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Sag mir, was du machst, und ich sag dir, was du trinken sollst! In der Kolumne "Drinks für jede Lebenslage" berichten ZEIT-Redakteure aus Alltagssituationen und dem dafür passenden Drink. So ist der Wodka-Mate ideal, um sich für den Partyabend zu motivieren, ein "Pfeffi" nimmt das Lampenfieber vor dem Vorstellungsgespräch, Ouzo pur der perfekte Abschluss eines spontanen Trinkgelages unter Freunden und ein "Schwermatrose" läutet das kinderfreie Wochenende ein. Jetzt gibt es die gesammelten Texte – gemixt mit Features zu den Szenebars europäischer Metropolen – als unterhaltsamen, reichlich illustrierten Ratgeber der etwas anderen Art. Prosit!
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Seitenzahl: 135
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Eine meine ersten Aufgaben in der Redaktion der ZEIT bestand darin, Kollegen danach zu fragen, wann sie hochprozentigen Alkohol tranken und vor allem: warum. Warum genau? Das Ziel war nicht etwa, subtil für die Gefahren des Alkoholismus zu sensibilisieren. Die Theorie, auf der unsere kleine Rubrik „Drinks für jede Lebenslage“ fußte, ging davon aus, dass Menschen bestimmte Getränke in ganz bestimmten Momenten ihres Lebens genossen und dass es interessant sein würde und inspirierend, wenn sie uns in kleinen Texten von diesen Momenten erzählten.
Die Rubrik, wir sprachen bald nur noch vom „Drink“ (Haben wir schon einen „Drink“ für die nächste Ausgabe?), war vor meiner Ankunft in der Redaktion der ZEIT liebevoll entwickelt worden, von der besonderen Liebe, die in die ersten Texte geflossen war, zeugte immer noch eine Flasche The Singleton of Dufftown Sunray im Besitz eines Kollegen, der diesen Scotch zum Zwecke der „kultivierten Leistungsverweigerung“ nach dem Mittagessen trank (oder davor), wie er in einer Art Pilotfolge für die Rubrik geschrieben hatte. Es sei sein passiver Widerstand gegen die Lustfeindlichkeit. Aus Gründen, die sich nicht mehr exakt rekonstruieren lassen, ist dieser programmatische Text nie erschienen.
Whiskey im Büro, da gab es zwar die eine oder andere Legende aus der ferneren Vergangenheit der ZEIT. Aber irgendwie schien das nicht mehr so recht zu passen. Auch erfahrene Kollegen, die ich später für die Rubrik zu gewinnen versuchte, winkten schnell ab. Er sei nun wahrlich kein „Profi-Trinker“, schrieb mir einer. Ein anderer bot an, die Frage bei Gelegenheit bei einem Kaffee zu erörtern.
Es heißt, die „Drinks für jede Lebenslage“ hätten sich zwei Redakteurinnen der ZEIT auf einem Balkon in Hamburg-Altona ausgedacht, es soll schon etwas später gewesen sein. Aber wie das so ist mit diesen Drinks, man bewegt sich mit ihnen schnell ins Reich von „Halbwahrheiten und Geraune“, es gehe dann oft um „verwischte Erinnerungen an die Launen einer Nacht“, wie Moritz Herrmann irgendwann schrieb.
Spätestens mit dem Erscheinen des Manhattan lag die Rezeptur der Rubrik rötlich schimmernd vor uns: Man nehme einen Gemütszustand und kombiniere ihn mit dem Geschmack eines hochprozentigen Cocktails, zu gleichen oder auch völlig unterschiedlichen Teilen, Hauptsache, beides gehört im Alltag des jeweiligen Autors irgendwie zusammen. Im Falle des Manhattan lautete die Gefühlslage: nach der Plackerei. Samstagabends, beispielsweise nach der Reparatur seines Rasenmähertreckers, mischte Jochen Bittner Whiskey und Wermut in einem Martiniglas, dazu ein Spritzer Angosturabitters. Und schon blickte er ganz anders auf den gemähten Rasen, der ihm den Nacken derart verspannt hatte.
Aber was ist die Lage?, mit dieser Frage nervte ich fortan die Kollegen. Denn einen Drink konnte ja jeder vorschlagen. Aber die passende Lebenslage?
Im Nachhinein muss ich gestehen, dass es mir nicht ganz gelungen ist, meine persönlichen Vorlieben völlig aus dem Beruflichen herauszuhalten. Es gab stets viel Wodka. Auf der Couch, auf dem Tanzboden oder mitten im Kriegsgebiet. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass es sich bei einer der Kolleginnen, die die „Drinks“ miterfunden haben soll, um eine der führenden mir bekannten Wodka-Expertinnen handelt („Völlig verkannt ist die Fähigkeit des Wodkas, Beziehungen zu klären“). Ich lernte allerdings auch, wie man sich ein Damengedeck vorzustellen hatte, was ein Gebutterter Mönch war und dass man die fachliche Eignung eines Barkeepers am besten mithilfe eines Cocktails namens Black Velvet prüfte. Man trank K. u. K. (Korn und Kirsch), Tollwütigen Hund (schon wieder: Wodka) und Last Word (mit dem Karthäuserlikör Chartreuse). Man trank auf Kuba, in China, aber auch in Hinteressach.
Auch ein Tee mit Rum von Margarete Stokowski war durchaus mal drin, sogar ein heißer Whiskey gegen die Erkältung. Von Zeit zu Zeit wurde es allerdings nötig, gewisse Grenzen zu ziehen. Nein, alkoholfreies Weißbier war nun wirklich kein Drink. Und auch Wein lieber nicht, höchstens mal ein Sekt mit Mate. Sonst aber nahmen wir es nicht allzu genau, wenn die Lage stimmte. Jeder neue „Drink“ barg für uns das Versprechen, das BjØrn Erik Sass mit dem Negroni verband, nämlich „dass das Beste immer noch kommt, vielleicht schon mit dem nächsten Glas“.
