Du Schwert an meiner Linken: Historischer Roman - Rudolf Stratz - E-Book

Du Schwert an meiner Linken: Historischer Roman E-Book

Rudolf Stratz

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Beschreibung

Rudolf Stratz' historischer Roman 'Du Schwert an meiner Linken' entführt den Leser in die Wirren des Mittelalters. Mit einem packenden Schreibstil beschreibt er die Intrigen und Machtkämpfe am königlichen Hof. Durch seine detaillierte Darstellung der historischen Ereignisse und Charaktere wird der Leser in die Welt des 13. Jahrhunderts versetzt. Stratz gelingt es, die Spannung bis zur letzten Seite aufrechtzuerhalten und den Leser in seinen Bann zu ziehen. Sein literarischer Stil zeugt von umfangreichen Recherchen und einem tiefen Verständnis für die Epoche. Der historische Roman stellt einen eindrucksvollen Beitrag zur deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts dar und zeigt Stratz' Meisterschaft im Erzählen von spannenden Geschichten aus vergangenen Zeiten. Rudolf Stratz, geboren 1864, war ein deutscher Schriftsteller und Historiker. Seine Leidenschaft für die Geschichte spiegelt sich in seinem Werk wider, in dem er historische Fakten geschickt mit fiktiven Elementen verwebt. Stratz' profunde Kenntnisse über das Mittelalter und seine Fähigkeit, komplexe historische Zusammenhänge verständlich darzustellen, machen ihn zu einem einflussreichen Autor auf seinem Gebiet. 'Du Schwert an meiner Linken' ist ein Muss für alle Leser, die sich für historische Romane und das Mittelalter interessieren. Stratz' meisterhafte Erzählung entführt den Leser in eine faszinierende Epoche und lässt ihn hautnah die Abenteuer und Intrigen der Vergangenheit miterleben.

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Rudolf Stratz

Du Schwert an meiner Linken: Historischer Roman

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Inhaltsverzeichnis

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Inhaltsverzeichnis

Viel Worte machte der Oberst von Ottersleben nicht, als er aufstand, um an der Festtafel im Kasino seines Regiments das Hoch zu Kaisers Geburtstag auszubringen. Was hätte er auch sagen sollen, was nicht heute, am 27. Januar, in der Armee, vom Bodensee bis zur Weichsel, selbstverständlich war? Er hielt das Sektglas in der Hand und überschaute den langen, hufeisenförmigen Tisch, der heute, wo alle Verheirateten mitspeisten, wo die Ärzte, wo die Zahlmeister, die man sonst hier nie sah, gekommen waren, den ganzen Saal bis an die Türen hin füllte. Dort drüben saß, unter der palmeneingerahmten Büste des Kaisers, zum Einsatz bereit, die Musik. Der Stabshoboist Schickedorn, der mit seinen Backenbartstreifen und dem rötlich jovialen Gesicht wie ein Potsdamer General aussah, hielt den Taktstock in der Rechten und schaute erwartungsvoll hinüber nach dem Regimentskommandeur. Alle Offiziere hatten sich erhoben. Sie standen in langen Reihen, mit gesammelten, dienstlich ernsten Gesichtern. Sechzigfach und öfter wiederholte sich der Namenszug des Infanterieregiments Burggraf Friedrich von Nürnberg auf den Stabsoffiziersraupen, den Leutnantsepauletten, den Achselklappen der Junker unten am Tisch. Es war tiefe Stille. Durch die klang kurz und scharf die Stimme des Obersten: »Seine Majestät der Kaiser und König, unser allergnädigster Kriegsherr, hurra!«

»Hurra!«

»Und abermals: Hurra!«

»Hurra!«

»Und immerdar: Hurra!«

»Hurra!«

Es dröhnte wie ein einziger donnernder Ruf. Dann standen sämtliche Herren andächtig, das Glas in der Hand. Die Musik spielte einen Tusch, daß die Scheiben klirrten, und ging dann feierlich in das »Heil dir im Siegerkranz« über. Als das endete, wurden sechzig, siebzig Sektkelche bis auf die Nagelprobe leer. Dann setzte man sich wieder. Lachen, Leben, Lärmen flackerte rasch da und dort auf und sprang wie ein Lauffeuer die Tafel entlang. Je weiter nach unten an ihr, desto röter waren schon die Gesichter, desto lauter das Gespräch. Dem Fähnrich von Baldring, der dicht vor dem Leutnant stand, hatten sie zu viel vorgetrunken. Er nickte schlaftrunken nach vornüber, erschrak dann und saß eine Weile mit aufgerissenen Augen stramm aufrecht. Neben ihm lächelte der Zahlmeister Brauske feucht und gerührt vor sich hin. Ihn hatte niemand zum Trinken gezwungen. Er tat es von selber. Weiter aufwärts war die ›scharfe Ecke‹. Dort gab der Assistenzarzt Doktor Taubmann, ein alter, mit Schmissen übersäter Korpsstudent, das Beispiel und legte seinen Nachbarn, den Leutnants Gollenius und von Solkowski, ein mörderisches Tempo in der Sektvertilgung vor und sprach zu seinem Gegenüber, dem Oberleutnant von Logow, mit einem Kopfschütteln tiefster Mißbilligung: »Ich weiß nicht, Herr von Logow ... Sie sind doch sonst so ein hervorragender Zeitgenosse ... Daß Sie, wie ich einwandfrei diagnostiziert habe, von der Suppe ab Ihren Wein zu Dreiviertel mit Selters mischen, das ist, verzeihen Sie das harte Wort: schnöde! Es erzeugt beim unbefangenen Beobachter Magensäure ... Es ist ...«

»Logow trinkt doch sonst überhaupt nichts!« sagte Gollenius.

Erich von Logow zuckte nur die Achseln. Er sprach nie viel. Er ging nicht leicht aus sich heraus. Er war kein Mann für Kasino-Ulk. Er war zu selbstbewußt dafür und zudem der älteste Oberleutnant des Regiments, schon zu Anfang der Dreißig. Nach seinem ganzen Wesen hätte er mehr an das obere Ende der Tafel gehört, dahin, wo die dicken Epauletten saßen, die Flaschen spärlicher standen, die Unterhaltung gemessener geführt wurde und der Oberst von Ottersleben, immer halb im Dienst, zu seinem Nachbarn, dem Oberstleutnant Wahrmund, sagte: »Ich will dieser Tage mal raus mit dem Regiment ... in den Schnee. General von Glümke murmelte gestern schon was von Winterspeck ... Motten im Pelz ... Na ... Sie kennen ihn ja ...«

Der Oberstleutnant bejahte diplomatisch. Er wußte: Der Brigadekommandeur von Glümke, der unbekümmerte Frontsoldat, Junggeselle und Jagdreiter, und Oberst von Ottersleben, diese Autorität in Gewehrkunde und Schießausbildung, paßten nicht recht zueinander. Herr von Ottersleben hatte in seinem Äußeren durchaus nichts Unmilitärisches. Das uralte Soldatengeschlecht, aus dem er stammte, verleugnete er in Sprache und Haltung nicht. Aber seine Züge waren, bei aller dienstlichen Schärfe, fein, von kleinen Fältchen und Äderchen durchzogen, der kurze Schnurrbart und das Haar an den Schläfen leicht angegraut, in den klugen Augen manchmal ein mehr sinnender als befehlender Ausdruck, wie er jetzt über die lange Tischreihe seiner Herren hinblickte, diese sechzig, siebzig so verschiedenen Menschen, die ihm alle, vom Stabsoffizier bis zum Fahnenjunker, mit ihrem Wohl und Wehe anvertraut waren, für die er verantwortlich war, ohne doch immer in ihr Inneres dringen zu können, und immer in der Hand des Zufalls, der ihm diese oder jene Überraschung durch einen Untergebenen bringen konnte.

