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Romana wächst als Kind bei Pflegeeltern fernab der Heimat auf, welche das Mädchen so gut wie möglich von der Außenwelt abschirmen. Warum genau? Das weiß Romana nicht. Nur, dass sie sich fortwährend in großer Gefahr befindet. Als junge Frau lernt Romana Gunter Valberg kennen und die beiden verlieben sich ineinander. Jedoch droht ihre dunkle Vergangenheit alles zu zerstören ... -
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Seitenzahl: 379
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Hedwig Courths-Mahler
Saga
Du bist meine Heimat
Coverimage/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1929, 2022 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726950496
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
www.sagaegmont.com
Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.
Vom Meer herüber kam eine frische Brise und fegte das Dünengras auf und nieder. Es sah aus, als wenn grüngelbe Wogen die Hänge überfluteten und dem zerzausten Kiefernwald zuflössen. Die ganze Nacht hatte es gestürmt, nun war der Wind abgeflaut und trieb nur noch sein Spiel mit all den Dingen, die er zuvor so wütend geschüttelt hatte. Er lockerte den feinen Dünensand und blies ihn davon, um dann, als sei er des Spiels müde, wieder in sich zusammenzusinken.
Noch einmal erhob er sich, um spielerisch über die schlanke Frauengestalt herzufallen, die soeben aus dem Wald trat und auf die Düne emporkletterte. So recht übermütig faßte er ihre Kleider und trieb sie so fest um die schlanke Gestalt, daß sich die jugendschönen Formen zart abzeichneten. Er schien großen Gefallen an diesem übermütigen Spiel zu finden, denn immer wieder erhob er sich, und die junge Dame mußte sich lachend des Ungestümen erwehren und konnte kaum vorwärtskommen. Aber das lustige Spiel schien ihr ebensoviel Spaß zu machen. Tapfer hielt sie stand und kletterte bis auf den Kamm der Düne empor. Hier blieb sie aufatmend stehen, strich sich das Haar aus der Stirn und ließ den Blick weit über das noch aufgewühlte Meer gleiten. Der Wind schien nun keine Lust mehr zu haben, alles durcheinanderzuwirbeln, er flaute ganz plötzlich ab und spielte nur noch ein wenig mit dem hellblonden Haar, das in der Sonne flimmerte wie gesponnenes Gold.
Die junge Dame sah wie traumverloren ins Weite. Endlich wandte sie den Blick hinüber zum Badeort, der etwa eine Wegstunde entfernt am Strande lag. Auch dort hatte der Sturm allerlei angerichtet, die Strandkörbe lagen umgeweht, und das Wasser war fast bis an die Laufbretter herangetrieben worden. Die Fischer waren gerade dabei, ihre Segelboote wieder flottzumachen, denn es gab genug unternehmungslustige Badegäste, die sich gern ein wenig auf den aufgewühlten Wellen schaukeln lassen wollten.
Sehnsüchtig flogen die Blicke der jungen Dame zum vielbesuchten Seebad hinüber. Hier an der Hornklippe, über die hinaus man ihr nicht erlaubte zu gehen, war es still und menschenleer. Selten verirrte sich einer der Badegäste von Swinemünde bis hierher und noch seltener zum Dorf, das eine Viertelstunde weit landeinwärts lag und von der Hornklippe seinen Namen erhalten hatte.
Es war ein armseliges Fischerdorf mit niederen strohgedeckten Katen. Etwas abseits, dem Walde zu, standen einige kleine Sommerhäuser. Ihre Besitzer waren meist alte Leute, die nichts mehr vom Leben verlangten als ihr Gärtchen und ein paar Hühner.
Zu einem richtigen Badeort konnte sich Hornklippe zum Leidwesen der Eingesessenen nie auswachsen, denn vorn am Meer lag die felsig vorspringende Klippe, und um sie her war nur schmaler, steiniger Strand. So hatten sich die Bewohner von Hornklippe damit abgefunden, für die Badegäste von Swinemünde Fische zu fangen und zu räuchern, um auf diese Weise an dem goldenen Segen, den die Fremden an den Ostseestrand bringen, teilzuhaben. Auch lieferten sie Eier und Gemüse, Milch und Butter, denn fast jeder Fischer hatte noch eine tüchtige Frau, die eine kleine Landwirtschaft betrieb. Dies alles wußte Romana Harland, die nun schon seit Jahren in diesem Nest lebte. Sie wohnte in dem größten der kleinen weißen Sommerhäuschen, die aber auch im Winter bewohnt waren. Es gehörte dem pensionierten Geheimrat Dürkopp.
Wie oft stand Romana hier oben auf der Düne und sah sehnsüchtig und traurig hinüber zum belebten Badestrand von Swinemünde, wo jeden Sommer Tausende von Menschen Erholung suchten. Oft nahm sie ein Fernglas mit, so daß sie ganz deutlich das Leben und Treiben da drüben beobachten konnte. Aber das steigerte nur die Sehnsucht, auch einmal zwischen all den frohen Menschen sein zu dürfen.
Es war ihr jedoch strikt untersagt, nach Swinemünde zu gehen, solange sich dort Badegäste aufhielten. Ganz still und zurückgezogen mußte sie den ganzen Sommer mit ihren Pflegeeltern, Herrn und Frau Dürkopp, in dem Haus am Waldrand leben, und erst, wenn alle Gäste abgereist waren, durfte sie wieder frei und ungehemmt umherstreifen und auch zuweilen nach Swinemünde hinübergehen.
Mit den Töchtern der Pensionsinhaber und ihren Brüdern, soweit diese zu Haus waren, durfte sie im Herbst und Winter an einigen Geselligkeiten teilnehmen, aber daran fand sie wenig Gefallen. Diese jungen Leute hatten ihr viel zu einseitige Interessen, als daß sie sich gut mit ihnen hätte unterhalten können. Und doch mußte sie froh sein, daß sie wenigstens mit ihnen in die, wenn auch bescheidene, Gesellschaft kam. So einfach diese winterlichen Feste auch waren, ließ sie doch keines aus, nur um wieder einmal tanzen und lachen zu können.
Sobald aber dann die ersten Fremden in Swinemünde auftauchten, mußte Romana wieder in ihre Einsamkeit zurück.
Warum sie das nicht durfte? Sie wußte es nicht – wußte nur, daß ein Geheimnis über ihrem Leben stand und daß irgendeine große Gefahr ihr drohte, wenn sie nicht dem strengen Gebot ihrer sonst sehr liebevollen Pflegeeltern folgte und sich von allem Verkehr mit Fremden zurückhielt. Sie wußte auch, daß ihr Vater, der von seiner letzten großen Reise nach Rußland nicht wiedergekehrt war, vor seiner Abreise alles so bestimmt hatte. Und die Liebe zu diesem ihr so früh entrissenen Vater, den sie angebetet hatte und den sie schon verlor, als sie kaum fünfzehn Jahre zählte, hatte ihr immer wieder geholfen, sich in alles zu fügen, was man von ihr verlangte.
