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Bei eisigem Unwetter kehrt Albert Bauche in einer abgeschiedenen Gastwirtschaft ein; er ist mit seinem Wagen im Wald von Orléans liegengeblieben. Nach einigen Schnäpsen ruft er bei der Polizei an – nur, um einen Mord zu gestehen. Tatsächlich findet sie die brutal zugerichtete Leiche seines Geschäftspartners Serge Nicolas, man erhebt Anklage gegen Bauche. Seine Chancen, den Kopf noch aus der Schlinge ziehen zu können, stehen nicht gut. Doch dann beginnt der Mörder, der selbst keine Schuld empfindet, den Geschworenen seine persönliche Wahrheit zu erzählen – und von Anaïs, der jungen Frau, der er einst verfallen ist.
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Seitenzahl: 224
Georges Simenon
Die Zeit mit Anaïs
Die großen Romane – Band 72
Aus dem Französischen von Ursula Vogel
Atlantik
Er war nichts weiter als ein Mann am Steuer, der an diesem Abend sein Auto bei strömendem eiskaltem Regen erst durch das Lichtermeer von Paris, dann durch die Vorstadt und schließlich auf die große Landstraße lenkte, wo ihm andere Wagen zwischen aufspritzendem Wasser entgegenkamen. Er hatte Ortsschilder gesehen, ohne sie zu lesen, und war dann in diesen dichten Wald eingetaucht, wo die Tannen sich über ihm zu einer Kuppel wölbten. Er war das pulsierende, schmerzerfüllte Zentrum der Welt und jeder Wassertropfen, den der Scheibenwischer zur Seite fegte, wie ein Gestirn; die nadelförmigen Regenspritzer, die von seinen Scheinwerfern gleichsam aufgesogen wurden, setzten sich aus Myriaden von Sternen zusammen, und auch die anderen Scheinwerfer eben noch auf der Landstraße, jene trüben Augen, die aus dem Nichts auftauchten und unter lautem Gedröhn wieder dorthin zurückkehrten, waren Meteore wie er selbst, die keuchend ins Unendliche stürzten.
Im Vorbeifahren hatte er kleine schimmernde Rechtecke zwischen dunklen Mauern gesehen, Lampen, die von der Decke herabhingen, und Menschen, die in ihrem Licht saßen. Und er glaubte mit einem Mal alles zu begreifen, wie es einem manchmal im Traum oder bei Fieberanfällen ergeht. Kaninchen waren vor ihm über die Straße gelaufen, und auch das fügte sich zu einem Ganzen, denn alles war wie unlösbar ineinander verwoben: das schlürfende Geräusch der Räder auf dem nassen Boden, das gleichmäßige Brummen des Motors, das unerbittliche Hin und Her der Scheibenwischer, die jedes Mal kurz bebend innehielten, bevor sie zu einer neuen Bewegung ansetzten. Selbst sein Pulsschlag, den er hören konnte, den er deutlich als ein Pochen außerhalb seines Körpers wahrnahm, wirkte mit im schwindelerregenden Crescendo dieser Symphonie, die ihn unaufhaltsam fortriss.
An einer Kreuzung sah er einen fahlen Wegweiser, der in verschiedene Richtungen zeigte. Aber immer noch wurde die Fahrbahn von dicht aneinandergedrängten Bäumen gesäumt, zwei Mauern aus Stämmen und schwarzer Nacht im Lichtbündel der Scheinwerfer, dazwischen die glitschige Spur, deren Pfützen er eine nach der anderen spritzend durchfuhr, und dazu das Prasseln des Regens – diese Tränen, die im Zickzack über die Scheiben rannen.
Der Geruch nach verbranntem Gummi war ihm entgangen, und ganz plötzlich, als die Symphonie schon ins Unerträgliche anzuschwellen schien, brach sie unvermittelt ab, und um ihn herum waren nur noch Dunkelheit und Schweigen.
Der Motor stand still. Die Scheinwerfer waren erloschen, wie auch der schwache, anheimelnde Lichtschein des Armaturenbretts. Das Auto bewegte sich nicht mehr, hing nutzlos und ein wenig schief über der Böschung.
Das einzig Lebendige auf dieser Welt war der stumpfsinnige, monotone Regen, der auf das Wagenblech trommelte.
