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In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Die junge Tierarztfrau Andrea von Lehn half ihrem Mann in der Sprechstunde. Er schätzte ihre Mitarbeit sehr, aber jetzt war er ein wenig ärgerlich. Andrea stand am Fenster, kehrte ihm den Rücken zu und sah auf den Hof hinaus, als gäbe es für sie nichts Wichtigeres zu tun. Dabei sollte sie ihm doch Flock, den kleinen Terrier des Drogisten von Bachenau, halten. Der Hund musste eine Injektion bekommen, aber sein Herrchen war nicht imstande, ihn festzuhalten. Im Gegenteil, der sonst recht forsche Drogist flüchtete jetzt ins Wartezimmer und rief von der Tür zurück: »Ich komme wieder, wenn es vorbei ist, Herr Doktor. So etwas kann ich nicht mitansehen. Mein armer Flock!« Diese Worte des Drogisten und ein daraufhin ausgestoßener lauter Seufzer ihres Mannes schienen Andrea endlich an ihre Pflichten zu erinnern. Sie drehte sich um. Doch Hans-Joachim von Lehn wurde enttäuscht. Weder er noch der Terrier interessierten Andrea im Augenblick. Eilig strebte sie der Tür zur Diele zu. »Ich muss mal auf den Hof hinaus«, sagte sie. »Entschuldige, Hans-Joachim.« »Aber ich brauche dich doch, Andrea. Das Wartezimmer ist noch voll besetzt. Wenn ich wegen einer Injektion so trödele, sind wir am Nachmittag noch nicht fertig.« »Ich komme ja gleich wieder, Hans-Joachim.
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Seitenzahl: 157
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Die junge Tierarztfrau Andrea von Lehn half ihrem Mann in der Sprechstunde. Er schätzte ihre Mitarbeit sehr, aber jetzt war er ein wenig ärgerlich. Andrea stand am Fenster, kehrte ihm den Rücken zu und sah auf den Hof hinaus, als gäbe es für sie nichts Wichtigeres zu tun. Dabei sollte sie ihm doch Flock, den kleinen Terrier des Drogisten von Bachenau, halten. Der Hund musste eine Injektion bekommen, aber sein Herrchen war nicht imstande, ihn festzuhalten. Im Gegenteil, der sonst recht forsche Drogist flüchtete jetzt ins Wartezimmer und rief von der Tür zurück: »Ich komme wieder, wenn es vorbei ist, Herr Doktor. So etwas kann ich nicht mitansehen. Mein armer Flock!«
Diese Worte des Drogisten und ein daraufhin ausgestoßener lauter Seufzer ihres Mannes schienen Andrea endlich an ihre Pflichten zu erinnern. Sie drehte sich um. Doch Hans-Joachim von Lehn wurde enttäuscht. Weder er noch der Terrier interessierten Andrea im Augenblick. Eilig strebte sie der Tür zur Diele zu. »Ich muss mal auf den Hof hinaus«, sagte sie. »Entschuldige, Hans-Joachim.«
»Aber ich brauche dich doch, Andrea. Das Wartezimmer ist noch voll besetzt. Wenn ich wegen einer Injektion so trödele, sind wir am Nachmittag noch nicht fertig.«
»Ich komme ja gleich wieder, Hans-Joachim. Ich muss nur nachsehen, was da draußen los ist. Schau mal auf den Hof hinaus. Dort verhandelt ein fremdes Kind mit dem Tierpfleger. Ich glaube, er stellt sich recht dumm an. Das Mädchen sieht ganz verzweifelt aus.«
Andrea verschwand nun. Sie lief durch die Diele, verließ die Villa und ging dann etwas langsamer auf das Tierheim »Waldi & Co.« zu. Vor dem breiten Eingangstor stand der junge Tierpfleger Helmut Koster neben einem kleinen Mädchen. Es war ein allerliebstes Geschöpf in einem bunten Dirndlkleid. Stramme Beinchen steckten in Kniestrümpfen und Sandalen, kastanienbraunes Haar fiel dem Mädchen bis über die Schultern.