Der Vater hatte sie damals nicht selbst zu ihren Pflegeeltern gebracht, sondern sein Freund und Sachverwalter, Justizrat Harland. Nie hatte sich der Vater mit ihr in der Öffentlichkeit gezeigt. Nur heimlich hatte er sie zuweilen besucht, als sie noch in einer Pension in Genf untergebracht war. Meist kam er da am späten Abend und blieb immer nur wenige Stunden; aber in diesen kurzen Stunden schüttete er allen Liebesreichtum seines Herzens über seine Tochter aus. Sie hingen beide mit einer fast schmerzhaften Innigkeit aneinander, und nach jedem Wiedersehen wurde ihnen der Abschied schwerer. Daß der Vater aus irgendeinem Grunde nicht bei ihr bleiben konnte, wußte Romana. Er hatte ihr gesagt, daß er von schweren Gefahren bedroht sei und daß ihr auch Gefahren drohten, wenn man sie an seiner Seite sehen oder nur in Erfahrung bringen würde, wo sie sich aufhalte. Und deshalb müsse sie immer streng befolgen, was er oder die wenigen Menschen, denen er sein Vertrauen schenken könnte, über sie beschließen würden.
Und er hatte sich das Zusammensein mit ihr immer nur unter vielen Vorsichtsmaßregeln gegönnt. Nach wochenlangen Pausen kam er in das kleine Genfer Pensionat, dessen Besitzerin ihm treu ergeben war, und labte sein vereinsamtes Herz an dem Anblick seines Kindes.
Und als Romana fünfzehn Jahre alt geworden war, hatte sie der Vater wieder einmal besucht und ihr gesagt, daß er sie jetzt lange Zeit nicht würde sehen können, daß aber sein Freund, Justizrat Harland, in den nächsten Tagen kommen werde, um Romana abzuholen. Er werde sie zu guten, treuen Menschen bringen, die sie liebevoll aufnehmen würden und bei denen sie bleiben solle, bis er sie eines Tages abholen oder andere Weisung geben werde. Es würde nur zu ihrem besten geschehen, wenn es ihr auch zuweilen unverständlich oder lästig scheinen sollte.
An jenem Abend hatte der Vater sich gar nicht losreißen können von seiner Tochter, und sein alter Diener Wladimir hatte dringlich werden müssen, damit sein Herr endlich aufbrach. Vielleicht hatte dieser geahnt, daß er sein heißgeliebtes Kind zum letztenmal in die Arme schloß, daß er es nie wiedersehen würde. Das Scheiden von Vater und Tochter war an jenem Abend besonders qualvoll und schmerzlich gewesen. Immer wieder hatte der Vater Romana an sich gerissen, und in seinen Augen hatten Tränen gefunkelt.
Wenn Romana später an diese Abschiedsstunde dachte, dann sah sie im Geiste immer das schmale, leiddurchfurchte Gesicht des Vaters vor sich. Jeder Zug darin hatte sich ihr eingeprägt für immer. Und auch heute, nachdem schon fast acht Jahre vergangen waren, empfand Romana noch immer dieses sehnsüchtig schmerzliche Bangen für ihren toten Vater.
Wie er gestorben war, hatte man ihr nicht gesagt. Justizrat Harland, der sie einige Tage später in Genf abgeholt hatte, war mit ihr unmittelbar nach Hornklippe gefahren und hatte sie im Haus des Geheimrats Dürkopp untergebracht. Und schon kurze Zeit danach war er wiedergekommen und hatte ihr schonungsvoll mitgeteilt, daß ihr Vater auf einer Reise nach Rußland verunglückt und nicht mehr am Leben sei. Der alte Wladimir habe ihm die Kunde von seinem Tod gebracht, und ihr Vater habe diesem noch aufgetragen, seine geliebte Tochter ein letztes Mal zu grüßen und sie zu bitten, immer genau nach den Weisungen ihres Vormundes zu handeln. Justizrat Harland war Romanas Vormund geworden.
Romanas Schmerz über den Verlust ihres Vaters war unbeschreiblich groß und tief gewesen. Sie wußte, fühlte, daß mit ihrem Vater der letzte Mensch aus ihrem Leben schied, der zu ihr gehörte und der sie so liebte, wie es ihr liebesbedürftiges Herz ersehnte. An ihre Mutter konnte sich Romana nur noch ganz wenig erinnern. Zuweilen, wenn im Halbschlaf ein Erinnern über sie kam, sah sie eine stolze schöne Frau in glänzenden Gewändern, die sich liebevoll zärtlich über ihr Bettchen beugte und sie »meine süße kleine Romana« nannte. Noch hörte sie in der Erinnerung die liebe weiche Stimme dieser schönen Frau, von der man ihr eines Tages gesagt hatte, sie sei in den Himmel gegangen, zu dem kleinen Brüderchen, das der liebe Gott wieder zu sich genommen habe und das nicht allein sein sollte. So machte sie sich in ihrem kindlichen Verstand damals klar, daß Mütterchen bei dem Brüderchen und Väterchen bei ihr geblieben sei, damit auch sie nicht allein bleiben sollte.
Später einmal, kurz vor ihrem letzten Zusammensein mit dem Vater, hatte dieser zu ihr gesagt, die Mutter sei Romana durch böse, schlechte Menschen genommen worden, und wenn sie einmal groß und verständig sein werde, werde sie alles erfahren.
Und auch ihr Vormund, der Justizrat, sagte ihr immer, wenn sie ihn zuweilen nach diesem und jenem fragte, was ihr unklar erschien und sie quälte: »An deinem fünfundzwanzigsten Geburtstag sollst du alles erfahren, was man dir jetzt aus Fürsorge verschweigen muß. Und solltest du früher heiraten, dann wirst du es schon am Tag deiner Hochzeit wissen. So hat es dein lieber, unvergessener Vater bestimmt.«
Es war auch der Wunsch ihres Vaters gewesen, daß Romana den Namen seines Freundes annahm. Justizrat Harland war Junggeselle und hatte Romana liebgewonnen wie ein eigenes Kind. Gern hatte er ihr seinen Namen vor der Öffentlichkeit gegeben, und da sie ihn »Onkel Justizrat« nannte, glaubten die Leute, Romana sei die Tochter eines Bruders von ihm. Romana wußte freilich, daß ihr Vater ein Graf Soblikoff gewesen war, aber sie verriet es niemand. Ihr Vater war russischer Aristokrat, ihre Mutter Deutsche gewesen, die der Vater unaussprechlich geliebt hatte und deren frühen Tod er nie hatte verwinden können.
Es machte Romana gar nichts aus, daß sie den Titel einer Gräfin nicht führen konnte, sie legte keinen Wert darauf.
Mit brennendem Interesse verfolgte sie freilich in den Zeitungen alles, was mit Rußland zusammenhing. Aber es war ihr dabei nie, als sei Rußland ihre Heimat, da sie schon seit ihrer Kindheit von Rußland entfernt war.
