Du bist die Ruh! - Rudolf Stratz - E-Book

Du bist die Ruh! E-Book

Rudolf Stratz

0,0

Beschreibung

Moskau kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert. Der Deutschrusse Iwan Michels hat ein Problem: Endlich kann er seine neue Baumwollspinnfabrik einweihen, da sind aufgrund einer Wirtschaftskrise und Spekulationen an der New Yorker Börse die Baumwollpreise so gestiegen, dass Baumwolle fast teurer ist als fertiges Garn. In seiner Not sieht er sich gezwungen, sich um Hilfe an Alexander Wieprecht zu wenden, einen weiteren Deutschrussen und Flanellfabrikanten, mit dem er sich vor vier Jahren bitter zerstritten hat, da der sich in abfälligen und herabsetzenden Worten über den kommenden Misserfolg von Michels' Fabrikprojekt und über dessen mangelnde Managementfähigkeiten geäußert hat – jetzt muss Michels einräumen, dass Wieprecht in vielen Punkten recht gehabt hat. Doch nachdem Michels mit Wieprecht Kontakt aufgenommen hat, sucht Wieprecht wiederum Kontakt zu Michels' Frau Marja. Nach anfänglicher Abneigung ist Marja von dem Nonkonformisten und Lebensphilosophen Wieprecht fasziniert und in vielen langen Gesprächen stellen die beiden bald fest, in wie vielen Punkten sie sich ähnlich sind. Als sich die Verhältnisse um Michels' Fabrik immer trostloser gestalten und Marja sich zunehmend in Wieprecht verliebt, eskaliert die Situation und steuert unerbittlich auf die unausweichliche Krise zu. Marja muss sich entscheiden: Ist ihr das Glück oder die Ruhe im Leben wichtiger?-

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 484

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Rudolf Stratz

Du bist die Ruh!

Roman

Saga

Du bist die Ruh!

© 1905 Rudolf Stratz

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711507063

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

I

Draussen, vor den zum Schutze gegen die Kälte sorgfältig mit Papierstreifen verklebten und mit dicken Watteschichten ausgepolsterten Doppelscheiben war das tiefe Winterschweigen Moskaus. Und wenn Marja Michels in ihrer hochgelegenen Wohnung auf der Insel zwischen dem Moskwaflusse und dem Kanal an eines der Fenster trat, um nachzusehen, ob ihr Mann noch nicht bald aus seinem Kontor oder vom Neubau seiner Baumwollspinnerei zurückkäme, dann erblickte sie vor sich dasselbe stille nordische Bild — alles weiss in weiss, in trüben, frostigen Tönen — fahlgrauer niedriger Himmel mit leisem, kaum merklichem Geriesel träger Flocken, schwere, zähe, eisgraue Luft, die auf kurze Entfernung hin schon in undurchsichtigen Nebel überging, grauweisser Schnee am Boden, auf den Dächern, auf den Strassen und Brücken, auf dem Eis des Flusses — Schnee überall. ...

Und doch schimmerte es da drüben grellbunt, unwahrscheinlich wie eine Sinnestäuschung des Südens in dieser bleichen nordischen Welt. Auf dem hohen Hügel zur anderen Seite des Flusses stand es und bedeckte ihn weithin mit seinem phantastischen Gewirr von Palästen und Kathedralen, von Türmen und Zinnen, von Zugbrücken und Klöstern und Toren. Dort ragte der Kreml, die heilige Stadt des heiligen Moskau, hoch über das weisse Häusermeer. Die Michelssche Wohnung lag ihm gerade gegenüber, ganz vereinzelt zwischen den Magazinen und Warenlagern der „Insel“ und abgeschieden von den eigentlichen Vierteln der Deutschen und Deutschrussen im Osten um die evangelischen Kirchen herum.

Und doch liebte Marja ihre Wohnung — gerade wegen des Ausblicks auf den Kreml. Der tat den Augen so wohl in dem langen Moskauer Winter, der ihr, der geborenen Reichsdeutschen, noch endloser und eintöniger erschien als ihrem Mann und ihren anderen schon halb verrussten Landsleuten hier. Das war ein wie durch Zauber hierher verpflanztes Stück Orient oder Indien, wie ein Traum aus tausend und einer Nacht ... ein Bagdad im Schnee ... Still, mit einem halben Lächeln auf den klaren, jugendlich schönen Zügen stand sie da und lugte durch das Loch, das sie in die Eisblumen der Scheiben gehaucht. Draussen hatte der bisher bleigraue Himmel an einer Stelle eine zarte, milchig-bläuliche Färbung angenommen. Ein schwacher Mittagsonnenstrahl blinkte da hindurch und wo er unten, im Schnee und Nebel den Kreml erreichte, da leuchtete es überall geisterhaft dagegen auf. All die lautere Golddachung des Kirchen- und Heiligenreichs auf dem Berghügel flammte und funkelte, noch halb von Nebelschleiern umsponnen, in blitzenden Lichtern zwischen dem Weiss des Bodens, dem Grau der Wolken, und unter ihr schimmerten gleich einem ausgeschütteten Farbenfüllhorn von Tönen die Riesenmassen der weltlichen Gebäude, der Kathedralen und der Klöster — da zartrosa Wände mit weissen Säulen, grüne Spitzgiebel, ein Haufen tief sattblauer Tulpen um eine mächtige, goldstrahlende Zwiebel, himmelblaue Fensterfronten mit schneeigem Arabeskenwerk und hellgrünen Dachreitern, weisse, mit bunten Heiligenbildern bemalte Steinrondelle unter goldenen Mützen, eine gigantische, ochsenblutfarbene Wölbung wie die Riesenkuppel einer Stambuler Moschee, ein seegrüner, vornübergeneigter Moskowiterpalast, ein nadelscharf aufschiessendes kalkweisses Minareh, hinter ihm ganze Schwärme weisser Türme mit taubengrauer Kuppelung und dem goldenen Erlöserzeichen auf der Spitze — alles überragend der goldgekrönte Riese, der Turm Iwan Weliki, und neben ihm der zitronengelbe Flimmer des ebenso riesigen Winterpalais und neue blaue Schnörkel und grüne Firste und goldene Hauben hinter dem Altersgrau der bemoosten viertelstundenlangen Mauern und Gräben und Brückenköpfe aus der Mongolenzeit.

Und immer heller schien die Sonne und immer neue Mengen kreuztragender Kuppeln, ganze Nester zwiebelförmiger Goldmassen wuchsen funkelnd und blitzend hinter dem Weiss der Kathedralen auf, die, wieder auf weissen Schneeflächen stehend, mit ihren weissen Türmen das Durcheinander der Töne dämpften, es beinahe in einen feierlichen Gleichklang von Weiss und Gold verwandelten, wie drüben, aus nebelumsponnener Weite, in bleichem Glanz, anscheinend halb durchsichtig gleich einer Luftspiegelung von phantastischer Grösse das zweite Wahrzeichen Moskaus, die weissgoldene Erlöserkathedrale, herüberdämmerte.

Und still war es — totenstill. Kein Laut drang aus den bunten Zauberhäusern herüber, über den Fluss, in die Stadt hinein. All diese Farben schwiegen. Die grossen Glocken hingen schlafend in ihren offenen Holzstühlen. Nichts regte sich. Nur an einer Stelle stürzten weisse Brocken lautlos in die Tiefe. Da fegten Mönche den Schnee von einer Goldkuppel ihres Klosters. Dann hörte auch das auf. Die Ruhe war wieder da und Marja Michels wandte sich langsam vom Fenster ab und sagte mit einem freundlichen, aber noch ein wenig leeren und verträumten Lächeln auf den Lippen zu dem eingetretenen Fräulein: „Sind Sie endlich zurück mit den Kindern? Wo bleibt ihr denn nur so lange?“

Sie bemühte sich, die ruhige Heiterkeit ihrer Züge ein wenig in Strenge zu verwandeln. Aber sie konnte es nicht recht, während sich ihr kleiner Sohn und seine Schwester erhitzt, mit roten Backen, hereindrängten und Grischa, der ältere, gleich zu berichten begann — erst russisch, dann auf ihren Verweis: „Grischa — wie spricht man mit der Maminka?“ in einem drollig von den Kinderlippen klingenden harten Deutsch, in dem ihn, wo ihm die Worte noch fehlten, das Fräulein unterstützte. Er war in grosser Aufregung. Sie hatten am Ende ihres Spazierganges, auf dem Platz, wo sie gewöhnlich einen Schlitten nahmen, um zurückzufahren, den Timofei, ihren Leibkutscher, nicht getroffen, und die anderen Iswoschtschiks hatten alle gelacht, und einer, mit einem ganz grossen roten Bart, hatte gesagt, der Timofei sei betrunken und zur Polizei gebracht worden. Dort müsse er drei Tage bleiben. Da habe das Fräulein den Rotbärtigen gefragt: „Nun — und du? Bist du nüchtern? Kann man mit dir fahren?“ und er habe gesagt: „Belieben Sie! Ich bin ja Timofeis Freund!“ und sie seien ganz, ganz schnell gefahren — viel schneller als mit dem Timofei — und der Fuhrmann habe gesagt, falls sie künftig ihn statt des Timofei nähmen, dann würde er zu Ostern, wenn er in sein Heimatdorf ginge, ihnen von dort ein Eichhörnchen mitbringen — ein rotes oder ein graues — und nun müsse man immer mit dem neuen Fuhrmann fahren — des Eichhörnchens wegen ...

