Drei Frauen - Georges Simenon - E-Book

Drei Frauen E-Book

Georges Simenon

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Beschreibung

Drei Frauen ist eine zu viel Sophie, Fallschirmspringerin und beliebtes Mitglied der feinen Gesellschaft, lebt mit der Nachtclubsängerin Lélia in einer schönen Wohnung mitten in Paris. Doch dann nimmt Sophie eines Tages ihre Großmutter Juliette bei sich auf, die ein neues Zuhause braucht. Juliette ist eine eigensinnige Frau, die mitsamt ihrer aufwühlenden Vergangenheit einzieht. Schon bald räumt die feinsinnige Lélia das Feld; zurück bleiben Sophie, Juliette und das Dienstmädchen Louise. Zwischen den drei Frauen entstehen neue Bündnisse – und es entspinnt sich ein erbitterter Machtkampf.  Ein Simenon, in dem die Frauen die Hauptrolle spielen.

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Georges Simenon

Drei Frauen

Roman

Aus dem Französischen von Linde Birk

Atlantik

1

Im Hauseingang, der so kalt und feucht wie ein Keller war, blieb der Kommissar kurz stehen und sah auf die Armbanduhr. Er klopfte seinen Mantel aus, das Schneewasser spritzte auf die Steinfliesen und breitete sich dort aus wie auf Löschpapier. Es war fünf Minuten nach elf.

Das erste Mal hatte er sich um halb zehn hier gemeldet; die noch junge, beinah hübsche Concierge, die sich in ihrer gemütlichen Loge zu schaffen machte, hatte sich weder durch seinen Polizeiausweis noch durch sein höfliches Benehmen beeindrucken lassen und war ihm ziemlich mürrisch begegnet.

»Sie wollen die junge Dame doch wohl nicht verhaften?«

»Nein, nein, natürlich nicht.«

»Dann kommen Sie wohl, weil man ihr Auto wieder irgendwo gefunden hat?«

»Ganz und gar nicht. Ich bin nicht einmal ganz offiziell hier. Aber Mademoiselle Émel könnte mir vielleicht eine Auskunft geben, mir möglicherweise sogar helfen …«

Ohne ihren dröhnenden Staubsauger abzustellen, hatte ihm die Concierge einen spöttischen Blick zugeworfen.

»Wenn Sie etwas von ihr wollen, würde ich sie lieber nicht um diese Uhrzeit stören. Vor elf steht sie nie auf, gewöhnlich wird es sogar zwei oder drei Uhr nachmittags …«

Dies war also sein zweiter Besuch, und bevor er weiterging, fegte er die dicken, schmutzigen Wassertropfen von seinem Hut, setzte ihn dann wieder auf den Kopf und stampfte abwechselnd mit den Füßen, um den schmelzenden Schnee loszuwerden, der auf dem Boden eine große Pfütze bildete. Die Concierge, die über ihrem schwarzen Kleid eine weiße Schürze trug, schaute ihm durch die Glastür gleichgültig zu, ohne ihn zu ermuntern oder ihn davon abzubringen.

Eine Treppe führte links, eine andere rechts von dem Eingangsgewölbe hinauf, beide hatten ein schmiedeeisernes Geländer, dessen Handlauf unten in einer kupfernen Kugel mündete. Im Hintergrund konnte man in einem Hof die Freitreppe eines alten herrschaftlichen Hauses erkennen, einige Schneeflocken waren zwischen den runden Pflastersteinen liegen geblieben.

Da der Kommissar nicht wusste, in welche Richtung er gehen sollte, kam er noch einmal zurück, und die Concierge, die ihn keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte, öffnete ihre Tür einen Spaltbreit und sagte herablassend:

»Linke Treppe. Fünfter Stock.«

Er fragte gar nicht erst nach einem Aufzug, denn das war hier unwahrscheinlich. Viele der alten Häuser auf der Île Saint-Louis waren denkmalgeschützt und eigneten sich nicht für den Einbau solch platzraubender Anlagen, und mancher Hausbesitzer lehnte sie auch entrüstet ab.