Helmut Koster bemerkte Andrea von Lehn. »Ein Glück, dass Sie kommen«, sagte er. »Wir beide hier können uns nicht einig werden. Das Mädchen möchte gern etwas Heu und Hafer haben. Aber wie soll die Kleine das transportieren?«
Andrea legte die Hand auf die Schulter des Mädchens. »Wie heißt du denn?«
Dunkelbraune Augen sahen Andrea etwas ängstlich an. »Dorothea. Aber alle sagen Dorle zu mir. Das finde ich auch hübscher.«
»Ich auch, Dorle«, erwiderte Andrea lachend. »Und für wen möchtest du Heu und Hafer haben? Für ein Pferd?«
Dorle nickte. »Ja, für unseren Hanko. Es hat immer so viel Hunger. Großvater und ich kriegen Hanko nicht mehr satt. Dabei muss Hanko stark sein, wenn er unseren Wagen ziehen soll.«
»Aber von dem, was du tragen kannst, wird dein Hanko nicht lange satt bleiben, Dorle.« Andrea von Lehn spürte ihr Herz stärker klopfen. Dieses hübsche Kind tat ihr schon jetzt leid, obwohl sie nichts von seinem Schicksal wusste. Aber es musste ein trauriges Schicksal sein, denn dieses Kind sah nicht aus, als gehöre es zu einer umherziehenden Sippe.
»Wo steht denn euer Wagen?«, fragte Andrea.
Jetzt sah das Mädchen erschrocken aus. Dann sagte sie leise: »Das darf ich nicht verraten. Großvater will nicht, dass ich es sage. Er wollte mich auch nicht um Heu und Hafer betteln lassen. Großvater weiß nicht, dass ich hier bin. Aber ich habe doch gesehen, dass hier so viele Tiere sind. Sicher haben die es sehr gut. Viel besser als mein Hanko. Ihre Tiere bräuchten nicht zu hungern, wenn Sie mir ein bisschen von Ihrem Hafer gäben. Der macht stark.« Noch immer hielt Dorle Andreas Hand fest. Bittend sah sie zu ihr auf.
»Natürlich bekommst du für deinen Hanko Hafer, Dorle. Und auch Heu.« Andrea musste sich viel Mühe geben, um das Zittern ihrer Stimme zu verbergen. Das Kind tat ihr unendlich leid. Sie wollte gar nicht, dass es so viel bettelte. Rasch erklärte sie: »Wenn du mir gesagt hättest, wo euer Wagen steht, hätten Herr Koster und ich euch etwas Hafer und Heu gebracht. So viel, dass es gleich für mehrere Tage gereicht hätte. Du hast ganz recht, unsere Tiere hätten deshalb nichts entbehren müssen. Aber wenn du nicht willst, dass ich dich begleite …« Andrea sah das Mädchen mit einem Blick an, der es bat: So sage mir doch, woher du kommst.
Dorle schüttelte den Kopf. »Ich darf nichts verraten. Großvater würde dann wieder so viel Angst um mich haben. Er ist so lieb zu mir, und krank ist er auch. Er darf sich nicht aufregen. Ich muss alles tun, was er von mir verlangt.«
Andrea war erschüttert von dem Ernst, mit dem das Kind dies alles sagte. »Wie alt bist du denn, Dorle?«
»Fünf Jahre. Bekomme ich jetzt etwas?« Dorles Stimme war drängender geworden. »Ich bin schon so lange fort. Großvater wird mich vermissen. Und ich muss ihm wieder nasse Tücher um die Beine machen. Er hat so viel Fieber. Aber wenn ich ihm helfe, wird er wieder gesund werden.«
Andrea sah ein, dass sie jetzt nichts anderes tun konnte als den Wunsch des Kindes zu befolgen. Vielleicht gab es danach eine Möglichkeit, dem Mädchen zu helfen. »Herr Koster wird dir einen kleinen Eimer füllen. Gerade so viel, wie du tragen kannst, Dorle. Und etwas Heu schnüren wir ganz fest in einen kleinen Sack ein. Der ist ja dann nicht so schwer. Für heute wird das reichen. Komm halt morgen wieder, Dorle.« Andrea sprach bewusst unbefangen, um dem Kind etwas Sicherheit zu geben.
Helmut Koster betrat schon das Tierheim. Er ging durch den breiten Mittelgang zur Heukammer.