An der Tafel war der Lärm und das Gelächter immer lauter geworden. Die Musik schmetterte dazwischen. Der Oberstleutnant mußte seine Stimme verstärken.

»Dies Jahr haben wir die drittbesten Schießresultate der Armee, Herr Oberst! Voriges Jahr die zweitbesten! ... Ein Regiment, das so steht, das braucht wirklich nichts zu fürchten!«

Der Oberst von Ottersleben nickte.

»Ja. 's ist komisch, lieber Wahrmund ... Wenn ich 'nen Truppenteil unter mir hatte, so konnt' er auf einmal schießen. So ging es mir als Kompaniechef, als Bataillonskommandeur, und jetzt mit dem Regiment. Aber freilich ...«

Er verstummte und nahm einen Schluck. Es war, als liefe eine Wolke über seine Züge. Aber es war nur der Schatten der großen schwarz-weiß-roten Fahne, die sich draußen vor dem Fenster im Winterwind hin und her blähte. Dann versetzte er: »Das ist nun das fünfunddreißigste Mal, daß ich Kaisers Geburtstag in der Armee feiere! Wie oft nun noch, das steht beim lieben Gott und dem Militärkabinett ...«

»Aber Herr Oberst ...« Drei Majore riefen es zu gleicher Zeit. Sie lachten dabei. Der Regimentskommandeur stimmte mit ein. Die trübe Anwandlung war vorüber, die so gar nicht zum Festjubel des heutigen Tages paßte. Der dicke Oberstabsarzt Doktor Sand aber brummte halblaut zu seinem Nachbarn: »Es ist ein Jammer, daß so ein Mann sich auf dem Pferd so in acht nehmen muß!«

Der andere nickte. Es war kein Geheimnis: Der Oberst von Ottersleben hatte einen Knacks in der Gesundheit, der sich im Sattel fühlbar machte. Und von drüben murmelte jemand, aus denselben Gedanken heraus: »Olaf reitet freilich wie der Teufel!«

Olaf – das war der Vorname des Generalmajors von Glümke, unter dem er seit vierzig Jahren in der ganzen Armee bekannt war. Von den verrückten Streichen seiner Leutnants- und Hauptmannszeit in der Garde bis jetzt hinauf in Rang und Würden, die ihn keineswegs hinderten, der Alte zu sein.

Der Oberst von Ottersleben hatte nichts von dem Gespräch vernommen. Er hatte sich halb erhoben und rief in das allgemeine Stimmengeschwirr: »Gesegnete Mahlzeit, meine Herren!«

Das war das Zeichen für die Zigarre. Der Saal hüllte sich in blauen Rauch. Stühle wurden gerückt. Man setzte sich in Gruppen zusammen, beim Dampfen des Kaffees zwischen dem Perlen der Sektgläser. Andere traten in die Nebenräume, ein paar mit bloßem Kopf hinaus in den Kasinogarten in den Schnee, um die erhitzten Stirnen abzukühlen. Drinnen spielte die Musik den Pariser Einzugsmarsch. Der dicke kleine Hauptmann Neugereuth war auf das Podium geklettert und hatte einige Hoboisten verdrängt, um seiner Leidenschaft, die große Pauke zu schlagen, zu frönen. Er zählte krampfhaft mit und wirbelte dann doch zwei Takte zu früh los. Aber es schadete nichts. Denn an Stelle des Kapellmeisters Schickedorn dirigierte der musikalisch veranlagte lange Regimentsadjutant, schwenkte mit verklärtem Gesicht den Taktstock, und die Musikanten folgten ihm dienstlich entschlossen durch dick und dünn. Im Lesezimmer lag der Benjamin des Regiments, der Fahnenjunker Reiffenscheidt, noch ein halbes Kind, erschöpft auf dem Kanapee, mit dem Kopf auf der Kreuzzeitung und den Lackstiefeln in der Luft. Der Leutnant Griller, der Kraftmensch des Kasinos, zeigte sein Renommierstück und hob einen Stuhl samt einem darauf sitzenden Herrn mit dem linken Arm frei in die Höhe. Im großen Saal trieb der Leutnant und Bataillonsadjutant Hase die Ordonnanzen, rascher aufzuräumen, denn es zuckte ihm in den Tanzbeinen. Es war alles so, wie in Hunderten anderer Kasinos, in allen Teilen des Deutschen Reiches, in denen dreißigtausend Offiziere jetzt um dieselbe Zeit den höchsten Festtag der Armee begingen.

Der Oberleutnant Erich von Logow war auf seinem Platze sitzen geblieben. Er rauchte eine Zigarre, was er sonst selten tat, und schaute vor sich hin. Da hörte er neben sich die Stimme einer zu ihm gesandten Ordonnanz: »Der Herr Oberst möchten dem Herrn Oberleutnant zutrinken!«

Er schnellte empor, tat, dienstlich stramm stehend, seinem Regimentskommandeur Bescheid, hob das geleerte Glas und setzte sich wieder.

Oben am Tisch sagte der Major Rumpach, ein blondbärtiger Riese, mit seiner Grabesstimme: »Auffallend tüchtiger Mensch, der Logow!«

Der Major war eben erst von einem Urlaub zurückgekehrt, auf dem er sich von einem tüchtigen Rumpler mit dem Pferde erholt hatte. Er sollte eigentlich erst vom ersten Februar ab wieder Dienst tun, und war nur heute, zur Feier des Tages, schon in Uniform erschienen. Logow stand in seinem Bataillon. Er blickte nach dem jungen Offizier hinüber. Der saß da, ohne darauf zu achten. Er hatte ein preußisches Militärgesicht. Kurzer dunkler Schnurrbart, feste dunkle Augen, um den Mund ein Zug von Zurückhaltung. Seine Gestalt war über Mittelgröße, straff und elastisch. Es haftete ihm etwas In-sich-Versunkenes an. Er redete nicht, sondern hörte den anderen zu, die um ihn Witze rissen und lachten, und schien mit seinen Gedanken irgendwo in der Ferne zu sein. Es war Strenge und Reife in seinem ganzen Wesen. Der Major Rumpach dachte sich: Wenn es bei uns in der Armee Generale von dreißig Jahren gäbe, dann müßten sie so aussehen! Neben ihm sagte der Oberst: »Der Logow? ... Ja, ich wollte, ich hätte mehr von der Sorte im Regiment! ... Wir legen mit ihm noch Ehre ein!«

»Herr Oberst haben ihn ja auch besonders zu sich herangezogen!«

»Ja. Er verkehrt viel in meinem Hause!«

Der andere frug nicht weiter. Es hätte indiskret aussehen können. Oberst von Ottersleben besaß drei erwachsene Töchter ... Zwei von ihnen kamen nur in Frage. Die dritte, die jüngste, war schon glückliche Braut. Der Major wandte sich an den Regimentskommandeur und forschte mit seinem tiefen Baß:

»Wann heiratet denn Fräulein Dora, Herr Oberst?«

Herr von Ottersleben lachte.

