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Von höchster amtlicher Stelle wurde Dr. Etta Janssen soeben die Ausübung des Arztberufes "bis zur Klärung des Falles" untersagt. Was für eine himmelschreiende Ungerechtigkeit!
Vor ein paar Tagen kam ein junges Mädchen zu Etta in die Praxis und flehte um Hilfe. Ein Pfuscher hatte bei ihr eine Abtreibung vorgenommen, und sie drohte zu verbluten. Etta rief sofort einen Krankenwagen, doch es war zu spät. Auf dem Weg ins Krankenhaus verstarb das Mädchen.
Etta schreckt aus ihren Gedanken auf, als plötzlich ein Stein ins Zimmer fliegt. Auf dem Zettel, der um den Stein gewickelt ist, steht: Mörderin! Panische Angst kriecht in ihr hoch. In Windeseile packt die verzweifelte Ärztin ein paar Sachen zusammen und flüchtet - einer ungewissen Zukunft entgegen ...
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Seitenzahl: 136
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Erlöst von ihrer Schuld
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Impressum
Erlöst von ihrer Schuld
Sie wollte helfen und beging einen Fehler
Von höchster amtlicher Stelle wurde Dr. Etta Janssen soeben die Ausübung des Arztberufes »bis zur Klärung des Falles« untersagt. Was für eine himmelschreiende Ungerechtigkeit!
Vor ein paar Tagen kam ein junges Mädchen zu Etta in die Praxis und flehte um Hilfe. Ein Pfuscher hatte bei ihr eine Abtreibung vorgenommen, und sie drohte zu verbluten. Etta rief sofort einen Krankenwagen, doch es war zu spät. Auf dem Weg ins Krankenhaus verstarb das Mädchen.
Etta schreckt aus ihren Gedanken auf, als plötzlich ein Stein ins Zimmer fliegt. Auf dem Zettel, der um den Stein gewickelt ist, steht: Mörderin! Panische Angst kriecht in ihr hoch. In Windeseile packt die verzweifelte Ärztin ein paar Sachen zusammen und flüchtet – einer ungewissen Zukunft entgegen ...
Unruhig lief die zierliche blonde Dr. Etta Janssen in ihrem Praxisraum hin und her. Ab und zu warf sie einen ängstlichen Blick in das erschreckend leere Wartezimmer.
Was war denn heute los? War heute etwa ein Feiertag?
Hastig blätterte sie ihren Kalender um.
Nein. Es war weder ein Feiertag noch ein Sonntag. Und ihre Uhren gingen doch auch richtig! Sie hatte sie schon ein paarmal verglichen.
Warum kamen plötzlich keine Patienten mehr zu ihr?
Auch das junge Mädchen, das ihr als Sprechstundenhilfe diente, war heute nicht erschienen. Merkwürdig war das alles, und Etta hatte keine Erklärung dafür.
Oder sollte das alles etwas mit den Vorfällen der vergangenen Woche zu tun haben?
Während sie noch hin und her überlegte und nicht recht wusste, was sie jetzt beginnen sollte, schellte es an der Haustür.
Sie ging hin, um zu öffnen.
»Frau Doktor Janssen?« Der Herr mit dem ernsten, verschlossenen Gesicht zog seinen Hut.
»Ja, die bin ich.« Etta blickte etwas verwundert auf den ihr fremden Mann, den sie in dem kleinen Ort noch nie gesehen hatte.
Sie kannte hier fast alle Einwohner, denn so sehr viele wohnten ja nicht in dem einsamen Dorf.
Vor gut einem Jahr hatte sie diese Praxis von einem alten Arzt, der sich zur Ruhe gesetzt hatte, übernommen, nur pachtweise, denn eine eigene Praxis konnte sie sich noch nicht leisten.
Die Menschen dieser Gegend hatten nach anfänglicher Skepsis, für die sie volles Verständnis hatte, doch allmählich Zutrauen zu der hübschen jungen Ärztin gefasst.
Wie oft hatte man sie des Nachts herausgeklingelt, wenn man ihre Hilfe brauchte. Stets war sie ohne Murren in ihren kleinen Wagen gestiegen und manchmal ziemlich weite Strecken zu einem entlegenen Bauernhof gefahren, um dem vielleicht schon so lange ersehnten Erben auf die Welt zu verhelfen.
Mit einem Glücksgefühl im Herzen und innerer Befriedigung war sie dann in den frühen Morgenstunden nach Hause zurückgekehrt, um rasch noch ein paar Stunden zu schlafen.