„Das Eichhörnchen wird dich beissen!“ sprach Marja und schob die ganze Gesellschaft ins Nebenzimmer. Aber Grischa widersprach: „Nein — nein — Mama! Er sagt: ja, die Iltisse ... die beissen ... aber die Eichhörnchen nicht so sehr! Die Tanja natürlich ... die hat jetzt schon Angst ...“

Die junge Frau beugte ihre schlanke Gestalt zu ihrem Töchterchen nieder und strich ihr sanft über das Haar. „Sei nur ruhig ... es tut dir niemand was! Und nun macht und zieht euch schnell um zu Tisch. Der Papa wird gleich kommen!“

Allein geblieben trat sie wieder zum Fenster und schaute hinaus. Die Strasse unter ihr war still, von grauem Schnee bedeckt, selten einmal von einem Wanderer im Pelz, einem lautlos gleitenden Schlitten belebt. Und still lag der Fluss davor, zugefroren und beschneit, von schmalen dunklen Wegspuren überkreuzt. Grosse blaue Barken staken unbeweglich, ausgestorben in seiner Eisdecke. In der waren an einzelnen Stellen Löcher geschlagen. Da knieten Weiber und wuschen in dem schwarzen, rauchenden Wasser und weiter hinaus standen vermummte Männer und angelten. Das alles war eintönig und alltäglich. Aber da drüben, hinter den steil abschiessenden weissen Hängen, den verwitterten und verwetterten Mauern standen wieder die bunten Geisterschlösser und grüsste ein die Augen beinahe schmerzendes Gewirr und Gewimmel von Gold. Und blickte man zu beiden Seiten des Kreml weiter über die nebelumsponnenen Dächer der Stadt, so flimmerte es auch da überall von schwebendem Gold und durchbrach, im Widerschein der Sonne aufblitzend, den feinen Dunst und Rauch der Winterkälte mit zuckenden Lichtern und baute sich hunderttürmig in schattenhaft in der Ferne sich wölbenden Kuppeln, in grünen Glockenstühlen und steinern ragenden Warten aus unzähligen Kathedralen und Kirchen und Klöstern über der heiligen Stadt auf.

Marja Michels hatte die Türe zu dem Balkon geöffnet und trat hinaus. Das hatte sie sich, als sie vor sieben Jahren ihrem Mann aus Deutschland nach Moskau folgte, ausbedungen, dass wenigstens ein Zugang zur frischen Luft auch im Winter in der Wohnung offen bliebe. Die Kälte war auch an einem Tage wie heute, bei Sonnenschein und Windstille, auf ein paar Minuten gar nicht unangenehm, sondern wirkte wie ein erfrischendes Bad. Und nun hörte sie auch statt der bisherigen Todesstille in der Stube einen Laut des Lebens von aussen — das ferne, vielstimmige Krächzen der Krähen vom Kreml, die als Hunderte von schwarzen Punkten die Dome und Fürstensitze, die Zeughäuser und Einsiedeleien da oben unablässig umflatterten.

Ihre Züge erhellten sich. Unten vor dem Tor hielt ein Schlitten und in ihm sass ein Wesen, das einem grossen Bären am meisten glich. Denn man sah nichts von ihm als einen mächtigen zottigen, hellbraunen Pelz, der, mit der Haarseite nach aussen gewendet, alles, selbst den Kopf des Trägers, zwischen seinen hochgestülpten Schulterklappen verbarg. Jetzt stieg der aus und gab dem Kutscher sein Geld. Und im selben Augenblick warf die junge Frau oben, nachdem sie genau, mit lachendem Auge gezielt, einen rasch vom Balkonsims gegriffenen Schneeballen auf den Bären hinunter. Sie traf so gut, dass die eine Seite des Pelzkragens aufstäubte. Der wurde daraufhin schnell zurückgeschlagen. Ein gutmütiges, halb unter einem grossen, rötlichblonden Vollbart begrabenes Antlitz schaute so treuherzig und verblüfft herauf, dass sie wieder laut lachen musste, ebenso wie der Iswoschtschik unten. Dann hatte ihr Mann sie erkannt und stimmte in ihre Heiterkeit ein und machte eine drohende Bewegung, als wollte er sagen: „Wart’ nur, ich komme!“ und lief in das Haus hinein. Das sah drollig aus. Denn er stolperte unbehilflich in dem Biberpelz und den hohen Galoschen, aber als sie selbst die Flurtüre aufmachte, war er schon halbwegs oben, freilich ein wenig atemlos, und tupfte sich noch in Eile die Eisstückchen aus dem Bart, ehe er den Arm um sie legte und sie nach russischer Sitte dreimal hintereinander auf jede Wange und auf den Mund küsste.

„Brr!“ sagte sie und trocknete sich die Lippen. „Du bist noch ganz nass ... oh Mischa — du Bär ... wahrhaftig wie ein Brummbär hast du unten im Schlitten gesessen ... ich hab’ nicht anders können ... ich musst’ dir einen Schneeballen auf den Kopf werfen ... wart’ ... ich helf’ dir den Pelz ausziehen ... so ... nun sag nur um Gottes willen ... wo bist du wieder so lange geblieben?“

Iwan Michels wickelte, während er hinter seiner Frau in das Wohnzimmer trat, ein Seidenpapierpaket auf und reichte ihr einen Strauss frischer blühender Rosen und auf seinem Gesicht war dabei eine Mischung von schlauer Gutmütigkeit und stillem Schuldbewusstsein. Er sah voraus, sie erzürnte sich über die Verschwendung — Treibhausblumen im Moskauer Winter! — und freute sich doch darüber. Und so sagte sie denn auch zwischen Lachen und Ärger, aber mit einem warmen Schimmer in den hellbraunen Augen: „Mischa ... schämst du dich denn nicht? Denkst du denn nicht an unsere Kinder? Was muss denn das nun wieder gekostet haben?“ Und er verteidigte sich, ein wenig unsicher, aber immer mit seinem herzlichen, das ganze, sonst nicht eben vielsagende Antlitz sonnig erhellenden Lächeln, das trotz der rotblonden Bartmassen beinahe etwas Kindliches an sich hatte: „Duschinka, mein Seelchen ... sei nicht bös ... Es ging nicht anders. Ich konnte nicht an dem Blumenladen vorbei ...!“

Jetzt musste sie selbst über seine kläglich-durchtriebene Miene lachen. „Das kannst du ja nie! Jeden Tag schleppst du etwas Neues ins Haus! Ich weiss schon kaum mehr, wohin damit — und die Kinder auch!“

Sie reichte ihm die Stirne zum Kuss und ordnete dann die Blumen in einer Vase. Er sah aufmerksam zu. „Ich hab’ sie die ganze Zeit unter dem Pelz gehalten, damit sie nicht erfrieren!“ sagte er. „Obwohl — es ist heute nicht sehr kalt draussen ... kaum sechzehn Grad ... na ... und — posluschaî — höre ... wo sind denn die Kinder?“

Er ging dabei, sich die grossen frostigen Hände reibend, im Zimmer auf und ab und machte wieder ein sehr schlaues und geheimnisvolles Gesicht, das sich noch mehr verklärte, als Grischa und Tanja, die Kleinen, mit ihrem Fräulein auf der Schwelle erschienen. „Da kommt mal her, ihr Spitzbuben ... du greif mir rechts in die Tasche, Grischa ... du links, Mädi ... guten Morgen, Fräulein ... da haben Sie auch ein paar Veilchen ... sonst werden Sie zu neidisch auf die Blumen, die meine Frau gekriegt hat ... Nun, was schreit ihr denn?“ Er brach seine in dem harten Moskauer Deutsch des eingeborenen Deutschrussen gesprochenen Worte ab und schaute vergnügt auf seine Sprösslinge, die sich ihre Geschenke hervorgeholt hatten ... je eine hölzerne, hübsch bemalte Gurke und Birne, die, oben mit einem Schlitz versehen, eine Sparbüchse vorstellten. „Das hab’ ich in den Kaufmannsreihen für euch eingehandelt, damit ihr euch beizeiten an Sparsamkeit gewöhnt!“

„So wie euer Papa!“ Marja musste lachen. „Ich glaube wirklich, Mischa — du gäbst deinen letzten Rubel her, um andern eine Freude zu machen!“