»Im Frühjahr! Bei mir ist's die verkehrte Welt, lieber Rumpach. Ich brech' mein Vierteldutzend von hinten an! Na, wie Gott will! Wenn man drei Mädels unter die Haube zu bringen hat, darf man nicht pedantisch sein. Ich hätt's ja auch nicht gedacht, daß eine von meinen Mariellen gerade zu den Pionieren verschlagen würde ...«

Er hatte sein ganzes Leben in bevorzugten Truppenteilen verbracht. Es gab ihm immer einen gewissen inneren Ruck, wenn er sich vorstellte, daß sein Dorle, das Nesthäkchen der Familie, künftighin schlicht und recht Frau Grotjan heißen würde, so wenig er an sich gegen den Leutnant Grotjan von dem dreißigsten Pionierbataillon einzuwenden hatte. Er besaß nun einmal eine Schwäche für alte Namen wie Ottersleben oder Logow, in denen es gleich Trompetenfanfaren von Fehrbellin und Roßbach nachklang. Mit unwillkürlichem Wohlwollen streifte sein Auge wieder den Oberleutnant Erich von Logow drüben an der schon halb verlassenen Tafel, der eben mit zusammengepreßten Lippen, in einer seltsamen Ungeduld, auf die Uhr sah, als ob er in nächster Zeit etwas Besonderes erwartete. Neben ihm erkundigte sich der Major: »Na ... und der älteste filius ... der Artillerist?«

»Mein Sohn?« sagte der Oberst. »Gott ... er macht sich! Er ist vom ersten April ab nach Berlin kommandiert ... zur militärtechnischen Akademie! ... Ich hätt' ihn ja lieber noch hier unter der Fuchtel, in der gleichen Garnison behalten. Sein Oberst und ich sind alte Kriegsschulkameraden. Da macht er mir keine Wippchen vor. Aber da draußen in Berlin ... das ist heutzutage ein heißer Boden für einen, der an sich schon Rosinen im Kopf hat, wie der Otto! Das weiß ich: meinen Jüngeren, den Lichterfelder Kadetten, geb' ich lieber seinerzeit auch für ein schönes Regiment in der Provinz ein. Na – vorläufig soll er mir mal erst die Selekta absolvieren! ...«

Der Oberst hatte laut zu seinem Nachbarn sprechen müssen, so rauschend schmetterte die Musik den Radetzkymarsch durch den raucherfüllten Saal. Einer der jüngeren Herren war auf einen Anrichtetisch an der Seite geklettert und tanzte da oben, wie er es in Österreich gesehen, zwischen abgeräumten Tellern und leeren Gläsern im Takt, der Hauptmann Neugereuth schlug begeistert die Pauke, der lange Regimentsadjutant dirigierte, mit hocherhobenem Arm wie ein Feldherr. Dann Plötzlich brach der k.k. Marsch in einem wirren Durcheinander ab, der Oberleutnant Rudicke hatte jählings den Taktstock hingelegt. Er hatte eine Ordonnanz bemerkt, die mit einer Depesche auf einem Teller quer durch den Saal auf ihn zusteuerte, und sprang mit einem Hechtsatz vom Podium und ihr entgegen.

»Telegramm aus Berlin? ... An das Regiment? ... Herr Oberst ... das Militärwochenblatt ist heraus!«

Das Militärwochenblatt! ... Das große Ereignis zu Kaisers Geburtstag! Die endlose Reihe von Beförderungen, Ordensverleihungen, Adelungen, Gnadenbeweisen aller Art, die heute Spalten um Spalten und Seiten um Seiten der dickleibigen Extraausgabe füllten, während da drüben, fern in Berlin, wo jetzt eben die dreiundzwanzig kommandierenden Generale dem Kriegsherrn die Glückwünsche der Armee überbrachten, Tausende von Offizieren sich zur Ausgabe der Parole: ›Es lebe Seine Majestät‹ im Zeughaus um ihn scharten, schwarzwimmelnde Menschenmassen die Linden füllten. Das Militärwochenblatt! Im Augenblick lief das Wort durch die Räume des Kasinos. Man drängte sich durch die Türen herein. Der Saal war voll von Uniformen – von Stimmengewirr – Erwartung – dann Schweigen. In ihm die trockenen Worte des Obersten: »Na – lesen Sie mal, Rudicke!«

Der Regimentsadjutant riß das Telegramm auf und räusperte sich: »Regiment Burggraf von Nürnberg ... Gratuliere gehorsamst, Herr Oberst ... Roter Adlerorden dritter Klasse mit der Schleife ...«

Oberst von Ottersleben nahm gelassen die Händedrücke von allen Seiten entgegen. Es war keine große Überraschung. Die Auszeichnung kam ihm nach seinem Dienstalter zu. Er winkte: »Na – nu weiter ...«

»Major Rumpach unter Versetzung in das Infanterieregiment 209 zum Oberstleutnant befördert.«

Ein neues Hallo! Der blondbärtige Riese war im Regiment sehr beliebt. »Uff!« sagte er, sichtlich erleichtert, mit seiner Bärenstimme. »Bis hierhin hat uns Gott gebracht in seiner großen Güte! Danke gehorsamst, meine Herren! Danke Ihnen allen! Tut mir herzlich leid, dies schöne Regiment zu verlassen! Behalten Sie mich in freundlicher Erinnerung, wie ich Sie alle! Grob – aber 'n guter Kerl – nicht wahr? ... Na – Hände her!«

Er war sichtlich ergriffen, während er mit seiner Riesenfaust eine Rechte nach der anderen drückte. Der Oberst hatte inzwischen für sich weiter gelesen. Er ließ das Blatt sinken und sprach, kopfnickend und halb andächtig: »Donnerwetter!«

»Was ist denn? ... Was ist?«

»Logow ... kommen Sie mal her!«

Erich von Logow trat ein paar Schritte näher heran. Er hatte sein gewohntes, unbewegtes Gesicht. Aber er war auffallend blaß geworden. Der Adjutant hielt die Depesche in der Hand und las, in der tiefen Stille jedes Wort betonend: »Oberleutnant von Logow unter Beförderung zum Hauptmann in den Großen Generalstab versetzt!«

Es war kein Lärmen und Gelächter wie bisher. Es verbreitete sich jene Stimmung, der der Oberst selber mit dem Worte »Donnerwetter« Ausdruck gegeben. Aufrichtiges Händeschütteln, ernste Glückwünsche. Da stand nun einer der Auserwählten der Armee. Er hatte das Höchste erreicht, was ihm nach seinem Dienstalter möglich war. Er war vor Tausenden bevorzugt. Er trug von nun ab die breiten Karmoisinstreifen des Großen Generalstabs, zu dem er schon einmal, nach der Kriegsakademie, ein Jahr zur Dienstleistung kommandiert gewesen. Er beherrschte sich. Er nahm ruhig die Händedrücke der Vorgesetzten und Kameraden entgegen. Nur eine Sekunde hatte es in seinen dunklen Augen vom Triumph eines unbezähmbaren Ehrgeizes aufgeleuchtet. Dann war das wieder in sich erloschen. Der Oberst von Ottersleben hielt seine Rechte fest und sprach laut und herzlich: »Alles Gute auf den Weg, mein lieber Logow! Wir werden Sie hier recht vermissen! Aber es ist eine Ehre für einen Truppenteil, seine Herren an die große Bude am Königsplatz abzugeben! Darum betrauern wir Ihr Scheiden nicht. Sie waren eine Zierde des Regiments – ein Vorbild für die jüngeren Herren! ... Na – Gott mit Ihnen!«

