicht weit. Knapp der Hundescheiße auf dem Bürgersteig ausweichend erreichte sie ihre Haustür, schleppte sich fünf Stockwerke nach oben und hatte endlich Ruhe.

Oh, doch nicht.

Cassa sprang aus der Küche, kaum, dass Sofie die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»Soffie!« Weiche Arme schlangen sich um Sofies Hals und der Geruch nach Deo und irgendeinem fruchtigen Mischgetränk drang in ihre Nase. »Soffie, alles in Ordnung?«

Cassa machte drei Schritte rückwärts und betrachtete ihre Freundin, als könnte sie jeden Moment explodieren.

»Dein Arm!« Cassa schlug die Hände vor den Mund. Ihre falschen Wimpern berührten die Brauen, so weit riss sie die Augen auf. »Waren das die Ratten? Was ist passiert?«

»Woher weißt du von den Ratten?«, fragte Sofie. Sie setzte sich auf den alten Holzboden und begann, ihre Stiefel aufzuschnüren.

»Na, Luzy hat Eddie getroffen und der meinte, seine Cousine war im Koval und da waren plötzlich überall«, sie schauderte, »Ratten! Und die … die haben gebissen und … Oh Gott, Sofie! War das echt so? War es schlimm?«

»Es geht«, sagte Sofie. Ging es? Sie konnte sich nur verschwommen daran erinnern. Und das, obwohl sie nur ein Bier getrunken hatte. Das traditionelle Schichtanfangsbier mit Dennis, der dann gleich noch das zweite und das dritte hinterher getrunken hatte …

Dennis. Irgendwas war mit ihm, aber was? War er auch vor den Ratten geflüchtet? Ja, das musste er wohl sein. Morgen würde sie ihn anrufen.

»Echt?« Cassa steckte sich eine glattgebügelte Haarsträhne in den Mund und kaute darauf herum. »Das muss so eklig gewesen sein! Eddies Cousine hat gekotzt, weil ihr eine Ratte die Strumpfhose hochgeklettert ist. Stell dir vor, die ist«, trockenes Würgen, »unter ihren Rock. Stell dir das mal vor.«

»Mir ist eine Ratte im Shirt gelandet«, sagte Sofie und stand barfüßig auf. »Ich geh jetzt duschen und dann schlafen …«

»Im Shirt?!« Cassa erbleichte. »Soffie! Das ist ja … Oh, Süße!« Sie breitete die Arme aus.

Sofie ging an ihr vorbei. »Pascal ist nicht im Bad, oder?« Ihr derzeitiger Mitbewohner duschte zu den seltsamsten Zeiten.

»Nein, ist er nicht …« Langsam sanken Cassas Hände. Unsicher kaute sie weiter auf der Haarsträhne herum. »Soffie, kann ich was für dich tun? Ich meine …«

Sofie schüttelte den Kopf und schloss die Badezimmertür hinter sich. Mühevoll zog sie sich das klebrige Shirt über den Kopf. Warum schmerzten ihre Armmuskeln so? Klar war es lange her, dass sie regelmäßig trainiert hatte. Zuletzt in der Ausbildung. Aber sie hatte doch nichts Anstrengenderes getan als ein paar hundert Bierflaschen zu öffnen und Kisten zu schleppen, oder?

Es klopfte an der Tür.

»Soffie?« Cassas Stimme drang durch die Tür. Dumpf, wie aus einer anderen Welt. »Wenn du reden willst … Also, ich bin da. Ich bin extra heimgekommen, weil ich mir Sorgen gemacht habe. Du bist nicht ans Handy gegangen, und …« Leises Seufzen. »Wenn du wen zum Reden brauchst, auch … über das andere, also … Ich bin da, ja? Immer.«

»Danke«, sagte Sofie matt. Aber sie wollte nicht reden. Und erst recht nicht über das andere. Das war vorbei. Und die Geschichte mir den Ratten auch.

Dachte sie zumindest.

Grünes Frühstück

 

»Lass sie wachsen«, sagte eine sanfte Stimme. »Halt die Hände so und lass sie …«

Etwas drang in Sofies Ohren. Schlaftrunken wälzte sie sich herum und fiel aus dem Bett. Glücklicherweise bestand ihr Bett aus einer Matratze auf dem Boden. So rollte sie auf drei leere Pizzakartons und ihren Laptop und öffnete die Augen. Mittagslicht schien durch die blauen Vorhänge mit den lachenden Schafen. Sie hatten die Wohnung von einer Familie übernommen und das hier war das Kinderzimmer gewesen. Sofie sah an die Decke, an der grinsende Wolken klebten.

Sie hatte einen Traum gehabt. Einen alten Traum. Ein Lächeln, weiche Hände, eine Pflanze. Eine ganz bestimmte Pflanze. Die Sukkulente, die gerade auf ihrem Fensterbrett stand und sich immer noch ans Leben klammerte, egal, wie oft Sofie vergessen hatte, sie zu wässern. An der Aussicht konnte es nicht liegen, dass sie durchhielt. Der Hof war eng, zugemüllt und sie konnten ihren Nachbarn direkt in die Wohnung schauen.

Das Geräusch, das sie geweckt hatte, ertönte wieder. Ein Brummen, als würde ein schrottreifes Mofa starten. Der Mixer. Sofie stöhnte leise.

Drei Sekunden später steckte Cassa den Kopf zur Tür hinein. Frisch geschminkt und strahlend.

»Soffie! Ich hab dir Frühstück gemacht!« Sie schwenkte einen giftgrünen Smoothie. »Schön gesund, damit du schnell wieder auf die Beine kommst.«

»Ich bin nicht krank«, krächzte Sofie, nahm ihn aber entgegen. Dafür musste sie sich aufrichten, was mit Muskelkater wirklich ein Problem war.

»Nein, aber du hattest einen harten Tag.« Cassa räumte drei leere Bierdosen zur Seite und setzte sich. »He, gar nicht schlecht, mal so früh heimzukommen. Ich bin richtig fit.«

»Drei Uhr morgens ist nicht früh«, brummte Sofie und betrachtete die grüne Masse in ihrem Glas.