Der Kommissar stieg langsam die Stufen hinauf. Durch die holzgeschnitzten Türen drang kein Laut. Ab dem dritten Stock nahm er das Geländer zu Hilfe. Im fünften Stock gönnte er sich eine Pause, bis sein Atem wieder ruhig ging, dann drückte er auf den Klingelknopf und wartete ab. Es schien ihm eine Ewigkeit zu dauern, und er sah wieder auf die Uhr. Er wollte gerade ein zweites Mal klingeln, da hörte er innen leise, schlurfende Schritte, dann herrschte wieder Stille; endlich schnappte das gut geölte Türschloss auf.

Die Tür wurde nur etwa zwanzig Zentimeter weit geöffnet. Ein klein gewachsenes, stämmiges Dienstmädchen, das wie die Concierge schwarz-weiß gekleidet war, blickte ihn stumm und herablassend an wie die Frau unten, so als böte der Besucher einen ungehörigen Anblick. Dabei war der Kommissar korrekt, ja sogar elegant gekleidet. Man konnte ihn weder für einen Gerichtsvollzieher noch für einen Staubsauger- oder Lexikavertreter halten.

»Ist Mademoiselle Émel zu Hause?«, murmelte er und reichte dem Mädchen seine Visitenkarte, die er schon unterwegs auf der frisch-gebohnerten Treppe aus seiner Brieftasche gezogen hatte.

Durch die Berührung seines Mantels waren seine Hände nass geworden; er hatte gedacht, für den kurzen Weg hierher auf sein Auto verzichten zu können.

»Ich schaue mal nach.«

Das Dienstmädchen war unentschlossen, ob es die Tür zumachen sollte oder nicht, zuckte dann mit den Achseln und ließ die Tür, wie sie war, ehe es sich entfernte.

Aus dem hinteren Teil der Wohnung hörte er weibliche Stimmen, dann folgte ein eiliges Hin und Her, als versuche man, schnell Ordnung zu schaffen. Deutlich hörbar fragte eine Stimme in seiner Nähe:

»Wo ist er?«

»Ich habe ihn an der Tür stehen lassen.«

Der eichene Türflügel wurde geöffnet, und nun stand der Kommissar jener Sophie Émel gegenüber, die zwar eine gewisse Ähnlichkeit mit all den Zeitungs- und Zeitschriftenfotos hatte, ihm aber doch ganz anders erschien. Nicht zum ersten Mal brachte ihn sein Beruf in Berührung mit dem Privatleben berühmter Leute. Aber diese eng anliegende knallrote Torerohose, die nackten Füße auf dem Teppichboden und der Rollkragenpullover, den die junge Frau hastig über den Kopf gezogen hatte, wodurch sie etwas verstrubbelt aussah, brachten ihn nun doch aus dem Konzept.

Sie hielt seine Visitenkarte in der Hand und sagte noch etwas verschlafen:

»Es tut mir leid, dass Sie hier draußen warten mussten.«

Dabei war deutlich zu spüren, dass es ihr überhaupt nicht leidtat; es war ihr völlig gleichgültig.

»Ich habe mich zu entschuldigen, Mademoiselle …«

Und als wäre es noch früh am Morgen, fügte er hinzu:

»… dass ich Sie zu dieser Stunde störe.«

»Kommen Sie herein.«

Sie führte ihn durch einen weißgestrichenen Flur, und im Vorbeigehen sah er durch eine halb offene Tür in das unaufgeräumte Badezimmer. Kurz darauf traten sie in einen großen, atelierartigen Raum. Dessen breite Fensterfront bildete so etwas wie einen Rahmen für die Türme von Notre-Dame, die sich vor einem noch immer schneeverhangenen Himmel abzeichneten.

In diesem Raum zog sich eine junge Frau rasch einen Morgenmantel über den schwarzseidenen Pyjama. Sie war fast weißblond, und Haut und Augen wirkten so hell, dass man sie für einen Albino halten konnte.

»Ich nehme an, Sie kennen Lélia?«

Der Kommissar hatte auch von ihr schon gehört und sie auf Plakaten und im Fernsehen gesehen.