»Darf ich einmal da hineingehen?«, fragte Dorle und zeigte durch die Tür ins Innere des Tierheims.
»Ja, komm, ich begleite dich. So viel Zeit hast du sicher, dass du unsere Tiere bewundern kannst. Ich glaube, du magst Tiere sehr gern, nicht wahr?« Andrea nahm das Mädchen wieder an die Hand.
Die braunen Kinderaugen glänzten. »Ja, sehr gern. Ich wünsche mir einen Hund. Der würde gut auf Großvater und mich aufpassen, wenn wir im Wald stehen. Aber wir hätten ja auch für einen Hund kein Futter.« Dorle blieb an der Bärenbox stehen. »Bären!«, staunte sie und schüttelte sich nun doch ein wenig vor Schaudern. »Hast du keine Angst vor den Bären?«, fragte sie. Doch noch bevor Andrea ihr eine Antwort geben konnte, setzte sie etwas schüchtern hinzu: »Wie heißt du?«
»Ich bin Frau von Lehn. Mir gehört dieses Tierheim, Dorle.«
Das Mädchen wurde etwas unsicher.
»Großvater sagt, dass ich zu großen Leuten Sie sagen muss. Ich vergesse das immer. Weil ich ja auch so selten mit Leuten spreche.«
»Zu mir kannst du getrost du sagen, Dorle. Das gefällt mir. Und wenn du dir meinen Namen nicht merken kannst, dann sagst du einfach Tante Andrea zu mir. Das mag ich am liebsten. Es gibt viele Kinder, die mich so rufen.«
Dorle schien die Bären vergessen zu haben. Ihr Blick hing bewundernd an Andrea. »Du bist so schön«, staunte sie. »Hast du denn schon so viele Kinder?«
Andrea lachte. »Nein, Dorle. Aber meine Mutter hat ein Kinderheim …«
»Sophienlust?«, unterbrach Dorle sie blitzschnell.
»Ja, Sophienlust.« Andrea war erstaunt. »Kennst du das Kinderheim denn?«
Dorle nickte, aber ihr Blick war wieder traurig. »Nur von außen, Tante Andrea. Ich darf ja nicht hineingehen. Aber ich schleiche mich oft von unserem Wagen fort und sehe durch die Hecke. Die Kinder sind immer so lustig.« Als wollte die Kleine die Selbstquälerei jetzt schnell beenden, riss sie sich von Andreas Hand los und lief den Mittelgang entlang. An der Box des Esels Benjamin blieb sie stehen. Ihr Blick wurde kritisch. »Der sieht aber auch nicht besser aus als mein Hanko.« Sie drehte sich zu Andrea um, die ihr gefolgt war. Entrüstung stand in den schönen braunen Kinderaugen. »Gestern ist ein Mann an unserem Wagen vorbeigegangen und hat gesagt, unser Hanko sei eine elende Mähre. Das ist etwas Schlimmes, Tante Andrea. Großvater hat es mir erklärt.« Wieder musterte Dorle den Esel Benjamin sehr genau. »Er ist auch so ruppig wie mein Hanko. Ein bisschen verhungert schaut er auch aus.«
Andrea streichelte Dorle beruhigend über das Haar. »Unser Esel Benjamin ist schon sehr alt und halb blind, Dorle. Wir pflegen ihn gut. Er ist glücklich hier. Aber dass er noch einmal wie ein junger Esel aussieht, das können wir nicht schaffen.«
»Ach so!« Das klang erlöst und beruhigt, als Dorle es sagte. »Ich wollte dich auch nicht kränken, Tante Andrea.« Ihr Blick wurde etwas schuldbewusst. Allem Anschein nach aus Verlegenheit spielte sie jetzt mit einem kleinen goldenen Kettchen, das an ihrem Hals hing.