Ihr Vormund hatte nun auch nach dem Tod ihres Vaters bestimmt, daß sie in dem stillen Fischerdorf bleiben sollte, und so weilte Romana nun schon seit Jahren in dieser abgeschiedenen Einsamkeit im Hause des Geheimrats Dürkopp. Dieser hatte sich die kleine weiße Villa, die allerdings die ansehnlichste und besteingerichtete in Hornklippe war, schon in Friedenszeiten bauen lassen und damals geglaubt, sie sei nur für den Sommeraufenthalt bestimmt. Aber dann war er »abgebaut« worden, hatte auch noch in der Inflation sein Vermögen verloren und war nun froh, daß ihm das kleine Haus geblieben war, in dem er mit seiner Frau seine alten Tage verleben konnte.
Die beiden alten Herrschaften hatten Romana herzlich aufgenommen, als sie von ihrem Vormund, einem Freund des Geheimrats, gebracht worden war, und jetzt, nachdem sie jahrelang ihr Leben teilte, war sie ihnen lieb und teuer geworden. Alles drehte sich um das Pflegetöchterchen. Romana nannte die beiden alten Herrschaften »Papa« und »Mama Dürkopp« und hatte sie ebenfalls in ihr Herz geschlossen. War sie doch froh, wenn sie von dem Liebesreichtum ihres Herzens ein wenig austeilen konnte. Sie fügte sich immer vertrauensvoll ihren Anordnungen, wenn es ihr auch manchmal schwerfiel, sich immer von allem zurückzuhalten, was jungen Menschen Freude macht.
Im ganzen Dorf war Romana wohlbekannt. Man nannte sie »Fräulein Harland« und ahnte nicht, daß dieses lichtblonde, sanfte Wesen eine russische Grafentochter war. Auch die jungen Mädchen, mit denen Romana im Winter verkehren durfte, wußten nicht anders, als daß sie Harland hieß.
Romana hatte eine erstklassige Erziehung genossen, sie beherrschte mehrere Sprachen und musizierte viel. In der Pension hatte sie Malunterricht von einem hervorragenden Lehrer bekommen, da man bei dem Reichtum ihres Vaters mit ihren Erziehungskosten durchaus nicht zu sparen brauchte, und sie vertrieb sich nun manche Stunde mit ihren Malereien, die ein schönes Talent verrieten. Mit dem Geheimrat trieb sie wissenschaftliche Studien, plauderte mit ihm englisch und italienisch und mit seiner Gattin französisch. Mit den Kindern auf dem Dorfe aber »snakte« sie plattdeutsch, als sei sie hier geboren.
Geldsorgen kannte Romana nicht. Sie war sehr schlicht und anspruchslos, obwohl sie wußte, daß sie sich alle Wünsche, die mit Geld zu bezahlen waren, erfüllen konnte. Wenn der Vormund sie immer wieder danach fragte, ob er ihr keinen Wunsch erfüllen könne, dann sagte sie ruhig: »Ich habe alles, was ich brauche.«
Aber später kam sie ihm dann zuweilen mit Anliegen. Da war einmal im Dorf eine Frau, die ihren Mann verloren und für sich und die Kinder keinen Unterhalt hatte. Der kaufte sie eine kleine Kate, wo sie sich durch fleißige Arbeit vorwärtsbringen konnte, und kleidete die Kinder zum Weihnachtsfest neu ein. Das sprach sich natürlich herum, und bald kamen alle zu Romana, die irgendwie von Geldsorgen geplagt waren, und es machte ihr Freude, helfen zu können. So war sie sehr beliebt in Hornklippe, und besonders die Kinder hingen an ihr.
Die einzige Abwechslung im Sommer war der Besuch von Onkel Justizrat. Er verbrachte immer einige Wochen bei ihnen. Für ihn war stets ein freundliches Gaststübchen bereit. Dann unterhielt und stritt sich Romana eifrig über allerlei ernste und gewichtige Tagesfragen mit den beiden alten Herrn. Aber das war natürlich kein vollwertiger Ersatz für Jugendfreuden und Geselligkeit.
Trotzdem freute sich Romana stets sehr auf den Besuch ihres Vormunds, denn mit ihm konnte sie immer wieder über ihren Vater sprechen.
In den letzten Jahren war es zuweilen dem Justizrat angst und bange geworden bei dem Gedanken, daß Romana doch nun in dem Alter sei, wo man ihr Gelegenheit geben müßte, mit jungen Männern zusammenzutreffen. Sie mußte doch Bekanntschaften machen, die es ihr ermöglichten, einen Lebensgefährten zu finden! Hier in Hornklippe war es ganz ausgeschlossen, daß sie mit geeigneten jungen Herren zusammentraf. Aber er hatte von seinem verstorbenen Freund, Romanas Vater, mit dem zusammen er die Universität besucht hatte, strenge Weisung bekommen, Romana soviel wie möglich im Verborgenen zu halten. Er wußte auch sehr wohl, warum sein Freund das so angeordnet hatte und warum es nötig war. Aber daran, daß Romana eines Tages heiraten würde, hatte ihr Vater auch gedacht, hatte damit gerechnet und deshalb zu dem Justizrat gesagt: »Hoffentlich findet sie eines Tages einen Gatten, der ein ganzer Mann ist und sie gegen alles Ungemach schützen kann.«
Justizrat Harland überlegte nun schon lange, wie er es bewerkstelligen konnte, daß Romana in sicherer Hut blieb und doch Bekanntschaften machen konnte, die notwendig waren. Endlich kam ein Zufall zu Hilfe. Ein Freund von ihm, Professor Peter Marks, ein bekannter Kunsthistoriker, war vor einigen Jahren mit seiner Gattin nach Venedig gegangen, um dort Kunststudien zu betreiben. Kürzlich hatte nun der Professor an den Justizrat geschrieben, daß er sich mehr und mehr von seinen Studien gefangennehmen lasse und daß er seine kinderlose Gattin bedauere, weil sie dadurch ein wenig einsam sei.
»Du weißt, meine Annelie ist eine betriebsame Frohnatur und muß Geselligkeit und Umgang haben. Ich kann aber noch lange nicht von Venedig fort. Meine Frau aber fortzuschicken, um allein hierzubleiben, ist ausgeschlossen. Sie würde sich die größten Sorgen machen, was ich in meiner Zerstreutheit wohl für Dummheiten mache, und, offen gesagt, ich glaube, diese Sorge ist nicht unberechtigt! Und – ich kann es ohne meine Annelie auch nicht aushalten, obwohl ihr geringes Kunstverständnis mich oft aus der Fassung bringt, wenn ich ihr etwas erklären will. Aber es ist ganz gut so, daß sie nicht auch noch über dem Kunsteifer ihre praktische Lebensklugheit und ihren frischen Lebensmut verliert.