Ihn fröstelte, er befühlte seine klammen Finger, tastete nach seinem Regenmantel, fand ihn nicht und erinnerte sich, dass er ihn in der Wohnung vergessen hatte. Er fischte eine Zigarette aus seiner Westentasche, musste sich mit der Zungenspitze die Lippen anfeuchten, so ausgetrocknet waren sie. Er hatte keine Streichhölzer. Er kam nicht gleich darauf, dass der elektrische Zigarettenanzünder nicht funktionierte.
Er blieb lange unbeweglich, mit leerem Kopf sitzen, schließlich drückte er sich den Hut tief in die Stirn, stellte seinen Jackettkragen hoch und öffnete, die unangezündete Zigarette im Mundwinkel, die Wagentür, streckte seine Füße in die Nacht hinaus und trat zögernd, ja, wie mit einem Gefühl des Ekels auf den schlammigen Weg.
Er folgte einem Lichtschein, der da und dort zwischen den Bäumen hindurchschimmerte, und bald entdeckte er eine abschüssige Wiese, die offenbar zu einem Bauernhof gehörte, aber er blieb auf dem Weg, der jetzt nur noch an einer Seite vom Wald gesäumt wurde. Eine weitläufige Lichtung tauchte auf, niedrige Häuser, aus denen Rauch aufstieg, einige erleuchtete Fenster, der gedrungene Schatten einer Kirche mit einem seltsamen, spitz zulaufenden Turm, wie er noch keinen gesehen hatte.
Er kam an ein Ortsschild, aber es war zu dunkel, um die Aufschrift lesen zu können, zu dunkel auch, um auf seiner Uhr die Zeiger zu erkennen. In der Mitte eines Platzes stand ein Haus mit drei erleuchteten Fenstern, zwei davon gaben den Blick auf Regale mit Lebensmitteln frei. Eine Glastür war mit durchsichtigen Reklameschildchen beklebt.
Er stieß die Tür auf, was eine Ladenglocke in Bewegung setzte. Sogleich strich ihm eine Katze um die Beine, und beinahe wäre er gestürzt, weil er eine Stufe übersehen hatte. An der mit schwarzen Balken durchzogenen Decke brannte eine einzige verstaubte Glühbirne, und die Luft stand so still, dass er erst meinte, der Raum sei leer.
Doch gleich tauchte hinter den Bonbongläsern, mit denen der Ladentisch vollgestellt war, das Gesicht einer alten Frau auf. Die Alte sah ihn schweigend an, dann wandte sie sich zum rückwärtigen Raum, wo vier Männer auf Korbstühlen um einen Tisch mit Flaschen und Gläsern saßen.
Die Männer sahen zu ihm herüber. Auch zwei Jagdhunde, die unter dem Tisch lagen, ließen kein Auge von ihm. Drei der Männer trugen Jägerjoppen und lederne Gamaschen, der Vierte, beleibter und älter als die anderen, in weißem Hemd und Straßenhose, hatte sich eine blaue Schürze umgebunden.
Über dem Kamin, in dem ein paar dicke Scheite brannten, stand ein Reklamewecker, dessen Ticken deutlich zu hören war. Er zeigte halb zehn an.
Die ersten Worte, die über seine Lippen kamen, hatte er sich nicht vorher zurechtgelegt, und sie schienen ihm auch keineswegs fehl am Platz. Er trat mit ausgestreckter Hand an den Ladentisch.
»Haben Sie Streichhölzer?«
Die Alte rührte sich nicht von der Stelle, doch der Mann mit der Schürze erhob sich, begab sich hinter die Theke, als wollte er seinen schweren Leib wie eine Art Schutzwall vor die Frau schieben.
»Streichhölzer wollen Sie?«
Er nickte. Er brachte sogar ein schüchternes Lächeln zustande, als er seine unangezündete Zigarette, die vom Regen ganz aufgeweicht war, wegwarf und sein Päckchen aus der Tasche zog.
Er fühlte sich bemüßigt, gleichsam entschuldigend hinzuzufügen:
»Der Zigarettenanzünder geht auch nicht.«
Mit einem verstohlenen Blick zu seinen Tischgenossen hatte der Mann eine große Schachtel Schwefelhölzchen, wie man sie heute noch auf dem Land verwendet und die mit einer winzigen blauen Flamme zu brennen anfangen, auf den Ladentisch gelegt.
»Ich glaube, ich sollte etwas zum Aufwärmen trinken.«
Seine nassen Finger waren so klamm, dass er kaum fähig war, das Streichholz anzureiben.
Er bekam keine Antwort. Sie warteten ab, ließen ihn nicht aus den Augen.
