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Das Mädchen schließt die Augen und lächelt selig. Gibt es so viel Glück? Ist dies nicht alles nur ein wunderschöner Traum, aus dem es gleich wieder erwachen würde?
Wie oft hat sich die junge Manina von Norden ausgemalt, dass der einsame Fremde aus dem Wald sie in den Armen halten würde. Und nun ist es Wirklichkeit, flüstert der geliebte Mund ihr zärtliche Worte zu.
Auch für Andreas von Talbot scheint ein neues Leben begonnen zu haben. Endlich ist er am Ende eines langen, einsamen Weges angekommen. Hier ist die Frau, die er sich in seinen Träumen ersehnt hat.
Doch die beiden vom Glück umfangenen Menschen ahnen nicht, welches Leid ihrer Liebe droht, wozu eine alte Frau in ihrem Hass fähig sein wird. Manina wird um ihrer Liebe willen viele Tränen vergießen ...
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Seitenzahl: 164
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Eine Liebe ist viele Tränen wert
Vorschau
Impressum
Eine Liebe ist viele Tränen wert
Der dramatische Roman um Maninas Herzensleid
Von Regina Rauenstein
Das Mädchen schließt die Augen und lächelt selig. Gibt es denn so viel Glück? Ist dies nicht alles nur ein wunderschöner Traum, aus dem es gleich erwachen wird?
Wie oft hat sich die junge Manina von Norden ausgemalt, dass der einsame Fremde aus dem Wald sie in den Armen hält. Und nun ist es Wirklichkeit, flüstert der geliebte Mund ihr zärtliche Worte zu.
Auch für Andreas von Talbot scheint ein neues Leben begonnen zu haben. Endlich ist er am Ende eines langen, einsamen Weges angekommen. Hier ist die Frau, die er sich immer ersehnt hat.
Doch die beiden vom Glück umfangenen Menschen ahnen nicht, welches Leid ihrer Liebe droht, wozu eine alte Frau in ihrem Hass fähig sein wird. Manina wird um ihrer Liebe willen viele Tränen vergießen ...
Voll und leuchtend stand der Mond am Himmel. Sein Licht brach sich in den Wellen, die leise murmelnd gegen das Ufer schlugen. Der kleine See sah aus wie eine silberne breite Fläche.
Das junge Mädchen, das schon eine ganze Weile reglos gegen einen Baum gelehnt stand, konnte seinen Blick einfach nicht von diesem nächtlichen Zauber lösen. Es war, als ob ein Traum es umfangen hielt, und das verlorene Lächeln um den feingeschwungenen Mund vertiefte sich noch.
»He, willst du hier Wurzeln schlagen? Mir ist kalt«, riss eine ungeduldige Stimme die Träumerin aus ihrer Verzauberung.
Ein junges Mädchen tauchte neben der reglosen Gestalt auf und berührte sie am Arm. Die braunen Augen in dem frischen Gesicht waren voll verständnisloser Empörung.
»Deine schwärmerische Romantik in allen Ehren, Manina, aber ich finde, das geht nun doch etwas zu weit. Ich friere ganz erbärmlich, und mit schlotternden Gliedern kannst du nicht von mir erwarten, dass ich auch noch Augen für dieses nächtliche Idyll habe.«
Nur ungern schien die Träumerin aus ihrer Verzauberung zu erwachen. Wie besinnend fuhr sie sich mit einer schnellen Bewegung über die Stirn, strich eine Strähne des kastanienbraunen Haares schnell zurück. Nun wandte sie sich der anderen zu und lachte verhalten.
»Aber Britt, du bist doch sonst nicht so. Kann dieser Anblick dich nicht entzücken?«
»Alles zu seiner Zeit, meine Liebe. Ich habe keine Lust, mir einen Schnupfen zu holen, nur weil ich einmal den See im Mondschein bewundern will. Das Vergnügen mache ich mir im Sommer, wenn es warm ist. Und dann auch nur in Begleitung eines Beschützers.« Das wurde mit deutlichem Zähneklappern gesagt.
Verblüfft starrte Manina die Freundin an.
»Himmel, Britt, dir ist ja wirklich kalt?«, stieß sie verblüfft hervor.
Empört blitzten die braunen Augen sie an.
