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Der Tag des Abschieds ist gekommen, die glückliche Zeit im Schweizer Internat endgültig vorbei. Besonders die zarte und scheue Andrea blickt ihrer Zukunft voller Angst entgegen. Denn sie ist Waise und kehrt nicht in ein gepflegtes Elternhaus zurück, sondern muss sogleich eine Stelle als Bibliothekarin bei dem Grafen Ulmen antreten.
Ihr Herz krampft sich bei dem Gedanken zusammen, denn über den Grafen ist kaum etwas bekannt und sie wird ihm in dem einsamen Schloss schutzlos ausgeliefert sein.
Doch wenn man von Kind an als Waise herumgestoßen wird, dann hat man gelernt, sein Schicksal zu tragen und nicht aufzubegehren ...
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Seitenzahl: 137
Cover
Das letzte Geheimnis von Ulmenhof
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Impressum
Das letzte Geheimnis von Ulmenhof
Meisterwerk um eine schicksalhafte Enthüllung
Der Tag des Abschieds ist gekommen, die glückliche Zeit im Schweizer Internat endgültig vorbei. Besonders die zarte und scheue Andrea blickt ihrer Zukunft voller Angst entgegen. Denn sie ist Waise und kehrt nicht in ein gepflegtes Elternhaus zurück, sondern muss sogleich eine Stelle als Bibliothekarin bei dem Grafen Ulmen antreten.
Ihr Herz krampft sich bei dem Gedanken zusammen, denn über den Grafen ist kaum etwas bekannt und sie wird ihm in dem einsamen Schloss schutzlos ausgeliefert sein.
Doch wenn man von Kind an als Waise herumgestoßen wird, dann hat man gelernt, sein Schicksal schweigend zu tragen und nicht aufzubegehren ...
»Nun, meine Mädels, jetzt fällt euch wohl der Abschied sehr schwer, nach den langen Jahren des Zusammenseins?«
Fräulein Dr. Ammer, die Leiterin des Schweizer Internats, tritt lächelnd zu der kleinen Gruppe, die etwas abseits von den anderen steht.
»Petra, Andrea und Steffi, die drei Unzertrennlichen! So hat man euch doch hier genannt, nicht wahr? Verzagt nicht, Kinder. Sicher werdet ihr öfter Gelegenheit finden, einander zu sehen.«
»Wir werden uns jeden Tag begegnen, Fräulein Doktor Ammer!« Steffi, die kecke Rothaarige mit dem Schmollmündchen, sprudelt es heraus, während ihre beiden Freundinnen betreten vor sich hin blicken.
»Wie ist das möglich?«, wundert sich die freundliche Lehrerin.
»Ein mehr oder minder glücklicher Zufall hat uns alle drei in dieselbe Gegend verschlagen.«
»Aber das ist doch großartig, Kinder! Warum macht ihr denn so traurige Gesichter?« Sie sieht von einem zum anderen.
»Das mit dem Freuen hat einen Haken! Bei mir ginge es ja noch an!« Steffi blickt auf ihre Freundinnen. »Ich gehe für einige Zeit zu meinem Onkel. Auf seinem Gut lässt sich schon leben«, setzt sie hinzu.
»Ach ja, deine Eltern machen eine Weltreise. Sie schrieben es mir. Nun, bei deinem Onkel, dem Oberst von Britten, bist du ja gut aufgehoben. Aber was ist denn nun mit euch?« Fragend wendet Fräulein Dr. Ammer sich den beiden anderen zu. »Petra, warum kannst du dich nicht auf zu Hause freuen?«
Das gertenschlanke braunhaarige Mädchen sieht zögernd zu der Leiterin auf.
»Ich freue mich schon auf den Angerhof, auf das Wiedersehen mit allen und auch, dass Steffi und Andrea in meiner Nähe leben werden ...«
»Aber?«
Wieder senkt sie ihr hübsches Köpfchen und schweigt.
»Petra findet einen Stiefvater vor, den sie nicht kennt«, ertönt stattdessen Steffis Stimme. »Das erfüllt sie mit Besorgnis!«
»Vielleicht geht alles besser, als du denkst, Petra«, tröstet die Lehrerin sie. »Du bist jetzt ein großes vernünftiges Mädchen, das sich anzupassen versteht. Bestimmt werden sich deine Eltern freuen, wenn sie sehen, wie verständnisvoll du bist.«
»Glauben Sie?« Schon halb getröstet, gleitet ein hoffnungsfroher Schimmer über das ernste Gesicht.