»Haben Sie Rum?«
»Nur Branntwein.«
»Schenken Sie mir ein Glas ein.«
Diesmal warf der Wirt mit der Schürze den anderen einen vielsagenden Blick zu und sagte zu seiner Frau:
»Setz dich rüber.«
Sie trug einen schwarzen Wollschal, den sie enger um ihre Schultern zog, als sie sich in einem Korbsessel zur Rechten des Kamins niederließ, während ihr Ehemann sich dem Regal zuwandte und ihm ein kleines Wasserglas und eine Flasche, deren Korken in einen langen Zinnschnabel auslief, entnahm.
Der Alkohol, klar wie Wasser, roch sehr würzig, und Bauche stürzte ihn in einem Zug hinunter, verschluckte sich beinahe, brachte dennoch ein klägliches Lächeln zustande, wie um die andern milde zu stimmen.
»Bin ich hier weit von Paris entfernt?«
Sie sahen einander an, als wäre es nun erwiesen, dass ihr Instinkt sie nicht getrogen hatte.
»Sie wissen also nicht, wo Sie sind?«
»Ich hatte eine Panne, zwei- oder dreihundert Meter vor dem Dorf.«
»Im Wald?«
Einer der Männer mit Ledergamaschen, der die Mütze eines Jagdaufsehers trug, hüstelte demonstrativ.
»Ja, im Wald.«
»Und Sie kennen den Namen des Weilers nicht?«
»In der Dunkelheit konnte ich das Ortsschild nicht lesen.«
»Haben Sie die Kirche nicht erkannt? Sie sind wohl nicht aus der Gegend?«
»Ich komme von Paris.«
»Hatten Sie sich verfahren?«
»Wahrscheinlich.«
»Wohin wollten Sie denn?«
»Ich weiß nicht. Irgendwohin.«
Das nun eintretende Schweigen hatte plötzlich etwas Beklemmendes. Schließlich fragte einer der Männer im Hintergrund, während er sich zu trinken einschenkte:
»Was hatten Sie denn so spät noch vor?«
Unterwegs hatte er sich überlegt, was er sagen würde, aber er spürte, dass das jetzt nicht mehr passte.
»Sie haben wohl nicht zufällig einen Automechaniker im Dorf?«
»Bis zur nächsten Werkstatt sind es gute fünfzehn Kilometer.«
»Kann ich dort anrufen?«
»Wenn das Telefon funktioniert. Aber niemand wird sich jetzt noch auf den Weg machen.«
Mechanisch deutete Bauche auf sein Glas, und der Wirt neigte die Flasche mit dem Zinnschnabel darüber.
Wiederum leerte er das Glas in einem Zug und sagte gedankenverloren:
»Ich muss telefonieren. Doch zuerst sollte ich wissen, wo ich bin.«
»In Ingrannes.«
»Wo liegt das genau?«
»Durch welchen Wald sind Sie wohl gefahren? Was denken Sie?«
»Keine Ahnung.«
Die drei Männer an ihrem Tisch brachen in Gelächter aus, stießen sich mit den Ellbogen an.
»Na, so was! Natürlich der Wald von Orléans. Sie befinden sich etwa auf halbem Weg zwischen Pithiviers und Orléans, der nächste Marktflecken ist Vitry-aux-Loges.«
Sein Blick verweilte auf den Bonbongläsern, den Sardinenbüchsen und Scheuermitteln, in einer Ecke stand ein Petroleumfass mit einer Pumpe.
»Dann werde ich jetzt mal telefonieren.«
»Wenn es der Mechaniker ist, den Sie erreichen möchten, können Sie sich Ihr Geld sparen. Seine Werkstatt ist geschlossen, und nachts geht er nicht ans Telefon.«
Ihm war nach einem weiteren Glas zumute, einem letzten, und er bat schüchtern darum, als gälte es, die anderen für sich einzunehmen. Er trank es in kleinen Schlückchen und lächelte dem Wirt zu.
»Er schmeckt gut.«
Doch statt das Glas auf die Theke mit dem braunen Wachstuch zu stellen, hielt er es ihm hin.
»Noch einen?«
»Ja, bitte.«
Da sie sich vielleicht wunderten, dass er keinen Mantel anhatte, fügte er erklärend hinzu:
»Ich habe meinen Mantel in Paris liegenlassen.«
Es war absurd. Er verhedderte sich. Es überlief ihn heiß. Seine dem Kamin zugewandte Körperhälfte glühte.