Doch seit einigen Tagen fühlte sie, dass irgendetwas in der Luft lag.
Der fremde Besucher – ein Patient schien es auf keinen Fall zu sein – war einen Schritt näher getreten.
»Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?«
»Natürlich, bitte, kommen Sie herein.«
Etta machte eine einladende Handbewegung und nahm im gleichen Augenblick wahr, dass sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite Leute versammelt hatten, die jetzt neugierig zu ihr herüberblickten.
Auch an einigen Fenstern verschwanden blitzschnell Gesichter, als sie ihren Blick ganz unbewusst über die kleinen, ebenerdigen Häuser gleiten ließ.
Mit einem unbehaglichen Gefühl in der Magengrube bat sie den Besucher, in ihrem Praxisraum Platz zu nehmen.
Doch als hätte er dies gar nicht gehört, blieb er mit ernster Miene vor ihr stehen.
Er zog aus der inneren Tasche seines leichten Mantels einen weißen Umschlag heraus.
»Frau Doktor Janssen«, begann er jetzt mit etwas verhaltener Stimme, »ich komme im Auftrag einer höheren Stelle zu Ihnen, um Ihnen diesen Brief persönlich zu übergeben. Ich möchte Ihnen versichern, dass mir dieser Auftrag wirklich nicht sehr angenehm ist.«
Mit diesen Worten überreichte er Etta, die ihn verständnislos anschaute, den weißen Umschlag.
Nur um einen Brief abzugeben, schickte man extra einen Mann zu ihr? Es gab doch eine Post! Man lebte ja schließlich nicht mehr im Zeitalter der reitenden Boten und Kuriere.
»Würden Sie mir bitte durch Ihre Unterschrift bestätigen, dass Sie den Brief von mir persönlich erhalten haben?«
Der Mann schob einen weißen Zettel über den Schreibtisch und verwahrte ihn sorgfältig und etwas umständlich in seiner Brieftasche, nachdem Etta wortlos unterschrieben hatte.
Er griff nun nach seinem Hut, den er auf einem Stuhl abgelegt hatte.
»So, damit wäre meine Mission erfüllt. Ich darf mich dann wieder verabschieden.«
Immer noch stumm geleitete Etta ihren merkwürdigen Gast zur Tür und sah durch ein Fenster, wie er auf seinen etwas abseitsstehenden Wagen zuging, einstieg und davonfuhr.
♥♥♥
Der Brief in Ettas Hand erschien ihr plötzlich wie ein Stück glühendes Eisen. Er konnte unmöglich etwas Gutes enthalten, das fühlte sie deutlich.
Sie fürchtete sich fast, den Umschlag zu öffnen.
Aber dann riss sie ihn doch entschlossen auf und faltete den darin befindlichen Bogen auseinander.
Im nächsten Moment sank sie kreidebleich auf den vor ihrem Schreibtisch stehenden Stuhl und stützte aufstöhnend den Kopf in die Hände.
Das konnte doch nur ein böser Traum sein!
Mühsam, mit bleischweren Beinen, erhob sie sich und ging in ihr – nach einem kleinen Garten hinaus gelegenes – Wohnzimmer.
Dort setzte sie sich in einen Sessel, zündete sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an und schloss kurz die Augen.
Dann nahm sie wieder den unheilvollen Brief zur Hand. Immer wieder glitten ihre Augen über die wenigen Zeilen, die sie schon auswendig kannte:
... und sehen wir uns aus diesem Grunde leider gezwungen, Ihnen bis zur völligen Klärung dieses Falles die weitere Ausübung Ihres Arztberufes zu untersagen. Dies gilt mit sofortiger Wirkung. Zu gegebener Zeit...
Mit einer unsagbar müden Bewegung ließ Etta den Bogen sinken.
Sie träumte nicht. Es stand wirklich schwarz auf weiß da. Sie durfte nicht mehr praktizieren, sie musste ihren so heiß geliebten Beruf aufgeben, und sie wusste doch, dass nicht die geringste Schuld sie traf.
Im Gegenteil, sie hatte ja noch versucht, einem Menschen das junge Leben zu erhalten.
Aber wer glaubte ihr denn? Alle Anzeichen standen so ungünstig für sie, da konnte sie reden, soviel sie wollte, man hielt sich an die Tatsachen.
Und die wirklich Schuldigen würden sich niemals freiwillig melden, da sie sich gewiss der hohen Strafe bewusst waren, die sie erwartete.