Ein neuer Lärm brach hinter seinen Worten los. Der Fähnrich Freiherr von Baldring war Offizier geworden. Er hatte Wein im Kopf, aber nicht so viel, daß er nicht dem großen Augenblick gewachsen gewesen wäre. Strahlend und beinahe ungläubig über die eigene Wandlung stand er, zum erstenmal unter seinesgleichen, bei allen Glückwünschen unwillkürlich stramm, sich immer noch als Untergebener fühlend, und die neuen Kameraden, die jüngsten Offiziere, die ihm das Du anboten, mit »Herr Leutnant« anredend. Mit seinen Epauletten, die daheim in seiner Kasernenstube schon samt Waffenrock und Schärpe seit Tagen, des großen Augenblicks harrend, bereit lagen, war das Militärwochenblatt, soweit es das Infanterieregiment Burggraf betraf, erschöpft. Der lange Adjutant hatte sich wieder auf die Musikestrade geschwungen. Er kommandierte einen Tusch. Dreimal rauschte es auf. Ein Hurra hinterher. Zehn, zwölf Leutnantsarme hatten den Major Rumpach erfaßt, auf die Schultern gehoben und trugen ihn im Triumph durch den Saal. Der Riese saß da oben etwas ungemütlich, aber er machte gute Miene zum bösen Spiel und strampelte nur einmal, mit seinem Kellerbaß die Musik übertönend: »Donnerwetter, Kinder ... ihr zwickt mich ja in den Hintern!«

Der Leutnant Freiherr von Baldring trank inzwischen immer noch, etwas unsicher auf den Beinen, mit verschlungenem Arm aus Sektkelchen Brüderschaft. Im Saal flammte das elektrische Licht auf. Denn draußen brach schon in leichtem Schneegestöber der frühe trübe Winterabend herein. Die Stühle wurden zur Seite gerückt. Man wollte walzen. Der Leutnant von Solkowski chassierte schon für sich, mit den Fingern wie mit Kastagnetten schnippend, über das glatte, an einzelnen Stellen vom Wasser aus den Eiskübeln dunkle Parkett. Ein paar der jüngsten Leutnants und die Junker banden sich weiße Taschentücher um den Arm, als Zeichen, daß sie als Damen tanzten. Oben auf der Estrade gab der Stabshoboist Schickedorn, dienstlich ernst, mit wichtiger Miene das Zeichen zur »Schönen blauen Donau«. Ein kalter Luftzug traf dabei seinen Nacken. Die Glastür, die zur Sommerveranda des Kasinos und hinaus in den verschneiten Garten führte, hatte sich für einen Augenblick geöffnet. Der Hauptmann von Logow war durch sie in das Freie getreten. Er stand draußen in der kalten Dämmerung, barhaupt, im knappen Waffenrock, die Hände in den Taschen, und schaute stumpf vor sich hin ins Weite, in die unbestimmte ferne Lichterhelle der großen Provinzgarnisonsstadt, deren verworrenes Geräusch bis in die Stille des Gartens klang. Sein strenges und ernstes Profil zeichnete sich scharf vom Zwielicht ab. Der Oberst von Ottersleben sah es durch die Fenster des Vorraums, wo er sich eben von dem Oberleutnant Rudicke in den Mantel helfen ließ, um auf einen Sprung nach Hause zu gehen, und meinte kopfschüttelnd zu seinem Adjutanten: »Ein sonderbarer Mensch, der Logow! Da steht er nun wieder! Finden Sie nicht auch, daß er ein bißchen zu reserviert ist, Rudicke?«

Der Adjutant hatte sich seinem Kommandeur angeschlossen und schritt zu seiner Linken die Straße entlang.

»Sehr zurückhaltend, gewiß!« erwiderte er. »Aber trotzdem im Regiment sehr beliebt. Man weiß eben, was in ihm steckt. Na – nun hat er ja das Ziel seines Ehrgeizes erreicht!«

»Ja – das hat er!« wiederholte Herr von Ottersleben sinnend. Dann ging er eine Weile schweigend dahin. Sie waren jetzt in dem belebtesten Stadtteil. Festliches Menschengewimmel um sie, illuminierte Schauläden, die Häuser bunt von Fahnen, die Straßen farbig von Uniformen aller Truppenteile, Dragoner, Feldartilleristen, Pioniere, Trainsoldaten der großen Garnison. Der Oberst von Ottersleben hatte fortwährend den weißbehandschuhten Zeigefinger an den Helm zu legen. Von den vorbeikommenden Infanteristen machte jeder zweite als Angehöriger des Infanterieregiments Burggraf von Nürnberg Nummer 188 in jähem Zusammenfahren vor ihm Front. Im großen Festsaal des Hotels zum ›König von Preußen‹ auf dem Marktplatz waren die Fenster glänzend hell. Innen sah es aus wie im Kasino. Sechzig, siebzig Offiziere saßen da in Wehr und Waffen an langer Tafel. Aber es waren die Uniformen aller möglichen Regimenter durcheinander. Die Herren des Beurlaubtenstandes feierten da unter dem Vorsitz des Bezirkskommandeurs Kaisers Geburtstag, und auf der anderen Seite des Gebäudes, in einem Nebensaal, verrieten dicht vorgezogene Vorhänge, würdevolle Ruhe, ein Schwarm von Kellnern und Ordonnanzen den Raum, in dem die Generalität, nur wenige Köpfe stark, tafelte.

Während so die ganze Garnison den höchsten Festtag der Armee beging, hatte Frau Oberst von Ottersleben ihrerseits die Damen des Regiments Burggraf um sich versammelt, nicht, wie es früher ausschließlicher Brauch, nur zu einem großen Nachmittagstee, sondern zu einem richtigen Festessen, einem Diner, bei dem das männliche Element lediglich durch die aufwartenden Burschen vertreten war. Die Räume ihrer Dienstwohnung waren groß genug für die Erschienenen – die Majorinnen, fast ein Dutzend Hauptmanns-, ein gutes Dutzend Leutnantsfrauen, die drei Töchter des Hauses und ein paar andere junge Mädchen. Den Damen hatte das Ungewohnte eines Diners ohne Herren Spaß gemacht und als Ausnahme die Stimmung angeregt. Sie hatten in langen Reihen gesessen und gelacht und getafelt, ganz wie ihre Herren drüben im Kasino, und auch wie jene für ihre Verhältnisse ganz munter Sekt getrunken. Zum Schluß war noch eine besondere Überraschung erschienen: eine große Eisbombe, auf der in rosafarbener Masse ein Miniaturstandbild des Kaisers prangte. Frau von Ottersleben war aufgestanden. Mit ihr alle ihre Gäste. Sie hob das Glas und sagte mit lauter Stimme: »Meine Damen! Seine Majestät der Kaiser und König – er lebe hoch!«

»Hoch! ... Hoch! ... Hoch!« Es folgte kein Orchestertusch hinterher. Aber im Innern der Bombe begann plötzlich eine dort verborgene Musikuhr zu spielen:

»Heil Dir im Siegerkranz ...«

und klang in feinen silbernen Tönen weiter, während das Eis die Runde um den Tisch machte, und die blonde Frau Leutnant Griller, die einen hübschen Sopran besaß, sang hellauf mit und die anderen schlossen sich an:

»Heil Dir im Siegerkranz, Herrscher des Vaterlands – Heil Kaiser Dir!«

Nun wurde der Kaffee eingenommen. Die Damen saßen in den Zimmern verteilt. Im Salon, um das Sofaarrangement herum, Frau von Ottersleben in ihrem schwarzen Spitzenkleid mit den Stabsoffiziersgattinnen und den anderen gesetzteren Gästen, trotz ihrer Mitte der Vierzig schlank und straff wie ihre hochgewachsenen beiden ältesten Töchter – die Jüngste, die Braut, war im Emporschießen stecken geblieben und kleiner und rundlicher geraten – die Hände im Schoß zusammengelegt, ein müdes und leidendes, aber verkindliches Lächeln auf den etwas spitzen, distinguierten Zügen. Die Leutnantsfrauen waren da und dort in Gruppen beisammen und plauderten.