Genießen Sie es!
Johannes Gernert,
stellv. Ressortleiter Z - ZEIT zum Entdecken
Vorwort – von Johannes Gernert (ZEIT-Redaktion)
Cheers! – Vorwort von Helmut Adam, Nils Wrage & Maruan Paschen (Mixology)
Spirituosenglossar
NEGRONI — Glamourmangel – von Bjørn Erik Sass
MANHATTAN — Nach der Plackerei – von Jochen Bittner
K. U. K. — Auf der Kippe zum Exzess – von Franziska Bulban
WODKA-MATE — Feierei – von Johannes Gernert
TEE MIT RUM — Kaufhauskoller – von Margarete Stokowski
INDREI DRINKSDURCH … AMSTERDAM– von Johannes Böhme
WODKA — Lampenfieber – von Ursula März
LAGAVULIN — Badewanne – von Peter Dausend
PUSSER’S PAINKILLER — Fremdgehschmerz– von Anna Bode (Name geändert)
LAST WORD — Weltdeutung – von Lars Gaede
CUBA LIBRE — Mangel – von Eva Biringer
INDREI DRINKSDURCH … ZÜRICH– von Francesco Giammarco
WINTER-WODKA — Auf der Couch– von Sebastian Kempkens
HARVEY WALLBANGER — Weißt du noch?– von Sandra Danicke
INDREI DRINKSDURCH … ATHEN – von Silke Weber
OUZO — Auch schon egal jetzt– von Karin Ceballos Betancur
SLOE GIN FIZZ — Nenn mich nie wieder süß!– von Mareike Nieberding
WHITE RUSSIAN — Gesättigt – von Merlind Theile
DASDAMENGEDECK — Frau am Tresen– von Greta Taubert
CLOUD JUICE — Waschzwang – von Michael Allmaier
INDREI DRINKSDURCH … MÜNCHEN – von Helmut Adam
SCHWERMATROSE — Kinderfrei – von Claas Tatje
BELUGA WODKA — Beziehungskrise – von Alice Bota
STEINHÄGER — Revival – von Oliver Hollenstein
PASTIS DE MARSEILLE — Lasst mich rein!– von Georg Blume
INDREI DRINKSDURCH … HAMBURG– von Vivian Alterauge
SEKT MATE — Herumtreiberei – von Björn Stephan
VOGELBEERSCHNAPS — Vergiftet – von Gero von Randow
BLOODY MARY — Fluchlust – von Anett Selle
BLACK VELVET — Mal sehen, was der Barkeeper so draufhat …– von Gero von Randow
HOT TODDY — Kurz vor krank – von Fiona Weber-Steinhaus
SELBST GEBRANNTER SLIWOWITZ — Nachts auf dem Balkon– von Alem Grabovac
MEXIKANER — Unter Feinden – von Dmitrij Kapitelman
GIN TONIC — Kater – von Ilka Eliana Knigge
GEREIFTER COGNAC — Chefig – von Michael Allmaier
INDREI DRINKSDURCH … BRÜSSEL– von Wolf Alexander Hanisch
FUTSCHI — Kaputtheitsbedarf – von Fritz Zimmermann
TOLLWÜTIGER HUND — Etwas Osten im Herzen– von Alice Bota
HEMINGWAY SOUR — Scham besiegen– von Johannes Böhme
INDREI DRINKSDURCH … FRANKFURT – von Nils Wrage
ESSACHER LUFT — Feuertaufe – von Philipp Daum
PIMM’S — Fake it ’til you make it– von Fiona Weber-Steinhaus
C+T — Lost in translation – von Jörn Kabisch
SKINNY BITCH — Was tut man nicht für gute Freundinnen– von Eva Biringer
GEBUTTERTER MÖNCH — Unter Regenwolken– von Moritz Herrmann
TARIFA — So alt sind wir wirklich noch nicht– von Julia Wadhawan
INDREI DRINKSDURCH … MADRID– von Robert Treichler
CHRENOWUCHA — Überleben – von Alice Bota
FRIESENGEIST — Abschied – von Moritz Herrmann
Ein gutes Jahrzehnt hatten wir von Mixology die Rolle der hauptberuflichen Drink-Schreiber mit deutscher Feder nahezu exklusiv. Das waren im Rückblick heroische Zeiten. Aber irgendwie auch einsame Zeiten. Immer wieder ertappten wir uns dabei, wie wir neidisch über den großen Teich blickten. Denn das ideale Mischungsverhältnis eines Martinicocktails wird in einflussreichen amerikanischen Tageszeitungen seit jeher mit derselben Ernsthaftigkeit diskutiert wie die Anhebung des Leitzinses durch die Fed.
Gut erinnern wir uns daher an die Redaktionssitzung, in der jemand die großformatigen Seiten einer ZEIT-Kolumne von „Drinks für jede Lebenslage“ auf dem Tisch ausbreitete. Bekannte deutsche Journalisten, die mit derselben Hingabe Drinks beschrieben, mit der sie sonst das politische oder gesellschaftliche Tagesgeschehen sezierten? Darauf einen Toast!
Für uns war dies ein Zeichen, dass Bar- und Cocktailkultur in der Mitte der Gesellschaft ankommen. Etwas, das für uns ehemalige Bartender und Gastronomen, die auf die schreibende Seite gewechselt waren, immer das unausgesprochene Leitziel bedeutete.
Denn lange Zeit galt: Nur wer Bier und Wein trinkt, der darf auch darüber reden. Denn Bier und Wein, nur das ist Kultur, darüber lässt sich streiten. Seit Jahrzehnten sind Wörter wie Abgang, Lage und Bouquet in deutschen Leitmedien zu finden. Die Spirituose wiederum war denjenigen vorbehalten, die es sich zur Mittagszeit auf einer Parkbank mit einem Fläschchen Korn gemütlich gemacht haben.