Warum sperrt man mich eigentlich nicht gleich ins Zuchthaus?, durchfuhr es Etta.
Die Zigarette in ihrer Hand war längst verglimmt. Die Asche lag unbeachtet auf dem Fußboden.
Automatisch griffen die Hände schon wieder nach der Schachtel, während die Geschehnisse der letzten Tage wie ein Film vor ihrem geistigen Auge abrollten ...
♥♥♥
Es war schon sehr spät an einem Samstagabend gewesen, als die Hausklingel sie aus der Lektüre eines Buches aufschreckte.
Sie lief rasch durch den kleinen Flur, da sie nun auch noch hörte, wie anscheinend jemand voller Verzweiflung mit beiden Fäusten gegen die Tür schlug.
Als sie öffnete, taumelte ihr ein junges Mädchen förmlich in die Arme.
»Bitte, bitte«, jammerte es mit letzter Kraft. »Helfen Sie mir. Ich kann nicht mehr.«
Fast von Etta getragen, schleppte sich das junge Mädchen zu der lederbezogenen, mit einem weißen Tuch überspannten Liege.
Ermattet war der Kopf zur Seite gesunken, ihr Blick aber Hilfe suchend auf die Ärztin geheftet.
»Was fehlt Ihnen denn? Haben Sie Schmerzen?«
Etta strich der laut aufstöhnenden Patientin die schweißnassen Haare aus dem Gesicht. Gleichzeitig begann sie, ihr die Kleider zu öffnen.
Hier war ganz offensichtlich rasche Hilfe notwendig.
Da drang die leise Stimme ihrer späten Patientin, kaum mehr verständlich, an ihr Ohr.
»Ich habe ein Kind erwartet ... bin gefallen ...«
Mehr konnte Etta nicht erfahren, da eine wohltätige Ohnmacht das vor ihr liegende Mädchen umfangen hatte.
Aber jetzt wusste Etta doch wenigstens, wo sie beginnen konnte. Doch würde es ihr allein, ohne Unterstützung, gelingen, hier wirklich zu helfen?
Sie wollte es auf jeden Fall versuchen.
Als Etta das Mädchen ausgezogen hatte, schoss ihr das Blut nur so entgegen.
Etta hatte keine Zeit mehr gehabt, sich einen Kittel überzuziehen. Das hübsche Kleid, das sie trug, war restlos verdorben.
Doch das beachtete sie in diesem Moment nicht.
Mit sachkundigem Blick stellte sie fest, dass das Mädchen gelogen hatte!
Es war unmöglich hingefallen, sondern hatte sich irgendeinem Pfuscher in die Hände gegeben, der dieses Unheil angerichtet hatte. Und jetzt stand das junge Menschenkind auf der Grenze zwischen Tod und Leben.
Rasch deckte Etta die mit wachsbleichem Gesicht in tiefer Ohnmacht liegende Patientin zu und griff zum Telefon, um einen Krankenwagen herbeizurufen, der schnell das Mädchen in das Krankenhaus der nahe gelegenen Stadt brachte.
Endlos lang erschien ihr die Zeit, bis endlich der Wagen vor ihrer Tür hielt.
Geübte Sanitäter betteten die Bewusstlose auf eine Trage und fuhren mit ihr davon ...
♥♥♥
Zwei Tage später hatte Etta erfahren, dass Hella Jürgens noch während des Transportes verstorben war. Wahrscheinlich verblutet.
Und ihr, Dr. med. Etta Janssen, sprach man jetzt die Schuld zu. Sie wurde verdächtigt, gegen den Paragrafen zweihundertachtzehn verstoßen zu haben.
Mit tödlichem Ausgang!
Etta war an jenem Tag sofort zum Krankenhaus gefahren, hatte dem Chefarzt ihren telefonischen Bericht wiederholt und ihm ihre Unschuld an diesem Drama beteuert.
»Ich glaube Ihnen ja, Frau Kollegin.« Der alte Herr hatte sie durch seine Brillengläser so merkwürdig forschend angesehen, als ob er ihr doch nicht ganz traue. »Aber Sie müssen verstehen, dass ich den Fall melden muss. Es ist nun einmal meine Pflicht. Sie kennen ja unsere strengen Vorschriften selbst. Aber nun verlieren Sie nicht gleich den Kopf. Warten Sie doch erst einmal in Ruhe ab.«
Ja, so war das gewesen, und heute hatte sie die niederschmetternde Nachricht, die ihr wie ein Todesurteil erschien, aus der Hand eines Fremden erhalten.