Im letzten Zimmer hatten sich die jungen Mädchen zusammengehockt und schwatzten und kicherten durcheinander. Ein feiner Zigarettendampf schwebte über den blonden, braunen, dunklen Köpfen. Die farbigen Kleider raschelten. Es war zu komisch – eine Gesellschaft ohne Leutnants. Man konnte sich die Welt schwer ohne Leutnants vorstellen. Wie von selbst bildete Ulla, die älteste der drei Töchter des Hauses, den Mittelpunkt. Sie war es immer, in jeder Gesellschaft, als die anerkannte Schönheit der Garnison. Schon seit drei Wintern oder vier, wenn man den einen dazwischen nicht rechnete, den sie, ihrer angegriffenen Brust wegen, in einem Höhenkurort des Schwarzwalds verlebt hatte. Sie besaß jetzt noch, im Verhältnis zu ihrer hohen, weißgekleideten Gestalt, sehr schmale Schultern und hielt sich nicht ganz aufrecht. Sie war brünetter als die anderen. Ihr klassisch schönes, ovales Gesicht mit den großen, dunklen Augen zeigte ein eigentümliches alabasternes Weiß, wie die Blutleere einer griechischen Statue. Auch in ihren Bewegungen war eine plastische Ruhe – eine monumentale Gleichgültigkeit – halb bewußt das Gefühl der Überlegenheit über die anderen – halb das Abgetanztsein einer Ballkönigin. Sie sprach nicht viel und sah leer vor sich hin. Sie langweilte sich unter den jungen Mädchen. Sie hatte sich mit denen wenig zu sagen. Sie wurde erst lebendig, wenn Herren da waren – Leutnants in ihre Nähe kamen.

In einer Ecke dieses Zimmers war das Telephon und klingelte plötzlich los. Von den dienstbaren Geistern war niemand in der Nähe. Dorle, die Jüngste, lief selbst an den Apparat. Sie war ein resoluter kleiner Kerl – rund, blond und mollig, in ihrem rosa Fähnchen, einer Art Kimono mit viereckigem Halsausschnitt und kurzen Ärmeln. Sie horchte und schrie dann plötzlich: »Hurra ... Mama, komm mal her – sie telephonieren aus dem Kasino ...: Papa hat den Roten Adler dritter Güte gekriegt!«

»Dorle ... was ist das wieder für ein burschikoser Ausdruck ... Du bist doch Braut ...« Ihre Mutter kam nicht weiter. Sie mußte die Glückwünsche der Damen in Empfang nehmen. Die Kleine kümmerte sich auch nicht viel um den Wischer. Sie lauschte wieder am Hörrohr und sagte dann mit erkünstelter Ruhe: »Du ... Maxe ...! ... Das betrifft dich! Wie? Bitte? ... Ich hab' nicht recht verstanden ...«

Dabei drückte sie ihrer mittleren Schwester Maximiliane halb mit Gewalt die Hörmuschel gegen das Ohr und stellte sich lauernd seitwärts. Gleich darauf trat jene stumm, unwillig den Kopf in den Nacken werfend, fast erschrocken einen Schritt zurück und hängte das Rohr an den Haken, und Dorle Ottersleben verkündete triumphierend den anderen: »Logow ist nämlich Hauptmann im Großen Generalstab geworden! Höllendusel ... Was?«

Einige der jungen Mädchen lachten vielsagend. Ein paar, die der Familie fremder waren, machten harmlose Gesichter, als wüßten sie von nichts. Alle Blicke waren auf Maximiliane von Ottersleben gerichtet, die anscheinend gleichgültig dastand. Sie war hoch und schlank wie ihre älteste Schwester, die Schönheit. Sie ähnelte ihr auch. Sie war ihr Gegenstück in Hellblond und mit blauen Augen. Aber neben deren reifer, beinahe frauenhafter Blüte kam sie nicht recht zur Geltung. Sie verblaßte, weil sie noch nicht voll entwickelt war. Sie war noch zu mager aufgeschossen, in den plissierten Fältchen ihres hellblauen Kleides. Ihr schmales Gesicht zeigte einen herben, unregelmäßigen Reiz, so als hätten sich ihre Züge noch nicht zu ihrem eigentlichen Ausdruck zusammengefunden und belebt. Sie war zweiundzwanzig. Aber sie sah jünger aus als Dorle, die Kleinste, die in ihrer Art schon ganz mit dem Leben und für das Leben fertig war. Sie blickte auf die lachenden, rotbäckigen Mädchengesichter um sie her, und ihre Wangen zeigten keine Spur einer verräterischen Färbung, während sie frostig sagte: »Was wollt ihr denn eigentlich? Was geht denn das bloß mich an, möcht' ich nur wissen!«

Dabei zuckte sie verächtlich die Achseln in einer instinktiven Scheu, daß man ihr zu nahe treten könne. Die Mädchen schwiegen und tauschten vielsagende Blicke, und Dorle rang die Hände.

»Nun tut sie doch, weiß Gott, als ob sie aus dem Mond käme!«

Dann verstummte auch sie, auf einen strengen Blick ihrer Mutter, die sich eilig nach dem Salon zuwandte. Die älteren Damen wollten sich verabschieden. Die übrigen folgten ihrem Beispiel. Es gab ein Stimmengewirr auf Flur und Treppe, ein Mäntelsuchen und Wagenholen. Dienstmädchen und Burschen liefen auf und ab. Das ganze Haus war in Bewegung.