»Darf ich telefonieren?«
Er hatte auf eine Telefonzelle gehofft, doch da war nur das Wandtelefon, eingerahmt von den gesetzlichen Vorschriften zum Alkoholausschank und einer Bierreklame.
»Drehen Sie die Kurbel. Vielleicht haben Sie Glück, und jemand nimmt den Hörer ab.«
Die Katze lag auf dem Schoß der Alten, und einer der Hunde, der seine Schnauze auf ihr Knie gelegt hatte, sah hechelnd zu ihm auf.
Die Kurbel machte beim Drehen ein merkwürdiges Geräusch, das alte Erinnerungen in ihm wachrief. Der Hörer war glatt und speckig und wog schwer in seiner Hand. Schließlich vernahm er eine verzerrte Stimme, wie aus den ersten Zeiten des Telefons.
»Telefonamt Vitry.«
»Hallo, Mademoiselle … Könnten Sie mich bitte mit Paris verbinden? … Die Nummer kann ich Ihnen nicht sagen, aber sie ist sicher leicht zu finden. Ich möchte mit der Kriminalpolizei sprechen …«
Er wandte ihnen den Rücken zu und wagte sich nicht vorzustellen, wie sie darauf reagieren, und schon gar nicht, wie sie sich jetzt gleich verhalten würden. Noch hatte er die drei Gewehre, die in einer Ecke an der Wand lehnten, die Tuchbeutel und die Patronentaschen auf einem Stuhl nicht gesehen.
In der Leitung knackte es, dann sagte die Stimme:
»Die Verbindung ist unterbrochen.«
»Sie wissen nicht, wie lange es dauern wird?«
»Wahrscheinlich ist ein Baum auf die Leitung gestürzt. Vor morgen früh kann sie sicher nicht repariert werden.«
Damit sie nicht gleich einhängte, sagte er sehr schnell:
»Dann geben Sie mir bitte die Gendarmerie.«
Als das Wort ›Gendarmerie‹ über seine Lippen kam, merkte er, dass die vier Gläser Schnaps nicht ohne Wirkung geblieben waren, vielleicht einfach nur darum, weil er gefroren und nicht zu Abend gegessen hatte. Jedenfalls hatte er Mühe zu artikulieren.
»Welche Gendarmerie? Die von Vitry?«
»Ja, ist schon recht.«
»Einen Augenblick. Ich verbinde.«
Er musste lange warten. Er hörte Stimmen in der Leitung, die aber nicht deutlich bis zu ihm drangen. Es war, als gingen mehrere Gespräche ineinander über. Seine Lider brannten, sein Körper begann sachte zu schwanken, und er wusste, was das bedeutete. Er vermeinte, die vertraute Stimme zu hören, die ihn anfuhr:
›Du hast schon wieder getrunken?‹
Er fragte sich, warum er eigentlich getrunken hatte. Er hätte sich gerne noch ein weiteres Glas genehmigt. Die Männer hinter ihm schwiegen, die einzigen Geräusche waren das Ticken des Weckers und von Zeit zu Zeit das Hecheln des Hundes.
»So reden Sie doch! Die Gendarmerie ist am Apparat!«
Er hatte nichts gehört und fühlte sich wie ertappt.
»Hallo! Ist da die Gendarmerie?«
»Wachtmeister Rochain am Apparat.«
»Entschuldigen Sie die Störung, Wachtmeister. Ich befinde mich in …«
Er musste sich wohl oder übel umdrehen, denn ihm war der Name des Weilers entfallen …
»In … Einen Augenblick …«
»Ingrannes!«, soufflierte der Wirt. »Sagen Sie, bei Durieu. Er kennt mich.«
Folgsam wiederholte er:
»In Ingrannes. Bei Durieu.«
»Wer spricht denn?«
»Das wollte ich Ihnen gerade sagen. Sie kennen mich nicht. Ich wollte Sie bitten, mich hier abzuholen.«
»Wen sollen wir abholen? Ich kann Sie nicht hören. Ich verstehe nichts.«
Die Silben drangen fremd und verzerrt durch die Leitung, als befände man sich in einer Grotte.
»Mich sollen Sie abholen, mein Name ist Albert Bauche. Ich stelle mich der Polizei. Ich habe vorhin in Paris einen Mann getötet. Ich versuche nicht zu fliehen. Das hatte ich nie im Sinn, ganz im Gegenteil.«
»Einen Augenblick, bitte.«
In der Ferne hörte er Fetzen eines Gesprächs.