»Sehr erfreut …«

Mit einer heiseren Stimme, der die Zigaretten und der Alkohol vom Vorabend anzuhören waren, sagte Lélia zu ihrer Freundin:

»Ich lasse euch beide allein …«

»Ach was! Es wird doch wohl keine Geheimnisse geben …«

Auf dem Boden lag ein Paar hochhackige Pumps, ein Abendkleid hing über einer Sessellehne, und auf einem Tischchen standen eine zu drei Vierteln gelehrte Whiskyflasche und daneben zwei Gläser, dazwischen lagen Zigarettenkippen mit Lippenstiftspuren. Vermutlich noch Überreste vom Vorabend, denn auf einem anderen Tischchen dampfte in den Tassen der Kaffee neben zerkrümelten Croissants.

»Setzen Sie sich, Monsieur …«

Sophie Émel warf einen Blick auf die Visitenkarte und fuhr fort:

»Monsieur Charon, nicht wahr?«

Es war ihm etwas peinlich, dass er in das perlgraue Schlafzimmer sehen konnte, dessen zwei nebeneinanderstehende Betten so aufgeschlagen waren, dass man die womöglich noch warmen Mulden erkennen konnte, die die beiden Frauenkörper dort hinterlassen hatten.

»Rauchen Sie?«

Aus Höflichkeit nahm er eine Zigarette an, setzte sich dann wieder auf die äußerste Kante eines satinbezogenen Sessels.

»Ich muss mich entschuldigen, da ich Sie ohne einen offiziellen Anlass belästige. Es ist so, dass ich mich seit einiger Zeit in einer ziemlich unangenehmen Lage befinde und deshalb ein wenig auf Ihre Hilfe hoffe.«

Sophie Émel hockte auf einer Sessellehne, in der einen Hand ihre Kaffeetasse, in der anderen eine Zigarette.

»Ich nehme an, Sie möchten keinen Kaffee? Sie sind bestimmt schon lange auf.«

»Schon ziemlich lange, ja. Also, Ihr Name wurde rein zufällig in Zusammenhang mit der Angelegenheit genannt, die mich gerade beschäftigt. Darf ich Ihnen zunächst einmal eine Frage stellen? Kennen Sie eine Person mit Namen Juliette Viou?«

Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie überlegte.

»Viou sagen Sie?«

»Die Frau ist heute neunundsiebzig Jahre alt …«

»Juliette Viou …«, wiederholte sie.

Und dann noch mehrmals:

»Viou … Viou …«

»Warten Sie! Bevor sie Juliette Viou hieß, war sie eine verwitwete Prédicant.«

»Nein, so was!«, warf Sophie ihrer Freundin zu. »Weißt du, wen ich auf diese Weise wiederfinde?«

»Nein.«

»Meine Großmutter!«

Neugierig wandte sie sich wieder dem Kommissar zu.

»Erzählen Sie! Was ist los mit meiner Großmutter? Sie werden mir ja wohl nicht mitteilen, dass sie jemanden umgebracht hat?«

Er hielt ein Lächeln für angemessen.

»Davon kann keine Rede sein.«

»Zuzutrauen wäre es ihr. Ist sie verunglückt?«

»O nein, seien Sie unbesorgt …«

»Wissen Sie überhaupt, Herr Kommissar, wie lange meine Familie nichts mehr von ihr gehört hat?«

Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut und murmelte:

»Ehrlich gesagt weiß ich nur sehr wenig über die Dame …«

»Sie hat uns verlassen, als wir noch am Boulevard Saint-Germain wohnten, das ist jetzt … warten Sie … das ist jetzt fast fünfzehn Jahre her … Rechnen Sie selbst nach … Es war im November oder Dezember 1944, ich weiß nicht mehr genau, im ersten Winter nach der Befreiung von Paris … Auf den Straßen war noch alles verdunkelt … Meine Großmutter war damals fünfundsechzig: für mich und meine Zwillingsschwester mit unseren zwölf Jahren eine sehr alte Frau … Da Sie sie Juliette Viou nennen, nehme ich an, dass sie wieder geheiratet hat …«

Er nickte und fügte hinzu:

»Seit anderthalb Jahren ist sie zum zweiten Mal verwitwet.«

»Hat sie während dieser ganzen Zeit in Paris gelebt?«

Er nickte wieder, suchte nach Worten.

»Der Anlass für meinen Besuch ist gerade ihr Wohnsitz, oder vielmehr die Wohnung, in der sie lebt …«

Er war bei der Ausübung seiner Pflichten immer um Takt bemüht, aber noch nie war ihm eine Angelegenheit so heikel erschienen wie jetzt.