Und unterdessen lag Maxe von Ottersleben einsam in ihrem stillen dunklen Mädchenstübchen vor ihrem Bett auf den Knien und preßte die Stirne in das kühle Leinen. Das Fenster ihres Kämmerchens stand trotz der Kälte offen. Es ging auf eine kleine Hintergasse hinaus. Die lag leer und schwarz. Über ihr flimmerten durch die vom Schneetreiben geklärte Luft winterhell die Sterne. Unten schlürften Soldaten vorbei. Zwei, drei. Sie hielten sich bierselig untergefaßt und sangen halblaut, klagend, langgezogen:

»Was nützet mi–i–ich ein schöner Ga–a–arten, Wenn Andre drin spazieren gehen? Und pflücken mir die Blümlein ab ...«

Sie bogen um die Ecke. Es verhallte in der Ferne:

»... und pflücken mir die Blümlein ab ...«

Maximiliane hatte sich erhoben. Sie trat an das Fenster. Sie hielt die Hände verschlungen. Ihr blasses Antlitz trug einen andächtigen Schein. Sie blickte zu der schweigenden Sternenpracht hinauf. Sie betete stumm im Herzen. »Er kommt weg von hier! Jetzt muß es sich entscheiden ... Das Warten hat ein Ende! Vater im Himmel! Gib mir den Mann, den ich liebe! Laß ihn nicht von mir gehen! Führ' ihn zu mir! Er wird nie wieder eine Frau finden, die ihn so liebt wie ich. Ich lieb' ihn, seit ich ihn gesehen hab'! ... Ich werde nie einen anderen lieben! ... Mein Leben ist er! ... Gib, daß auch ich sein Leben werde ... Ich bitte dich, Vater im Himmel ...«

Es klopfte an ihre verriegelte Tür. Sie hörte die Stimme ihrer Mutter: »Maxe ... wo steckst du denn?«

Sie öffnete und stand ruhig im Licht des Flurs auf der Schwelle. So sagte sie in der schroffen und launischen Art, die sie oft den Ihrigen gegenüber hatte:

»Herrgott, Mama ... kann man denn keinen Augenblick allein sein?«

»Papa ist eben gekommen! ... Wir freuen uns alle so über den Orden! Du allein bist wieder Gott weiß wo!«

»Ich komm' gleich hinüber!« sagte das junge Mädchen und schloß die Tür. Und Frau von Ottersleben kehrte zu ihrem Mann zurück.

Der hatte es sich im Salon in einem Fauteuil bequem gemacht und behaglich die Beine ausgestreckt. Es war niemand außer ihm und seiner Frau da. Er gähnte verstohlen hinter der vorgehaltenen Hand. Er war ein bißchen müde. Kaisers Geburtstag war ein anstrengender Tag. Gottesdienst, Regimentsappell, Mannschaftsessen in der Kaserne mit Schweinebraten, Klößen und Backpflaumen und leutseligen Fragen des Regimentskommandeurs auf seinem Rundgang von Stube zu Stube, dann das Liebesmahl im Kasino, nun noch abends die Kompaniefeste, in die er als gewissenhafter Vorgesetzter auch noch im Vorübergehen hineinschauen wollte – er hatte trotz des Roten Adlerordens auf einmal wieder die Stimmung: Zum Abschiednehmen just das rechte Wetter! und fing sein altes Thema an: ein, zwei Jahre ginge es noch mit dem Reiten, aber dann ... vor der Brigade ... Frau von Ottersleben unterbrach ihn. Sie saß ihm aufrecht gegenüber und sah ihn prüfend an.

»Thilo ...«

»Ja, Mallchen?«

»Wie denkst du dir denn nun, daß das mit Logow wird?«

Ihr Gatte machte eine ungeduldige Bewegung.

»Meine Beste ... ich stecke nicht in seiner Haut! Der Mensch ist zugeknöpft bis unters Kinn! Ich weiß nicht, was er vorhat!«

»Aber nachdem er nun die längste Zeit wie das Kind im Hause hier verkehrt hat ...«

Der Oberst erhob sich und schloß die vier mittleren Knöpfe seines Waffenrocks, die er der Behaglichkeit halber geöffnet hatte. Er sah auf die Uhr.

»Ich habe hier kein Heiratsvermittlungsinstitut!« versetzte er ärgerlich. »Ich hab' den Logow in meine Nähe gezogen, weil er weitaus der befähigtste Offizier des Regiments ist – überhaupt einer der befähigtsten Menschen, die mir in meiner fünfunddreißigjährigen Dienstzeit vorgekommen sind. Solche Elemente zu fördern, ist meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit als Oberst!«

»Thilo ... du bist nicht nur Oberst! ...« sagte Frau von Ottersleben in ihrer leidenden Bestimmtheit. »Du bist auch Vater und weißt so gut wie ich, daß es ein Geschenk des Himmels ist, daß unsere Töchter heiratsfähig sind, solange wir gerade das Regiment haben. Aber diese Zeit muß man nutzen!«

Ihr Mann zuckte die Achseln. Er war allerdings zu sehr Familienhaupt, mit wenig Vermögen und fünf Kindern, um sich dieser Erwägung zu verschließen. Dann wurde er gereizt: »Ich kann den Logow doch nicht am Kragen heranholen! Ich denke mir ja natürlich mein Teil und ich nehme an, er auch. Aber verpflichtet ist er zu nichts! Daß die Maxe bis über die Ohren in ihn verschossen ist ... das scheint ja klar, soweit man aus ihrer Verschlossenheit klug wird. Von da bis zu einer Aussprache ist es noch ein weiter Schritt. Den kann nur er tun. Und hat ihn, glaub' ich, noch nicht getan!«

»Nein. Ganz gewiß nicht! Das würde ich bei der Maxe gemerkt haben. Er hält sich merkwürdig zurück.«

»Weil er bisher nur seinen Generalstab im Kopf hatte – ehrgeizig wie er ist! ... Jetzt werden wir ja sehen. Das müssen wir alles ruhig den nächsten Tagen und dem lieben Herrgott überlassen! ... Mische nur du dich nicht hinein. Damit verdirbst du alles! Und nun komm – gib mir 'nen Kuß! Wir wollen uns zu Kaisers Geburtstag nicht zanken! ... Ach ... da sind Sie ja, lieber Rudicke! Zu Hause alles wohl gefunden? Na – dann kommen Sie! ... Vorwärts ins Vergnügen! ... Ich bring' heut Flöhe mit nach Hause, Mallchen! Das geht nicht anders!«

Die Kompaniefeste wurden an verschiedenen Stellen der Stadt in Wirtschaften und Brauereien gefeiert. Der Oberst und sein Adjutant betraten zuerst durch einen halbdunklen, schmutzigen, mit Schneewasserpfützen erfüllten Hof den Saal zur ›Krone‹. Drinnen war es gedrängt voll – Musketiere, Dienstmädchen, Ladnerinnen, Unteroffiziere, Bürgertöchter durcheinander, ein Gelächter und Gekreisch, rote Gesichter, Menschengeruch, Bierdunst, Tabakqualm. Am anderen Ende das Gefiedel der Musik, hinten das Podium für die große Gala-Elite-Vorstellung der dritten Kompanie, die der jüngste Leutnant seit Wochen eingeübt: Erst ein lebendes Bild – die Büste des Kaisers, davor der Einjährige Korn in einem weißen Frisiermantel seiner Schwester, in Blechrüstzeug aus der Büchsenmacherwerkstatt und in einer strohblonden Perücke als Germania, dann ein Schwank der anderen Einjährigen: ›Ein Viertelstündchen auf der Wache‹ – weiter dann das Auftreten des Kompaniekomikers, eines Berliner Jungen, als Coupletsänger. Jetzt eben die große Produktion der Akrobatengruppe Hopserini, neun Mann hoch, in etwas verschwitzten, von einem Athletenklub ausgeborgten Trikots. In drei Gliedern übereinander stehend bildeten sie eine Pyramide – tosender Jubel scholl unten – zwischendurch eine schneidende hohe Kommandostimme: »Famos, Jungens! Das müßt ihr uns noch mal vormachen! ... Ganz famos!«