Das Kettchen war Andrea schon vorher aufgefallen. Es hing ein kleines Herz daran. Hatte das Kind ein Bildchen in diesem Herzen? Aber das wagte Andrea nicht zu fragen. Sie sagte: »Du hast mich nicht gekränkt, Dorle. Aber da kommt ja Herr Koster.«
Dorle sah dem Tierpfleger mit leuchtenden Augen entgegen. Jetzt interessierten sie die anderen Tiere in den Boxen nicht mehr. »Den Eimer kann ich gut tragen«, jubelte sie. »Und den kleinen Sack auch.« Etwas geheimnisvoll setzte sie hinzu: »So weit habe ich gar nicht zu gehen.«
»Ich begleite dich bis zum Tor.« Andrea nahm Helmut Koster den Eimer ab. Sie hatte doch große Bedenken, dass er dem Kind zu schwer wurde. Aber sie musste sich Dorles Willen fügen und das Kind allein gehen lassen.
»Danke, Tante Andrea. Du bist sehr lieb.« Das sagte Dorle, als sie den Eimer und den Heusack übernahm. »Ich gehe über die Wiesen. Das ist ein kurzer Weg.«
»Komm morgen wieder, Dorle«, bat Andrea und blieb am Tor stehen. Ihr Blick verfolgte das kleine Mädchen noch lange. Es ging einen Feldweg entlang und dann quer über eine Wiese.
»Man müsste dem Kind nachgehen«, sagte Andrea zu Helmut Koster. Auch er war noch stehen geblieben.
Nun zuckte er die Schultern. »Ich weiß auch nicht, was richtig wäre, Frau von Lehn. Aber manchmal ist es am besten, abzuwarten.«
Andrea wusste, dass ihr das sehr schwerfallen würde. Sie kannte sich und ihre Ungeduld. Jetzt gab es nur eines für sie, ihrem Mann von dem kleinen Dorle zu erzählen. Und zwar gleich in der Sprechstunde, ob das Hans-Joachim nun passte oder nicht. Konnte es nicht sein, dass das Schicksal des kleinen Mädchens jetzt wichtiger war als das Verarzten eines Tieres?
Andrea war wenig später etwas enttäuscht. Auch ihr Mann riet ihr, zunächst nichts zu unternehmen und lieber abzuwarten, ob die kleine Dorle am nächsten Tag wiederkommen würde.
Am Nachmittag fuhr Andrea von Lehn nach Sophienlust. Sie hoffte, bei ihrer Mutter mehr Verständnis für ihre Sorgen um Dorle zu finden.
Denise von Schoenecker sah ihrer Tochter schon an, dass sie wieder einmal etwas auf dem Herzen hatte. Sie brauchte auch nicht lange zu warten, bis Andrea ihr alles erzählte. Beinah wortgetreu wiederholte die junge Frau, was Dorle gesprochen hatte.
Denises schönes Gesicht war ernst geworden. Etwas resigniert sagte sie: »Immer wieder begegnen wir traurigen Kinderschicksalen, Andrea. Manchmal deprimiert mich das zu sehr. Wie wenig kann man helfen, obwohl doch gerade wir in Sophienlust darum bemüht sind, Kindern Geborgenheit zu geben. Aber es sind nur wenige Kinder, denen wir beistehen können – im Vergleich zu den vielen auf dieser Welt, die entsetzlich leiden.« Denise griff nach einer Zeitung. »Gerade habe ich von zwei Kindern gelesen, die verhungert sind.« Ihre Stimme schwankte, als sie fortfuhr: »Kannst du dir das vorstellen? So etwas Furchtbares gibt es in unserer Zeit noch? In unserer Welt? Es wird so viel vom Wohlstand gesprochen, aber mitten in Deutschland lässt eine Rabenmutter ihre Kinder verhungern. Und niemand im Haus merkt das. Den Leuten ist wohl aufgefallen, dass die beiden Kinder viel allein waren, dass sie unterernährt aussahen, aber keiner hat eingegriffen.«
Andrea war blass geworden. Sie lehnte sich zurück und schob die Zeitung beiseite. »Ich kann das nicht lesen, Mutti. Es ist schon genug, dass du dich damit gequält hast.« Jetzt neigte sie sich wieder vor. »Aber gerade jetzt sollten wir Dorles Schicksal nachgehen. Wenn man etwas so Grauenvolles hört, wie das, was du eben erwähnt hast, muss man wach bleiben. Könnte es nicht sein, dass auch Dorle leidet? Sie sah zwar gut aus, gar nicht heruntergekommen oder gequält, aber sie war traurig. Und sie wirkte sehr verlassen, obwohl sie so liebevoll von ihrem Großvater sprach. Er soll krank sein. Mutti, wir müssen uns um Dorle kümmern.«