Der grosse, etwas schwer und breit gebaute Mann neben ihr hörte nicht darauf. „Schüttelt einmal!“ sagte er eifrig zu den Kindern. „So! Hört ihr’s klappern? In jeder Büchse sind zehn Kopeken drin — die hab’ ich als Heckpfennig hineingetan ... was, Grischa — ein Griwennik ist dir zu wenig? ... Du willst einen Rubel drin haben? Liebes Kind ... zehn Kopeken sind viel Geld! Wie euer Urgrossvater nach Moskau gekommen ist — das sind jetzt bald hundert Jahre — da hatte er nicht mehr als das in der Tasche und war ein blutarmer Chemnitzer Webergeselle, mit vielen hundert anderen, und hat sich’s sauer genug werden lassen, bis er etwas vor sich gebracht hat und schliesslich Werkmeister in der Spinnerei geworden ist. Und euer Grossvater — der war schon so weit, dass er sich selbst eine Spinnerei gebaut und eingerichtet hat ... die war freilich noch klein und einfach im Vergleich zu heutzutage ... und wenn ihr artig seid und nächsten Sonntag mit spazieren fahren dürft, dann zeige ich euch, ganz draussen vor Moskau, die schöne, grosse neue Fabrik, die euer Papa jetzt gebaut hat ... mit fünf Stockwerken und mehr Fenstern, als ihr zählen könnt, und blitzblanken grünen Dächern ... und dann müsst ihr euch denken, dass das alles von dem Zehnkopekenstück kommt, das damals der alte Urgrosspapa als Handwerksbursche dreimal in der Tasche umgedreht und nicht ausgegeben hat, wie er zum erstenmal von den Sperlingsbergen aus hat Moskau vor sich liegen sehen ...“

Und ernster geworden, setzte er, zu seiner Frau gewendet, hinzu: „Also, Duscha maja, meine Seele ... deswegen komm’ ich heute so spät. Ich war wieder bei den Behörden. Die letzten Schwierigkeiten mit der Fabrik sind erledigt. Jetzt kann ich sie aufmachen und mit der Arbeit anfangen!“

„Gott sei Dank!“ sagte die junge Frau, und die freudige Überraschung liess ihr zartgeformtes, schmales Gesicht mit den grossen braunen Augen noch mädchenhafter als sonst erscheinen. Seit vier oder fünf Jahren, seit dem Tode ihres Schwiegervaters, war von nichts mehr die Rede gewesen als von dem Neubau der Baumwollspinnerei, einem Unternehmen, das ganz auf der Höhe des zwanzigsten Jahrhunderts stehen und drei-, viermal so gross werden sollte als der ererbte, etwas rückständige und veraltete Betrieb. Das ganze Vermögen war in den Bau hineingesteckt, es hatte lange, bange Monate und Jahre des Sorgens und Mühens gegeben — nun endlich war man so weit, dass der mächtige rote Backsteinkasten da draussen in der verschneiten Ebene sich beleben und aus hohem Schlote atmen und mit Hunderten von surrenden Rädern und Tausenden von tanzenden Spindeln sich regen und endlich Geld hergeben würde, statt immer neues zu verschlingen.

Sie war ganz andächtig gestimmt. Sie wollte ihrem Gatten die Hand drücken, ihm etwas sagen, was dieser Minute entsprach. Aber sie merkte: er war gar nicht so froh gelaunt. Er hatte wieder Sorgen — viele sogar, zu viele, grosse und kleine, um sich der festlichen Stimmung des Augenblicks hinzugeben. Eher schien er ihr sogar, wie schon oft in diesen letzten Wochen und Monaten, von einer inneren Unruhe, einer ganz im Widerspruch zu der frohlaunigen Gutmütigkeit seines Naturells stehenden Gereiztheit verfolgt, die er nach Kräften vor ihr zu verbergen suchte.

Er rieb sich daher hungrig-behaglich die Hände, schmunzelte, als er hörte, dass es zu Tisch Boeuf à la Stroganoff, sein russisches Leibgericht aus gedünsteten Pilzen, Fleischstücken und Kartoffeln, geben sollte und goss sich unterdessen zu den Heringschnitten als Vorspeise, am Seitentisch stehend, ein Schnäpschen und dann ein zweites und nach kurzem Besinnen mit seinem gewöhnlichen: „Bog ljubit troizu!“ — Gott liebt die Dreizahl! — ein drittes ein, ehe er sich mit den Seinen an die Tafel setzte und gehörig, mit echt Moskauer Appetit, einhieb. Aber seine Stirn blieb jetzt, wo die Rede einmal auf die Fabrik gekommen war, doch umwölkt. Seine Gedanken waren bei dem Geschäft. Und Marja, gewohnt, die Sorgen seines Berufs mit ihm zu teilen, brachte nun selbst das Gespräch darauf. Es wurde ihm vielleicht leichter, wenn er davon reden konnte. „Wie ist denn heute der Markt gegangen?“ frug sie, indem sie ihm ein Glas krimschen Rotwein eingoss.

„Wie immer jetzt!“ sagte Iwan Michels düster und mit vollen Backen. „Bei uns in Zentralasien sind die Leute vernünftig — mit Indien und Ägypten liesse sich auskommen ... da ist doch noch ein gewisser Sinn in der Preisbildung ... man könnte einigermassen den Markt überschauen ... sich eindecken ... aber was hilft das, wenn die Yankees alles auf den Kopf stellen!“ Sein bärtiges Gesicht rötete sich vor Zorn. Seine Rechte ballte sich unwillkürlich auf dem Tischtuch zur Faust. „Dass es dagegen keine internationalen Gesetze gibt wie gegen Seeräuber oder Pestgefahr — gegen solch einen Haufen gewissenloser amerikanischer Spekulanten, die ohne jede Rücksicht auf Konjunktur, Statistik und Ernteaussichten mit den Baumwollpreisen spielen — auf reines Glück hin, als sässen sie vor der Roulette in Monte Carlo — und den ganzen Weltmarkt in Fieber und Ungewissheit stürzen, um für sich und ihre Hintermänner, diese Wallstreetmillionäre, Geld herauszuräubern! Ich möchte nur einmal diesen Mister Ascott — diesen Neuyorker Hauptfaiseur — unter vier Augen treffen und ihm meine Meinung über seine Praktiken sagen. Da sollte dieser Gentleman sich wundern!“

„Kaufen sie denn noch immer auf?“

„Die alte Geschichte: sie haben in Neuyork einen Ring gebildet und kaufen alle Baumwolle zusammen, die sie auf der Welt kriegen können, um nachher uns Spinnern die Preise zu diktieren. Die Preise steigen unaufhaltsam — wahnsinnig — über jede Möglichkeit eines Verdienstes hinaus — jetzt schon sind in den Vereinigten Staaten eine ganze Anzahl Spinnereien bankerott oder geschlossen, weil sie das Rohmaterial nicht mehr zahlen können — Tausende von Arbeitern liegen auf dem Pflaster — aber das ist den Kerlen ganz egal ... wenn sie nur räubern können ... der Corner mordet weiter ... gestern ist Liverpool wieder um zwanzig Punkte gestiegen.“

Er schwieg eine Weile und sagte dann dumpf: „Schau, Marja — deswegen freu’ ich mich gar nicht so, wie du denkst, über die Eröffnung der Fabrik. Mach’ ich sie auf, so muss ich auch zu spinnen anfangen — das heisst, ich muss Baumwolle einkaufen und Garn daraus herstellen und das Garn verkaufen. Wie will ich das aber, wenn jetzt — dank diesen Neuyorkern — die Baumwolle fast teurer ist als das fertige Garn?“

„Da würde ich jetzt lieber überhaupt noch nicht anfangen, sondern warten!“

„Ja, Kind — wenn das so ginge! Aber nun ist die Fabrik gebaut. In den nächsten Wochen kommen die Arbeiter aus ihren Dörfern, die ich fest in Lohn genommen hab’ — Hypothekenzinsen, Steuern, Gehälter der Angestellten — all die vielen Kosten laufen weiter — ob ich spinn’ oder nicht!“

„Aber was machen denn die anderen? Die sind doch in gleicher Lage?“

„Nein, Duschinka! Denn sie arbeiten eben schon längere Zeit — sie haben die Möglichkeit gehabt, sich früher mit billigeren Einkäufen einzudecken — sie bekommen auch bessere Vorschüsse auf Garnabschlüsse als ich, der sozusagen nun von vorne anfängt und von dem Leute, wie mein Exfreund Sascha Wieprecht, unser grosser Baumwollmann, behaupten, ich wäre zwar ein guter Fabrikant, aber nichts weniger als ein Kaufmann! Ja — siehst du, diese grossen Firmen haben es leichter. Wenn ich ein Karsinkin wäre oder ein Morosow oder ein Baron Knoop“ — es lag eine unwillkürliche Ehrfurcht in seiner Stimme, während er die mächtigen Moskauer Handelshäuser nannte, und namentlich den von Bremen aus die Welt umspannenden Namen Knoop — „oder wenn ich wie Wieprecht an der Spitze einer riesigen Aktiengesellschaft, wie es die ehemals Spiridionowschen Manufakturen sind, stände — nun — da lässt sich solch eine Sturmzeit ertragen. Man manöveriert eben und das Wetter geht vorüber. Aber ich komme jetzt im unseligsten Augenblick hinein ... weisst du ... ich schlaf’ doch sonst so gut, Marja ... aber in letzter Zeit ... da wach’ ich immer auf und liege still und denke und rechne und weiss nicht, was ich tun soll.“

Er liess bekümmert den Kopf sinken und Marja blieb stumm. Sie verstand zu wenig von diesem täglich schwankenden, mit Hilfe des elektrischen Funkens über die ganze Erde, von Merw bis Liverpool, von Bremen bis Neuyork, von Kalkutta bis Alexandria, geführten Kampf zwischen Baumwollhausse und -baisse. Sie begriff nur: die Fabrikanten, die Spinner, waren überall von der Preisbildung der Börsen abhängig und ihre Hauptkunst bestand darin, sich richtig „einzudecken“, sich das Rohmaterial so billig zu sichern, dass ihnen beim Verkauf des Fabrikats ein Nutzen blieb. Und dazu musste man freilich ein guter Kaufmann sein.