»Möchten Sie vielleicht etwas trinken?«

»Nein, danke.«

»Lélia, schenk mir einen Scotch ein. Der Kaffee schlägt mir auf den Magen. Nimm dir auch einen, wenn du Lust hast …«

Zum Kommissar gewandt, fügte sie erklärend hinzu:

»Wir sind beide ziemlich verkatert. Als Sie geklingelt haben, wollten wir gerade wieder ins Bett gehen und waren darum auch ziemlich perplex, als Louise meldete, dass ein Polizeikommissar mich sprechen will. Aber Sie sagen, meine Großmutter sei …«

»Es ist ein komplizierter Fall. Seit vielen Jahren wohnt sie in einem alten Haus an der Rue de Jouy …«

»Also nur ein paar Schritte von hier auf der anderen Seite der Brücke?«

Er fuhr fort:

»Sie haben vielleicht vom Fenster aus beobachtet, wie die alten Häuser im Rathausviertel und im Saint-Paul-Viertel der Reihe nach abgerissen wurden. Das ist Teil eines Sanierungsplanes, der schon lange abgeschlossen sein sollte …«

»Kein Wasser, Lélia! Zuerst einmal einen Schluck ohne Wasser!«

Sie stürzte den Whisky wie eine Droge gierig hinunter, schüttelte sich kurz und schien sich nun viel besser zu fühlen als vorher.

»Erzählen Sie weiter.«

»Madame Juliette Viou hat also zunächst mit ihrem Mann und später allein in einer Wohnung im obersten Stockwerk eines Hauses gelebt, dessen Mieter schon vor zwei Jahren die Kündigung erhalten haben.«

»Und meine Großmutter hat sich natürlich geweigert auszuziehen.«

Sie wandte sich an ihre Freundin.

»Hörst du das, Lélia? Ich muss dir einmal von ihr erzählen. Sprechen Sie weiter, Kommissar.«

»Die Wohnungen wurden der Reihe nach geräumt. Auf manchen Stockwerken gibt es inzwischen schon keine Türen und keine Fensterscheiben mehr. Eine der Außenmauern, die eine Gefahr für die Nachbarhäuser und die Passanten geworden ist, hat man so gut wie möglich abgestützt. Von Rechts wegen hätte das Haus schon vor eineinhalb Jahren abgerissen werden müssen, und ich weiß nicht, wodurch sich die Arbeiten verzögert haben. Jedenfalls hat sich ein Schuster in seiner zum Hof gelegenen Bude bis vor einem Monat dort gehalten. Und Ihre Großmutter …«

Er verbesserte sich:

»Ich will sagen, Madame Viou …«

»Sie können ruhig ›Ihre Großmutter‹ sagen.«

»Bis vor drei Wochen wussten wir überhaupt nicht, dass sie nach wie vor im obersten Stockwerk lebt. Sie müssen wissen, dass die Mansardenfenster oberhalb des Dachgesimses liegen, sodass man von der Straße aus …«

»Sie wohnt also noch immer dort?«

Sophie goss nun ganz wenig Wasser nach und zündete sich eine neue Zigarette an.

»Hör gut zu, Lélia! Klingt, als würde es spannend.«

»Ich habe mich vor allem deshalb gewundert, dass sie noch da war, weil Wasser, Gas und Strom schon vor über einem Jahr abgestellt worden sind. Auf Anweisung des Bauamtes habe ich zunächst einen Inspektor hingeschickt. Er ist in den fünften Stock hinaufgestiegen, hat an die einzige noch vorhandene Tür geklopft, aber erst, als er damit drohte, die Tür einzutreten, hat eine Stimme von drinnen geantwortet:

›Sagen Sie Ihrem Chef, dass ich schon 1902 hier war, als er noch nicht einmal geboren war, und dass mich keiner hier lebendig hinausbringt.‹ «

Der Kommissar beeilte sich hinzuzufügen:

»Entschuldigen Sie, dass ich diesen Satz hier wiedergebe, aber er macht deutlich, mit welchem Widerstand wir in diesem Fall zu rechnen haben.«