Das ist ganz klar nicht mehr so.
Wer wie die ZEIT einen nur unter hartgesottenen Bar-Nerds bekannten Tropfen wie Steinhäger in seine Seiten hievt, der meint es ernst.
Und immer wieder und immer mehr rückt in den ZEIT-Kolumnen der mischende und bedienende Protagonist in den Mittelpunkt. Die nervende Frage „Und was machst du eigentlich sonst so beruflich?“ wird für den passionierten Vollzeit-Barmann damit hoffentlich bald der Vergangenheit angehören.
Denn er oder sie ist häufig der Schlüssel zu den spannenden Geschichten hinter den Getränken oder schlicht kundiger Wegweiser durch eine ausgelassene Nacht.
Ob der berühmte Gin Basil Smash aus dem Hamburger Le Lion, das einfache Berliner Clubgetränk Wodka-Mate oder der Kultcocktail Last Word – so groß die Vielfalt der Getränke, so nahezu uferlos ist auch die sich dahinter verbergende Kulturgeschichte.
Als wäre das alles noch nicht unübersichtlich genug, kommen täglich neue Erzählungen hinzu. Und zwar nicht zu knapp, denn damals wie heute bleibt die Bar ein Ort, an dem überproportional viele Geschichten beginnen oder enden. Oder überhaupt erst erfunden werden.
Bei so viel Lust und Freude an der flüssigen Vielfalt, wie sie aus den vorliegenden Kolumnen sprüht, wollen wir den Kollegen der ZEIT auch verzeihen, dass sie statt des international üblichen „Bartenders“ immer noch den Begriff „Barkeeper“ verwenden.
Cheers! Santé! Prost! Sláinte! Salute!
Ihre Mixologen
Helmut Adam, Nils Wrage & Maruan Paschen
Absinth: Der meist grünliche Anisschnaps hat noch immer den Ruf eines Bad Boys und war vielerorts lange verboten. Für klassische Cocktails ist er aber häufig unentbehrlich!
Amerikanischer Whiskey: stand lange im Schatten seines schottischen Bruders, der hatte schlicht das bessere Marketing. Dabei ist ein guter „American“ eine Offenbarung. Und für einen echten Whiskey Sour braucht es nun mal Bourbon.
Arrack (Arrak): Der Zucker- oder Kokosschnaps aus Indonesien und Sri Lanka steht ganz am Anfang der neuzeitlichen Mixgetränke. Versuchen Sie mal einen klassischen Ruby Punch.
Bitters: ja, mit „s“ am Ende, auch im Singular. Die starken Würztinkturen geben zahlreichen Cocktails in Form einiger Dashes oft den letzten Schliff.
Champagner: Champagner ist der Wein der Bar. Punkt. Eine gute Bar hat einen guten Champagner im offenen Ausschank. Und sie bietet auch Champagnercocktails an.
Cocktail: Heute nennt man fast jeden gemischten Drink „Cocktail“. Dabei war der Begriff einst nur ein Name unter vielen Gattungsbezeichungen. Erstmals definiert wurde er übrigens 1806: eine Spirituose, gemischt mit Zucker, Wasser und Bitters.
Craft Beer: ursprünglich von Garagen-Brauern in den USA erdachter Kampfbegriff, heute eher Marketingvokabel. Fragen Sie Ihren Wirt lieber einfach, ob er gutes Bier am Start hat.
Dash: zu Deutsch ein „Spritzer“, also ein paar Tropfen einer meist sehr aromatischen Zutat im Cocktail. Besonders Bitters werden Dashweise dosiert. Gut vergleichbar mit einer Prise Salz.
Doppelt abseihen (Double Strain): Viele Cocktailrezepte verlangen heute nach doppeltem Abseihen. Dabei wird der gesamte Drink durch ein feines Teesieb gegossen – etwa, damit keine grünen Fetzen im Gin Basil Smash landen.
Eis: die wichtigste Zutat jedes Cocktails. Gutes, klares und solides Eis braucht Kenntnis und Pflege. Wenn Ihr Bartender Ihnen etwas über sein Eis erzählen kann, dann ist die Bar wirklich gut.
Gin: früher einmal eine klare Spirituose mit Wacholdergeschmack und britischem Flair, heute aber der größte Schnapstrend seit Wodka. Dabei ist es eben eigentlich nur: Gin. Und der ist großartig.
Infusion: Keine Angst, niemand ist krank. Wenn Bartender ihre Sirupe und Spirituosen selbst mit Vanille, Koriander oder Grapefruit aromatisieren, nennt man das Infusion. Daher liest man diesen Begriff inzwischen oft in Cocktailkarten.
Julep: Lange, bevor man von Cocktails sprach, gab es schon Juleps aus Minze, Zucker und Schnaps. Das Wort stammt aus dem Persischen, perfektioniert wurde der Julep im Süden der USA.
Rum: die vielfältigste Spirituosengattung der Welt, immer basierend auf Zuckerrohr oder Melasse. Rum kann alles sein. Glauben Sie nicht? Vergleichen Sie mal einen leichten, weißen kubanischen Rum mit einem urtypischen Jamaikaner.
Sour: „Sours“ sind die populärste Familie unter allen Cocktails. Ob Daiquiri, Caipirinha, Margarita oder Whiskey Sour, sie alle funktionieren nach dem gleichen Schema: Schnaps, Zitrussaft und Zucker. Schmeckt halt auch immer.
Tequila: In den USA weiß man es schon länger: Der Agavenbrand muss nicht im Gespann mit Zitrone und Salz für Kopfweh sorgen, sondern bietet höchste und hochwertigste aromatische Genüsse.