Ein hochgewachsener, überschlanker Offizier stand da, die Hände in den Paletottaschen, die Mütze ein bißchen schief auf dem linken Ohr, darunter kurzes, hellblondes Haar. Man hätte ihn von hinten für einen Leutnant halten können. Aber als er sich jetzt umwandte, leuchteten die breiten, scharlachroten Klappen des Generals auf seinem Mantel, und aus dem mit goldenem Lorbeer und Eichenlaub gestickten Halskragen hingen die hohen Orden zweiter Klasse eines Würdenträgers der Armee. Er lachte verwegen unter seinem kurzgeschnittenen blonden Schnurrbart, seine feurigen blauen Augen, die ein kaum merklicher Kranz ganz feiner Fältchen umrahmte, lachten mit. Er wies auf die Truppe: »Schauen Sie sich mal Ihre Jungens an, Herr Oberst! ... Fix wie die Deibels! ... Kinder, ihr könnt euch noch im Zirkus Renz euer Brot verdienen! Bravo! Bravo!«

Er klatschte lebhaft in die Hände und schenkte den atemlos mit dem kleinen Finger an der Trikotnaht vor ihm stillstehenden Künstlern erst jedem eine Zigarre, dann allen zusammen ein Zehnmarkstück. Die Akrobaten strahlten, die Kompanie strahlte, die Dienstmädchen und Ladenfräulein strahlten mit. Der Generalmajor Olaf von Glümke war überall in seiner Dienstzeit der Abgott der Mannschaft gewesen, in Berlin, wo er einen großen Teil seiner Laufbahn in der Garde verbracht, wie jetzt als Brigadekommandeur in der Provinz, obwohl er als solcher kaum mit den Leuten in Berührung kam. Aber er gehörte zu ihnen. Es ging ein Fluidum von ihm aus. Er stand so selbstverständlich da, zwischen den Musketieren und ihren Schätzen, als könnte das Fest der dritten Kompanie ohne ihn gar nicht stattfinden.

»Da ist doch noch Leben!« sagte er befriedigt zu dem Oberst, seinem Untergebenen. »Leben gehört in die Bude! ... Das andere findet sich dann von selbst.«

»Es freut mich, daß Herr General mit dem Geist der Leute zufrieden sind!« erwiderte Herr von Ottersleben, halb dienstlich. Sein Grundsatz war: Schießen – schießen und wieder schießen! Sie waren beide ausgezeichnete Soldaten, jeder in seiner Art. Sie zogen an zwei verschiedenen Strängen. Herr von Glümke lachte.

»Hier hör' ich doch wenigstens nichts mehr vom Zukunftskrieg mit Rußland!« sagte er vertraulich. »Den halben Abend hat die Generalität im ›König von Preußen‹ das Problem gelöst. Aber an Kaisers Geburtstag ist mir's wurscht, wann die Rokitnosümpfe zufrieren! Da will ich Mensch sein! ... Puh ... stinkt das hier! ... Adieu, Kinder! ... Tanzt feste! ... Adieu! Adieu!«

Er wandte sich an den Regimentskommandeur, der ihn bis zum Saalausgang begleitete: »Sie haben's gut, lieber Ottersleben! Sie kehren von dem Volksfest hier heim zu Weib und Kind! Ich armer Junggeselle muß mir nu eigenhändig im Stall meinen Gaul satteln und noch ein Stündchen spazieren traben!«

General von Glümke stammte aus der Infanterie. Aber er war immer Adjutant und leidenschaftlich im Sattel gewesen. Er ritt stets nur fünf- und sechsjährige Pferde, ausgezeichnet, aber mehr noch keck als kunstvoll. Solch ein Galopp im Mondschein über den Schnee war bei ihm nichts Ungewöhnliches. Es war immer, als hätte er eine Sprungfeder im Leib – so elastisch eilte er auch jetzt mit langen Schritten wie ein ganz junger Offizier die Straße hinab. Oberst von Ottersleben sah ihm schweigend nach. Fast mit einem leisen Neid. Der dort drüben jagte auf halbrohen Gäulen über Stock und Stein. Und er ... ja, er hatte nun einmal seinen Knacks beim Reiten ...

»Kommen Sie, Rudicke!« sagte er halb seufzend zu seinem Begleiter. »Wir wollen nun auch weiter!«

Es war immer dasselbe Bild – drei-, viermal hintereinander. Als sie in den Saal der fünften Kompanie traten, hatte man eben angefangen zu tanzen. Der kleine stämmige Hauptmann Neugereuth eröffnete die Ehrenrunde mit der Feldwebelin, Frau Neugereuth mit deren Mann, der streng dienstlich und ernst, der hohen Auszeichnung sich bewußt, seinen blütenweißen Handschuh Nummer achteinhalb um ihre schlanke Taille legte, die Leutnants walzten, mit wem es ihnen gerade gefiel. Die Musketiere, die untereinander eifersüchtig waren wie die Tiger, strahlten vor Genugtuung, wenn einer der Herren ihre errötende Sonntagnachmittagbekanntschaft zum Tanz aufforderte. Auch Erich von Logow war da und tanzte mit seiner gewohnten gelassenen Ruhe, erst mit der Frau des Vizefeldwebels, dann mit der eines Sergeanten, und schwatzte dabei mit ihnen Unsinn, daß sie beide laut lachen mußten. Ihm war das heute Dienst und Pflicht, wie morgen irgend etwas anderes. Sein Oberst hatte ihn beobachtet und scherzte, als jener glücklich die rundliche Sergeantengattin wieder vor ihrem Stuhl gelandet: »Na – noch so eifrig, Hauptmann von Logow? Sie hätten es eigentlich gar nicht mehr nötig! Sie gehören ja nicht mehr zu uns!«

»So rasch fühle ich mich dem Regiment nicht fremd, Herr Oberst!«

»Das wollen wir hoffen! ... Am ersten Februar melden Sie sich wohl in Berlin?«

»Zu Befehl, Herr Oberst!«

»Grüßen Sie mir dort, wen Sie an Bekannten sehen! ... Und ...« Herr von Ottersleben wollte fortfahren: ›Lassen Sie einmal etwas von sich hören!‹ aber er brachte es nicht heraus. Er dachte an das, was er vorhin seiner Frau gesagt. Er wollte um keinen Preis dem jungen Mann da vor ihm irgendeinen Wink zukommen lassen, daß er ihm als Schwiegersohn willkommen war. Er vergab seiner Würde nichts.

Aber sonderbar: Erich von Logow wurde plötzlich rot. Man sah es ganz deutlich – unter den Schläfenhaaren – auf den Wangen. Er stockte und sagte dann unsicher: »Ich möchte Herrn Oberst gern etwas fragen ...«

»Bitte!«

»Nein. Nicht hier!« Der junge Hauptmann hatte etwas in der Kehle. Er schluckte es hinunter und fuhr entschlossener fort: »Würden Herr Oberst die Güte haben, mir eine Stunde zu bestimmen, wo ich Herrn Oberst in einer für mich sehr wichtigen Angelegenheit – ich darf wohl sagen, der wichtigsten, die es für mich gibt – in seiner Wohnung sprechen kann?«

Das entscheidende Wort war gefallen. Das war die Ankündigung der Werbung. Die beiden Männer blickten sich einen Augenblick stumm an. Dem Oberst von Ottersleben fiel ein Stein vom Herzen. Aber er ließ sich nichts merken.