Darüber dachte auch Iwan Michels rastlos nach. Als nach Tisch die Kinder und das Fräulein sich zurückzogen, küsste er aufstehend seiner Frau zuerst die Hand, dann zärtlich die Stirne und sagte dann, während er sich eine Zigarette — schon die dritte oder vierte, denn er rauchte auch zwischen den einzelnen Gängen der Mahlzeit — anbrannte, nach langem Schweigen ganz unvermittelt: „Vielleicht hat Wieprecht recht. Vielleicht bin ich wirklich nur für die Fabriksäle gut. Da macht mir keiner was vor. Ich höre, noch ehe ich die Türe aufmache, aus all dem Lärm heraus, ob drinnen ein Rad leerläuft und wo ... aber dies Treiben an der Börse ... diese Verhandlungen mit den Garnmaklern und Agenten — dies Aufundnieder der Kurse ... da kommt es nicht so auf Kenntnisse an, sondern das muss man in sich haben — so wie Sascha Wieprecht. Der vereinigt beides. Wie ein Räuber muss man auf der Lauer liegen — und um dich schreien sie dir die Ohren voll von: Liverpool so und so viel Punkte höher und Neils letzter telegraphischer Erntetaxierung und Eisklausel und cif und 6 Prozent und franko Bord und Alexandria, garantiert 28/30 Millimeter Mac Faddens Abladung und 10 000 Pud erste Sorte asiatische Baumwolle Knoops Abladung und wieder eine Kabel-Code-Depesche aus Neuyork, Ascott will mit Hilfe Wallstreets die gesamte Weltproduktion dieses Jahres mit fünfzig Millionen Dollars cornern, — bis sich einem der Kopf dreht, und dabei musst du den rechten Augenblick erwischen und ist der verfehlt: wot! da haben wir die Bescherung! Da hilft alle Arbeit in der Fabrik hinterher nichts mehr!“

„Und kannst du dich denn nicht mit anderen Kaufleuten darüber besprechen?“

Der Spinnereibesitzer schüttelte den Kopf und in seinen guten kleinen Augen war ein halbes Lächeln über die geschäftliche Unerfahrenheit seiner Frau. „Zur Konkurrenz gehen? Die würden schön lachen und mich übers Ohr hauen! Da muss sich jeder selbst helfen. Der einzige, der es unter seiner Würde halten würde, mich einzuseifen, das wäre Wieprecht. Davon bin ich überzeugt, obwohl wir uns ja seit vier Jahren nicht mehr kennen und auf der Strasse nicht mehr grüssen. Er ist anders wie die anderen. Er sieht das alles so mehr von oben herab an ... so abseits — er steht mit den Händen in den Hosentaschen da und spricht von der Oper und der neuesten Tänzerin und Gott weiss was und tut, als gäbe es gar keine Baumwolle auf der Welt — und dabei entgeht ihm nichts! Nun ja — wenn man wie er, als ganz junger, unerfahrener Mensch, das väterliche Geschäft so gut wie ruiniert übernommen und in den fünfzehn, sechzehn Jahren derart wieder auf die Beine gestellt hat und durch die Fusion mit den Spiridionowschen Manufakturen in eine Aktienriesenfirma verwandelt hat und da an der Spitze steht — alle Achtung — gewiss — das macht ihm nicht leicht einer nach ... und er ... er wirft seine Papyros weg und sagt: ‚Gospoda! ... Herrschaften ... redet mir von allem, nur nicht von Garn und Baumwolle!‘ Ein merkwürdiger Mensch ... Niemand wird aus dem klug ...“

„Und früher wart ihr doch so gut miteinander bekannt? Und du bist ihm doch für manches zu Dank verpflichtet!“

Iwan Michels schlürfte seinen schwarzen Kaffee und machte eine Bewegung mit den breiten Schultern, zwischen denen sein Kopf ziemlich tief auf stämmigem Nacken sass. „Poloshim! Wie man’s nimmt, Duschinka! In den vier Jahren, wo ich unter ihm in seiner Fabrik arbeitete, weil ich mich mit meinem Vater absolut nicht mehr vertrug — ein Mann zu Anfang der Dreissig, den er wie einen Schulbuben hielt — gewiss, da hab’ ich viel von ihm gelernt, obwohl er ja sogar ein bisschen jünger ist als ich. Jetzt noch nicht vierzig. Und auch dann, wie der Vater immer kränker wurde und mir schliesslich doch die Fabrik überlassen musste und ich nicht mehr bei Wieprecht war, da blieben wir doch in einem ganz freundschaftlichen Verkehr. Wenn wir uns mal auf der Strasse trafen, so sprangen wir aus den Schlitten und gaben uns die Hand. Ich weiss noch, wie er mir damals gratulierte, als ich ihm erzählte, ich hätte auf einer Geschäftsreise in Deutschland dich kennen gelernt und mich mit dir verlobt. Oder eigentlich kondolierte — man hat ja bei ihm immer das Gefühl, als mache er sich über die Menschen lustig und denke sich eigentlich das Gegenteil von dem, was er sagt ...“

Er war aufgestanden und ging im Zimmer auf und ab. „Siehst du, Marja ... das ist es ja auch ... er ist mir nun einmal unsympathisch. Er war es mir immer. Wenn du ihn persönlich kennen lerntest, würdest du das verstehen. Ich bin nun einmal ein philiströser Mensch — ich hab’ keine grössere Freude, als Abends nach dem Geschäft bei euch daheim zu sitzen und mit dir zu schwatzen und mit den Kindern zu spielen ... und er ... man ist ja gewiss nachsichtig in solchen Dingen in Moskau und er ist ja auch Junggeselle — aber wenn ein Mann wie er, in seiner Stellung und doch nahezu vierzig Jahre alt, immer noch lebt wie ... wie wenn er gar keine Rücksichten auf die Gesellschaft zu nehmen hätte — oder vielmehr als ob er es darauf anlegte, sie vor den Kopf zu stossen ... Du weisst nicht, was man sich alles für Abenteuer von ihm erzählt! Ich habe keinen Sinn dafür und mag einen Menschen nicht, der, wie Alexander Wieprecht, alles in der Welt verneint, alles belächelt ... alles bespöttelt ...“

„Aber du brauchst doch nicht gleich wieder mit ihm Freundschaft zu schliessen. Nur versöhnen sollt ihr euch! ...“

Iwan Michels unterbrach seine Wanderung im Zimmer und blieb vor seiner Frau stehen. „Oh Goluptschik!“ sprach er. „Mein Täubchen — das sagst du so! Und wer soll den ersten Schritt tun? Ich? Ich soll zu ihm hingehen und ihm sagen: hören Sie, Alexander Karlowitsch oder lieber Wieprecht oder wie ich ihn nun anreden will ... Sie haben zwar damals, vor vier Jahren, mich ohne Grund und Recht auf das bitterste gekränkt und nie ein Wort der Entschuldigung dafür gefunden ...“

„Aber, Mischa ... was hat er denn schliesslich so Furchtbares getan? Er hat dich nach dem Tode deines Vaters gewarnt, den grossen Neubau der Fabrik zu unternehmen, weil du der kaufmännischen Leitung nicht gewachsen wärest ...“

„Und wie hat er das gesagt! Mit was für Worten hat er mir dies Armutszeugnis ausgestellt, um mich nur recht zu demütigen und zu beschämen? Du kennst ihn nicht! Du hast ihn nie gesehen! Du weisst nicht, wie masslos schroff er in Geschäften sein kann, der sonst, im gewöhnlichen Leben, immer so leichthin und liebenswürdig ist. Er hat mir in aller Ruhe Dinge ins Gesicht gesagt, die ...“

„Das beweist doch vielleicht gerade, dass er es gut mit dir gemeint hat ...“

„Ich danke für eine gute Meinung, die einen so ... zum Hohlkopf, zum armseligen Menschen stempelt. Du hättest ihn sehen sollen, wie er da im Lagerraum gestanden ist, und während er sprach, ein paar Baumwollfäden aus dem Muster gezogen und betrachtet und dabei ganz beiläufig und gleichgültig geäussert hat: ‚Na — jedenfalls, lieber Michels — wenn Sie glücklich Ihr Vermögen bei der Geschichte verpulvert haben — ein Posten hier bei uns, wie Sie ihn früher hatten, soll Ihnen immer offen sein!‘ Da hab’ ich denn doch meine Galoschen gesucht und meine Pelzmütze aufgesetzt und ihm gesagt: ‚Ich danke Ihnen für Ihr Gnadenbrot im voraus und möchte Sie der Mühe überheben, einen Mann, von dem Sie eine so geringe Meinung haben, künftig auf der Strasse zu grüssen!‘ Und er hat nur die Achseln gezuckt und immer seinen Baumwollstapel gezogen: ‚Lieber Michels, es kommen und gehen so viel Leute um mich! Ich halte keinen! Da swidanje! Leben Sie wohl!‘ Und so sind wir geschieden und dabei muss es bleiben!“