Tonic Water: Einst als Medizin gegen die Malaria eingesetzt, bildet das chininhaltige Soda heute zusammen mit Gin den boomenden Drink unseres Jahrzehnts.
Wermut (Vermouth): Der gekräuterte, bittere Wein ist wieder wichtig geworden. Der Grund? Seit wieder richtige Cocktails getrunken werden, braucht es auch wieder guten Wermut.
Wodka: der neutral schmeckende, glasklare Star der Jahrtausendwende. Wurde vom Gin abgelöst und gilt jetzt als minderwertig, womit man dem Getreide- oder Kartoffelbrand aber ebenfalls nicht gerecht wird.
Zeste: Das dekorative Sinnbild der Bar-Renaissance. Denn ein schön geschnittenes Stück Zitronen- oder Orangenschale sieht nicht nur gut aus, sondern verleiht vielen Cocktails den letzten aromatischen Kick.
Der Der Mix für mehr Glamour: zu gleichen Teilen Campari, Wermut und Gin, serviert auf Eis, garniert mit einem Schnitz Orangenschale.
von Bjørn Erik Sass
Mein Leben lang wünschte ich, ich wäre ein echter Cowboy. Oder, genauso toll: ein eleganter, frauenumschwärmter Salonlöwe, einer, der mitreißend von seinen Abenteuern draußen in der Welt berichtet. Tatsächlich aber besaß ich nie ein Pferd, nie Land oder Adelstitel, auch keinen beeindruckenden Lebenslauf. Darüber hätte ich traurig werden können. Ich fand aber rechtzeitig einen Weg, die blasse Leere meines Daseins von innen aufzufüllen – mit einem Drink voller Kraft und Farbe.
Flüssige Belohnung: zwei Teile amerikanischer Whiskey, ein Teil roter Wermut (beides gut gekühlt), einen Spritzer Angosturabitters.
von Jochen Bittner
Ich habe nie Rugby gespielt, bin mir aber recht sicher, dass ich das Gefühl danach kenne. Ich nenne es „grüne Schmerzen“. Die grünen Schmerzen treten meist am Samstagabend auf, und sie kommen von der Natur.
Typischerweise durch so was: Irgendein Draht hat sich wieder im Schneidwerk des Rasenmähertreckers verfangen. Also aufbocken und drunterkriechen. Den Schraubenschlüssel an die Scherennabe setzen. Abrutschen. Schraubenschlüssel ins Auge kriegen. Noch mal ansetzen. Kräftiger drücken. Noch mal abrutschen. Ellenbogen an den Scherblättern aufschrammen. Vor Wut auffahren. Stirn am Mähwerk stoßen. Fluchen und rauskriechen. Dabei diese eine falsche Bewegung machen, die die Nackenwirbel staucht und den Trapezmuskel zwirbelt. Taumeln.
Ja, so muss es sich anfühlen, ganz unten im scrum, diesem Menschenpresshaufen, zu dem sich Rugbyspieler aufstapeln, wieso auch immer sie das tun.
Wenig später, wenn die Sonne sinkt, der Hals steif wird und die Hand anschwillt, können Sie natürlich Ihre schwindende Jugend beklagen und eine Ibuprofen einwerfen. Aber warum Gemüt und Nieren belasten, wenn es eine freudvollere Alternative gibt für Körper und Geist? Diese Alternative ist ein ebenso schlichter wie wirkungsvoller Cocktail – der Manhattan. Einen Manhattan kriegen Sie auch noch mit steifem Nacken und zitternder Hand hin. Gießen Sie zwei Teile amerikanischen Whiskey und einen Teil roten Wermut, beides gut gekühlt, in ein Martiniglas. Einen Spritzer Angosturabitters dazu – fertig ist der rote Retter.
Tun Sie sich aber bitte zwei Gefallen, und nehmen Sie einen richtig guten Rye Whiskey und einen richtig guten Wermut. Das heißt: keinen billigen Bourbon oder Martini Rosso. Gönnen Sie sich ruhig einen Old-Overholt-Roggenschnaps aus Tennessee und einen Belsazar-Wermut aus dem Kaiserstuhl. Die Qualität der Zutaten macht den Unterschied zwischen „Bah!“ und „Ah!“ beim Manhattan. Wenn Sie möchten, können Sie noch eine Cocktailkirsche dazuwerfen, aber das ist im Grunde Chichi. Eher was für Städter. Gleich nach dem ersten Schluck fängt der Nacken an, sich zu entspannen. Nach dem zweiten vergessen Sie Ihre Hand. Und nach dem dritten sind Sie nur noch Zunge, in einem grinsenden Mund.
Ach, ist der Rasen da draußen nicht herrlich kurz und grün?
Für unvergessliche Nächte:Korn und Kirschsaft.
von Franziska Bulban
Es ist ein wirklich guter Abend geworden: Ein paar Freunde sitzen seit Stunden bei Antipasti und Rotwein um den Tisch im Wohnzimmer. Die Gespräche über Politik (Wäre Merkel im Westen aufgewachsen, wäre sie wohl konservative Grüne?) verwandeln sich zu Gesprächen über Jobs (Wie lange willst du dir das noch antun?) und Beziehungen (Das ist doch keine Gleichberechtigung!). Es wird spät und später, trotzdem gähnt niemand. Und ich hoffe: Es könnte eine dieser Nächte werden, in denen man bis morgens um die Häuser zieht, in denen die Wette um die Telefonnummer des Türstehers im Rauswurf mündet und in denen niemand heimfährt, bevor man nicht beim Laden mit den fettigen belgischen Pommes war – kurz: eine der Nächte, die für die nächsten drei Jahre als Anekdote taugen. Ich liebe solche Nächte.