»Aber ja, Kind! Die bösen Stiefeltern gibt es meistens nur im Märchen.«
Das ist gut gemeint. Doch Fräulein Dr. Ammer weiß, dass sich Petras Mutter in den letzten Jahren sehr wenig um ihre Tochter gekümmert hat. Während dieser Zeit verbrachte das Mädchen auch immer die Ferien im Internat, weil man sie zu Hause nicht gebrauchen konnte.
Nun wandert der Blick der Internatsleiterin zu der Dritten im Bunde, dem erklärten Liebling des ganzen Internats.
Zart und scheu ist die junge Andrea und von solcher Lieblichkeit, dass man nur schwer den Blick von diesem süßen, klaren Gesicht wenden kann.
»Was ist denn mit dir, mein Kind?« Zärtlich fährt die Hand der Lehrerin über das seidige Haar.
»Andrea muss Geld verdienen!« Steffi spricht es aus, als ob man die Freundin in die Sklaverei schicken würde. »Sie muss eine Stelle als Bibliothekarin bei dem Grafen von Ulmen antreten.«
»Stimmt das, Andrea? Ich dachte, du wohntest im Hause deines Vormundes?«
»Nein, mein Vormund meint, je eher ich mich daran gewöhnen würde, auf eigenen Füßen zu stehen, desto besser wäre es für mich!«
Die sonst so melodische, weiche Stimme des Mädchens klingt wie gebrochenes Glas. Tapfer kämpft sie gegen die aufsteigenden Tränen an.
Fräulein Dr. Ammer schüttelt den Kopf. Das war natürlich die einfachste Art, als Vormund alle Verpflichtungen von sich zu schieben.
Sie ist zornig, dass ausgerechnet ihrer liebsten Schülerin so etwas zustoßen muss. Gott weiß, was bei dem Grafen auf Andrea wartet!
»Was ist das für ein Mann, dieser Graf?«
Andrea zuckt die Schultern.
»Wenn ich mich recht entsinne«, schaltet sich Petra in das Gespräch ein, »ist Graf von Ulmen ein freundlicher alter Herr. Sein Schloss ist der schönste Besitz weit und breit. Du wirst es bestimmt gut dort haben, Andrea!«
Das liebreizende junge Geschöpf nickt ergeben. Wenn man von Kind an als Waise herumgestoßen wird, ist man nicht sehr hoffnungsfreudig. Die Zeit im Internat war die schönste ihres jungen Lebens.
Die Lehrerin verabschiedet sich nun von ihren Zöglingen und beteuert, immer für sie da zu sein, falls die Mädchen sie einmal brauchen sollten.
Tief bewegt bedanken sich die drei.
»Oh, dort kommt Onkel Thomas!«, ruft Steffi und winkt aufgeregt einer dunkelgrauen Limousine.
Ein schlanker, hochgewachsener Mann mit schon leicht ergrauten Schläfen wirft lächelnd den Schlag hinter sich zu und mustert die herumstehenden Mädchen.
»Hier sind wir, Onkel Thomas, hier!«
»Na, Steffi, endlich!« Impulsiv schließt er seine zierliche, temperamentvolle Nichte in die Arme. »Lass dich anschauen, kleiner Rotfuchs! Du bist ja beinahe schon eine Dame.«
»Nicht beinahe, ich bin wirklich eine, Onkel. Immerhin werde ich achtzehn Jahre alt!«
»Oh, Pardon! Wo hatte ich nur meine Gedanken!« Der Oberst lacht verschmitzt. »Dann kann es ja losgehen! Und wohin darf ich Sie, meine Damen, fahren?« Fragend wendet er sich Petra und Andrea zu.
»Aber Herr von Britten, erkennen Sie mich denn nicht mehr?« Über Petras stilles Gesicht zieht flüchtige Röte.
Erstaunt ruht der Blick des Obersten auf ihr.
»Das ist ja die kleine Petra vom Angerhof! Pardon, Baroness, dass ich Sie nicht sogleich erkannte. Aber immerhin liegen ja eine ganze Reihe von Jahren zwischen unserem letzten Zusammentreffen. Damals trugen Sie noch Zöpfe mit großen Haarschleifen. Ja, ich weiß es jetzt wieder! Es war auf einem Erntedankfest, und Sie sagten einen Spruch auf.«
»Das haben Sie behalten?« Aus den braunen Augen strahlt so viel Wärme und Dankbarkeit, dass Thomas von Britten ganz betroffen in das schmale, feine Gesicht der Sprecherin blickt. Die kleine Petra hat sich ja zu einem ganz außerordentlich ansprechenden Menschenkind entwickelt. Dabei sind die Umstände, die sie auf dem Angerhof erwarten, ganz und gar nicht schön.