»Keine Angst, mich schockiert das nicht.«

Und nachdem sie erneut einen Schluck getrunken hatte, fügte Sophie hinzu:

»Im Gegenteil!«

»Die Abrissarbeiten hätten eigentlich gestern endlich beginnen sollen, doch ich habe noch mal einen Aufschub bis morgen durchsetzen können. In den letzten Wochen sind meine Beamten immer wieder in der Rue de Jouy vorbeigegangen, und als sie in ihrer Verzweiflung schließlich mit einem Schlosser anrückten, hat Madame Viou durch die Tür gerufen:

›Wenn Sie versuchen, hier mit Gewalt einzudringen, springe ich aus dem Fenster.‹ «

»Hörst du das, Lélia? … Und dann? …«

»Von den verwaltungstechnischen und rechtlichen Problemen, die durch diese Angelegenheit entstehen, spreche ich erst gar nicht …«

»Also verhindert meine Großmutter gewissermaßen im Alleingang den Abbruch des Gebäudes?«

»In den letzten zwei Wochen haben Beamte in Zivil das Haus Tag und Nacht bewacht, damit Ihre Großmutter, falls sie doch einmal herauskommt, nachher nicht wieder hineingehen kann.«

»Aber sie ist nicht herausgekommen!«

»Sie wirft nur jeden Tag leere Konservendosen aus dem Fenster, wie um uns zu verhöhnen. Es scheint so, als habe sie sich für einen Belagerungszustand eingedeckt.«

»Aber wie kommt sie an Wasser?«

»In letzter Zeit hat es leider oft geregnet. Und ihre Nachbarn in den umliegenden Häusern haben beobachtet, wie sie sich nach jedem Regenguss aus dem Fenster beugt, um aus der Dachrinne Wasser zu schöpfen. Sie muss ganze Eimer voll in Reserve haben.«

»So sind Sie also letztlich machtlos?«

»Ich könnte mich über ihre Drohungen hinwegsetzen und einfach die Tür aufbrechen lassen. Wer weiß denn, ob sie sich wirklich aus dem Fenster stürzen würde.«

»Meiner Meinung nach würde sie es aber wahrscheinlich tun.«

»Der Doktor ist ebenfalls dieser Meinung.«

»Der Doktor?«

»Ich war auch zweimal dort und habe durch die Tür mit ihr verhandelt, und beim zweiten Mal war ein Psychiater dabei.«

»Wollen Sie sie etwa in eine Anstalt einliefern?«, fragte Sophie Émel in scharfem Ton.

»Diese Frage stellt sich nicht mehr, nachdem wir wissen, wer Madame Viou ist … Bitte betrachten Sie den Fall einmal vom verwaltungstechnischen Standpunkt aus … Bis vor kurzem hatten wir so gut wie nie mit ihr zu tun, wussten kaum von ihrer Existenz … Erst vor einem Monat haben wir unsere Kartei überprüft, und auch jetzt wissen wir nur …«

Er zog ein Blatt aus seiner Tasche, auf dem er alles Wichtige notiert hatte.

»Juliette Thérèse Marie-Joseph Minoré, geboren am 12. September 1879 in Moulins, Département Allier, verehelicht mit Adrien Dieudonné Viou am 15. November 1901 im Standesamt von Moulins …«

»Ich wusste, dass sie schon eine Ehe hinter sich hatte, bevor sie meinen Großvater heiratete, aber nicht, mit wem. Was war dieser Viou von Beruf?«

»Er ist als Journalist gemeldet. Er und Ihre Großmutter haben sich1910scheiden lassen, und1911hat sie Gilbert Prédicant, Druckereibesitzer in Paris, geheiratet.«

»Meinen Großvater. Er ist gestorben, als ich vier Jahre alt war, und meine Großmutter lebte danach bei meinen Eltern am Boulevard Saint-Germain, von wo sie 1944 plötzlich verschwunden ist …«

»Aus den standesamtlichen Unterlagen geht hervor, dass sie zu ihrem ersten Mann zurückgekehrt ist, den sie drei Jahre später wieder geheiratet hat. Erstaunlicherweise wohnte Viou immer noch in der Rue de Jouy, wo er seit 1901 gemeldet war. Und jetzt, 1959, lebt Ihre Großmutter weiterhin in derselben Wohnung und weigert sich auszuziehen. Da sie nicht beim Fürsorgeamt gemeldet ist, können wir davon ausgehen, dass sie über irgendwelche Geldmittel verfügt. Weder sie noch ihr Mann waren jemals in einem Krankenhaus. Selbst wenn es uns gelingt, sie mit Gewalt zum Verlassen ihrer Wohnung zu zwingen, so können wir sie ja nicht einfach auf die Straße setzen.