Denise von Schoenecker nickte. »Ja, das müssen wir tun, Andrea. Das ist mir auch schon klar geworden. Doch ich würde dir raten, bis morgen zu warten. Das Kind wird wiederkommen. Nicht nur, weil es das versprochen hat, sondern auch, weil es wohl gemerkt haben wird, wie gut du es mit ihm meinst. Übrigens, morgen ist ein Feiertag. Die Kinder haben also schulfrei. Ich werde deinen Bruder Nick zu dir schicken. Du weißt, er ist im Ausspionieren ein Meister.« Denise lächelte jetzt wieder. »Und besessen genug ist Nick auch, um auskundschaften zu wollen, wo der Wagen steht, in dem Dorle mit ihrem Großvater lebt. Ich bin der Meinung, wir sollten uns dem Kind zunächst nicht aufdrängen. Noch wissen wir nicht, warum der Großvater diese Geheimnistuerei will. Er könnte das Kind auch strafen, wenn er merkt, dass es zu viel verraten hat. Deshalb darfst du nicht offiziell mit Dorle gehen und dich ihr auch nicht aufdrängen.«
Andrea war mit diesem Vorschlag einverstanden. Sie wusste, auf ihren fünfzehnjährigen Bruder Dominik konnte sie sich verlassen. Auch wenn sie einander manchmal ein wenig in die Haare gerieten, weil Nick meinte, zu ihr recht keck sein zu können, verstanden sie sich doch sehr gut. Vor allem dann, wenn es darum ging, einem Kind zu helfen.
*
Am nächsten Vormittag hätte Dr. von Lehn noch mehr Grund gehabt, an dem Pflichtbewusstsein seiner Assistentin zu zweifeln. So stolz Andrea auch sonst auf diesem Titel war, den er ihr gelegentlich gab, an diesem Tag schien er ihr nichts zu bedeuten. Sie reichte ihrem Mann ganz andere Instrumente, als er von ihr verlangte, machte falsche Eintragungen in die Karteikarten der Patienten und lief zwischendurch immer wieder ans Fenster.
Andrea wartete auf das kleine Mädchen, über das auch er sich viele Gedanken gemacht hatte. Allerdings mochte er das nicht eingestehen, weil er der Meinung war, es reichte vollkommen, wenn der eine Ehepartner seine gereizten Nerven verriet.
Knapp vor Beendigung der Sprechstunde sagte Andrea verzweifelt: »Das Kind ist nicht mehr gekommen.« Die junge Frau sank auf einen Stuhl, obwohl sie den nächsten Patienten aus dem Wartezimmer ins Behandlungszimmer hätte rufen müssen. Schließlich klagte sie: »Warum tue ich nicht das, was ich selbst für richtig halte? Immer lasse ich mich von anderen beeinflussen und zurückhalten. Von dir, Hans-Joachim, von Helmut Koster, und von Mutti auch noch. Ich hätte Dorle gestern folgen müssen. Oder wir hätten gegen Abend die Gegend miteinander abfahren müssen. Vielleicht wäre es uns geglückt, auszukundschaften, wo der Wagen steht.«
Hans-Joachim von Lehn zog seine Frau vom Stuhl hoch und drückte sie an sich. »Sei nicht gleich wieder so verzweifelt, Andrea.« Er versuchte ihr durch ein zuversichtliches Lächeln Mut zu machen. »Pferde haben es an sich, dass sie nach einem Eimer Hafer einen zweiten wollen. Das wird bei Hanko nicht anders sein. Erst recht nicht, wenn er ausgehungert ist, wie man Dorles Worten entnehmen musste.«
»Du meinst, dass Dorle doch noch kommen wird?« Andrea atmete auf. Gleich darauf aber sank ihre Hoffnung schon wieder in sich zusammen. »Das ist nur eine Vermutung, Hans-Joachim. Auf jeden Fall reiße ich mir jedes Haar einzeln aus, wenn Dorle nicht wiederkommt und ich einsehen muss, dass ich etwas versäumt habe.«
Hans-Joachim von Lehn strich über Andreas Kopf. »Es wird viel Arbeit für dich werden, Andrea, jedes Haar einzeln ausreißen. Dazu hättest du bestimmt nicht genug Geduld. Und noch etwas: Bist du überzeugt, dass ich dich auch mit einer Glatze noch lieben würde? Wo ich doch in dein schönes langes Haar so verliebt bin …«
Andrea wurde vom Lachen ihres Mannes angesteckt. »Nur in mein Haar hast du dich verliebt, Hans-Joachim? Das ist sehr wenig.«
»Erpresserin!«, murmelte der junge Tierarzt und küsste seine Frau. »Du weißt genau, was alles ich an dir liebe. Sogar dein zappeliges Wesen, deine impulsive Art, dein …«
Andrea befreite sich aus seinen Armen und sprang einige Schritte zurück. »Halt, Herr Dr. von Lehn, nicht weiter! Bewahren Sie die Würde dieses geheiligten Raumes. Und denken Sie an Ihre armen Patienten da draußen.« Sie zeigte auf die Tür zum Wartezimmer.