»Ja, was glaubst du denn? Denkst du vielleicht, ich führe dir aus lauter Vergnügen einen Veitstanz vor? Mir ist erbärmlich kalt, wenn du es noch nicht bemerkt haben solltest.«
»Aber so kalt ist es doch gar nicht. Ich wenigstens empfinde es nicht. Dabei habe ich doch nur ein leichtes Sommerkleid an.«
»Ja, was glaubst du denn, was das ist, was ich hier trage? Ein Winterpelz?«, kam es aufgebracht zurück. »Leider habe ich nicht daran gedacht, eine Jacke mitzunehmen, als du mich zu einem kurzen Spaziergang aufgefordert hast. In der Nähe der Hütte war es ja auch angenehm, aber hier am See ist es lausig kalt.«
Britt wandte sich abrupt um.
Schuldbewusstsein stieg in Manina auf. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass der Wind einen eisigen Lufthauch mitbrachte.
»Entschuldige, Britt, aber ich habe es wirklich nicht bemerkt. Komm, laufen wir schnell zur Hütte, dann wird dir wieder warm.«
Sie sah die Freundin abbittend an, dann fragte sie besorgt: »Du wirst dich doch nicht erkältet haben?«
Britt wehrte versöhnt ab.
»Quatsch, so leicht haut es mich nicht vom Schlitten, da muss es schon härter kommen. Aber reden wir nicht länger hier herum, machen wir, dass wir in die warme Stube kommen. Himmel, sehne ich mich jetzt nach einem heißen Punsch.«
In gleichmäßigem Schritt liefen die beiden Mädchen nun dem Jagdhaus zu. Nach einer Weile sahen sie die hellerleuchteten Fenster, hörten die Klänge der Musik, die zum Tanz aufzuspielen schienen.
»Das sind himmlische Töne für mein armes Ohr«, seufzte Britt. Anklagend sah sie die Freundin von der Seite her an. »Und wir zwei Närrinnen glauben in Romantik schwelgen zu müssen, während hier das warme, wundervolle Leben greifbar nahe pulsiert.«
Manina zuckte nur ausweichend die Schultern. Sie bereute es nicht, dem lauten Trubel entkommen zu sein. Aus solchen Veranstaltungen machte sie sich nur wenig.
Aber ihre Tante, bei der sie aufgewachsen war, nachdem die Mutter eines Tages ohne ein Wort der Erklärung verschwunden war, liebte solche Feste und ließ keine Gelegenheit vorbeigehen, daran teilzunehmen.
Und seit Manina aus dem Internat zurückgekehrt war, schien sie es als ihre Aufgabe anzusehen, eine gute Verbindung für sie zu arrangieren. Manina hatte nur gelacht und abgewehrt.
»Aber Tante Ina, ich habe doch wirklich noch sehr viel Zeit damit. Ich denke gar nicht daran, mich schon für mein ganzes Leben an einen Mann zu binden. Wenn ich einmal heirate, dann frage ich nicht danach, was er ist und was er hat. Nur auf die Liebe allein kommt es an, darauf ganz allein. Ich werde nie einen Mann heiraten, den ich nicht von ganzem Herzen lieben kann.«
Die Tante hatte nichts mehr gesagt, aber in ihren Augen lag ein schmerzliches Wissen.
Der Tante zuliebe ließ sich Manina von einem Fest zum anderen mitnehmen. Ihr lag diese ausgelassene Fröhlichkeit nicht. Sie war schon als Kind sehr ernst und in sich gekehrt gewesen.
***
Mit lautem Hallo wurden die beiden Mädchen von den anderen begrüßt, als sie das Haus betraten.
»Wo seid ihr denn abgeblieben, wir haben draußen überall nach euch gesucht und schon befürchtet, ein Waldschrat hätte euch entführt«, wollte Gerd wissen, der Sohn eines Amtsgerichtsrates, der sich sichtlich um Manina bemühte.
»Schwing nicht so große Reden, mein Lieber, sondern beglücke uns mit einem heißen Punsch«, wehrte Britt ab. »Meine Lebensgeister brauchen eine Aufmunterung.«
»Sofort, meine Damen, ich fliege«, grinste Gerd und eilte davon. Kurze Zeit später kam er zurück, auf einem Tablett standen zwei Gläser mit einer braunen Flüssigkeit, die würzig duftend aufstieg.