Bitte verstehen Sie mich richtig. Solange sie nicht krank ist, können wir sie auch nicht so ohne weiteres in eine der städtischen Pflegeeinrichtungen einliefern. Andererseits haben wir keine andere Wohnung zur Verfügung, in der wir sie einquartieren könnten.

Sehen Sie das Problem? Stellen Sie sich vor, meine Männer kommen mit ihr die Treppe herunter, und dann stehen sie draußen, auf einer belebten Straße, mit einer alten Frau, die um sich schlägt und schreit …«

»Und deshalb überlegen Sie, sie in eine Anstalt einzuweisen?«

»Eine Zeit lang ist mir das als die einzige Lösung erschienen, denn ihre hartnäckige Weigerung, das einsturzgefährdete Haus zu verlassen, kann durchaus als ein Zeichen geistiger Verwirrung gedeutet werden …«

»Was sagt der Psychiater?«

»Er hat ihr Fragen gestellt.«

»Durch die Tür?«

»Anders ging es ja nicht.«

»Und sie hat darauf geantwortet?«

»Sie redet gern. Sie ist auch recht munter. Sie hat sich über uns beide lustig gemacht und behauptet, sie hätte noch für sechs Monate Vorräte und auch genug Petroleum für ihren Kocher. Allein die Vorstellung von Petroleum in dieser Bruchbude …«

»Und hält der Arzt sie für verrückt?«

Der Kommissar wirkte verlegen.

»Er wäre allenfalls bereit, eine Zwangseinweisung zur vorläufigen Beobachtung zu unterschreiben, aber nachdem wir nun wissen, dass sie Familie hat, können wir ohne deren Zustimmung nichts unternehmen.«

»Sie sind also gekommen, um meine Einwilligung zu erhalten?«

Sie maß ihn mit einem ähnlichen Blick wie vorher die Concierge und das Dienstmädchen.

»Nein. Mir ist nur allzu bewusst, wie heikel das alles ist. Als ich zufällig erfuhr, dass Sie möglicherweise mit Juliette Viou verwandt sind …«

»Wer hat Ihnen das mitgeteilt?«

»Wie gesagt, reiner Zufall. Einer meiner Beamten hat kürzlich Ihre Lebensgeschichte in einer Zeitschrift gelesen. Darin war von Ihrer bürgerlichen Herkunft die Rede, dass Ihr Vater ein bekannter Verleger und Ihr Großvater mütterlicherseits der Eigentümer der Druckerei Prédicant war … Bei dem Namen wurde der Beamte stutzig … Er hat sich daran erinnert, ihn schon irgendwo gelesen zu haben, und daraufhin noch einmal die Akten von Juliette Viou überprüft … Ein reiner Zufall … Während wir hier sprechen, haben sich meine Männer auf der Treppe der Rue de Jouy, auf dem Gehsteig und im Hof postiert … Und morgen früh rücken die Abrissleute an … Aber ich dachte plötzlich, dass Sie vielleicht dazu bereit wären, mit Ihrer Großmutter zu sprechen …«

»Und was soll ich ihr sagen?«

»Ich weiß auch nicht. Sie muss einfach begreifen …«

»Wann soll das sein?«

»Ich hoffte …«

»Sie wollen, dass ich sofort mitkomme? Was hältst du davon, Lélia?«

»Sie ist nicht meine Großmutter.«

»Kommst du mit?«

»Lieber nicht.«

Sophie Émel wandte sich wieder an den Kommissar.

»Es sind doch hoffentlich keine Journalisten und Fotografen dort?«

»Sie können sich bestimmt denken, dass ich in dieser Situation keinerlei Interesse daran habe, die Presse zu benachrichtigen …«

Sophie öffnete eine Tür.