»Das musst gerade du mir vorhalten«, meinte Hans-Joachim lachend. »Wo du seit gestern jedes der Tierchen lieber auf den Mond schießen würdest, als mir zu helfen, es zu verarzten.«
»Das ist nicht wahr!« Andrea sah betroffen aus. »Ich möchte, dass du alle Tiere heilst, Hans-Joachim.« Sie zuckte die Schultern. »Aber wenn es um das Glück eines Kindes geht, finde ich das eben vorrangig. Du doch auch, Hans-Joachim. Gib’s zu!« Andrea war zurückgekommen und sah ihren Mann drohend an. Dabei konnte sie aber nicht verhindern, dass er den Schelm in ihren Augen erkannte.
»Ja, ich gebe es zu, mein Liebes, meine geliebte Häckselmaschine. Ich werde mich hüten, dir zu widersprechen. Ich setze mich doch nicht der Gefahr aus, dass du mir und nicht dir selbst jedes Haar einzeln ausreißt. Aber jetzt ist Schluss mit den Privatgesprächen. Entweder du holst nun den nächsten Patienten oder ich entlasse dich fristlos.«
Andrea ging zur Tür des Wartezimmers. »Bei der fristlosen Entlassung hättest du mir allerdings einige Monate Gehalt auszuzahlen. Bedenke das, bevor du leichtfertige Entschlüsse fasst. Eine so billige Arbeitskraft wie mich bekämst du nicht mehr.« Andrea öffnete rasch die Tür, um so zu verhindern, dass ihr Mann ihr noch eine Antwort geben konnte.
»Das kriegst du bei passender Gelegenheit schon zurück«, knurrte er trotzdem. Aber danach war er wieder sehr rücksichtsvoll zu seiner Frau.
Rücksicht hatte Andrea auch beim Mittagessen noch nötig. Das Essen wollte ihr nicht recht schmecken, weil die Angst in ihr, Dorle könnte nun wirklich nicht mehr kommen, immer größer wurde.
Doch die junge Frau musste sich noch bis zum frühen Abend gedulden. Zu dieser Zeit stand das Kind plötzlich auf dem Hof und sah sich um.
Andrea rannte schon aus dem Haus und zu dem Kind. »Endlich, Dorle!«, stieß sie hervor.
Das Mädchen sah sie beinah erschrocken an. Es war sicher nicht gewöhnt, dass es irgendwo erwartet wurde. Artig reichte es Andrea die Hand. »Hanko hat der Hafer sooo gut geschmeckt, Tante. Und das Heu hat er zerrupft, dass es nur so um seinen Kopf geflogen ist. Großvater sagt, das tun Pferde nur, wenn sie sehr glücklich sind.«
Andrea schielte zum Fenster des Wohnzimmers. Dort stand ihr Bruder Nick. Auch er hatte den ganzen Tag vergeblich auf Dorle gewartet. Aber er hatte sich die Zeit bei Helmut Koster vertrieben und ihm geholfen, das Freigehege des Tierheims zu säubern. Dadurch war Nick die Zeit nicht lang geworden. Aber in der letzten halben Stunde war er im Wohnzimmer gewesen und hatte Andrea damit geärgert, dass er behauptet hatte, sie habe wohl blinden Alarm geschlagen.