»Hör mal, was der sagt. Er will einen umgebracht haben und hat die Absicht, sich zu stellen.«
»Hallo! Wollen Sie bitte wiederholen, was Sie eben dem Wachtmeister gesagt haben?«
Wie ein Schuljunge sagte er noch einmal sein Sprüchlein auf, bemühte sich, dieselben Wörter zu benutzen. In seinem Rücken hatte sich etwas bewegt, aber er wagte nicht, sich umzudrehen, um nachzusehen.
»Und wie sind Sie nach Ingrannes gekommen?«
»Mit dem Auto.«
»Mit einem gestohlenen Wagen?«
»Nein. Mit meinem eigenen.«
»Wollten Sie über die Grenze?«
»Nein. Ich bin einfach drauflosgefahren. Ich hatte das dringende Bedürfnis, Auto zu fahren.«
Die erste Stimme, die von Wachtmeister Rochain, flüsterte dem Kollegen zu:
»Frag ihn, ob er bewaffnet ist.«
»Sind Sie bewaffnet?«
»Ich …«
Er versuchte sich zu erinnern, was er mit dem Revolver gemacht hatte.
»Nein.«
»Sind Sie ganz sicher, dass Sie keine Waffe haben?«
»Ich gebe Ihnen mein Wort.«
»In Ordnung. Bleiben Sie, wo Sie sind. Warum können Sie nicht mit Ihrem eigenen Wagen zu uns fahren?«
»Mein Auto hat eine Panne.«
»Ich rufe jetzt Orléans an und lasse mir weitere Instruktionen geben. Bleiben Sie, wo Sie sind. Warten Sie mal! Ist der alte Durieu gerade in Ihrer Nähe?«
»Wenn Sie den Wirt meinen, ja.«
»Geben Sie ihn mir.«
Er wandte sich nur halb zu den anderen um, aber das genügte, um zu sehen, dass der Jagdaufseher auf der Tischkante saß, sein Gewehr auf den Knien, dessen Lauf auf ihn gerichtet war.
»Die Gendarmerie möchte Sie sprechen, Monsieur Durieu.«
In diesem Moment geschah etwas, worauf er nicht gefasst war und das ihn zutiefst traf. Als er dem Mann mit der Schürze den Ebonit-Hörer hinhielt, brachte dieser es nicht über sich, zu ihm zu treten und ihn entgegenzunehmen. Anfangs missverstand Bauche das Zögern und meinte, der Mann habe Angst. Er setzte also wieder sein klägliches Lächeln auf, das eigentlich ganz untypisch für ihn war, und versuchte ihn zu beruhigen.
»Sie haben doch gehört, was ich gesagt habe. Ich bin nicht bewaffnet. Ich will mich der Polizei stellen.«
Doch Angst war es nicht gewesen, und als er sich darüber klar wurde, überraschte es ihn zuerst. Was er in den Augen des Bauern las, war ein ihm noch unbekanntes Gefühl, von dessen Existenz er bislang nicht die leiseste Ahnung gehabt hatte.
Entsetzen war es nicht. Auch nicht Abscheu.
Es war schlimmer.
Den Hörer in der Hand, aus dem die Stimme des Gendarmen ins Leere tönte, wandte er sich den anderen zu, suchte in ihren Augen zu lesen.
Er begriff, nein, er spürte körperlich, dass zwischen ihm und den anderen unversehens eine unsichtbare Schranke runtergegangen, eine Kluft entstanden war, die weder er noch sie je würden überbrücken können.
Die Frau blickte unverwandt auf die Scheite im Kamin.
»Möchten Sie nicht mit ihm sprechen?«
Beinahe so, als wäre er ein Pestkranker, legte er den Hörer auf das Brett unter dem Apparat und trat zwei Schritte zur Seite, wobei er peinlich genau darauf achtete, nicht zu nahe an die Tür zu gehen und keine verdächtige Bewegung zu machen, denn die Männer wären durchaus imstande gewesen, auf ihn zu schießen.
Nach kurzem Zögern ergriff der Wirt mit spitzen Fingern den Hörer.
»Louis am Apparat.«
Es war nicht zu verstehen, was der Wachtmeister am anderen Ende der Leitung sagte, aber die Hörmuschel vibrierte.