Aber um sie wahr werden zu lassen, braucht es Timing. Denn es gibt den einen flüchtigen Moment, sie zu initiieren, den Moment, in dem sich das Essen schon so weit gesetzt hat, dass wieder an anstrengende Tätigkeiten wie Aufstehen zu denken ist, in dem aber noch keiner eingeholt wird von seiner Vernunft, von drohenden Deadlines, Dienstreisen und Elternbesuchen. Das ist der richtige Moment für Korn. Denn Korn fragt: Geht es los? Sind wir unvernünftig? Gehen wir tanzen, laufen, raufen?
Bester Zwei-Komponenten-Treibstoff: Matetee plus Wodka.
von Johannes Gernert
Wenn sich einige wirklich gute alte Freunde angekündigt haben. Wenn es eine nennenswerte Anzahl gemeinsamer Songs gibt, zu denen ihr schon einmal zusammen auf einem Clubboden herumgesprungen seid. Wenn der DJ bereit sein könnte, gegen halb drei in der Früh auf euer „Mach ma Dings von Jay Z“-Gegröle nicht immer nur mit „Hab ich nicht“ oder „Hab ich doch schon gespielt“ zu antworten. Dann sind das alles klare Anzeichen dafür, dass das eine Nacht werden könnte, die einen Zwei-Komponenten-Treibstoff verdient: Wodka-Mate.
Was die Koka kauenden Matebauern, die aus den Blättern der südamerikanischen Stechpalme den belebenden Tee gewinnen, und die schweigsamen, russischen Weizenbauern, die das Korn für den Wodka bereiten, zu einen scheint, ist dieses Stoische, Erdverwachsene. Ähnliches gilt für die fränkischen Brauer der Club-Mate und die Moskauer Brenner des milchgereinigten (was auch immer das heißt) Parliament Vodka, der sich ganz besonders gut für die Mischung eignet.
Der Anti-Koller-Drink schlechthin:ein Beutel schwarzer Tee, heißes Wasser Rum, Zucker oder Kandis.
von Margarete Stokowski
Jetzt sind Sie endlich raus. Keinen Bock mehr. Schnauze voll. Sie würden nicht von sich behaupten, dass Sie dumm sind, aber Sie waren nach Feierabend in einem Einkaufszentrum. Es lief dreimal Last Christmas, zweimal Happy Xmas (War is over) und einmal All I want for Christmas is you, wobei Letzteres sich angefühlt hat wie siebenmal. Sie haben zwischen Plastik und Glitzer und künstlichem Watteschnee nicht gefunden, was Sie gesucht haben. Kurz haben Sie überlegt, allen in Ihrer Familie eine Vanille-Duftkerze zu schenken, einfach aus Hass auf die Welt.
Wer in Amsterdam trinken gehen will, muss sich als Allererstes diese Frage stellen: Mit wem möchte ich nicht trinken? Mit englischen Junggesellenabschiedsrunden etwa, die mittags schon so besoffen sind, dass sie bei all den gleich aussehenden Kanälen nicht mehr wissen, wo jetzt das bloody Ibis-Hotel ist. Ebenfalls zu vermeiden sind: Fans deutscher Fußballclubs, die in selbst bedruckten T-Shirts im Licht der Bordellfenster Schlachtgesänge anstimmen; oder belgische Kiffer, die nach dem ersten Space-Cake meinen, dass sie „noch gar nichts merken“, und nach dem zweiten nur noch eine ungefähre Vorstellung davon haben, wer sie sind.
Gepflegt trinken gehen in Amsterdam heißt immer auch: gezielte Touristenvermeidung. So gut das eben geht in einer 800 000-Einwohner-Stadt, die jedes Jahr fast 16 Millionen Besucher hat. Die erste Bar des Abends ist mir von Freunden empfohlen worden, danach will ich mich von den Tipps der Barkeeper leiten lassen. Schon mal gut: Meine erste Adresse liegt nicht an einem malerischen Kanal, sondern an einer Tram-Haltestelle.
De Nieuwe Anitawirkt von außen klein und etwas schäbig. Aber ich merke bald, dass sie ein umso größeres Herz hat. Als ich mit meiner Begleiterin um neun Uhr ankomme, ist noch nicht viel los. Die Bar steckt voller exzentrischer Möbelstücke: die Sitzbank einer alten niederländischen Bahn, riesige Lampenschirme, die mal zu einem Filmset gehörten. Und es gibt eine Überraschung: Über eine Hintertür gelangt man, treppab, in einen Minisaal mit Bühne. Dort steht gerade, in blauem Scheinwerferlicht, ganz alleine, eine Frau in Rot, Gitarre im Arm.
von Ursula März
Wodka gilt als hochprozentige Spirituose, mit der sich Osteuropäer ohne Maß und Verstand in die Besinnungslosigkeit saufen. Dieses Image ist grundfalsch. Wer je Gast einer russischen Hochzeitsgesellschaft war, konnte erleben, dass es sich bei den Alkoholleichen, die bei Sonnenaufgang unter den Tischen liegen, durchweg um Nichtosteuropäer handelt, die sämtliche Regeln ignorieren, die sinnvolles Wodkatrinken erfordert.
Regel Nummer eins: niemals Wodka mit anderen alkoholischen Getränken mischen, auch nicht mit Bier. Regel Nummer zwei: sehr viel Wasser zum Wodka trinken. Pro Wodkaglas mindestens einen halben Liter. Regel Nummer drei: zum Wodka etwas Fettes essen. Ein dick mit Schinkenspeck belegtes Brot bietet sich an.