Er hatte sich hingesetzt, weniger einen Ausdruck des Zorns, als den einer jahrelang eingewurzelten Kränkung und Verbitterung auf dem bärtigen, derb gesunden Gesicht. Seine Frau war hinter ihn getreten. Sie fuhr ihm mit der Hand leise beschwichtigend über das rotblonde Haar. Dabei erhellten sich wieder seine Züge. Er schaute lächelnd zu Marja auf, mit jenem dankbarfreundlichen Schimmer in den Augen, den er immer für sie hatte. Und nun fing sie an zu reden. „Oh Mischa!“ sagte sie strafend und streichelte ihm weiter den Scheitel glatt. „Du bist und bleibst ein Bär und gehst viel zu schwer und wuchtig durch dies Leben und nimmst alles viel zu tief. Das ist alles gar nicht so schlimm, wie du denkst!“ Sie beugte sich herab und flüsterte ihm ins Ohr. „Du bist nur viel zu empfindlich, Mischa! Das hab’ ich dir schon so oft gesagt. Immer viel zu leicht verletzt! Weil du selbst so ein guter Mensch bist, denkst du, die anderen müssten auch alle so sein, und wenn sie’s dann nicht sind, ziehst du dich von ihnen zurück und trägst es ihnen nach und verschliesst alles in dich hinein und kommst dann mit Entschlüssen heraus, die vielleicht nicht ganz die richtigen sind, weil kein anderer sie mitgeprüft hat. Wirklich, Mischa — du musst dir eine dickere Haut anschaffen! Sonst wird es noch dahin kommen, dass du überhaupt nur noch mit mir und den Kindern verkehrst!“

„Das ist mir auch ganz genug!“ sprach Iwan Michels hartnäckig.

„Für dich vielleicht — aber nicht für deine Fabrik da draussen. Da können wir dir nicht helfen. Jetzt werd’ nicht böse, Mischa, und bleibe ruhig sitzen und höre: Ich an deiner Stelle — ich würde einfach einmal bei Gelegenheit zu Herrn Wieprecht hingehen und ihm die Hand geben und sagen: Nun wollen wir die letzten vier Jahre auslöschen! Und dann ist’s gut!“

Ihr Mann erwiderte nichts. So fuhr sie fort: „Sympathisch ist er mir auch nicht — nach allem, was ich von ihm gehört habe. Ich möchte ihn nicht kennen lernen und hier in meiner Wohnung haben. Aber wenn du rein geschäftlich wieder mit ihm zusammenkommst — das kann dir doch nur von Nutzen sein. Weisst du, was ich täte: ich führe an deiner Stelle gleich heute nachmittag hin!“

Iwan Michels war aufgestanden. Seine Frau bat ihn eigentlich so selten um etwas. Sie war zu klug, die Liebe, mit der er sie umgab, zu missbrauchen. Deswegen war es ihm schwer, ja unmöglich, ihr einen Wunsch direkt abzuschlagen. So suchte er das Gespräch abzulenken. „Nun — nun, Dorogája!“ sagte er und sie merkte, dass er sie diesmal nur ‚meine Teure‘ statt wie sonst ‚mein Seelchen‘ nannte. „Das geht nicht so rasch ... das will bedacht sein. Heute nachmittag bleib’ ich jedenfalls hübsch daheim bei dir und den Kindern ...“

„Ich fahr’ aber jetzt gleich weg, Mischa!“

„Wohin willst du denn?“

„Nach Petrowski-Park hinaus!“

„Zu meiner Mutter?“

„Ja. Sie hat mir geschrieben, ich möchte sie recht bald einmal besuchen! Du weisst: solch eine Aufforderung ist bei ihr eine Seltenheit.“

„Nun — da geh’ ich mit!“

„Nein — Mischa — diesmal scheint mir: es ist besser, ich fahre allein zu deiner Mutter, und du begleitest mich bis zum Smolensker Bahnhof und nimmst von da einen Schlitten zu Herrn Wieprecht.“

Sie trat dabei schon in den Vorflur, wo die Pelze hingen, und während sie in die Galoschen schlüpfte, die ihr das knieende Hausmädchen hinschob, fuhr sie fort: „Sei vernünftig ... tu’s mir zu lieb! Wenn du dann Abends zurückkommst, ist alles gut!“

Ihr Mann wurde nicht unwillig, eher traurig, dass sie ihm keine Ruhe liess. Und er wusste, wenn sie einmal ihren Kopf daran gesetzt hatte, dann gab sie nicht so leicht nach. Er wickelte sie sorgfältig in den Pelz und schlüpfte dann selbst in die Bärenhaut, in der er vorhin gekommen — und während er sich die schwarze Lammfellmütze auf den rotblonden Kopf stülpte, sagte er, bei allem Trotz ein wenig unsicher: „Und wenn mich Sascha Wieprecht nun mit den Händen in den Hosentaschen empfängt — so wie er gewöhnlich in seinem Kontor umhergeht — mir nicht einmal die Fingerspitzen zum Willkommen reicht — mir sozusagen die Türe weist — wie stehe ich dann da?“

„Erstens wird er das nicht tun — denn du sagst ja selbst: er ist anders wie die anderen — und steht über solchen Dummheiten — und selbst wenn: dann hast du einfach dein möglichstes getan, um versöhnlich und vernünftig zu handeln — und bist die Geschichte, die dich doch im stillen schon so lange drückt, auch los, so oder so ...“

Sie stiegen die Treppe hinab und währenddessen murmelte er unschlüssig: „Nun — ich werd’ es mir noch durch den Kopf gehen lassen!“ Aber sie unterbrach ihn sofort: „Das wirst du nicht mehr, sondern heute noch tun, um was ich dich bitte und was das einzige Vernünftige ist. Das siehst du doch selbst ein!“ Und er wusste nicht, wie er weiter sich des Besuches wehren sollte. Denn dass jener ihn wirklich schroff abweisen könnte, das glaubte er in Wirklichkeit selbst nicht. Dazu nahm Alexander Wieprecht die Menschen seiner Umgebung gar nicht ernst genug. Blieben sie weg — gut! Kamen sie wieder — auch gut! Ihn, den viel Gefürchteten und viel Bewunderten, brachte das nicht aus seiner Gemütsruhe.

Unten hatte der „Schweizar“, der Haushüter, bereits das Tor geöffnet und stand mit abgezogener Mütze da. Ein Hauch eisiger Winterkälte drang in die Warmwasserluft des Treppengebäudes und mit ihm schwere einzelne Glockenschläge und ruheloses, hundertfaches Rabengekrächze vom Kreml, und durch den Türspalt sah man das Winterbild Moskaus — den blendenden weissen Schnee, das Funkeln der Sonne auf spitzen und runden, vor dem weisslich-bläulichen Himmel schwimmenden Goldmassen, das Regenbogenbunt der grau ummauerten heiligen Stadt drüben, über dem Eis des Flusses. Sie stiegen ein und dabei sagte Marja noch einmal, aber diesmal schon ihrer Sache ganz sicher: „Also abgemacht, Mischa — du machst jetzt den Besuch! Ihr braucht ja nicht gleich miteinander Brüderschaft zu trinken. Es ist doch nur eine Geschäftssache!“ Da seufzte er und gab endgültig nach. „Nun ja! sluschba nje druschba! Dienst ist noch nicht Freundschaft! — Ich will also in Gottesnamen jetzt zu Wieprecht fahren ...“

II

Vor dem vereisten Bürgerpfad, auf den das Ehepaar hinaustrat, harrte ihrer ein Lichatsch, einer der bunt geputzten Luxuslohnkutscher Moskaus und liess, als Iwan Michels mit seiner Frau eingestiegen war und ihm sein übliches: s’Bogom! Mit Gott! ... zugerufen hatte, seinen Traber ausgreifen und in sausender Fahrt ging es längs des Flusses dahin, durch das Menschen- und Schlittengewimmel der Moskwarezkijbrücke und auf der andern Seite steil empor und über den riesigen, jetzt weiss verschneiten „Roten Platz“.