Das Gesicht des Obersten verdüstert sich. Armes Kind! Mitleid bewegt sein Herz.
Auf dem Angerhof regiert ein neuer Herr! Ein harter, verschlagener und egoistischer Mensch, der die treuen alten Dienstboten längst verjagt hat.
Das neue Personal, oft zweifelhafte Gestalten darunter, wechselt ständig, und dementsprechend ist auch der Ertrag des Angerhofes. Die Felder sind abgewirtschaftet, Gutshof und Stallungen zeigen deutliche Spuren des Verfalls.
Aber die Baronin von Anger, die nun Frau von Grooten heißt, sieht das alles nicht. Sie sieht überhaupt nichts außer ihrem heiß geliebten Mann. Und deshalb ist der baldige Abrutsch wohl kaum mehr aufzuhalten. Arme Petra!
Besorgt sieht Thomas das Mädchen von der Seite an.
»Baroness! Der Angerhof und mein Gut liegen nicht weit voneinander. Ich hoffe, dass Sie uns oft besuchen kommen. Besonders, wenn Sie Freunde brauchen, dann betrachten Sie unser Heim auch als das Ihrige!«
»Ich danke Ihnen«, flüstert Petra mit zuckenden Lippen.
»Falls Sie noch ein warmes Plätzchen für eventuelle Notfälle an Ihrem Herd haben«, sagt da eine melodische Stimme hinter ihm, »dann laden Sie mich bitte auch ein, Herr Oberst!«
»Oh ja, Andrea hat es am nötigsten von uns allen«, kommentiert Steffi. »Außerdem hat Onkel Thomas ja auch keine Frau, die auf uns eifersüchtig sein könnte! Also, kommt nur, sooft es euch dazu treibt!«
»Ich schließe mich den Worten meiner Nichte an, Fräulein Andrea!«, versichert der Oberst. »Darf ich mir gestatten, Sie zur Stärkung vor der düsteren Zukunft zu einer Tasse Kaffee einzuladen?«, fragt er dann.
Die Mädchen nehmen seine Einladung mit strahlenden Augen an.
»Nun, Fräulein Andrea, jetzt erzählen Sie uns einmal, wo bei Ihnen der Schuh drückt!«, bittet Thomas, als sie im Café sitzen. Ihm ergeht es wie allen anderen. Auch er kann sich Andreas Liebreiz nicht entziehen.
»Mein Vormund hat mir eine Stelle als Bibliothekarin und Sekretärin auf dem Ulmenhof besorgt, Herr Oberst«, erwidert Andrea. »Kennen Sie den Grafen von Ulmen?« Die dunkelblauen Augen blicken ihn forschend und besorgt an.
»Ja, natürlich kenne ich meinen Nachbarn!« Thomas sieht ernst vor sich hin. »Er ist der gütigste Mensch auf der Welt!«
»Siehst du, Andrea!« Petra nickt der Freundin freudig zu.
»Im Augenblick«, fährt der Oberst fort, »ist nur ein ungünstiger Zeitpunkt für Ihre Ankunft. Wir haben gestern seinen ältesten Sohn, den Grafen Randolph von Ulmen, in der Familiengruft beigesetzt. Er verunglückte mit seinem Auto bei einer rasenden Fahrt in die Stadt.«
»Das tut mir sehr leid«, versichert Andrea. »Ich muss dennoch meine Stelle antreten, denn mein Vormund hat mein Kommen für heute angekündigt. Lebt Graf von Ulmen nun alleine, nachdem sein Sohn verunglückt ist?«
»Nein. Die Frau seines Sohnes, Gräfin Julia, lebt mit ihrer Tochter noch auf dem Schloss. Außerdem wird der jüngste Sohn, Graf Nikolaus, zurückerwartet.«
»Ist das nicht dein bester Freund, Onkel Thomas?«
»Ganz recht, Steffi! Ich wundere mich, dass du so gut über deinen alten Onkel Bescheid weißt!«
»Alter Onkel!«, protestiert die temperamentvolle Nichte. »Na, hör mal, du siehst doch toll aus, wie Cary Grant! Sämtliche Mitschülerinnen waren neidisch, als sie sahen, wer mich abgeholt hat.«
»Übertreib nur nicht, Steffi«, wehrt der Onkel lachend ab. »So, und nun fahren wir los.«
♥♥♥
Oberst von Britten fährt Andrea an ihren Bestimmungsort und betrachtet beim Aussteigen mitleidig den kleinen Handkoffer, in dem die gesamte Habe der kleinen Waise enthalten ist. Das Herz tut ihm weh, wenn er dabei an Gräfin Julias forschenden Blick denkt. Ihr Urteil über die Menschen hängt sehr viel von Äußerlichkeiten ab.