»Louise! Leg mir meine Kleider zurecht.«

»Was wollen Sie anziehen, Mademoiselle?«

»Irgendetwas. Ich bitte Sie um zehn Minuten Geduld, Kommissar …«

Sie kam noch einmal zurück, um ihr Glas auszutrinken, und zog dann die Schlafzimmertür hinter sich und dem Dienstmädchen zu.

Da sie mit dem Kommissar allein zurückblieb, suchte die albinoblonde Sängerin nach einem Gesprächsstoff.

»Sie ist ein prima Kerl!«, seufzte sie schließlich. »Man würde nie denken, dass sie jede Woche ihr Leben aufs Spiel setzt, ja, manchmal sogar mehrmals in der Woche.«

Monsieur Charon ließ seinen Blick über die Wände schweifen und wunderte sich, dass dort keine einzige Fotografie von Sophie Émel hing, die nicht nur fünf oder sechs Weltrekorde im Fallschirmspringen hielt, sondern auch schnelle Flugzeuge steuerte und das Rennen von Montlhéry fuhr.

Dabei gab es sehr viele Fotos, fast alle mit Widmung, doch darauf waren Flieger, Sportchampions, Theater- und Filmschauspieler zu sehen.

Die Tür öffnete sich einen Spalt, und Sophie rief:

»Biete ihm etwas zu trinken an, Lélia. Es ist schon fast Mittag, da wird er vielleicht doch einen Aperitif nehmen.«

»Was trinken Sie?«

»Dasselbe«, sagte er und zeigte auf die Flasche.

»Wie ihre Großmutter wohl reagieren wird?«

Draußen fiel immer noch Schneeregen; darunter waren dicke Flocken, die, sobald sie den Boden oder die Dächer berührten, schmolzen. Zwischen den beiden Seine-Armen, die so graugrün schimmerten wie alte Flaschen, hob sich ein Angler schwarz von dem steinernen Vorsprung ab.

Sophie Émel erschien bereits wieder. Sie hatte jetzt Schuhe an und ein dunkles Wollkleid unter einem pelzgefütterten Regenmantel. Der Kommissar fragte sich, ob das wohl Nerz war. Ihm war schon zu Ohren gekommen, dass es nerzgefütterte Regenmäntel gab, was er jedoch nicht hatte glauben wollen. Doch bei dieser schlecht frisierten jungen Frau, die mit den Händen in den Manteltaschen und ohne Hut aus dem Haus gehen wollte, wunderte ihn gar nichts mehr.

»Gehen wir?«

»Bitte, nach Ihnen.«

»Wollen Sie Ihr Glas nicht austrinken?«

»Nein, danke.«

»Sie Glücklicher«, sagte sie wie nebenbei, goss sich etwas Whisky ein und trank ihn in einem Zug aus.

Dann, fast fröhlich:

»Auf geht’s zu meiner Großmutter!«

Wegen des schlechten Wetters waren nur wenig Leute auf der Straße. Man brauchte nur den Pont-Marie zu überqueren und durch die Rue des Nonnains-d’Hyères zu gehen, um in die Rue de Jouy zu gelangen. Vier oder fünf Passanten drehten sich nach der jungen Frau um und schienen sich zu fragen, ob das nicht die Person sei, über die so viel in den Zeitungen stand.

Mehrere Gebäude in den benachbarten Straßen waren mit Balken abgestützt, und die Lücken zwischen den Häusern bezeugten, dass die Abrissleute hier schon am Werk gewesen waren.

In der Rue de Jouy standen drei Männer abwartend da und blickten ab und zu nach oben.

»Es sind noch mehr von meinen Leuten da. Ich hatte ebenfalls kurz überlegt, die Feuerwehr einzuschalten, aber …«

Sie schüttelte die Wassertropfen aus ihrem Haar und folgte dem Kommissar in einen dunklen, langen Hausflur, in dem alte Zeitungen und verschiedenste Abfälle herumlagen, als sei das Haus zum Müllabladeplatz des ganzen Viertels geworden. Auf dem ersten Treppenabsatz stand ein Inspektor auf Posten, der seinem Chef eine Taschenlampe reichte. Sie war dringend nötig, denn die Fenster waren mit Brettern zugenagelt, einige Treppenstufen fehlten, und es gab auch kein Geländer mehr.