Man war hier im Herzen Moskaus. Zur Linken trotzten wieder, jetzt ganz nahe, altersgrau und vermorscht die mächtigen Mongolenmauern des Kreml mit ihren moosschwarzen Türmen, ihren von Kirchenbildern und brennenden Heiligenlämpchen überhöhten Eingangstoren und davor auf dem roten Platz stand als ein phantastisches Spukgebilde aus Stein und rotgrünem Farbenglanz und irrem Geschnörkel die Kathedrale Iwans des Schrecklichen, „der lächerliche Palast“ im Volksmund, unheimlich, wie ein Fiebertraum, gebuckelt, verkrüppelt, gerillt und geschuppt mit seinen ananas- und zwiebelförmigen Auswüchsen, die, ein ineinander geschrumpftes Bündel, ein Rattenkönig schillernder Missgeburten am Körper der Kirche hingen und diese eigentlich ausmachten. Wenn Marja diese orientalisch-drachenartige, groteske Schöpfung sah, erschien sie ihr wie ein Gleichnis der dem Westeuropäer doch ewig fremden Welt, die sie hier umgab — in der sie, still und zurückgezogen in ihrem Winkel, mit ihrem Mann und ihren Kindern lebte — ein Gleichnis für die Vermählung des Morgen- und Abendlandes, die sich hier in Moskau vollzog. Denn überall lugte hier, trotz Schnee und Winterkälte, der Orient in die alte Zarenstadt hinein — ja, diese selbst war ein Stück Asien und war eigentlich gar keine Stadt — es war eine ganze Reihe von Städten — jede von der andern durch Bewohner, Sitten und Treiben verschieden — oder eigentlich: es waren auch keine Städte — es waren Dörfer — ungeheure steinerne und hölzerne Dörfer — alle mit hunderten von bunten Kirchen und Kathedralen, von goldenen Kuppeln und grünen Klöstern und weissen Glockentürmen und amerikanischen Wolkenkratzern geschmückt, und diese Dörfer waren durch weite freie Plätze voneinander geschieden, auf denen wieder mächtige Paläste standen, oder sie gingen ineinander über, sie verschmolzen sich zu Vorstädten, Riesenhaufen elender Bretterbuden, in Schmutz und Brandschutt, schon am Rand der Föhrenwälder. Und hinter diesen Baumgruppen zeigten sich neue verschneite Dächer, neuer goldener und weisser Glanz in der trüben Luft, das Qualmen vieler Fabrikschornsteine, und so ging das weiter und weiter und nahm kaum ein Ende. Hiess es doch, dass ein rüstiger Fussgänger zwei Tage brauchte, um um Moskau herumzuwandern. Wenn Marja sich das vorstellte, dann kam sie sich wie in einen riesigen Kerker gebannt vor, der einem allen Spielraum liess und doch kein Entweichen gestattete. Man musste schon, wie ihr Mann, in Moskau geboren und aufgewachsen und halber Russe geworden sein, um sich hier heimisch zu fühlen. Und Iwan Michels betrachtete sich als Russen. Bereits sein Vater war russischer Untertan geworden. Ihm war die Zugehörigkeit zum Zarenreich das ganz Natürliche. Er hatte für die Enge deutscher Verhältnisse, wie er sie ansah — es lebten ihm noch viele Verwandte, meist in dürftiger Lage, im Königreich Sachsen — nur sein stilles, gutmütiges Lächeln.

Jetzt sass er die ganze Zeit stumm, der versprochene Besuch bei Wieprecht drückte ihn, die bevorstehenden kaufmännischen Auseinandersetzungen — alles, was mit den Geschäften zusammenhing. Er schaute, während sie über den roten Platz fuhren, nicht wie sie nach dem Kreml und der bizarren Kathedrale vor ihm, er blickte zur Rechten. Auch da erhoben sich Mauern — neue Türme und Zinnen — und hinter diesen finsteren Bollwerken des Mittelalters, an denen einst die Stürme der Tatarenhorden gebrandet, nur durch enge, menschenwimmelnde Tore mit der Aussenwelt verbunden, lag seine Welt, lag Kitai-Gorod, die „Chinesenstadt“, der Mittelpunkt des ganzen Moskauer Handels und Wandels. Hier war die City für die russischen wie für die deutschen und französischen, die englischen, amerikanischen und dänischen Firmen, für die sibirischen Kaufleute und die Perser und Tataren und Armenier, hier waren die Börse, die Warenlager und Musterräume und Bureaus. Des Nachts starb diese ganze Stadt aus. Dann blieben, ausser den Wächtern, nur noch die Priester und Mönche der vielen Kirchen und Klöster zurück, die sich von altersgrauen Zeiten her mit ihrem Glockenklang und Weihrauchdunst, ihren ewigen Lampen und wundertätigen Bildern friedlich zwischen den blau und rosa getünchten Kaufmannshöfen, den finsteren Stapelhallen und Schreibstuben erhalten hatten.

Und hier, in der Iljinkastrasse, hatte auch Iwan Michels sein noch wenig in Anspruch genommenes Kontor. Das sah er jetzt und sagte, das lange Schweigen brechend, zu seiner Frau: „Es wird jetzt auch Zeit, dass ich mich da ordentlich einrichte!“ und dann blieb er wieder still und seufzte, bis der Schlitten durch die Iberische Pforte glitt. War schon bisher das Kennzeichnende an dem ganzen Strassenleben das unaufhörliche sich Bekreuzigen und mit abgenommener Mütze sich Verbeugen vor unzähligen sichtbaren und unsichtbaren Heiligenbildern, Kirchen und geweihten Stätten gewesen, so sah man jetzt vor der winzig kleinen himmelblauen, mit grossen goldenen Sternen geschmückten Iberischen Kapelle überhaupt kaum mehr einen bedeckten Kopf. Dichte Menschengruppen drängten sich da vor dem heiligsten Heiligtum Moskaus und sanken drinnen vor dem Kerzengeflimmer zu Boden, schwarzgekleidete Nonnen standen almosensammelnd in einer Reihe davor und daneben waren leere wartende Schlitten in Menge aufgefahren, ein leiser bläulicher Wirbel von Wohlgeruch zog aus dem Innern der Kapelle heraus in die Winterluft und um die gebeugten Stirnen der da im Schnee Knieenden, und mit ihm umwob ein eigener Hauch frommer Inbrunst das stillbewegte Strassenbild.

Iwan Michels hatte, wenn er sich auch als Russen betrachtete, doch die Mütze nicht vom Kopf genommen. Er ging alle vierzehn Tage in die evangelische Kirche, wie es sein Vater und Grossvater schon in Moskau getan; darin blieb er fest. Aber er schaute doch aufmerksam nach dem kleinen blauen Gnadenort mit dem kindlichen Sternendach hinüber und sagte dann lebhafter als bisher zu Marja: „Davon hängt’s nun ab, Duscha Maja, an welchem Tage ich werde die Fabrik eröffnen können!“

„Von der Iberischen Mutter Gottes?“

Er nickte. „Von der Iberskaja!“

„Also willst du sie wirklich zur Einweihung bestellen?“

Ihr Mann zündete sich mit geübter Hand trotz der raschen Fahrt eine Papyros an und warf das Streichholz seitlings in den Schnee. „Ich will nicht, Seelchen ... ich muss! Vergiss nicht, dass alle meine Arbeiter rechtgläubige Russen sind — zum Teil aus ganz weltentlegenen Dörfern hergeholt. Die würden es einfach nicht begreifen, dass irgend ein Unternehmen ohne den Beistand der Iberischen Mutter Gottes eingeweiht werden kann. Ich muss dieser Tage gleich Schritte tun und anfragen, zu wann ich die Iberskaja bekomme ...“

„Aber das wird eine Menge Geld kosten!“

„Kanietschno!“ sagte ihr Gatte. „Natürlich! Das geht jetzt schon in einem hin. Was liegt daran, wenn ein ganzes Vermögen auf dem Spiele steht? Mein Schicksal liegt nicht hier, sondern in New York — an der Börse, wo dieser Ascott in seinem Irrsinn die Baumwollpreise weiter und weiter in die Höhe treibt!“

Damit war er wieder beim Geschäft und sprach davon wie ein Mann, den stets dieselbe, nie weichende Sorge drückt. Sie hörte ihm zu. Aber es war nichts neues — immer das alte Lied. Die Worte verklangen ihr im Ohr. Still sass sie da und hielt mit einer Hand den Bibermuff vor den Mund, um sich vor der Kälte zu schützen, und griff zuweilen mechanisch mit der andern nach der Deichsel eines zu nahe herankommenden fremden Schlittens und schob sie zur Seite, wie es alle hier Fahrenden taten. Denn jetzt, wo sie die Twersche Strasse erreicht hatten, war um sie herum alles voll Leben und Getümmel. Schwärme von winzigen, niederen Schlitten schossen schnell wie die Schwalben den steilen Hang der Fahrbahn über den Schnee dahin, der hier hellbraun und ganz locker und trocken war, kreuzten einander, wichen sich aus, überholten sich, alles ohne Streit, ohne Schellenklang und Peitschenknall, nur mit unaufhörlichen halblauten Zurufen: nach rechts! — nach links! — Und ebenso friedlich schoben sich auf den viel zu schmalen Bürgersteigen die Menschen aneinander vorbei, in rastlos neuen, farblosen, einförmigen Wellen, fast ohne Unterschied der Stände und der Kleidung. Es waren immer wieder dieselben, gebückt und langsam unter der Last des Pelzes in schweren Galoschen schreitenden Gestalten, dieselben Männer in Kaftan und hohen Stiefeln, dieselben bärtigen Bauern in umgedrehten Schaffellen und Bastschuhen, dazwischen ein Pope, die Frau am Arm, langhaarig und bebrillt, Generale und Offiziere, auch sie bis zur Unkenntlichkeit in Fellwerk vergraben, tatarische Althändler, den Sack über dem Rücken, Perser, an ihren hohen schwarzen Kegelmützen kenntlich, selten einmal das zottige Weiss einer mächtigen, tscherkessischen Kopfbedeckung und ein blutrotes Faltenspiel unter flatterndem Mantel — und wieder Braun und Grau und Schwarz. Dumpf und gleichmässig spülten die Menschenwogen dahin und riefen doch wieder durch die fast völlige Abwesenheit aller europäischen Modekleidung das Bild des Orients, wenn auch eines lichtlosen, wintertrüben, wach, mit immer denselben bärtigen Gesichtern unter den schwarzen Lammfellmützen.