Sie müßte hier eine junge Gesellschafterin haben. Aber um eine solche Dame anzustellen, für die ich hier immerhin eine ganz beträchtliche Pension zahlen müßte, ganz abgesehen von Gehalt und Reisekosten, reichen meine Einkünfte nicht. So muß ich wohl diesen Plan fallenlassen.«
Als der Justizrat das gelesen, war ihm ein Gedanke gekommen. Nach reiflichem Überlegen hatte er dem Professor auf diese Angelegenheit geantwortet:
»Ich wüßte eine Gesellschafterin für Deine Frau, für die Du keinen Pfennig bezahlen müßtest. Es ist mein Mündel, eine junge Dame von liebenswürdigen Eigenschaften, für die ich gern einen geselligen Anschluß hätte und die ich gern auf einige Zeit in Eure Obhut geben möchte.«
Es waren noch einige Briefe hin und her gewechselt worden, und nun stand es bei Justizrat Harland fest, daß er Romana nach Venedig bringen würde. Sie wußte jedoch nichts davon. Er wollte es ihr selber sagen oder doch nur kurz vor seinem Kommen mitteilen.
Hätte Romana geahnt, was ihr bevorstand, dann hätte sie wohl nicht so traurig auf das lustige Strandleben geblickt, das sich nun drüben in Swinemünde, da sich der Sturm gelegt hatte, wieder entwickelte. Ihre Augen rissen sich endlich los, und sie wandte sich um und schritt langsam, in Gedanken verloren, die Dünen hinunter, dem Wald zu.
Mit großen ernsten Augen vor sich hin sehend, durchschritt sie den Wald, in dem sie jeden Baum kannte, und langte bald im Fischerdorf an. Vor einer der ersten Fischerhütten spielten die Kinder mit einem Gummiball. Lächelnd blieb Romana stehen und sah dem Spiel zu. Als ein kleiner Blondkopf den Ball lachend zu ihr hinüberwarf, fing sie ihn auf und sagte, während sie ihn betrachtete: »Oh, was habt ihr für einen schmutzigen Ball – der ist sehr garstig. Da muß ich doch Fiken Töls gleich sagen, daß sie einen neuen mit aus Swinemünde herüberbringt, wenn sie nachher ihre Räucherfische hinüberträgt.«
Die Kinder jubelten auf.
»Ick wull och een lütten Ball hebben, Frölen Harland!«
»Ick hev och all keen«
Und diesen beiden Kühnen folgten die anderen schnell mit ihren Wünschen. Die Kinder wußten schon, daß »Frölen Harland« immer etwas zu verschenken hatte. Romana zählte lachend die erhobenen Hände. Sechs Kinder bettelten um einen Gummiball. Romana nickte lachend.
»Is god. Ji süllt een nigen Ball hebben«, sagte sie in Hornklipper Mundart.
Und sie ging gleich zu Fiken Töls, um ihr den Auftrag zu erteilen. Die ganze kleine Schar begleitete sie, damit sie ja nicht einen vergaß. Fiken Töls war eine Fischerfrau, die jeden Tag frische Räucherwaren nach Swinemünde hinüberbrachte.
Sie versprach lachend, die sechs Gummibälle mitzubringen, und Romana schärfte ihr ein, möglichst gleich große und bunte Bälle zu kaufen, denn sie kannte ihre Pappenheimer. Kam einer zu kurz, dann gab es Rauferei. Sie gab Fiken Töls Geld und setzte dann ihren Weg fort. Die Kinder begleiteten sie nun nicht weiter, sondern setzten vorläufig ihr Spiel mit dem alten Ball fort. Nun, da die Bestellung der Bälle geschehen war, hielten sie es nicht mehr für nötig, Romana weiter zu folgen.
Überall im Dorf nickten Romana freundliche Gesichter zu. Und hier und da blieb eine der von harter Arbeit gebeugten Gestalten stehen und sah wohlgefällig hinter der graziösen, weißgekleideten Frauengestalt her. Romana wirkte natürlich wie ein Wesen anderer Art zwischen diesem schlichten Fischervolk, aber immerhin waren die Hornklipper alle schon im Sommer drüben in Swinemünde gewesen und an elegante Erscheinungen unter den Badegästen gewöhnt.
Für sie war Romana eben nichts anderes als so ein Badegast. Und da die Badegäste auch ins Dorf guten Verdienst brachten, sah man sie mit wohlgefälligen Augen an. Es war den Hornklipper Einwohnern ein fortwährender Stachel, daß ihr Strand sich nicht für den Badebetrieb eignete, weil eben die wie ein Horn gebogene Klippe sich im Wasser vorlagerte und das Meer gerade hier alle Steine anspülte, die es loswerden wollte. Und da Geheimrats mit ihrem jungen Gast und die wenigen anderen aus der Stadt stammenden Ansiedler für Hornklippe gewissermaßen die Badegäste ersetzen mußten, standen sie schon deshalb in großem Ansehen. Und nun gar Romana, die so oft helfend in die armseligen Verhältnisse der Fischer eingriff, war für sie alle das Mädchen aus der Fremde, das für jeden etwas mitbrachte.
Romana hatte die kleine Villenstraße am Waldrand erreicht und schritt auf Dürkopps Haus zu. Ein sorgfältig gepflegter Obst- und Gemüsegarten umgab das schlichte, schmucke Haus, das wie die anderen einen weißen Anstrich hatte, der in der reinen, klaren Luft keinen Schmutz ansetzte. Den Garten pflegte der Hausherr zusammen mit seinem alten Diener, der mit in das stille Dorf gezogen war, um sich nicht von seiner Herrschaft trennen zu müssen. Bei der gemeinsamen Gartenarbeit pflegten sich die Standesunterschiede zwischen den beiden Männern vollständig zu verwischen, ja, es kam vor, daß der auf dem Land großgewordene Diener seinem Herrn Vorwürfe machte, wenn sich dieser ungeschickt anstellte. Mit heiligem Eifer waren sie beide bei ihrem Werk, und der Diener betrachtete Villa Elisabeth und alles, was dazu gehörte, gewissermaßen auch als sein Eigentum.
Zwischen diesen beiden Männern gab es keine sozialen Fragen zu lösen, sie hatten das auf die einfachste Weise selbst getan, indem jeder für das Gedeihen des kleinen Grundstückes, das ihnen ein friedliches Alter sicherte, sein Bestes tat.
Beide freuten sich über jeden Apfel, den sie ernteten, und über jede Blume.
Außer dem alten Angestellten gab es nur noch ein ganz junges Dienstmädchen in der Villa Elisabeth. Frau Dürkopp tat ebenfalls das ihre, um die soziale Frage zu lösen: sie lernte alle aus der Schule entlassenen Mädchen aus Hornklippe in ihrem Haushalt an, damit sie dann draußen in der Welt eine gute Stellung bekommen und, was den Hornklippen das Wichtigste war, Geld verdienen konnten.
Im übrigen kochte sie selbst – das hatte sie nie anders gehalten und hielt es jetzt für noch viel nötiger. Denn es mußte gespart werden in dem kleinen Haushalt, damit das knappe Einkommen reichte. Und wer mit Liebe kocht, kocht gut. So war ihre Küche sehr gut, trotz der einfachen Gerichte, die auf den Tisch kamen. Das Pensionsgeld, das der Justizrat für Romana bezahlte, sparte Frau Elisabeth für unvorhergesehene Fälle. Dieses Geld war einfach nicht für den Haushalt da und wurde nicht im Haushaltplan zur Aufstellung gebracht, denn man wußte ganz genau, daß Romana eines Tages wieder fortgehen würde. Dann würde die schöne Extraeinnahme wieder aufhören; deshalb wollte man sich nicht daran gewöhnen, daß sie da war.