»Kopf hoch, Fräulein Andrea! Ich lasse mich bald einmal hier sehen!«
Das bezaubernde junge Mädchen dankt ihm bewegt, ehe es in eine große, getäfelte Halle geführt wird. Dann erscheint ein alter grauhaariger Diener und führt sie in den dritten Stock. Das Zimmer, in das sie nun eintritt, ist klein und äußerst sparsam möbliert. Aber dafür ist die Aussicht prächtig.
Entzückt öffnet Andrea, als sie allein ist, eine schmale Tür und tritt auf einen winzigen Balkon hinaus. Herrlich ist dieser Ausblick in den Park und auf das ferne Gebirge.
Dann packt sie ihre wenigen Habseligkeiten aus. Der Wandschrank ist viel zu groß für ihre spärliche Garderobe. Ganz verloren hängen die paar Kleider darin.
Der Diener sagte ihr, dass Graf von Ulmen erst in einer Stunde zu sprechen sei. Sie hat also Zeit für einen kleinen Erkundungsgang.
Leichtfüßig eilt Andrea die vielen Treppen hinab. Niemand begegnet ihr auf den stillen, langen Gängen. Wirklich ein verwunschenes Schloss.
Eine kleine Seitentür weist ihr schließlich den Weg ins Freie.
Sie durchquert den wunderschönen Park mit den uralten Bäumen und den gepflegten Wegen. Das einfache bunte Sommerkleid, in dem sie entzückend aussieht, bauscht sich bei jedem der weit ausholenden Schritte um die wohlgeformten, langen Beine.
Schließlich gelangt Andrea auf eine kleine Lichtung, an deren Rand ein stämmiges Blockhaus steht.
Von der Wiese herüber kommt ein kleines Mädchen gelaufen. Nein, es ist schon mehr ein Torkeln. Der kleine, unförmige Körper mit dem viel zu großen Kopf vermag sich kaum auf den dünnen Beinen zu halten. Alles an dem Kind ist abstoßend hässlich, alles, bis auf seine wunderbar dunklen Augen.
Jetzt hat die Kleine Andrea entdeckt. Sie will etwas sagen, aber was über die Lippen kommt, ist nur unverständliches Lallen.
Andrea ist über das unglückliche Wesen so erschüttert, dass sie wie gelähmt auf ihrem Platz verharrt. Aus dem Laufen des Kindes wird ein Stolpern, und dann fällt es auf den Kiesweg.
Alle Erstarrung weicht von Andrea. Voller Mitleid eilt sie zu dem Mädchen.
»Geben Sie demnächst auf das Ihnen anvertraute Kind besser acht!«, ertönt da hinter ihr eine herrische Stimme.
Erschrocken fährt Andrea herum. Sie blickt in ein Paar zornige, herrische Augen, die zu einem schlanken, eleganten Mann gehören. Mit finsterer, hochmütiger Miene sieht er auf sie hinab. Allem Anschein nach kam er aus dem Blockhaus, wohin auch die Kleine gelaufen war.
»Ich dachte, ich ...«, stammelt Andrea.
»Kümmern Sie sich jetzt endlich um das Kind, und machen Sie, dass Sie hier wegkommen, verstanden? Hier ist kein Spielplatz!«
Erschrocken presst Andrea das Kind an sich und eilt den Weg zurück. Endlich ist sie in der Nähe des Schlosses angelangt. Keuchend setzt sie das viel zu schwere Kind ab.
»Fräulein Wester?«, fragt da eine angenehme Stimme neben ihr.
»Ja?« Schwer atmend sieht Andrea sich um und schaut in das gütige Gesicht eines weißhaarigen Herrn mit gebeugtem Rücken.
»Ich bin Graf von Ulmen. Wie kommen Sie zu dem Kind?«
»Verzeihen Sie bitte, Herr Graf, wenn ich nicht pünktlich zur Stelle war. Ich wollte mich ein wenig im Park umsehen, da lief mir die arme Kleine über den Weg und ...«
»Therese ist mein Enkelkind«, entgegnet der alte Herr gelassen und streicht dem unglücklichen Geschöpf über den viel zu großen Kopf.
»Verzeihung«, sagt Andrea und beißt sich auf die Lippen. Sie wollte nicht taktlos sein.
Der Graf beachtet ihren Einwurf nicht.