Es braucht also, um dem Wodka gerecht zu werden, eine gewisse Disziplin. Auch Konzentration und Willensstärke sind gefragt. Allesamt Tugenden, von denen man normalerweise annimmt, dass sie im Alkoholgenuss verdampfen. Tun sie natürlich auch bei Wodka, wenn er umfangreich konsumiert wird. Aber: Ein kräftiger Schluck bringt die genannten Tugenden schlagartig in Form. Und deshalb wirkt dieser Schluck – wie gesagt: ein Schluck – in ebenjener mentalen Krisenlage Wunder, die sich Lampenfieber nennt.
von Peter Dausend
Ich spiele jetzt wieder Fußball, nicht regelmäßig, eher hin und wieder, aber wenn, dann immer sonntagmorgens zwischen zehn und zwölf Uhr im Prenzlauer Berg, dort, wo Berlins Schönwetterspieler zu Hause sind. Wir – mal acht, mal zehn, mal 15 kompakt im Raum Stehende – treffen uns auf einem Naturrasenplatz, der durch viel Natur und wenig Rasen besticht. Der Ball, mit dem wir kicken, heißt übrigens so, wie jeder von uns sich sieht, bis die Wahrheit auf dem Platz liegt: Torfabrik.
Vielleicht sollte ich kurz noch erwähnen, dass ich früher lange Jahre im Verein gespielt habe, immerhin Verbandsliga, damals, als taktische Anweisungen sich noch auf ein „Und wenn der aufs Klo geht, gehst du mit“ beschränkten. Beim Hobbykick auf rasenfreiem Rasen weiß ich also, was zu tun ist: den ersten Verteidiger locker überlaufen, dem zweiten den Ball durch die Beine spitzeln und dann das Ding mit der Innenseite flach ins lange Eck schieben. Nur dass beim Überlaufen der Verteidiger schneller ist, der Beinschuss hängen bleibt und mir beim überlegten Schuss ins lange Eck der Ball über den Schlappen rutscht. Erbärmlich. Nach 20 Minuten japse ich wie Reiner Calmund beim Marathonlauf. Von da an geht’s bergab.
Zu Hause lasse ich mir umgehend ein Entmüdungsbad mit Heublumen ein, meine bis dahin stärkste Szene. Es wird noch besser: Ich nehme mir ein Whiskyglas, ein bauchiges, das sich nach oben hin verengt, gieße mir daumenbreit ein und stelle das Glas neben die Wanne. Kurz darauf liege ich im Wasser, greife nach dem Glas, schließe die Augen und rieche: Torf, Rauch, Schottland, die Inseln. Aber auch: Bravehearts, Billy Bremner, Ibrox Park der Glasgow Rangers. Kenny Dalglish, Gordon Strachan. Schottische Fußballlegenden.
Perfekter Drink für Egoisten: 50 ml Pusser’s Rum, 120 ml Ananassaft, 25 ml Orangensaft, 25 ml Kokosmilch, frisch geriebene Muskatnuss.
von Anna Bode (Name geändert)
Ich liebe zwei Männer. Den einen betrüge ich mit dem anderen und bin überhaupt nicht bereit, irgendetwas daran zu ändern. Zudem ahnt niemand etwas, ich werde ungeschoren davonkommen.
Dafür sollte ich mich bestrafen. Ich sollte in einer fremden Stadt, in einer heruntergekommenen Bar sitzen und mir mit billigem Alkohol Hirn, Herz und Magen zerschlagen. Eigentlich liebe ich doch mein moralisch hohes Ross, aber vor geraumer Zeit bin ich heruntergefallen und einfach liegen geblieben, so ganz ohne Moral.
Was mir bleibt, neben Sex und großen Gefühlen, ist der Schmerz. Der Schmerz darüber, meinen moralischen Kompass verloren zu haben.
Wenn dieser Schmerz kommt, gibt es einen Ausweg. Er führt in die tiefen Polster meiner Lieblingsbar, vor mir ein verbeulter Metallbecher mit einer milchigweißen Flüssigkeit darin. Dieser harmlos wirkende Drink ist ein Schmerztöter mit original Pusser’s Rum und macht seinem Namen sämtliche Ehre: Pusser’s Painkiller.
Ich labe mich oft an ihm, wenn ich unter selbst verursachtem Herzschmerz leide. Ein Cocktail für Egoisten, kaum jemand kennt ihn. In seiner alten Tasse sieht er so unscheinbar aus, dass niemand auf die Idee kommt, nach einem Probierschlückchen zu fragen. Teilen will man ihn nach dem ersten Nippen sowieso nicht mehr, viel zu gut schließlich ist seine schmerzstillende Wirkung.
Weltwahrheitsserum: zu gleichen Teilen Gin, Maraschino, Limettensaft und grüner Chartreuse.
von Lars Gaede
Der Rausch ist ein Verwandlungskünstler. Er hüllt die Menschen erst ein wie in einen Zaubermantel und gibt ihnen dann einen Stoß, sanft, aber schwungvoll, auf dass sie Dinge tun, die ihnen nüchtern nicht in den Sinn kämen. Manchmal ziehen sich die Menschen dann Krüge über den Kopf. Oder krächzen in ihr Telefon: „Ang … Aaangeeelika! Jetzt hör mir doch mal ...!“ Das ist schlecht. Manchmal tanzen sie aber auch wild zu Tina Turner. Oder klettern auf ein Dach und singen. Das ist schön.
All das passiert, weil Alkohol es vermag, unseren Kopf in seine Schranken zu weisen (wofür er sich dann ja rächt am nächsten Tag). Seine Wirkung basiert auf der bittersüßen Verdummung, die er uns Trinkenden beschert. Das ist die Regel. Die Ausnahme ist der Last Word. Mein Lieblingsdrink. Denn der vernebelt nicht, er macht klar und klug. Zur Prohibitionszeit in Detroit erfunden, vertrocknete er über Jahrzehnte in den Rezeptbüchern – bis die Alchemisten unter den Barkeepern begannen, ihn wieder vor Gästen auf den Tresen zu stellen. Meinen Freunden und mir erstmals in dieser Münchner Bar, in der wir uns immer trafen, um arm und betrunken zu werden und stundenlang über das schöne, seltsame Leben zu reden, weil es nachts in München zum Glück eh nichts Besseres zu tun gibt.