In dem sonst so friedlichen Leben der alten Herrschaften gab es jetzt nur die eine Sorge, daß sie sich eines Tages wieder von ihrem Pflegetöchterchen würden trennen müssen, an das sie ihre Herzen gehängt hatten. Da sie keine Kinder hatten, war ihnen Romana lieb wie ein eigenes Kind geworden.
Als Romana jetzt durch die Gartenpforte schritt, erschien Frau Geheimrat in der Tür, die über die Veranda in den Garten führte.
Sie war eine stattliche grauhaarige Dame in der Mitte der Fünfzig, mit einem frischen Gesicht und guten Augen. Lächelnd nickte sie Romana zu.
»Wie war es am Strand, Romana?«
»Gar nicht so wild, wie ich dachte, Mama Dürkopp. Der Sturm ist abgeflaut, und drüben in Swinemünde kommen die Leute alle wieder an den Strand und bauen ihre zerstörten Burgen wieder auf. Es war sehr lustig anzusehen – schade, daß ich nicht auch dabeisein konnte.«
Die alte Dame zog Romana, die zu ihr emporgestiegen war, in ihre Arme.
»Tut das Herzchen wieder einmal weh bei dem Gedanken, daß du nicht da hinüber darfst?«
»Das Herz nicht, Mama Dürkopp, aber mehr und mehr quält es mich doch, daß ich nicht über die Hornklippe hinausgehen soll, sobald drüben die ersten Badegäste erscheinen.«
»Habe nur noch eine Weile Geduld, liebes Kind. Einmal wird das alles hinter dir liegen – wie hinter uns –, nur, daß wir dann die Leidtragenden sind, wenn du nicht mehr bei uns sein wirst.«
Romana umarmte die alte Dame und küßte sie auf die Wange.
»Siehst du, schlecht bin ich, Mama Dürkopp, daß ich gar nicht an euch denke, wenn ich mich von Hornklippe fortsehne. Zanke mich aus!«
»Nein, mein liebes Kind, das werde ich nicht tun. Ich kann dich ja so gut verstehen: Jugend gehört zu Jugend, und hier bist du nur immer mit uns alten Leuten zusammen. Und wenn Onkel Justizrat kommt, dann ist das auch nicht anders. Er ist ja auch nur ein alter Herr.«
Ein schelmisches Lächeln flog über Romanas Gesicht.
»Schilt mir die alten Herrn nicht, es sind meine interessantesten Gesellschafter. Mit ihnen kann ich mich wenigstens über alle bedeutenden Fragen unterhalten. Das kann man von den wenigen jungen Mädchen drüben in Swinemünde nicht gerade behaupten.«
Liebevoll strich die alte Dame Romanas lichtblondes Haar aus der Stirn, das im Verein mit den großen goldbraunen Augen und dem schönen, nur leicht von Wind und Sonne gebräunten Teint sehr reizvoll wirkte.
»Bist ja noch nie mit einem jungen Herrn, der dir geistig ebenbürtig wäre, zusammengekommen, Kind. Aber hoffentlich kommen auch für dich noch schöne Tage, wo du dann nur noch mitleidig an das stille Hornklippe und seine Bewohner zurückdenken wirst.«
Romana streichelte ihre Hand.
»Mußt mich nicht für undankbar halten! Was auch kommt, immer werde ich gerne an euch zurückdenken. Weiß ich doch, wie gut ihr es mit mir meint. Höre nur nicht darauf, wenn ich mal ungeduldig werde! Aber – wo steckt denn Papa Dürkopp? Ich gestehe, daß ich einen Bärenhunger habe und mit Freuden merke, daß es Essenszeit ist.«
»Er macht eben Toilette für die Mittagstafel.«
»Ei, das klingt ja ganz großartig!«
Die alte Dame lachte.
»Es war nötig, Romana. Er hat doch den ganzen Morgen mit Friedrich im Garten gearbeitet, und du weißt doch, wie lange es dann dauert, bis er sich wieder in Ordnung gebracht hat.«
»Und ich Faulpelz lasse euch all die schwere Arbeit tun und begnüge mich damit, alles aufzuessen, was du kochst und was Papa Dürkopp, von Friedrich unterstützt, im Garten zieht.«
»Schilt dich nur nicht einen Faulpelz, Kind, du füllst doch deine Tage auch mit Arbeit und machst dich auf andere Weise nützlich.«
»Oh, da bin ich begierig, zu hören, womit ich mich nützlich mache!«
»Damit, daß du anderen Menschen Freude machst.«
»Womit mache ich denn anderen Menschen Freude?«
»Nun, durch deinen Gesang, durch deine Malerei, durch dein Eingehen auf die Wünsche deiner alten Pflegeeltern, durch dein zärtliches Anschmiegen – überhaupt dadurch, daß du da bist.«
»Das ist so wenig. Ich möchte gern mehr tun und Besseres.«
»Aber, mein liebes Kind, du bist doch kaum erst mit deiner Ausbildung fertig, studierst noch jetzt so fleißig, daß ich mir manchmal denke, daß gar nicht alles in dein Köpfchen hineingehen kann. Schon deine Sprachstudien, was haben die für Zeit gekostet! Welches junge Mädchen in deinem Alter kann sich rühmen, perfekt deutsch, russisch, italienisch, englisch und französisch zu sprechen?«
»Aber, liebe Mama Dürkopp, Deutsch lehrte mich meine Mutter vom ersten Atemzug an. Russisch mein Vater, Französisch lernte ich in Genf ebenso mühelos, nur Englisch und Italienisch lernte ich mit etwas mehr Mühe, aber doch ohne sonderliche Anstrengung. Und was ich sonst tue, das geschieht doch alles nur zur Unterhaltung, zum Zeitvertreib! Das ist doch keine ernste Pflicht.«
Liebevoll strich die alte Dame wieder über Romanas Haar.
»Wirst auch noch ernste Pflichten bekommen, Kind! Und jetzt komm zum Essen, ich höre den Papa die Treppe herunterkommen, und da ist auch schon Friedrich mit der Suppe.«
Der alte Diener hatte den Arbeitsrock, den er bei der Gartenarbeit trug, mit einer sauberen Leinenjacke aus weiß und blau gestreiftem Stoff vertauscht und war nun wieder ganz der alte gut geschulte Diener, der genau wußte, wie er sich zu benehmen hatte.
Man plauderte angeregt über allerlei Tagesfragen. Ein Stoß Zeitungen war gekommen – mit diesen liebäugelte der Geheimrat schon. Nach Tisch pflegte er sich in das Lesen zu versenken, um danach ein sanftes Schläfchen zu machen. Wie er seinen Damen so gegenübersaß, war er ganz ein Kavalier der alten Schule.