»Ja … Ja … Fernand ist gerade hier … Und zwei andere … Ja … Was sollen wir? … Ich weiß nicht. So um die dreißig herum … Ja … Vier Gläser Schnaps … Ich weiß nicht … Ich glaube nicht …«
Bauche, der kein Auge von dem Wirt gelassen hatte, bemerkte, dass der Mann kreidebleich war, als sei ihm übel geworden.
»Geh mal lieber nach oben, und leg dich schlafen«, sagte er liebevoll zu seiner Frau, nachdem er eingehängt hatte.
Sie bedeutete ihm, sich zu ihr herunterzubeugen, und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er antwortete mit gedämpfter Stimme, redete ihr zu, und sie erhob sich mit der Katze im Arm, wandte sich zu einer Tür, hinter der sich die Treppe befand. Ihr Mann folgte ihr, und als er wieder in den Raum trat, war er immer noch fahl im Gesicht. Er wollte zur Flasche greifen, aus der er Bauche eben eingeschenkt hatte, besann sich jedoch anders und goss sich ein Glas Wein ein.
Ihm war sichtlich nicht nach Alkohol zumute, etwas bedrückte ihn. Er stand eine Weile hinter der Theke herum, aber dort schien er sich unbehaglich zu fühlen, und er begab sich zu seinen Gefährten im hinteren Raumteil.
Bauche rührte sich nicht von der Stelle und blickte unverwandt zu ihnen hinüber. Sie redeten über ihn. Der Jagdaufseher senkte kaum die Stimme, als er fragte:
»Was hat François gesagt?«
Dann tuschelten sie miteinander. Als einer der Hunde zu dem Fremden ging, rief ihn sein Herr zurück und befahl ihm, sich zu seinen Füßen niederzulegen.
Er hätte sich gerne hingesetzt, doch in seiner Nähe stand kein Stuhl, und er fürchtete, ihnen einen Schrecken einzujagen, wenn er sich bewegte. Er hätte auch gerne noch etwas getrunken oder vielleicht etwas gegessen. Er bildete sich plötzlich ein, Hunger zu haben, und der Anblick der Sardinenbüchsen verursachte ihm einen stechenden Schmerz in den Eingeweiden.
Er war sich bewusst, dass er sie um nichts bitten durfte, auf keinen Fall! Sie würden es ihm sehr verübeln, wenn er auch nur einen Bissen zum Munde führte, denn es war ja, als hätte er unvermittelt aufgehört, ein Mensch zu sein. Ein anderes, überaus natürliches Bedürfnis, dem er aber noch weniger nachkommen durfte, quälte ihn während der vierzig Minuten, die er noch zu warten hatte, den Blick unverwandt auf den Stuhl gerichtet, der zwei Meter von ihm entfernt stand und auf dem er sich so gerne ausgeruht hätte.
Zuerst hatten die Hunde etwas gehört und spitzten die Ohren. Dann war das Brummen eines Motors zu vernehmen, es wurde lauter, Bremsen quietschten, eine Wagentür wurde zugeschlagen. Zwei uniformierte Gendarmen stießen die Tür auf. Das Ladenglöckchen bimmelte. Mit ihnen drang nächtliche Kälte und Feuchtigkeit in den warmen Raum.
»Sind Sie der Mann, der vorhin angerufen hat?«
Das Folgende spielte sich ab wie ein Taschenspielertrick, so als wäre die Szene in allen Einzelheiten geprobt worden. Bauche spürte die Hände eines der beiden Gendarmen an seinem Körper entlanggleiten, man wollte wohl sichergehen, dass er keine Waffe trug. Der Zweite pflanzte sich vor ihm auf, deutete auf seine Handgelenke.
»Streck die Hände aus!«
Im Nu waren die Handschellen zugeschnappt.
Der Tonwechsel hatte sich völlig übergangslos vollzogen. Gerade noch hatte man ihn gesiezt.
›Sind Sie der Mann, der vorhin angerufen hat?‹
Und dann unvermittelt das brutale ›Du‹, das nichts von einer vertraulichen Anrede hatte.
›Streck die Hände aus!‹
Die drei Männer stellten ihre Gewehre in die Ecke, und man spürte, dass das Leben wieder in die altgewohnten Bahnen zurückkehrte.
»Deine Papiere.«
»In der Innentasche meines Jacketts.«
Er schien sich geradezu dafür zu entschuldigen, dass er sie wegen der Handschellen nicht selber hervorholen konnte.
Der Wachtmeister nahm auf einem Stuhl Platz, um die Brieftasche zu untersuchen, und setzte seine Brille auf. Als er den Ausweis gefunden und ihn hin- und hergewendet hatte, ging er zum Telefon und drehte die Kurbel.