Was sollte sie nur tun?
♥♥♥
Die Stunden vergingen.
Immer noch saß die junge Ärztin da und zermarterte sich das Hirn. Sie wusste nicht, wie viel Zeit inzwischen vergangen war.
Draußen herrschte bereits tiefe Finsternis.
Müde und zerschlagen erhob Etta sich, um ihr Schlafzimmer aufzusuchen. Schlaf würde sie natürlich nicht finden, das wusste sie jetzt schon, deshalb ging sie noch einmal an den Arzneischrank in ihrem Praxisraum, um sich eine Tablette zu holen.
In dem Moment, als sie das Licht löschte und den Raum wieder verlassen wollte, flog etwas durch das offene Fenster herein.
Erschrocken blieb Etta stehen.
Ein Stein, um den ein Zettel gewickelt war, rollte ihr direkt vor die Füße.
Mein Gott, sie hatte ganz vergessen, das Fenster zu schließen und die Jalousien herunterzulassen! Rasch holte sie dies jetzt nach, bevor sie den Stein aufhob.
Sie löste den Zettel ab und musste sich im nächsten Augenblick am Türrahmen festhalten. Wie hypnotisiert starrte sie auf das kleine Stück Papier. Mit großen, ungelenken Buchstaben stand darauf nur ein Wort:
Mörderin!
»Nein!«, schrie Etta auf.
Das war zu viel! Die ganze Verzweiflung dieses Tages, die sich in ihr aufgestaut hatte, brach sich jetzt Bahn. Laut aufschluchzend warf sie sich in den nächsten Sessel und weinte bitterlich.
Allmählich ließ die furchtbare seelische Spannung nach, und nach einer geraumen Zeit war Etta sogar wieder imstande, klar zu denken.
Sie musste etwas unternehmen. Auf keinen Fall konnte sie hierbleiben, denn die Situation schien sich so zuzuspitzen, dass es für sie gefährlich wurde.
Aber wohin sollte sie gehen? Ein Elternhaus, in das sie sich flüchten konnte, besaß sie leider nicht mehr. Fieberhaft arbeiteten ihre Gedanken. Bei wem von all ihren Freunden und Bekannten würde sie wohl das meiste Verständnis für ihre so schwierige Lage zu erwarten haben?
Onkel Friedrich! Natürlich!
Er war der einzige Mensch auf der Welt, bei dem sie auf volles Verständnis hoffen durfte. Friedrich Hildebrandt war der einzige Bruder ihrer verstorbenen Mutter und besaß in Norddeutschland eine Apotheke, die er gemeinsam mit seinem Sohn Henno führte.
Etta sah das gütige, von einem Kranz weißer Haare umrahmte Gesicht des alten Herrn vor sich. Schon als Kind hatte sie ihn sehr gerngehabt und sich über jeden seiner Besuche gefreut. Immer hatte er etwas für die kleine Etta in der Tasche gehabt, und er wusste stundenlang lustige Geschichten zu erzählen.
Er besaß die seltene Gabe, Ruhe und Harmonie um sich zu verbreiten. In seiner Gegenwart gab es nie hitzige Wortgefechte oder gar Zank und Streit.
Wie elektrisiert sprang Etta auf und packte ihren Koffer.
Dann schloss sie alle Schränke ab und steckte die Schlüssel in ihre Tasche. Anschließend schrieb sie ihre künftige Adresse auf einen Bogen und adressierte den Umschlag an das Postamt.
Sie sah sich überlegend um. War noch etwas zu erledigen? Nein.
Durch den Hintereingang schlich sie sich zu ihrem kleinen Wagen, der im Hof stand. Ein banger Gedanke durchzuckte sie. Hoffentlich hatte sich niemand an ihrem Wagen zu schaffen gemacht.
Erleichtert stellte sie fest, dass der treue Kamerad in Ordnung war.
Ein paar Minuten später trug er sie schon, vertraut surrend, über die Straßen in Richtung Norden davon.
♥♥♥
Es war noch ziemlich zeitig am Morgen.
Die Sonne lachte bereits von einem durch kein Wölkchen getrübten, strahlend blauen Himmel. Sie spiegelte sich in den blanken Scheiben der tief in einen großen, gepflegten Park gebetteten Klinik. Die Sträucher ringsum waren von einem zarten Grün überhaucht.
Frühling! Die schönste Zeit des Jahres, in der alles wieder zu neuem Leben erwachte.