Es war eine Woche später. Romana hatte wie so oft die Zeit der Nachmittagsruhe ihrer Pflegeeltern dazu benutzt, ihr Lieblingsplätzchen im Wald aufzusuchen. Dort hatte sie sich eine Bank und einen Tisch aufstellen lassen. Mit ihrer Hängematte begab sie sich dorthin, während ihr der alte Friedrich mit ihrer Staffelei und einigen Büchern folgte.
Über den Tisch wurde schnell eine hübsche bunte Dekke gebreitet, darauf wurden die Bücher gelegt, in denen Romana lesen wollte. Friedrich machte die Hängematte zwischen den großen Buchen fest, die diesen Platz wie ein grüner Dom überschatteten, stellte die Staffelei neben dem Tisch auf und fragte Romana, ob sie noch Befehle habe. Lächelnd schüttelte sie den Kopf.
»Nein, Friedrich. Ich bitte Sie nur, mich zur Teestunde wieder abzuholen, weil ich nicht alles allein tragen kann.«
»Ich werde pünktlich um halb fünf Uhr hiersein, gnädiges Fräulein«, erwiderte der Diener und ging. Romana setzte sich auf die Bank und schlug eines der Bücher auf. Auf der ersten Seite lag ein Brief, den sie aufnahm und entfaltete. Sie hatte ihn heute morgen mit der Post bekommen und war durch ihn in freudige Aufregung versetzt worden. Nun las sie ihn noch einmal durch. Er lautete:
Meine liebe Romana!
Dein alter Onkel Justizrat kommt also Ende August nach Hornklippe; früher wird es nicht möglich sein. Sage bitte der lieben Mama Dürkopp, daß ich vierzehn Tage in ihrem Hause bleiben möchte. Länger geht es diesmal nicht, denn ich habe mir gesagt, daß es endlich einmal Zeit wird für dich, ein wenig mehr von der Welt zu sehen als das kleine Fischerdorf. Dein Vater, wäre er noch am Leben, würde selbst die Notwendigkeit einsehen, daß Du ein wenig unter die Leute kommst. Du bist nun in dem Alter, wo es notwendig wird, daß Du einen Deiner Bildung angemessenen geselligen Verkehr findest. Es ist selbstverständlich, mein liebes Kind, daß wir auch jetzt noch die größte Vorsicht walten lassen werden, denn die Gefahren, die dich bedrohen, sind noch nicht vorüber, und wir müssen alles tun, was möglich ist, um Dich vor Deinen Feinden zu verbergen. Ich betrachte es aber auch als eine Gefahr, Dich noch länger von jedem Umgang mit gleichaltrigen Gefährten abzuschließen. Kurzum, Du sollst Hornklippe verlassen, mit mir eine hübsche Reise machen, und dann bringe ich Dich in das Haus eines meiner Freunde, dessen liebenswürdige, frohsinnige Gattin Dich so herzlich aufnehmen wird, wie Mama Dürkopp es getan hat, und die Dich in einen geselligen Kreis einführen wird, wie er Dir zukommt. Du wirst aber auch dort als Romana Harland auftreten müssen.
Bereite also Mama und Papa Dürkopp auf die bevorstehende Trennung vor. Sie haben noch einige Wochen, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, denn leicht wird es ihnen nicht werden, Dich fortzulassen. Auch Dich wird es etwas Herzweh kosten, Deine liebevollen Pflegeeltern verlassen zu müssen. Aber Du bist jung und wirst das bald verschmerzen, wenn Du die Freuden der Jugend genießen kannst.
Alles andere besprechen wir, wenn ich nach Hornklippe komme. Ich freue mich sehr auf das Wiedersehen und sende Dir herzliche Grüße.
Dein alter Onkel Justizrat
Romana faltete den Brief zusammen und sah mit großen, verträumten Augen in die grünen Baumwipfel hinauf. Seit sie diesen Brief erhalten hatte, war sie in einer freudig unruhigen Stimmung und kam sich sehr undankbar vor, als sie merkte, wie Mama Dürkopp mit den Tränen kämpfte und wie Papa Dürkopp seine Pfeife ausgehen ließ, was sonst nur geschah, wenn er krank war. Romana hatte die beiden alten Herrschaften liebreich getröstet.
»Ich komme doch wieder, wir sehen uns wieder. Gönnt mir doch diesen Ausflug in die Welt!« hatte sie gesagt.
Da hatten sich die beiden alten Leute gefaßt und mit ihr Pläne gemacht für die Zukunft. Aber daß Romana je nach Hornklippe zurückkehren würde, glaubten sie nicht. Wußten sie doch durch einen gleichzeitig eingetroffenen Brief des Justizrats an sie, was er mit Romana vorhatte. Sie sollten nur noch nicht mit Romana darüber sprechen.
Als Romana nun die Pflegeeltern scheinbar getröstet sah, kam ihre Freude mehr und mehr zum Durchbruch. Sie sollte hinaus in das Leben, nach dem sie sich immer so sehr gesehnt hatte. Sie sollte sich draußen in der Welt frei bewegen dürfen wie andere Menschen.
Und nun, da sie hier in ihrem geliebten Waldwinkel allein war, hätte sie vor Freude singen und tanzen mögen. Aber obwohl sie sich hier ganz ungestört wußte – kam doch nie ein fremder Mensch hier vorüber –, summte sie nur still ein Liedchen vor sich hin und setzte sich an ihre Staffelei. Ein fast fertiges Ölgemälde stand darauf. Es zeigte Romanas Lieblingsplätzchen, und auf der Bank vor dem Tisch saßen zwei kleine Mädchen, die, vom Beerensuchen heimkommend, eines Tages an Romanas Lieblingsplatz vorbeigekommen und zutraulich bei ihr sitzen geblieben waren. Da hatte Romana den Plan gefaßt, die beiden Kinder auf der Bank vor dem Tisch zu malen, mit der ganzen Umgebung und mit ihren gefüllten Beerenkrügchen. Jeden Nachmittag brav zu kommen hatten sie versprechen müssen und es auch gern getan, zumal ihnen Romana eine große Zuckertüte versprochen hatte. Aber die übermütige Ungeduld war den beiden kleinen Mädel dabei nur so aus den Augen gesprungen, und das hatte Romana in ihrem Bilde wunderbar wiedergegeben. Es war ein ganz entzückendes Bildchen geworden. Romana hatte nur noch einige Lichter aufzusetzen, dann war es fertig.
Sie machte sich sogleich an die Arbeit, die ihr flink von der Hand ging.
Es war ein köstlicher Waldwinkel, den sie sich zu ihrem Lieblingsplatz erkoren hatte. Er lag nur etwa zehn Minuten von dem Anwesen Dürkopp entfernt, und sie fühlte sich hier so sicher und wohlgeborgen, daß sie sich ganz zu Hause fühlte.