Die richtige Wah l zu jeder Tageszeit: Cola mit Rum.
von Eva Biringer
Vergangenes Jahr verbrachte ich den schlimmsten Urlaub meines Lebens. Gefangen in einem kubanischen All-inclusive-Hotel, bei Wasser und einem kargen Büfett, bestehend aus den immer gleichen Kochbananen mit Reis und Fleisch – ich bin Vegetarierin. Die immer gleichen Tage vertrieb ich mir damit, so lange im Kreis zu schwimmen, bis der Bademeister skeptisch wurde. Warum ich das Hotel nicht verließ? Es ist kompliziert und hat mit meinem Vater zu tun, der draußen Klassenkampf und Anarchie vermutete. Ich verfluchte Fidel Castro, sein sozialistisches Mangelsystem und mich selbst. Bis ich den Cuba Libre entdeckte.
Bislang hatte ich diesen unsubtilen Longdrink mit Ballermann und Cocktailschirmchen assoziiert. Je nach Mischverhältnis schmeckt er entweder nur nach Cola oder verhalten nach Rum. Ich mag weder Rum noch Cola. Auf Kuba wurde das anders. Im Halbschatten der Poolbar offenbarten sich plötzlich Aromen von Vanille, Karamell und Süßholz, gebändigt vom erdigen Zuckerrohr.
Abgesehen davon, war Cuba Libre das Einzige, was die Barkeeper tadellos beherrschten. Er macht auf unverwechselbare Weise betrunken und setzt bei klarem Kopf eine beeindruckende Energie frei. Derart befeuert, wagte ich mich aus dem Hotel. In Havanna lernte ich im Museo del Ron, dass die ersten Tropfen einer neuen Flasche Rum den Heiligen, los santos, gehören, also ihnen zu Ehren weggeschüttet werden sollen. Eine schöne Praxis, an die sich kein Einheimischer hielt. Ob heilig oder profan, ein Cuba Libre ist zu jeder Tageszeit die richtige Wahl. Ich trank mit Blick auf den Malecón und Hemingways Stammplatz, ich trank mit Exilkubanern und dem Dolmetscher von Fidel Castro.
Mein Abend beginnt da, wo sich mein Hotel befindet: in der Langstraße, früher bekannt als Rotlichtmeile und Drogenumschlagplatz. Eine Art schweizerische Mini-Reeperbahn, könnte man sagen. Heute ist die Langstraße eine beliebte Partyzone, und die Bewohner regen sich weniger über die Huren und Dealer auf als über Abfall und Lärm, den die Feierlaunigen hier jedes Wochenende produzieren.
Auf Empfehlung einer jungen Hotel-Mitarbeiterin lande ich als Erstes in der Bar Dante und bin sogleich etwas besorgt: Es liegt ein bisschen von der gewollten Coolness in der Luft, die Cocktailbars so anstrengend machen kann – und auf die man auch hierzulande immer öfter trifft, egal ob in Berlin, München oder Hamburg.
Zurück in die Vergangenheit: 4 cl Wodka, 10 cl Orangensaft, 2 cl Galliano L’Autentico, nacheinander in ein mit Eis gefülltes Longdrinkglas gegossen.
von Sandra Danicke
Meine Reise durch die Nacht beginnt im Six D.o.g.s, einer Bar mitten im Ausgehviertel Psirri, in dem sich früher die Unterwelt traf und das heute voller Bars und Tavernen ist. Durch die Gassen ziehen auch abends noch die Gerüche des historischen Fisch- und Fleischmarkts Varvakios Agora. Ich lasse sie erst hinter mir, als ich aus einer Nebenstraße in eine Hinterhofoase trete. Das Six D.o.g.s ist eine versteckte Gartenbar, eingekesselt von Mietshäusern, beschirmt von hohen Bäumen. Hinter der Bar steht ein bärtiger Typ mit Männer-Dutt und Holzfällerhemd und shaked sehr fokussiert. „Jassas“, grüßt er. Ich warte, bis ich bedient werde – perímene, sich einen Augenblick gedulden, gehört in der aufgedrehten Hauptstadt Griechenlands dazu. Und wer will sich an einem schönen Abend schon hetzen.
Allein 30 verschiedene Sorten Gin stehen auf der Karte. Ich sehe einen Cocktail namens Bubble Chaos und denke automatisch an Finanzblasen. Ich frage den Barkeeper, ob der Name etwas mit der Krise zu tun habe. Er antwortet: „Nein, mehr mit Fantasie“, Cocktails seien für die Fantasie da.
Während er mir den Bubble Chaos mixt, schwärmt er von den Zutaten. Die Basis sei selbst gemachter Honiglikör, gemischt mit Masticha, einem Likör aus dem Gummiharz der Mastix-Pistazienbäume, die nur auf der griechischen Insel Chios in der Ostägäis wachsen. „Sehr gut für den Magen“, sagt er. Hinzu kommen Ananas- und Zitronensaft, Kokosnuss, irgendwelche Bitterstoffe, Salz und Pfeffer. Vor mir steht ein Cocktail mit schneeweißer Krone und schwarzem Salz am Glasrand. Sieht gut aus, ist nicht zu süß, und das Salz gibt dem Ganzen einen Spezialeffekt.