»Verbinden Sie mich bitte mit Orléans. Vordringliches Gespräch. Wachtmeister Rochain am Apparat.«
Er gab eine Nummer durch. Hinter den Brillengläsern wirkten seine Augen groß und streng.
»Hallo! Ist da die Bereitschaftspolizei Orléans? Hier spricht Wachtmeister Rochain, Vitry-aux-Loges. Wir haben ihn. Ich gebe Ihnen seinen Namen und seine Adresse durch … Ja … Ich habe seinen Ausweis vor mir, er scheint in Ordnung … Schreiben Sie mit? … Albert Bauche … B wie Bernard … A wie Antoine … U wie Ursule … C … Ja … H wie Henri … E wie Ernest … Nein … Verheiratet … Quai d’Auteuil siebenundsechzig, in Paris …«
Bauche, der sich gern eine Zigarette angezündet hätte, wagte nicht, darum zu bitten, dass man ihm dabei half, sein Päckchen aus der Tasche zu ziehen. Der zweite Gendarm unterhielt sich leise mit dem Wirt und seinen Kumpanen und ließ sich ein Glas Wein einschenken.
»Einen Moment. Ich werde ihn fragen.«
Der Wachtmeister wandte sich an Bauche.
»Wen hast du denn umgebracht? Wo? Wann?«
»Serge Nicolas … Vorhin … Gegen halb sieben … Nein, eher um sechs …«
»Und wo?«
»In seiner Wohnung, Rue Daru … Gleich hinter der Place de l’Étoile …«
»Hallo! Das habe ich eben von ihm erfahren …«
Er wiederholte Namen und Adresse, lauschte und fragte ihn dann:
»Womit?«
»Mit einem Revolver.«
Er gab es durch, horchte wieder.
»Zeugen?«
»Keine.«
In die Sprechmuschel sagte er:
»Es gibt keine Zeugen.«
Und so ging das Spiel weiter.
»Ist er tot?«
»Ich glaube schon … Ja … Er ist bestimmt tot …«
»Hallo. Er nimmt es an. Er sagt, dass er bestimmt tot ist. Wie, bitte? … Gut! Wir sollen uns erst den Wagen ansehen? Verstanden. Geht in Ordnung. Ich weiß nicht. Etwas über eine Stunde bestimmt, noch dazu, wenn der Wagen auf einem Waldweg steht.«
Zu Bauche:
»Steht der Wagen auf einem Waldweg?«
»Ja.«
Er gab seinem unsichtbaren Gesprächspartner die Information weiter, hängte ein, nahm mit einer langsamen, feierlichen Bewegung seine Brille ab. Sogleich verlor er sein Beamtengesicht und sah genauso aus wie die Bauern am Tisch.
»Weißt du genau, wo du dein Auto stehenlassen hast?«
»Ich glaub schon.«
»Kannst du uns hinführen?«
»Es ist der Weg, der von links kommt und an der Kirche endet. Ich hatte die Panne in der Nähe von einem Bauernhaus an einer abschüssigen Wiese.«
»Bei Charasseau«, sagte der Jagdaufseher.
Der Wirt reichte dem Wachtmeister ein Glas Wein, das dieser nicht ausschlug und in einem Zug leerte.
»Also, los!«
Bauche traute sich nicht zu sagen, dass er Hunger und Durst hatte. Man ließ ihn als Ersten hinausgehen, die beiden Uniformierten folgten ihm auf dem Fuß. Sobald die Tür ins Schloss fiel, begaben sich die anderen wieder auf ihre Plätze am Tisch. Vielleicht war die Alte gar nicht schlafen gegangen und würde jetzt, die Katze auf dem Arm, wieder herunterkommen und sich in ihren Korbstuhl setzen.
Auch von dem anderen Drang, der ihm zu schaffen machte, wagte er auf dem Weg zum Polizeiauto nichts zu sagen.
Man schob ihn auf den Rücksitz. Die beiden Gendarmen nahmen vorne Platz. Es regnete immer noch, aber nicht mehr so stark wie zuvor. Auch die Dunkelheit, ja sogar die Bäume, deren dicht aneinandergedrängte Stämme im Scheinwerferlicht aufleuchteten, waren nicht mehr dieselben.