Und ebenso seltsam, dem Westen fremd, war der Unterschied der Häuser — der stete Wechsel niederer Hütten und vielstöckiger Zinsgebäude, elender Kramläden und glänzender Magazine, stiller Klosterfronten und mächtiger Kron- und Adelspaläste, und auch in diesem Nebeneinander und Durcheinander der verschiedensten Menschenwohnungen zeigte sich wieder das fatalistische Gleichheitsgefühl des nahen Asiens, als dessen äusserster Vorposten auf seiner kleinen, Europa genannten Halbzunge hier das heilige Moskau die meilenweit sich senkenden und hebenden Bodenwellen der russischen Steppe bedeckte. Aber allmählich überwogen doch die dürftigen Bretterhäuschen, die winzigen Warenverschläge auf den immer schmutziger und breiter und öder werdenden Strassen — das eigentliche Moskau nahm hier ein Ende, dies Riesennest, das überall kleinstädtisch war und gleich darauf wieder barbarisch gross, alle Masse Europas überflügelnd und sich doch nie zu einheitlicher Wirkung zusammenfindend, sondern alles da stundenweit verzettelt, dort wieder in die enge Schranke mittelalterlicher Mauern und Türme hineingezwängt, so dass zum Schluss aus all dieser Mannigfaltigkeit, diesem bunten Widerspruch der Dinge, dieser Welt mit ihren Hunderten von Kirchen, ihren sich andächtig überall auf freier Strasse bekreuzigenden bärtigen Menschen, ihrem Glockenklang, ihrer ganzen, geheimnisvoll atmenden russischen Volksseele nur der Eindruck des Grenzenlosen übrig blieb.

Weiss und rot schimmernd, das Sechsgespann der Siegesgöttin auf dem Sims, stand da die Triumphpforte. Hinter ihr leuchtete der Schnee nicht mehr grau wie in der Stadt, sondern blendend weiss. Zwischen Landhäusern und Gärten begann da der Petersburger Heerweg. Kahle Baumkronen ragten in die schon langsam gegen Sonnenuntergang sich grau trübende Luft und zwischen ihnen sah man, der Stadt entronnen, in die Weite: in den weissgrauen Winterhimmel, an dessen Horizont sich violette Schneewolken ballten und ein kalter Silberglanz allmählich mit seinem Dunst von Frost und Nacht die unsichtbare, drüben sich dehnende Ebene Russlands mit ihren Wäldern und Steppen überzog.

„Stoi! Halt an!“ rief Iwan Michels dem Kutscher zu, wickelte sich aus den Decken und stieg schwerfällig aus dem Schlitten. Dabei erwiderte er den Gruss eines vorbeifahrenden baumlangen, in einen kostbaren Biberpelz gehüllten Herrn, dessen glattrasiertes Mephistogesicht mit dem funkelnden Einglas zahlreiche vernarbte Schmisse deutscher Hochschulen aufwies und der, die Zigarette schief zwischen den verwegen lächelnden Lippen, ihm herüberschrie: „Mahlzeit, Iwan Antonowitsch ... ich komm morgen mal bei Ihnen ran!“

„Geht’s nicht heute?“

„Nee ... zu viel zu schuften ... die Neuyorker sind ja rein verrückt ... Liverpool wieder zehn Punkte höher ... jetzt werden sogar hier gewisse Schlafmützen aufgerappelt ... na ... da, swidanje ...“

Er winkte mit der Hand und verschwand und Marja frug: „Wer war denn das nun wieder?“

„Das? Ein gewisser Etzel! Ein Garnmakler!“

„Und mit dem Menschen machst du Geschäfte?“

Ihr Mann lachte. „Na ja ... er ist so ein bisschen ... man weiss ja auch nichts rechtes von ihm ... Er muss lange in Amerika gewesen sein ... er kennt Neuyork genau! Was er vorher in Deutschland getrieben hat und warum er von da weg ist — darüber schweigt er sich aus.“

„Mir wäre der unheimlich!“

„Ja — Seelchen ... ich kann mir die Leute nicht so aussuchen. Dieser Charles T. Etzel ist ein fixer Kerl ... ein Gewaltmensch ... mit allen Hunden gehetzt ... man kommt mit ihm vorwärts ... wot ... das hab ich gern!“

„Mir ist’s lieber, du gehst jetzt zu Wieprecht!“

„Nun — Gott will es!“ sagte Iwan Michels ergeben. Ein Haufen Iswoschtschis war, den vornehmen Mann im Pelz erblickend, mit dem vielstimmigen Geschrei: „Poschaluite, barin! — Belieben Sie, Herr!“ auf ihn zugestürzt. Er suchte einen aus und rief seiner Frau noch einmal ein zärtliches und etwas zorniges: „Auf Wiedersehen, Duschinka!“ zu. Dann fuhr er nach links und sie geradeaus. Und Marja fühlte wieder, nunmehr allein, das angenehme leise Gleiten der Kufen auf dem harten Schnee, das lautlose Vorüberhuschen bereifter Bäume und Sträucher, vereister Vorgärten und halb unter der Wucht der Flocken begrabener Sommervillen, die schweren, kalten Windstösse der freien Ebene, die erlösende Empfindung, endlich einmal Moskau entronnen zu sein, das Auge in die Weite schweifen zu lassen.

Nun lenkte der Kutscher in das Gehölz ein, in die stillen, vielverschlungenen, von mächtigen Baumgruppen überragten Wege des Petrowskiparks. Blau, rosa, weiss getönte Holzhäuser standen verstreut da und dort inmitten der winterlichen Einsamkeit. Nur in einem, vor dem jetzt der Schlitten hielt und schon ein anderer wartend stand, kräuselte sich Rauch aus den Schornsteinen und die Gartenpfade waren sauber gefegt. Äusserlich machte das niedere Holzgebäude mit seinen kleinen Fenstern, seinen Wänden aus langen, in den Fugen mit Moos verstopften Balken einen düsteren, beinahe bäuerlich-hinterwäldlerischen Eindruck. Aber der schwand, sobald man, wie jetzt Marja, das Innere betrat. Da wiesen dicke Perserteppiche über den Parkettböden, schweres Familiensilber auf dem Sims, rotglimmende Kamine, kostbare Ölgemälde und kaukasische Waffen an den Wänden auf breit sich auslebenden russischen Reichtum und liessen es begreiflich erscheinen, dass Iwan Michels’ Mutter sich nach all den Abenteuern und Wechselfällen ihres vielbewegten und liebereichen Lebens weltmüde in diese klösterliche Stille zurückgezogen.

Die alte Salonlöwin lag, als Marja eintrat, fröstelnd in ein Eisbärenfell gehüllt auf dem Sofa. Sie schaute sehr bleich aus und auch ohne das waren ihre zu hart und stark gewordenen Züge unter dem grauen Haar nicht mehr schön zu nennen, wie sie es einst gewesen. Auch ihr Lächeln hatte sich gegen früher geändert. Es war jetzt bösartig — stiller Humor darin — nach dem Sturm und Schiffbruch ihrer drei Ehen. Sie sah jetzt die Dinge ohne Schminke und nannte sie so, unbekümmert, was irgend ein anderer Mensch auf der Welt dazu meinte.

„Ah, vous voilà, ma chèra ...“ sagte sie, eine dicke Papyros rauchend und ohne ihre Lage zu verändern, zu ihrer Schwiegertochter. „Setz dich, Goluptschik! — mein Täubchen! Dank, dass du gekommen bist! Petruscha langweilt mich schon die ganze Zeit. Nun — das tut er ja jeden Tag!“

Der als Hausfreund neben ihr sitzende kleine, peinlich sauber gekleidete Herr mit weissem Haar und Spitzbart, der sich inzwischen erhoben hatte und Marja mit etwas umständlicher, altfränkischer Höflichkeit begrüsste, war ihr Verwandter, Petruscha van Bibber, ursprünglich seiner Abstammung nach ein Holländer, der sein in Russland eingewanderter Vater auch wirklich gewesen. Aber er selbst war in Moskau geboren und aufgewachsen, hatte dort die deutsche Schule besucht und verstand kein Wort mehr von der Sprache des Landes, dessen Staatsangehöriger er immer noch war und das er zärtlich liebte und doch nie mit Augen gesehen hatte. Denn er hatte sich nie entschliessen können, sein Geschäft, die grosse Baumwollagentur, auch nur auf ein paar Wochen einem anderen anzuvertrauen. Seit man ihn kannte, stand er auf dem Punkte, in nächster Zeit nach den Niederlanden zu reisen und sich dort ein Häuschen am Meer zu kaufen und alle Baumwollsorgen aus dem Kopf zu schlagen. Er kam aber nie dazu, und inzwischen wusste der alte holländische Junggeselle eigentlich selbst nicht, wohin er in Moskau gehörte, ob zu den Deutschen oder zu den Russen.