»Dafür könnte ich dir glatt einen Kuss geben, Gerd«, jubelte Britt und griff nach dem Glas. In kleinen genießerischen Schlückchen begann sie, das heiße Getränk zu trinken, das wie ein Feuer durch ihre Kehle rann.
Auch Manina merkte jetzt, wie angenehm die Wärme im Haus war und wie gut ihr der heiße Punsch tat.
»Sagt mal, seid ihr vielleicht am Nordpol gewesen, weil ihr so durchgefroren seid?«, fragte Gerd leicht spottend.
»So fragt man Leute aus«, kicherte Britt zwischen zwei kräftigen Zügen aus dem Glas. »Aber erfahren tust du nichts. Das ist unser Geheimnis.« Dabei zwinkerte sie Manina wie einer Verschwörerin zu.
Sofort wurde Gerds Eifersucht wach.
»Das hört sich ja fast an, als hättet ihr euch mit jemandem verabredet«, forschte er, misstrauisch geworden.
»Und wenn es so wäre?«, konterte Britt gelassen. »Das wäre ja noch immer unsere Sache, oder?« Sie reichte ihm das leere Glas. »Aber ein Glas Punsch kannst du mir noch machen«, forderte sie ihn auf.
»Wenn es so ist, dann lass dir den Punsch von dem krendenzen, den ihr da draußen getroffen habt«, kam es nicht gerade sehr liebenswürdig zurück.
Jetzt musste Manina lachen.
»Das wird schlecht möglich sein, Gerd. Den wir da draußen getroffen haben, der thront in höheren Regionen. Er wird sich wohl kaum dazu herablassen, uns einen heißen Punsch zu servieren.«
Der junge Mann sah die jungen Mädchen misstrauisch prüfend an. Er war sich nicht ganz klar darüber, wie sehr sie ihn verulkten.
»Nun schau nicht so schlau«, schubste Britt ihn unsanft an. »Oder hast du schon einmal gehört, dass der Mond einem Sterblichen einen heißen Punsch serviert hat?«
»Ach so, ihr seid draußen gewesen, um den Mond zu betrachten. Du lieber Himmel, den könnt ihr doch jeden Abend sehen. Was ist denn hier so Besonderes daran?«, entfuhr es ihm verblüfft.
Ja, das habe ich mich auch gefragt, wäre es Britt fast entschlüpft. Aber stattdessen sagte sie nur überheblich: »Was verstehst du Banause denn schon davon? Du hättest es sehen müssen. Der See, der wie Silber flimmerte, der Mond, rundum der Wald und die Felsen. Und dann diese Stille, diese wundervolle Stille. Es war, als wäre man ganz allein auf der Welt.«
Manina hatte verblüfft das halbgefüllte Glas sinken lassen und starrte die Freundin ungläubig an.
»Ach du lieber Himmel, nun spinnt die auch noch. Sag mal, seit wann hast du diese sentimentale Anwandlung?«
Gerd schüttelte verwundert den Kopf.
»Was weißt du denn schon von mir?«, kam es hochmütig zurück. »Ich trage mein Herz eben nicht auf der Zunge, sondern verschließe meine wahren Empfindungen ganz tief da drinnen.« Dabei tippte sie sich gegen die Brust.
»O jeh – nun wird es heiter. Ich will dir noch schnell ein Glas Punsch holen, ehe dein Zustand sich verschlimmert. Vielleicht steigst du denn aus deinen höheren Regionen zu uns armen Sterblichen wieder zurück.«
Lachend sahen die beiden Mädchen hinter ihm her, wie er sich eilig entfernte.
»Na, wie war ich?«, wollte Britt wissen und sah die Freundin erwartungsvoll an.
»Umwerfend«, musste Manina zugeben. »Einen Moment hast du sogar mich getäuscht. Es klang so glaubhaft, dass ich mich wirklich gefragt habe, ob du auch wirklich alles so empfunden hast.«
Britt sah die Freundin ernst an.