»Wartet er auf uns?«
»Ja. Er hat Nachtdienst. Er setzt sich gerade mit Paris in Verbindung.«
Als Bauche aus seinem Auto ausgestiegen war, hatte er nicht bemerkt, wie weit es sich über die Böschung neigte. Es stand da am Wegrand wie ein ausgedientes, ein wenig komisches Wrack. Der Wachtmeister stieg aus und bewegte sich im Scheinwerferlicht mit geradezu lächerlicher Vorsicht darauf zu, nahm sich sogar Zeit, die Wagennummer zu notieren, bevor er die Tür öffnete.
»Erlauben Sie, dass ich einen Augenblick? …«, fragte Bauche den im Auto verbliebenen Gendarmen.
»Was soll ich erlauben?«
»Ich müsste einmal …«
Er hatte gemeint, dass er nur ein kleines Geschäft erledigen musste, wie er als Kind gesagt hatte, aber als er im Regen am Wegrand stand, der Gendarm nur zwei Schritte von ihm entfernt, blieb ihm nichts anderes übrig, als die Demütigung auf sich zu nehmen.
»Ich bitte um Verzeihung …«
Sein großes Geschäft war noch nicht beendigt, als Wachtmeister Rochain bereits zurückkam. Er musterte ihn von Kopf bis Fuß, als wäre er ein Tier, und setzte sich wieder ans Steuer.
Bauche war völlig durchgefroren. Das hohe Gras hatte seine Hosenaufschläge durchnässt, und er fühlte sich schmutzig. Er sagte noch einmal:
»Ich bitte um Verzeihung.«
Die Tür wurde hinter ihm zugeschlagen. Der Gendarm setzte sich neben seinen Kollegen. Um an dem liegengebliebenen Wagen vorbeizukommen, mussten sie in einem komplizierten Manöver ein kleines Stück über den Straßengraben fahren und streiften dabei die Bäume.
Die beiden Männer rauchten. Sie hatten breite Schultern, ihre Uniformen rochen nach feuchter Wolle, und beide hatten eine Weinfahne.
»Fährst du über Vitry?«
»Ich nehme die Abkürzung über den Kanal. Warum?«
»Nur so. Sonst hätte ich kurz meiner Frau Bescheid gesagt.«
Dann:
»Macht nichts.«
Von ihm war in ihrer Unterhaltung nicht die Rede, sie kümmerten sich auch nicht darum, ob er ihnen zuhörte oder nicht. Gewissermaßen zählte er nicht mehr als Mensch, seit sie ihn, mit Stahlringen um die Handgelenke, auf den Rücksitz des Autos bugsiert hatten, wo ihm die Vordersitze jeden Ausstieg unmöglich machten.
Während der ganzen Fahrt von Ingrannes nach Orléans war er für sie gleichsam gar nicht vorhanden. Beide rauchten, der eine Zigaretten, der andere Pfeife, aus der beißender Rauch aufstieg. Gemächlich plätscherte das Gespräch dahin, keiner hatte es eilig, dem anderen zu antworten. Sie sprachen von Leuten, die sie beim Vornamen nannten, als wären sie Schwägerinnen, die sich sonntagnachmittags einen Besuch abstatten.
»Was hat er darauf erwidert?«
»Er hat halt gesagt, wenn er Arthur nicht so genau kennen würde, hätte die Sache ein böses Ende nehmen können, und dass Jeanne in Zukunft besser den Mund halten sollte.«
»Und der Alte?«
»Das Komische war ja, dass der keinen Muckser getan hat. Dem hat’s einfach die Sprache verschlagen, verstehst du?«
Die Personen ließen sich nicht deutlich unterscheiden, träge gingen die Geschichten ineinander über, und er hätte eine Erklärung gebraucht, um zu begreifen, wer eigentlich gemeint war. Schließlich vernahm er nur noch den Klang der Wörter, ohne dass sie für ihn ein Bild hervorriefen, so als würden die beiden in einer fremden Sprache reden.
»Hast du mit dem Chef darüber gesprochen?«
»Das mach ich, sobald ich es für notwendig halte.«
»Übrigens, da wir schon vom Chef reden, hat der Kerl mit dem Vollbart dir erzählt, was ihm auf der Kirchweih passiert ist?«
All diese Dinge besprachen sie wichtigtuerisch und genüsslich, unterstrichen das eine oder andere durch hämisches Kichern.
Er versuchte, nicht zuzuhören, denn ihr Gerede tat ihm weh. Mehr noch als vorher bei dem Wirt empfand er, dass man ihn von der Welt ausschloss.