Nachdem sie ihr Bild vollendet und es noch einmal kritisch prüfend betrachtet hatte, packte sie ihren Malkasten ein, legte ein großes Kissen in die Hängematte und schwang sich, immer leise vor sich hin summend, hinein. Das Kissen drückte sie unter den Kopf und blinzelte behaglich zu dem grünen Blätterdom empor.
Es war sehr heiß, und die ungewohnte Freude hatte Romana müde gemacht. Ganz gegen ihre Gewohnheit schlief sie, als sie eine Weile ruhig vor sich hin geblickt hatte, ein.
Wie lange sie so geschlafen hatte, wußte sie nicht, als sie plötzlich, wie einem hypnotischen Zwange gehorchend, erwachte.
Erschrocken sah sie in zwei helleuchtende graue Männeraugen hinein, die aus einem gebräunten Gesicht bewundernd in die ihren blickten, so sehr bewundernd, daß Romana das Blut in die Wangen jagte und sie mit einem Satz aus der Hängematte heraus war.
Und jetzt erblickte sie hinter dem hochgewachsenen Mann eine zweite Männergestalt, die vor ihrem Bild stand und es mit Vergnügen betrachtete. Während der junge Herr, den sie zuerst erblickt hatte, stumm mit einer Verbeugung zurückwich, wandte sich der vor dem Bild stehende jetzt lachend zu Romana.
»Verzeihen Sie, Gnädigste, daß wir Ihren Schlummer gestört haben. Wir berieten soeben, ob wir Sie wecken oder uns noch länger an dem reizenden Bildchen, dessen Malerin Sie vermutlich sind, erfreuen sollten. Da Sie nun, ehe wir einen Entschluß fassen konnten, ohne unser Dazutun aufgewacht sind, dürfen wir Sie wohl bitten, uns zu sagen, wo es nach Swinemünde geht. Wir haben uns im Wald verirrt, und da wir das Meer hier nicht sehen, wissen wir nicht, in welcher Richtung wir gehen müssen.«
Romana hatte sich schnell ermuntert und suchte sich zu fassen. Sie, die so gar nicht gewöhnt war, mit Fremden zu sprechen, wußte vor Befangenheit kaum, was sie sagen sollte, zumal ihr die grauen Männeraugen noch immer in stummer Bewunderung zugewandt waren.
Die beiden Herren trugen den üblichen Strandanzug: helle Beinkleider und seidene Hemden. Über die Schulter gehängt trugen sie einen Pullover, den sie wohl der Hitze wegen abgelegt hatten. Eine Kopfbedeckung trugen sie beide nicht, und so konnte Romana sehen, daß der mit den grauen Augen dunkelbraunes Haar hatte, der andere aber ganz lichtblondes Haar und blaue Augen. Daß sie trotz des anspruchslosen Anzuges sehr elegant und vornehm aussahen und sicher Badegäste aus Swinemünde waren, erkannte Romana sogleich. Durch ihr Fernglas hatte sie viele Herren dieser Art am Strand von Swinemünde beobachtet.
Obwohl Romana strenge Weisung hatte, sich nie in ein Gespräch mit Fremden einzulassen, sagte sie sich, daß es ungezogen und unfreundlich aussehen würde, wenn sie keine Auskunft gab. Und sie wollte weder das eine noch das andere in den Augen dieser beiden Herren sein, zumal nicht in den grauen Männeraugen.
»Der kürzeste Weg nach Swinemünde führt hier geradeaus zum Strand. Wenn Sie sich immer links halten, werden Sie in einer knappen halben Stunde an der Hornklippe sein und dann Swinemünde liegen sehen«, sagte sie mit ihrer reinen, etwas akzentuierten Aussprache. Sie deutete dabei die Richtung an, die die Herren einschlagen mußten.
Diese verneigten sich, artig dankend, und der Blonde mit den blauen Augen fragte noch:
»Haben Sie das reizende Bildchen gemalt. Gnädigste?«
Romana neigte nur stumm errötend das Haupt.
Die Herren spürten, daß sie nun gehen mußten, und nur, um noch ein wenig verweilen zu können, fragte der Grauäugige:
»Verzeihen Sie eine Frage, mein gnädiges Fräulein. Ist dies Bild verkäuflich?«
Dunkle Röte schoß in Romanas Gesicht. Fast hilflos sah sie ihn an und sagte dann leise:
»Nein – es – es ist bereits bestellt.«
Sie sagte damit nicht die Unwahrheit, denn Mama Dürkopp hatte das Bild bereits mit Beschlag belegt. Der Grauäugige verneigte sich.
»Dann verzeihen Sie meine Frage. Verzeihen Sie auch, daß wir Sie durch unser Anschauen in Ihrem Schlummer gestört haben. Wir meinten, die Waldfee in höchsteigener Person habe sich hier zur Ruhe niedergelassen.«
Etwas Seltsames stieg in Romanas Herz auf. Je länger sie in die grauen Augen sah, desto bestimmter fühlte sie, daß ihr von diesem Menschen keine Gefahr drohte. Und auch der andere sah durchaus nicht aus, als könne er etwas Böses im Schilde führen.
Und hatte der Vormund heute in seinem Brief nicht selbst geschrieben, daß sie nun endlich hinaus unter Menschen müsse? Diese beiden Herren sahen so vertrauenerweckend aus, daß sie gar zu gern noch ein wenig mit ihnen geplaudert hätte, und so sagte sie leise und befangen, nachdem sie nach ihrer Armbanduhr gesehen hatte:
»Es ist mir sehr lieb, daß ich geweckt worden bin. Ganz ungewohnt hat mich der Schlummer überfallen.«
»Es liegt ein Gewitter in der Luft, mein gnädiges Fräulein, das hat Sie müde gemacht.«
Das sagte der Grauäugige, nachdem sich sein Begleiter schon nach einer dankenden Verbeugung auf den Weg gemacht hatte. Romana betrachtete nun das Gespräch als beendet und machte sich, um ihre Verlegenheit zu bemänteln, daran, ihre Hängematte von dem Baum zu lösen. Da trat der Grauäugige rasch neben sie.
»Gestatten Sie, daß ich Ihnen behilflich bin«, sagte er ruhig und bestimmt.
Romanas Hände zuckten zurück, als sie zufällig bei seinem Bemühen seine Hand leicht berührte.
»Bemühen Sie sich nicht, ich kann das selber tun«, stieß sie hastig hervor.
Inzwischen war auch der Blonde wieder stehengeblieben und sprang an das andere Ende der Hängematte, um auch das zu lösen. Er wickelte sie zusammen und wollte sie Romana mit einer Verbeugung überreichen, aber der Grauäugige faßte schnell zu und fragte, Romana mit einem bittenden Blick ansehend:
»Dürfen wir sie Ihnen nicht nach Hause tragen? Sie haben noch so viel zu tragen. Gestatten Sie mir, uns vorzustellen.«
Und er nannte seinen und seines Begleiters Namen.