Im nächsten Stockwerk standen zwei Männer, die nur an ihre Hutkrempe tippten und sie wortlos vorbeiließen.

Die Wohnungstüren waren entfernt worden. Man konnte vergilbte Tapeten sehen, die voller Flecken waren, als habe jemand absichtlich darauf herumgeschmiert, eingestürzte Kamine, Löcher im Parkett. Sophie stieß mit dem Fuß an eine Konservendose und bemerkte:

»Da – die hier hat sie nicht aus dem Fenster geworfen!«

Es zog von allen Seiten, und auf den ehemals weißen Wänden waren obszöne Zeichnungen und Kritzeleien zu erkennen.

»Entschuldigen Sie, bitte …«, sagte der Kommissar und leuchtete mit seiner Taschenlampe schnell in eine andere Richtung. »Sie wohnt im Stockwerk über uns. Ist es Ihnen lieber, wenn ich Sie allein gehen lasse?«

Sie erschien ihm jetzt blasser, doch das kam vielleicht nur vom Treppensteigen.

»Das ist mir gleichgültig.«

»Soll ich hier warten?«

Sie zuckte nur mit den Schultern und ging weiter hinauf, die Hände noch immer in den Taschen ihres Gabardinemantels, und dabei schüttelte sie erneut den Kopf, um die Haare aus dem Gesicht nach hinten zu werfen.

Im fünften Stock gab es nur noch eine Tür. Womöglich hatte die alte Frau die anderen beiden verheizt, auch die Türrahmen fehlten teilweise.

Der Kommissar stand bewegungslos und in ganz verkrampfter Haltung; er vermied es, sich irgendwo anzulehnen, und ein Treppengeländer, um sich aufzustützen, war auch nicht mehr da. Er lauschte in die Stille hinein. Dann, nach einer halben Ewigkeit, hörte er, wie ein Streichholz angerieben wurde. Vermutlich Sophie, die sich eine Zigarette anzündete. Er hörte ein Räuspern. Dann Sophies Stimme, die zaghaft fragte:

»Bist du da, Großmama?«

Nichts rührte sich.

»Ich weiß, dass du da bist. Erkennst du meine Stimme nicht?«

Hinter der verriegelten Tür herrschte noch immer Stille.

»Ich bin Sophie, eine von den Zwillingen, wie du uns immer genannt hast, meine Schwester und mich.«

Nun ließ sich ein leises Geräusch vernehmen. Die Alte hatte sich wohl näher an die Tür gestellt, um besser hören zu können, denn die draußen vorüberfahrenden Busse ließen das ganze Haus erzittern.

»Wer beweist mir, dass wirklich du es bist?«

Die Stimme klang fest, erstaunlich hell.

»Du hast recht! Ich habe nicht daran gedacht, dass sich meine Stimme verändert haben muss. Vielleicht erinnere ich dich am besten an das, was im November 1944 geschah? Damals haben Adrienne und ich eines Abends, als wir von der Schule zurückkehrten, erzählt, draußen vor dem Haus würde ein Mann herumstreichen … Er war uns schon in den Tagen davor immer wieder aufgefallen …

Ich habe auch erzählt, er würde zwar ein Bein nachziehen wie ein Clochard, sei aber trotzdem nicht schlecht gekleidet … Vater hat zum Fenster hinausgeschaut und behauptet, niemanden zu sehen, aber er war doch beunruhigt … Kannst du dich noch erinnern? … Er hatte Angst, sie wären hinter ihm her wegen einiger Bücher, die er während des Krieges veröffentlicht hatte … Einige Tage nach der Befreiung war einer seiner Kollegen nämlich aus demselben Grund auf der Straße niedergeschlagen worden, als er aus seinem Büro kam …

Du hattest damals gerade Grippe, aber du hast trotzdem mit uns gegessen, denn du warst immer hungrig …«

Sophie schwieg. Die alte Frau hinter der Tür schwieg ebenfalls, und als sie endlich etwas sagte, stellte sie nur die misstrauische Frage:

»Was willst du überhaupt hier?«

Dann, mit schriller Stimme:

»Du wolltest mir doch wohl nicht etwa einen Fallschirm bringen?«

»Ich habe erst heute Vormittag erfahren, dass du noch am Leben bist.«