»Glaube nur nicht, dass ich keinen Sinn für die Schönheit der Natur habe, Manina. Ich laufe nicht mit geschlossenen Augen durch die Welt. Ich sehe auch die Schönheiten um mich herum und kann mich dafür begeistern. Nur bin ich zu nüchtern und realistisch, um mich darin so zu verlieren, dazu muss man schon deine verträumte Seele haben.«
»Willst du etwa sagen, dass ich mit geschlossenen Augen durch die Welt laufe, dass ich die Wirklichkeit nicht sehe, Britt?«, fragte Manina betroffen.
»Nein, das habe ich damit nicht sagen wollen. Nur – du bist ebenso ganz anders als ich. Du kannst dich in etwas hineinversetzen, was mir einfach verschlossen bleibt.«
Britt suchte nach Worten, sie wollte die Freundin nicht kränken. Ehe Manina antworten konnte, stand Gerd wieder vor ihnen.
»Nanu, was ist denn mit dir los? Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?«, wollte Manina wissen, die deutlich den Zorn in seinen Augen glimmen sah.
»Nur eine Laus, das wäre noch zu ertragen – aber ein ganzer Elefant?«, kam es grimmig zurück.
»Elefant?« Britt sah sich suchend um. »Ich sehe hier niemand, auf den diese liebliche Bezeichnung passen könnte«, kicherte sie.
»Dann schau dir das Bankierstöchterlein einmal an, meine Liebe, da erübrigt sich jedes weitere Wort.«
»Ooch – du meinst Margie Stolzen? Na ja, eine Elfe ist sie gerade nicht. Aber sie gleich mit einem Elefanten zu vergleichen, das finde ich doch übertrieben.«
»Was würdest du denn sagen, wenn dein Vater dir deinen zukünftigen Mann vorschreiben wollte?«, schnaubte er außer sich. »Meiner will mir vorschreiben, wen ich zu heiraten habe – nämlich Margie Stolzen!«
Sekundenlang starrte Britt ihn ungläubig an. Dann aber prustete sie los, als habe der Vetter einen Witz gemacht.
»Du grüne Neune, das ist ja toll. Da haben die beiden Väter wohl ein Komplott geschmiedet. Nun verstehe ich manches.«
»Du hast gut lachen«, fauchte Gerd seine Base wütend an. »Ich möchte dich mal sehen, wenn dein Vater von dir verlangt, einen ungeliebten Mann zu heiraten.«
Britt wurde sofort ernst. Sie winkte abwehrend mit der Hand und warf die vollen Lippen auf.
»Ich würde ihm nicht raten, auf diese Idee zu kommen, Gerd. Aber zum Glück kennt der alte Herr seine Tochter zu gut, um sich überhaupt mit einem solchen Plan zu befassen.«
Gerd seufzte abgrundtief auf. Er beneidete die Base um ihren verständnisvollen Vater. Sein Vater hielt ihn sehr kurz, verlangte von ihm blinden Gehorsam. Innerlich lehnte sich alles in ihm gegen die ständige Bevormundung auf.
Es wäre sicher längst zum Bruch zwischen Vater und Sohn gekommen, die so grundverschieden waren, wenn nicht die Mutter gewesen wäre, die immer wieder versuchte, zwischen den beiden zu vermitteln.
Gerd liebte seine Mutter sehr, er konnte ihr einfach nicht wehtun. Aber eines wusste er, soweit würde auch seine Liebe zu ihr nicht reichen, dass er sich deswegen von seinem Vater mit dieser Margie verheiraten ließ. Dann würde er einfach auf- und davongehen.
Wieder ein herzzerreißender Seufzer. Er hatte die beiden Mädchen neben sich völlig vergessen, träumte vor sich hin.
Ein unsanfter Stoß in die Rippen ließ ihn jäh zusammenfahren. Sein Blick kehrte wie aus unendlich weiter Ferne zurück, sah einen Moment abwesend in das lachende Gesicht seiner Base.
»Mir scheint, du warst ziemlich weit weg, mein Lieber.« Britt lachte ihn spöttisch an, und mit einem beredten Blick zu Margie hin, die gerade auf sie zukam, sagte sie schnell: »Wenn du ein kluger Junge bist, Gerd, dann gehst du scheinbar auf den Plan deines Vaters ein. Du bekommst etwas mehr Bewegungsfreiheit, schiebst die Entscheidung einfach noch hinaus.«
Ehe er empört darauf antworten konnte, stand Margie schon neben ihnen. Eigentlich war sie ein hübsches Mädchen, wenn auch etwas rundlich. Aber es stand ihr gut.