Jetzt richtete sich Romana kurz auf und sagte:
»Ich danke – die Sachen werden abgeholt.«
Damit wandte sie sich ruhig von den beiden Fremden ab, setzte sich nieder und vertiefte sich in ein Buch. So gern sie noch ein wenig mit den beiden Herren geplaudert hätte, so wußte sie doch, daß es nicht sein durfte. Und ihren Namen wollte sie nicht nennen.
Der Blonde zog seinen Begleiter am Arm.
»Komm, Gunter, mich verlangt nach einem Imbiß. Und wenn wir bis zur Hornklippe noch eine halbe Stunde haben, dann haben wir bis nach Swinemünde noch anderthalb Stunden.«
Doktor Gunter Valberg, der Grauäugige, seufzte tief auf, warf noch einen Blick auf Romana, die keinerlei Notiz mehr von ihnen nahm, und folgte dem Freund. Dieser lachte.
»Warum seufzest du denn so abgrundtief, Gunter?«
»Habe ich geseufzt?«
»Sehr tief! Hat die Waldfee einen so tiefen Eindruck auf dich gemacht? Das wäre doch ganz außergewöhnlich.«
»Trotz der Spottlust, die dir aus den Augen lacht, mein lieber Bernd, ja, ich fand, daß es ein wundervolles Bild war.«
»Ja doch, ganz nett gemalt, soviel ich davon verstehe, aber deshalb braucht man doch nicht zu seufzen.«
»Ich meine nicht das Bild auf der Staffelei, sondern das Bild, das die reizende Schläferin selbst bot. So muß Dornröschen ausgesehen haben, als der Prinz sie fand!«
Bernd von Altdorf sah den Freund verdutzt von der Seite an.
»So poetisch, Gunter? Möchtest du etwa der Prinz sein, der dieses Dornröschen wachküssen darf?«
»Du mußt doch zugeben, Bernd, daß sie entzückend aussah, als sie schlafend dalag. Wie ein unberührtes, friedlich schlafendes Kind sah sie aus und war dann doch so ganz stolze Dame. Als sie die Augen aufschlug, war ich ganz benommen von so viel Schönheit. Hast du jemals so schöne Augen gesehen?«
Bernd lachte.
»Ach Gunter, daß du einmal so schwärmerisch von einer Frau sprechen würdest, hätte ich auch nicht für möglich gehalten. Wenn ich das tun würde, wäre es kein Wunder, denn ich fange schnell Feuer. Du aber bist immer so wählerisch in bezug auf Frauen und hast selten einen Blick für eine übrig.«
»Hier konnte man doch nur restlos bewundern. Ich habe jedenfalls noch nie eine reizvollere Frau gesehen als dieses schöne Mädchen.«
»Woraus schließest du, daß es ein Mädchen war? Es kann doch auch eine Frau gewesen sein!«
»Ausgeschlossen – sie hatte einen so kindlichen, unberührten Zug im Gesicht – das ist keine Frau! Aber ein wundervolles Geschöpf war sie – schön, wie ein Traum.«
»Himmel, nun hör auf, Gunter!«
Gunter Valberg wandte sich mit ernstem Gesicht dem Freund zu.
»Du weißt, Bernd, daß so etwas nicht spielerisch bei mir ist, mir ist sehr ernsthaft zumute.«
»So tief war der Eindruck, den sie auf dich machte?«
»Es hat noch nie eine Frau auf mich gleich auf den ersten Blick einen so tiefen Eindruck gemacht. Auf dich also nicht, Bernd?«
Bernd sprang gewandt über eine Baumwurzel, strich sich über seinen lichtblonden Haarschopf, der sich beim Umherstreifen im Wald aus dem sonst so peinlich ordentlich gehaltenen Scheitel gelockert hatte, und sagte nachdenklich:
»Das war sonderbar, Gunter, solange die Dame schlief, fand ich sie auch sehr reizend, aber als sie dann erwacht war und dich mit ihren Augen so groß ansah, da ...«
»Da?« drängte Gunter Valberg.
Bernd schüttelte nachdenklich den Kopf.
»Da mußte ich so intensiv darüber nachdenken, an wen mich die junge Dame erinnerte. Wenn ich nur wüßte, wo ich dieses Gesicht schon einmal gesehen habe – ich muß noch immer darüber nachgrübeln.«
»So ein Gesicht kann es doch nur einmal auf der Welt geben«, sagte Gunter Valberg mit einem seltsamen Klang in der Stimme.
Bernd von Altdorf sah ihn von der Seite an.
»So kenne ich dich gar nicht, Gunter.«
Dieser warf den Kopf zurück.
»Hast recht, ich verliere mich in Torheiten! Es ist vielleicht sehr gut, daß unsere Begegnung nur flüchtig war – man muß sich nicht mutwillig in Gefahr begeben. Aber reizend war sie – ganz reizend, wie sie so vor mir stand und hilflos war, weil sie uns nicht ohne Auskunft lassen und doch ihre stolze Unnahbarkeit betonen wollte. Schade ist es doch, sehr schade, daß sie nicht hinüber nach Swinemünde zu gehören scheint.«
»Aber jedenfalls weilt sie auch irgendwo zur Sommerfrische, denn bodenständig ist sie hier sicher nicht. Damen gehören hier nicht zu den Eingeborenen. Vielleicht wohnt sie in dem kleinen Fischerdorf, oder vielleicht gehört sie auf eines der Güter in der Nähe.«
»Nein, nein – sie wird im Dorf wohnen – scheinbar ist sie Malerin.«
»Und als solche wird sie sich niederlassen, wo sie malerische Motive findet. Sie schien aber nicht sehr darauf aus zu sein, ihre Bilder an den Mann zu bringen, sonst hätte sie auf deine Anfrage nicht so kurz und ablehnend geantwortet.«
»Es war vielleicht ein wenig taktlos und zudringlich von mir, und sie wollte mich zurechtweisen.«
Die beiden waren rüstig in der angegebenen Richtung davongeschritten. Nach einer knappen halben Stunde standen sie auf der Düne in der Nähe der Hornklippe. Von hier aus sahen sie Swinemünde liegen, und nun wanderten sie weiter auf dem feuchten, festgespülten Strand.
Als sie ungefähr die Hälfte des Strandweges zurückgelegt hatten, wandte sich Gunter Valberg, von dem vorausschreitenden Freund unbemerkt, noch einmal um, als suche er nach der verschwundenen Waldfee. Er zuckte plötzlich zusammen, denn oben auf der Düne, dicht über der Hornklippe, stand eine schlanke, weißgekleidete Frauengestalt. Die Sonne ließ ihr lichtblondes Haar aufglänzen. Gunter blieb stehen. Sein Herz schlug laut und stark. Er wußte, das war dieselbe junge Dame, die er vorhin im Wald in der Hängematte gesehen hatte. Sie hielt die Hand über die Augen und blickte ihnen nach, vielleicht nur, um sich zu überzeugen, daß die beiden Fremden den Weg gefunden hatten. Unwillkürlich winkte er mit der Hand einen Gruß zu ihr zurück – und hatte dabei das Gefühl, als müsse er zu ihr zurücklaufen und sie anflehen: Verschwinde nicht aus meinem Leben!