Mit eiligen Schritten strebte Professor Rudolf Schöllhauer dem Eingang der Klinik zu.
Ihm blieb wenig Zeit für Naturbetrachtungen. Nur ganz nebenbei nahm er die Schönheiten dieses herrlichen Tages in sich auf.
Der hellgraue Anzug mit der modischen Krawatte ließ den hochgewachsenen, schlanken Mann jugendlicher erscheinen, als er war. Jedenfalls hätte ihm niemand angesehen, dass er das vierte Jahrzehnt gerade vollendet hatte.
Das schmale intelligente Gesicht mit dem vollen dunkelblonden Haar über der hohen Stirn schien heute gelöster als sonst.
Mit elastischen Schritten stieg Professor Schöllhauer die Eingangsstufen hinauf und öffnete schwungvoll die Tür.
Freundlich erwiderte er den Gruß des Pförtners, der soeben durch einen Kollegen von seinem Nachtdienst abgelöst wurde.
»Na, alles ruhig gewesen heute Nacht?«, fragte der Professor kurz im Vorübergehen.
»Ja, Herr Professor, es sind keine besonderen Vorkommnisse zu melden.«
Der alte Mann mit dem müden Gesicht wandte sich dem Ausgang zu, nickte noch einmal verabschiedend zu seinem Kollegen hinüber und verließ das Haus.
Noch bevor Professor Schöllhauer sein Zimmer erreicht hatte, um sich umzukleiden, lief ihm eine junge Schwester entgegen.
»Herr Professor, guten Morgen«, stieß sie atemlos hervor, »Nummer vierundzwanzig verlangt nach Ihnen.«
Ruckartig drehte Professor Schöllhauer sich um.
Sein Gesicht hatte sich verfinstert, und ein gefährliches Glitzern war in seinen grauen Augen, die jetzt fast dunkel wirkten.
»Wie oft soll ich es Ihnen noch sagen, Schwester Gerda, dass dies hier kein Gefängnis ist!«, herrschte er die Schwester mit mühsam unterdrücktem Zorn in der Stimme an. »Die Menschen in diesem Haus sind nicht nummeriert, sondern haben Namen. Wollen Sie sich das jetzt ein für alle Mal merken?«
Stationsschwester Eugenia lugte um die Tür ihres Zimmers. Sie musste wohl etwas von dem nicht ganz leise geführten Wortwechsel mitbekommen haben.
Jedenfalls trat sie jetzt neben die junge Schwester und sah in deren mit schamvoller Röte übergossenes Gesicht.
Inzwischen hatte der Professor dem Schrank in seinem Zimmer einen frischen blütenweißen Kittel entnommen.
»Wer ist denn nun Ihre Nummer vierundzwanzig?« Er schloss gerade die Knöpfe, als er wieder auf den Flur hinaustrat.
Ein Lächeln umspielte die Winkel seines gut geschnittenen Mundes, als er die mit Verlegenheit und Trotz kämpfende Schwester mit gesenktem Kopf vor sich stehen sah.
Seine Stimme hatte wieder den gewohnten ruhigen Klang. Obwohl er sich im Allgemeinen gut beherrschen konnte, war ihm doch diesmal das Temperament durchgegangen. Er hatte wieder einmal nicht bedacht, dass Krankenschwestern Mangelware waren.
Nun, die Kleine würde schon nicht gleich davonlaufen.
Schwester Gerda war dann auch sofort wieder versöhnt und schlug die Augen zu dem allseits verehrten Professor auf, als er jetzt kameradschaftlich seine Hand unter ihren Arm schob.
»Na? Um wen handelt es sich nun?«
»Um Fräulein Sylvia Kürten. Sie hat schon ein paarmal ...« Schwester Gerda wollte gerade eine langatmige Erklärung abgeben, als der Professor sie nach den ersten Worten bereits händeringend unterbrach.
»Um Himmels willen! Schon wieder einmal diese Operettendame? Was hat sie denn diesmal für ein Wehwehchen?«
Das wusste Schwester Gerda natürlich nicht. Hilflos zuckte sie die Schultern und entfernte sich, um den Pflichten nachzukommen, die auf sie warteten.
Die sonst so ernste Stationsschwester Eugenia brach unwillkürlich in ein leises Lachen aus.
Der Professor wirkte in diesem Moment aber auch zu komisch. Sie wusste, dass er sich grundsätzlich nur den ernsthaften Fällen widmete und alles Übrige den anderen Ärzten überließ.