Die braunen Augen sahen nur Gerd, und sie verrieten deutlich, was sie für ihn empfand.
»Möchtest du nicht einmal mit mir tanzen, Gerd?«, fragte sie schüchtern. »Ich tanze Walzer für mein Leben gern.«
Eine solche heiße Bitte lag in ihrem Blick, dass Gerd es einfach nicht über das Herz brachte, sie zu enttäuschen.
Er machte eine steife Verbeugung, vermied es aber dabei geflissentlich, die beiden Mädchen anzusehen, und tanzte dann mit der überglücklichen Margie davon.
»Der arme Junge, er tut mir direkt leid«, seufzte Britt mitleidig. »Er wird nun keine ruhige Minute mehr bekommen. Mein Onkel ist ein Despot, ich kenne ihn. Ob Gerd die Kraft findet, sich seinem Willen zu widersetzen, das bezweifle ich stark.«
»Jeder ist seines Glückes Schmied, Britt«, zuckte Manina die schmalen Schultern. »Ein Mann muss sein Leben selbst in die Hand nehmen, es nach seinem Willen formen. Wenn Gerd sich von seinem Vater zwingen lässt, nur weil er den bequemeren Weg vorzieht, dann soll er sich später nicht beklagen. Er hat es ja nicht anders gewollt.«
»Hatschi«, musste Britt niesen.
***
Manina hatte schon sehr früh das Haus verlassen, während die anderen noch schliefen. Der ungewohnte Alkoholgenuss hatte seine Nachwirkung. Ihr schmerzte der Kopf, in den Schläfen hämmerte und bohrte es und immer wieder stieg ein würgendes Gefühl in ihr auf, besonders wenn sie ans Essen dachte.
Das also war der Katzenjammer, von dem sie schon hatte reden hören, aber bisher noch nie am eignen Leib erfahren hatte. Obwohl es ihr ziemlich elend war musste sie doch bei dem Gedanken leise auflachen. Ein langer Spaziergang durch den Wald würde ihren Kopf schon wieder freimachen, davon war sie fest überzeugt.
Tief atmete sie die frische, noch etwas feuchte Luft ein. Ha – das tat gut, wie der frische Morgenwind über ihre Stirn strich und sie kühlte. Aber frisch war es in der frühen Stunde noch, empfindlich frisch. Gut, dass sie ihre warme Jacke übergezogen hatte.
Manina war so in Gedanken versunken, dass sie gar nicht darauf achtete, dass sie immer tiefer in den Wald eindrang. Sie hatte den anfänglich breiten Weg bereits verlassen und war ziellos auf schmalen, kaum erkennbaren Wegen weitergegangen.
Hier und da blieb sie stehen, wagte kaum zu atmen, wenn scheues Rotwild zwischen den Stämmen hervorbrach und in großen Sätzen davonraste. Ein kleines Kitz blieb unweit von ihr stehen, sah sie mit großen neugierigen Augen an, dann aber jagte es fiepend hinter seiner Mutter her.
In diesem Moment krachte ganz in ihrer Nähe ein Schuss. Augenblicklich war die vorher so wundervolle friedliche Stille in ein höllisches Inferno verwandelt.
Aufgescheuchte Vögel flatterten mit erschrecktem Ruf so dicht über sie hin, dass sie sich unwillkürlich duckte und sie den Windhauch ihres Flügelschlages auf ihrer Haut spürte. Erschreckte Waldtiere jagten über den Weg, verschwanden im dichten Gebüsch. Der ganze Wald schien in einem einzigen Aufruhr zu sein.
Genauso schnell, wie das Inferno ausgebrochen war, verstummte es auch wieder. Nun herrschte wieder friedliche Stille, aber Manina wusste jetzt, dass diese täuschte – dieser Schuss hatte ihr klargemacht, wie trügerisch dieser Friede hier war.
Eine zornige Empörung war in ihr und auch eine tiefe Traurigkeit. Dann raffte sie sich auf. Der Schuss schien ganz in ihrer Nähe gefallen zu sein, als hätte der Schütze neben ihr gestanden.
Suchend sah sie sich um, stellte mit jähem Erschrecken fest, dass sie sich in einer ihr völlig fremden Umgebung befand. Wie weit mochte sie wohl von dem Jagdhaus entfernt sein?