„Asseyez-vous, mon enfant!“ wiederholte die Frau des Hauses, und schaute Marja, während sie Platz nahm, aufmerksam an. „Wie geht’s daheim? .. die Kinder wohl? Was macht Iwan?“

„Er wollte heute mitkommen. Aber ich dachte ...“

„Nein. Heute haben wir miteinander zu reden!“ sagte die alte Weltdame energisch und brachte eine neue Zigarette, die sie sich aus einem silbernen Tuladöschen gedreht, zwischen die Lippen. Sie hatte sich jetzt, nachdem sie wie gewöhnlich anfangs zwischen mehreren Sprachen geschwankt, entschlossen, deutsch zu reden, in der Erinnerung, dass ihre Schwiegertochter ja eine Reichsdeutsche sei. Für sie selbst, die geborene Russin, die von einem deutschen Gatten, Iwans Vater, geschieden war und dann zwei andere Männer, einen Franzosen und einen Dänen, begraben hatte, war der Begriff der Nationalität im Lauf der Zeit ebenso fragwürdig und unbestimmt geworden, wie bei Petruscha van Bibber.

„Nein,“ wiederholte sie, „deswegen hab ich dich ja hinaus in die Wüste gebeten — zu einer unnützen alten Frau und zu dem Onkel Petruscha, den du wahrscheinlich ja ebensowenig ausstehen kannst wie ich ...“

Der alte Herr erwiderte nichts, sondern warf nur Marja einen leidenden und entschuldigenden Blick zu, der etwa hiess: „Du weisst ja, wie sie ist. Sie nimmt nichts ernst, was sie sagt, wir kennen sie ja ...“ Madame Mascha Westrup hatte inzwischen heftig geraucht und versetzte jetzt tiefsinnig: „Ach ja — meine Liebe! Ich bin krank ... sehr krank ... die Ärzte morden mich ... zollweise ... nun, das ist ihr Handwerk ... Gott schuf sie ... zum Glück tu’ ich nicht, was sie wollen ...“

Sie goss ihrem Gast Tee ein und sagte dabei ganz geschäftsmässig: „Wenn ich tot bin, müsst ihr mich vom Strastnoy Monastir, vom Leidenskloster in der Twerskaja aus, begraben. Seit zehn Jahren bitte ich darum. Aber ihr werdet’s ja doch nicht tun. Ihr ärgert euch zu sehr, dass ihr nichts erbt. Mein Geld reicht gerade noch so weit wie ich ...“

Seit sie die Fünfzig überschritten — seit einem guten Jahrzehnt, sprach sie mit Vorliebe von ihrem demnächstigen Ende und war auch wirklich krank und wusste es und die anderen wussten es auch und sahen nur noch um Mund und Augen des gealterten Weltkindes durch die scharfe und spöttische Leidensmaske hindurch die Spuren einstiger Schönheit. Aber jetzt lächelte sie schadenfroh über die langen Gesichter ihrer Erben, und frug den Onkel Petruscha, der, obwohl er keine Familie hatte, doch für sehr geizig und für sehr geldgierig galt: „Warum schauen Sie mich denn so kläglich an?“

„Ich mag nicht, dass man immer vom Sterben spricht!“ versetzte der kleine Holländer verdriesslich, und diesmal lachte sie herzlich. „Was hilft’s? Wir müssen alle ’mal weg ... wir beide sogar recht bald ... und ein anderer wird Ihre blauen Baumwollpaketchen sortieren und es wird sein, als hätten sich der Mynheer van Bibber und die Mascha Nicolajewna Westrup niemals in ihrem Leben geliebt — es ist ja auch ganz gleich ... es wird allmählich langweilig ... meine Bekannten sind teils tot, teils sind es Dummköpfe ... und das einzige ist nur,“ sie wandte sich an ihre Schwiegertochter und während sie die Zigarette weglegte, wurde sie ernst: „Ich hab’ doch nur den einen Sohn — deinen Mann. Wir haben uns ja nie so recht verstanden — er und ich ... er ist ganz auf die andere Seite geschlagen, nach dem Vater, von dem ich mich ja nach wenigen Jahren wieder hab’ trennen müssen — und ich bin eben Russin geblieben — wenn auch ein wenig Deutsch und Französisch und Dänisch auf mich abgefärbt ist — durch die Ehe. Lieber Gott — man ist nicht umsonst von einem Mann geschieden und hat zwei andere begraben. Der Iwan aber ... der ist dir vielleicht zu russisch — mir zu deutsch. Wir haben uns ja auch so wenig im Leben gesehen. Früher eigentlich fast gar nicht. Jetzt nur selten. Aber ich will nicht klagen. Es ist ja meine Schuld. Wenn er kommt, ist er immer respektvoll und küsst mir die Hand und erzählt mir das halbe Stündchen, das er schon anstandshalber da sitzen bleibt, allerhand Nettes von euch und von seinen Baumwollgeschäften ...“

Sie wurde plötzlich lebhaft und richtete sich halb auf. „Ja — aber nun, erbarmt euch — was ist das nun für eine Geschichte mit seiner neuen Fabrik ...? Alle schütteln darüber den Kopf und zucken die Achseln: Das Unternehmen sei für ihn zu gross. Und wie ich ihm das neulich einmal gesagt hab’, hat er mir das übelgenommen, und ist seitdem nicht mehr gekommen — und weiss doch, dass ich krank bin — dass drei Ärzte mich vergiften ... der Weihrauch ist vielleicht schon im Kessel, den die Popen bei meinem Begräbnis verbrennen werden — und das einzige, was mich jetzt auf der Welt noch manchmal beunruhigt, das ist doch nur der Gedanke an ihn. Er ist ja nun einmal mein einziger Sohn ...“

„Ja — ich verstehe von seinen Geschäften so wenig!“ sagte Marja bedrückt. Onkel Petruscha aber räusperte sich und begann mit grosser Bestimmtheit, — denn das war sein Fach:

„Ich hab’s Ihnen schon oft auseinandergesetzt, Mascha! Aber Sie hören ja nie ordentlich einem Menschen bis zu Ende zu. Die Sache ist die: Was Iwan von seinem Vater geerbt hat, das hat er in die Manufaktur hineingesteckt — und noch bedeutend mehr ... an Schulden ... denn unter einer halben Million kann man heutzutage eine Spinnerei in Moskau nicht einrichten — das alles muss nun herausgewirtschaftet werden. Vor anderthalb Jahren hat er mich gefragt, ob ich ihm das Geld vorstrecken wolle. Ich hab’ ihm geantwortet: Vorstrecken nicht — aber ich bin bereit, mich damit an der Firma zu beteiligen. Ich übernehme die kaufmännische Leitung, du die technische Aufsicht in der Fabrik. — Das schlug er rundweg ab. Er sei lange genug von seinem Vater gegängelt worden. Er wolle nicht schon wieder einen Vormund über sich haben! Nun — dabei blieb’s und wenn wir uns seitdem sehen, dann schütteln wir uns die Hand und reden vom Wetter — aber nicht mehr von Geschäften ...“

„Aber einen Rat könnte man ihm doch geben!“

„Erstens hat er keinen verlangt ...“ Der grämliche, kleine Baumwollagent hüstelte dabei trocken, mit einer leichten Empfindlichkeit über diese unverdiente Nichtachtung. War doch seine Warenkenntnis in der ganzen Branche berühmt. „Und zweitens würde es nichts helfen. Es gibt Leute, die nur durch Schaden klug werden. Zu denen wird er, wenn mich nicht alles täuscht, auch gehören. Die Geschichte wächst ihm über den Kopf — in einer Zeit wie jetzt ... wo wir alten, ausgepichten Kaufleute an der Börse kaum mehr aus und ein wissen ...“

Und nach einer Weile fügte er seufzend hinzu: „Ich warte auch nur noch, bis diese Krisis vorüber ist. Dann ziehe ich mich endgültig zurück — nach Hause — nach den Niederlanden. Ich fürchte nur, in Scheveningen wird es mir auf die Dauer zu windig sein. Ich schwanke jetzt zwischen Delft und Utrecht.“

Dies holländische Projekt kannte man. Darauf antwortete niemand mehr. Es trat ein kurzes Schweigen ein. Mascha Westrup lag auf dem Sofa und rauchte und schüttelte leise, wie eine Fliege abwehrend, den Kopf über die Grillen des Alten und seine finanziellen Sorgen. Sie persönlich war in Geldsachen stets der Leichtsinn selbst gewesen und hatte das Vermögen zweier Männer — des Franzosen und des Dänen — durchgebracht, ohne sich darüber ein graues Haar wachsen zu lassen. Der Silberglanz auf ihrem Scheitel, der kam von anderen Dingen — vom Gram darüber, dass sie ihr Leben nicht noch einmal von vorn anfangen konnte, wie sie es so gerne genau ebenso noch einmal getan hätte.

„Nun — mit Gott, Petruscha!“ sagte sie unvermittelt und hielt dem alten holländischen Deutschrussen, der noch gar keine Anstalten zum Aufbruch gemacht hatte, die Hand zum Lebewohl hin. Daraufhin erhob sich Petruscha van Bibber und verabschiedete sich in umständlicher Weise — die Höflichkeit und Behutsamkeit selbst. Er war nicht böse auf Madame Westrup, dass sie ihn wegschickte. Das hatte sie den Menschen ihrer Umgebung allmählich abgewöhnt. Draussen auf dem Flur dauerte es noch eine geraume Zeit, bis er mit Hilfe der Hausmädchen in all seinem Pelzwerk, Schals und hohen Filzstiefeln verpackt war. Dann hörte man vor dem Fenster, wie er den Kutscher ermahnte, nicht wieder so unvernünftig