»Im Hause herrscht schon große Aufregung. Die Kleine ist davongelaufen, ohne dass jemand etwas bemerkte.« Er winkt dem Diener. »Führen Sie Therese zu der Pflegerin. Nächstens soll man besser auf das Kind achten.«
»Jawohl, Herr Graf!«
Aber so leicht ist dem Wunsch nicht nachzukommen. Therese reißt sich mit aller Kraft von der Hand des alten Dieners los und klammert sich an Andrea. Wieder kommt über ihre Lippen das unverständliche Lallen.
Ein heißes Erbarmen befällt Andrea. In plötzlicher Aufwallung zieht sie das hässliche kleine Körperchen an sich.
Der Graf betrachtet Andrea mit warmen Blicken.
»Wenn Sie Therese nicht abstößt, wollen wir sie mit hinaufnehmen. Sie kann sehr eigensinnig sein. Ich fürchte, wenn wir sie jetzt mit Gewalt zwingen, wird sie wieder Krämpfe bekommen.«
»Ich mag Kinder«, sagt Andrea schlicht und legt schützend den Arm um das missgestaltete kleine Mädchen. »Ich bitte zu entschuldigen, Herr Graf«, fährt Andrea dann fort, »wenn ich zu einer ungelegenen Zeit komme. Herr Oberst von Britten, der mich freundlicherweise herbrachte, erzählte mir von dem schweren Leid, das Sie getroffen hat. Darf ich Ihnen mein herzlichstes Beileid aussprechen?«
Stumm dankt der Graf durch ein kurzes Senken des Kopfes.
»Sie kommen mir sehr gelegen, Fräulein Wester«, versichert er dann und stößt eine hohe Flügeltür auf. »Hier ist Ihr neuer Wirkungskreis, die Bibliothek.«
Andrea erblickt einen großen, behaglichen Raum, dessen vier Wände mit hohen Bücherregalen bedeckt sind. Weiche Polstergarnituren laden zu geruhsamem Verweilen ein.
»Und hier befindet sich Ihr ganz persönlicher Arbeitsplatz.« Graf von Ulmen durchschreitet den lang gestreckten Raum und öffnet eine schmale Tapetentür.
»Oh, wie schön!« Begeistert tritt Andrea näher. Ein helles, elegantes Zimmer mit einem Barock-Damensekretär aus poliertem Kirschbaumholz. Dazu ein behaglicher Sessel. Eine Einrichtung, die ganz und gar von dem bescheidenen Zimmer abweicht, das man ihr zum Schlafen angewiesen hat.
»Ich hoffe, Sie werden hier ein gutes Schaffen haben!«
»Sie sind sehr gütig, Herr Graf. Auf so viel freundliches Entgegenkommen war ich nicht gefasst.«
»Nun, kleines Fräulein, wer wie Sie schon so früh auf eigene Beine gestellt wird, verdient es, ein wenig verwöhnt zu werden«, erwidert der alte Herr lächelnd.
Dann öffnete er eines der hohen Fenster, durch das der Duft der blühenden Linden hereinströmt.
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mir diese Stelle gegeben haben, Herr Graf«, beteuert Andrea leise.
»Wir werden schon gut miteinander auskommen, Fräulein Wester! Von Ihrem Vormund erfuhr ich, dass Ihre Lehrerinnen nur das Beste über Sie sagen. Besonders, dass Sie ein pflichtbewusstes Mädchen seien.«
»Fräulein Doktor Ammer hatte uns alle sehr gern.« Andreas Lippen zittern ein wenig. Das Internat war fast eine Heimat für sie geworden.
Der Graf geht wieder in die Bibliothek zurück.
»Morgen fangen wir mit der Arbeit an. Jetzt wollen wir erst einmal sehen, was es zu essen gibt. Und du, mein Kind, lässt dich jetzt ganz brav auf dein Zimmer bringen.« Er beugt sich liebevoll zu der kleinen Therese, die keine Sekunde von Andreas Seite gewichen ist, hinab und nimmt ihr Händchen behutsam in seine große Hand.
Wieder geht Andrea durch die langen Korridore des Schlosses bis zum Zimmer der Kleinen, die sich nun willenlos der Pflegerin übergeben lässt.
Anschließend geleitet der Graf sie in ein behagliches Kaminzimmer zu ebener Erde, in dem man die Speisen einnimmt, wenn keine Gäste da sind.
Das Erste, was Andrea beim Betreten dieses Raumes wahrnimmt, ist eine Frau von so außerordentlicher Schönheit, dass sie – entgegen ihrer sonstigen guten Erziehung – wie gebannt in das Madonnengesicht schaut, aus dem die gleichen dunklen Augensterne, wie Therese sie besitzt, leuchten.