Um mich herum lassen sich die Athener müde vom Tag auf die Holzbänke zwischen den Bäumen fallen. Ich sehe Anzugträger, Künstlertypen und auch Touristen. Das Publikum ist angenehm gemischt, für jeden gibt es hier eine Nische. Außerdem hat der Garten mehrere Etagen. Ich beschließe aber, sie nicht zu erkunden, und frage den Barkeeper lieber nach einer weiteren Bar. Er empfiehlt mir The Clumsies auf der Praxitelous-Straße. Es liegt zwischen Psirri und dem Syntagma-Platz, dem Platz der Verfassung, zu Fuß keine 500 Meter entfernt.
Im The Clumsies flitzt mein Blick über den Tresen: Hier dampfende Stickstoffwolken, dort wird irgendwas flambiert, dazwischen gefüllte Gläser in ungewöhnlichen Formen und Farben. Das Clumsies ist eine Mischung aus molekularer Küche und mittelalterlicher Chemie, modern und mystisch zugleich, Metall und Holz. Meine Augen fühlen sich direkt unterhalten. Ich bin aber skeptisch, als mir der tätowierte Barkeeper wortlos die Karte und eine kleine Schwarzlichtlampe reicht, damit ich die fluoreszierende Schrift lesen kann. Bisschen zu cool, denke ich. Andererseits auch sicher praktisch, in einem Land, in dem selbst jeder Zehner argwöhnisch auf seine Echtheit geprüft wird. Unter Schwarzlicht kann man Falschgeld erkennen.
Ich blättere mich durch das Menü, und nebenbei fällt mein Blick auf die Serviette unter dem obligatorischen Glas Wasser. Prost steht darauf, in verschiedenen Sprachen, cin cin, chai yo, auf Griechisch sagt man yamas. Das erinnert mich daran, wie international Athen eigentlich ist. Eine Stadt voller Expats und Künstler, und die unter 40-jährigen Griechen sprechen größtenteils gut Englisch. Man kommt hier auch ohne Griechischvokabeln durch die Nacht.
Ich bestelle einen Mediterranean Gimlet. Ich liebe Gimlet! Der ist so minimalistisch. Ein richtiger besteht zur einen Hälfte aus Gin und zur anderen aus Rose’s Lime Juice – aus sonst nichts. Trotzdem ist es irre schwer, die richtige Balance zwischen Wacholder und Zitrusnote zu finden. In der Clumsies-Karte lese ich, dass sie den Gimlet hier mit Star of Bombay Gin und griechischem Salat machen. Griechischer Salat? „Wie geht das denn?“, frage ich den stillen Barkeeper. Lakonische Gegenfrage: „Hast du schon mal griechischen Salat gegessen?“
„Klar.“
„Und, was ist da drin?“
Ich zähle auf: „Feta, Tomaten, Gurke, Paprika, Oliven und Petersilie.“
„Ne“, sagt der Barmann, und meint Ja (Nein heißt ochi). Das alles sei da drin. Nur kein Feta.
Der Gimlet kommt in einer simplen Cocktailschale, er ist fast transparent, so soll es sein, nur auf dem Grund schwimmt ein Kapernblatt. Er ist süßlich, sauer und würzig zugleich. Ich bin überrascht, wie gut er schmeckt. Noch einen Schluck, und die Skepsis verfliegt endgültig. Auch der wortkarge Barmann wird jetzt redseliger. Auf meine Frage, wo ich als Nächstes hingehen soll, antwortet er: „Seven Jokers. Da gehen wir Barkeeper immer zur After Hour hin.“
Ich lasse mich also von der Praxitelous-Straße weitertreiben, vorbei an marmorumkleideten Gebäuden, halb fertigen Bauruinen und hupenden Mopeds. Athen erinnert ein bisschen an Berlin in den Jahren nach dem Mauerfall. Es gibt viele Brachflächen und damit viele Freiräume. Überall nisten sich Künstler ein, sorgen für Abwechslung durch ihren Erfindungsreichtum, wie zum Trotz gegen die erdrückende Sparpolitik.
Das Seven Jokers wirkt irgendwie theatralisch und mit dem roten Licht hinterm Tresen auch ein bisschen puffig und gleichzeitig wahnsinnig entspannend. Von der Decke hängen Harlekine, und die Musik, irgendwas aus den Neunzigern, dröhnt so rücksichtslos laut aus den Boxen, als wolle man sich kollektiv betäuben. Trotz des zehnten Jahres in der Krise sind die Bars immer voll. Auch am Dienstag um zwei Uhr.
Die Barfrau Armelina zeigt mir ihre speziellen Mixturen, benannt nach den sieben Todsünden. Ich wähle Wut und bekomme eine knallrote Flüssigkeit im Glas aus Beefeater, Campari, Mango, Chili und etwas Zitrone, die aber zuckersüß schmeckt. Die meisten trinken hier Biere wie Alfa, Fix, Vergina oder Hartes wie Tsipouro, den traditionellen griechischen Tresterbrand aus Trauben, die nicht für die Weinproduktion geeignet sind.
Inzwischen tanzen die Leute, vermutlich weil es eh zu laut ist, um sich zu unterhalten, oder weil sie einfach genug haben vom Probleme-Bereden. Stattdessen landen ihre Zigaretten auf dem Schachbrettboden. Dass seit 2008 ein Rauchverbot gilt, interessiert niemanden. Die meisten grölen zur Musik mit. Athener Nächte sind wie ein Ventil für die Sorgen des Tages. In der Nacht regieren Freiheit und Fantasie.
Six D.o.g.sAvramiotou 6–8So.–Do. 10–3 Uhr,Fr./Sa. 10–4 Uhr
The ClumsiesPraxitelous 30So.–Do. 10–2 Uhr,Fr./Sa. 10–4 Uhr
Seven JokersVoulis 7Mo.–Do. 10.30–4.30 Uhr,Fr. 10.30–6 Uhr,Sa. 15–6 Uhr,So. 18.30–4.30 Uhr
von Karin Ceballos Betancur