Eine leise Angst stieg in ihr auf. Plötzlich fiel ihr die Warnung des Bankdirektors wieder ein, sich nicht zu weit in den Wald hineinzuwagen, da man sich sehr schnell verlaufen konnte.
Irgendwo musste sie vom Hauptweg abgekommen sein. Am besten war es wohl, sie ging den gleichen Weg zurück, den sie gekommen war. Dann musste sie doch wieder auf dem Hauptweg auskommen.
Anfangs war es sehr leicht, weil nur dieser eine schmale Pfad von der Lichtung wegführte. Aber sie mochte ungefähr eine Viertelstunde gegangen sein, da tat sich eine Kreuzung vor ihr auf.
Hilflos blieb sie stehen, konnte sich beim besten Willen nicht darauf besinnen, welchen Weg sie nun eingeschlagen hatte. War sie nun rechts oder links abgebogen oder weiter geradeaus gegangen?
Panik wollte sie ergreifen. Gewaltsam rief sie sich zur Ordnung, »ruhig, ganz ruhig«, ermahnte sie sich selbst energisch.
Sie stand eine Weile und überlegte krampfhaft. Dann entschloss sie sich, die rechte Abzweigung einzuschlagen. Sie war fest davon überzeugt, dass es der richtige Weg war.
Sie wusste nicht, wie lange sie schon gegangen war, als ihr schlagartig klar wurde, dass sie sich verirrt hatte. Längst schon müsste sie doch am See sein, und von da aus war es nicht mehr weit bis zum Jagdhaus.
Manina warf einen Blick auf ihre Uhr. Es war schon nach eins. Man würde sich Sorgen um ihr Ausbleiben machen. Vielleicht suchte man sogar schon nach ihr.
Was sollte sie nur tun? Wieder zurückgehen bis zur Kreuzung? Manina fühlte sich plötzlich unsagbar müde und erschöpft, aber sie durfte nicht ausruhen, sie musste weiter. Und dann, nach einigen Schritten, blieb sie wie angewurzelt stehen.
Ihre Augen weiteten sich, eine jähe Freude stieg in ihr auf, als sie die aus groben Baumstämmen gehauene Hütte sah, die einen Steinwurf entfernt vor ihr lag. Aus dem Kamin stieg weißer Rauch.
Rauch – das bedeutete, dass hier Menschen waren, Menschen, die ihr weiterhelfen konnten.
***
Ein heißes Dankgebet stieg in Manina auf.
Sie lief auf die Hütte zu, stand dann tiefatmend vor der Tür, ehe sie es wagte, zaghaft anzuklopfen.
Zweimal klopfte sie, aber von drinnen kam kein Laut. Da legte sie zaghaft die Hand auf die Klinke und drückte sie herunter. Laut knirschend gab die Tür nach – Manina stand in einem kleinen dämmerigen Raum und brauchte eine Weile, um sich an das trübe Licht zu gewöhnen.
Der Rauch, der in der Hütte lag, reizte sie zum Husten, ihre Augen begannen zu tränen. Und nun sah sie durch den Tränenschleier plötzlich eine Gestalt, die sich aus einer Decke schälte, in der sie eingemummt gewesen war, und sich langsam von der Holzbank, auf der sie gelegen hatte, aufrichtete.
»Nanu«, hörte sie eine dunkle Männerstimme verwundert sagen. »Welch fremder Vogel flattert mir denn da ins Nest?«
Schwere Schritte näherten sich dem Mädchen, das wie gelähmt stand und auf den Mann starrte, der sich in dem Dämmerlicht wie ein Riese ausnahm.
»Nun schließen Sie schon die Tür«, sagte er nun ziemlich ungnädig. »Sehen Sie denn nicht, wie der Herd qualmt, wenn die Tür so weit offen steht?«
Nun sah sie es auch, wie dicke Rauchwolken stoßweise aus der Tür des Herdes drangen. Schnell schloss Manina die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen.
»Bitte, entschuldigen Sie ...« Sie kam nicht weiter, ein Hustenanfall machte es ihr einfach unmöglich weiterzusprechen.
Er trat neben sie, klopfte gutmütig ihren Rücken, zog sie dann tiefer in den Raum hinein.