»Ich stehe gern zur Verfügung, lieber Logow!« versetzte er. »Also ... Dienst haben Sie ja nicht mehr ... Paßt es Ihnen morgen um zwölf?«

»Zu Befehl!«

»Na – dann auf Wiedersehen!«

»Gute Nacht, Herr Oberst! Bitte gehorsamst, mich den Damen zu empfehlen!«

Es war ein eigener kräftiger Händedruck, mit dem sie sich trennten. Erich von Logow konnte genug daraus entnehmen, um seiner Sache sicher zu sein. Oberst von Ottersleben war sehr zerstreut, während er seinen Rundgang durch den Rest der Kompanien fortsetzte. Er gab ein paarmal ganz verkehrte Antworten auf Bemerkungen seines Adjutanten und eilte sich, zu Ende zu kommen. In die zwölfte Kompanie schaute er nur eben noch hinein, um die kleinen Füsiliere nicht zu kränken. Es drängte ihn nach Hause, damit er dort seine Frau noch wach finden und ihr die Neuigkeit noch mitteilen konnte. Und im Eintreten schon sagte er rasch zu ihr: »Also – die Geschichte ist in Ordnung! Morgen mittag kommt Logow und hält an! Punktum! ... Schluß! ... Streusand drauf! Ich bin doch recht froh, Mallchen!«

Um dieselbe Zeit verließ Erich von Logow das Kompaniefest. Langsam schritt er die Straße entlang. Das Schrillen der Tanzmusik, das Stampfen der Kommißstiefel auf den Dielen, das Gequieke der Mädchen klang ihm noch im Ohr. Er atmete tief die kalte Nachtluft ein. Es war ihm noch wie ein Traum, und kam ihm erst jetzt wieder recht zum Bewußtsein, was ihm drinnen, in Staub, Hitze, Schweiß und Tabakdunst wie durch einen Nebel in die Ferne gerückt erschienen: daß er, der da ging, nun Hauptmann im Großen Generalstab war. Er kam sich selber fremd vor. Er hatte eine ungläubige Achtung vor sich. Er war mit sich zufrieden. Er hielt die Lippen zusammengepreßt und sah vor sich hin, starr in die Nacht hinaus. Das Heute war nur der Anfang. Die erste Sprosse der Leiter. Nun vorwärts! Immer höher empor ... immer höher ...

Er war zu erregt, um schon schlafen zu gehen. Er stand auf dem großen Marktplatz. Überall waren noch Leute, lachten unter den Laternen, sangen, lärmten auf dem Heimweg. Heute war Freinacht. Die Schutzleute sahen und hörten keine Ruhestörung. Zur Linken schimmerten hohe helle Scheiben. Im Bierhaus zur ›Klause‹, in das der junge Hauptmann eintrat, saß alles gedrängt voll von den Honoratioren der Kaisergeburtstagsfeier, wie sie nach Schluß ihrer offiziellen Feste hier wahllos durcheinandergeraten waren: Herren von der Regierung in Dreispitz, Frack und Degen, ein Tisch voll Landadel aus der Umgegend in Attila, Koller und Litewka der Reserve, mit Schmissen bedeckte, bändergeschmückte alte Herren des hohen Kösener 3. S.C., rote Infanterie-, schwarze Artilleriekragen, blaue Dragonerröcke der Garnison. Heute stellte man sich einander nicht vor. Es gab keine preußische Förmlichkeit. Man redete sich einfach an. Man rückte zusammen. Es war wie auf einem Volksfest. Logow ging, einen Platz suchend, durch die Tabakwolken des Mittelgangs. Da rief ihn von einem Seitentisch der lange trübe Oberleutnant Eiser an: »Logow ... Logow ... zum Donnerwetter ... Hören Sie denn nicht? ... Setzen Sie sich mal daher ...«

Dann besann er sich, daß der bisherige Kamerad jetzt Vorgesetzter war, und verbesserte sich: »Verzeihung: wollen Herr Hauptmann vielleicht hier Platz nehmen?

Logow lachte und zog sich einen Stuhl heran. Der gute Eiser litt an der Oberleutnantsmelancholie. Er saß wie eine Trauerweide da, die Stirne auf die Hand gestützt, in menschenfeindlicher Alkoholstimmung, und fing sofort an zu klagen: Vierzehn Jahre war man nun bei dem Krempel. Und immer dieselbe Geschichte! Und wenn man nun glücklich seine Kompanie bekam – was hieß das: wieder zehn Jahre Kommiß! Denn er, der Oberleutnant Eiser, war nun einmal ein armer Frontproletarier und blieb es ...

Und während Erich von Logow die Klagen des guten Kerls anhörte, der alles, nur kein Kirchenlicht war, der keine glänzende Erscheinung besaß, der keinen alten Namen sein Eigen nannte und nicht genug Vermögen, um zu heiraten, der seine Laufbahn aller menschlichen Voraussicht nach an der Majorsecke beschloß, um dann still in das Dunkel des a. D. hinüberzugleiten, da fühlte er, so grausam es ihm selbst vorkam, in sich einen stählernen Stolz, ein Machtbewußtsein vor dem Schicksal, das ihm, vor tausend anderen, so viel gegeben: den sehnigen Körper, den uralten Adel, genügend Geld für häusliches Glück und vor sich Laufbahn im großen Stil. Und in ihm brannte eine Ungeduld, alles zu fassen ... alles zu erraffen ... sich alles Untertan zu machen im Leben ...

Sie hatten gezahlt und waren auf den Platz hinausgetreten. Im Scheine einer Laterne saß da der Zahlmeister Brauske mitten auf dem Bürgersteig, lächelte selig und zufrieden und antwortete dem Oberstleutnant Wahrmund, der sich, auf seinen Säbel gestützt, über ihn beugte: »Ich habe mich hier niedergelassen, Herr Oberstleutnant!«

Der Stabsoffizier stellte den dürftigen kleinen Mann mit Logows Hilfe auf die Beine und klopfte ihm den Schnee von der Sitzfläche und fügte dann im Fortgehen zu dem frischgebackenen Hauptmann: »Na, Sie Moltke der Jüngere ... Werden Sie nur nicht zu gescheit in Berlin!«

Es war Scherz. Aber die Hochachtung klang doch durch – das, was Erich von Logow vor sich selber und in sich selber wie einen Höhenrausch verspürte. Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt! Er überquerte mit seinem Gefährten den Platz. Auf der anderen Seite waren in dem Riesensaal der Aktienbrauerei, dem größten der Stadt, die Fenster geöffnet, um den Tabakwolken Abzug zu verschaffen. In bläulichem Rauch, vor schäumendem Bier, saßen da die Kriegervereine, Hunderte und Aberhunderte von Männern aller Stände, an langen Tischen, hohe Generale z.D., Reihen von befrackten, ordengeschmückten Würdenträgern an der Ehrentafel zwischen Handwerkern und Bürgern, und brausend tönte es aus diesen Massen von Männerkehlen hinaus auf den Markt:

»Von der Maas bis an die Memel, Von der Etsch bis an den Belt, Deutschland, Deutschland über Alles, Über Alles in der Welt ...«

und draußen im Freien rang der hagere elegante Landrat Doktor Graf Harffen in seiner knappen Husarenuniform der Reserve, das Monokel im Auge, förmlich verzweifelt die Hände: »Hören Sie's, Herr von Logow! Da singen sie nun, als könnten sie kein Wässerchen trüben! Und dann bei der Reichstagswahl, hier in der Stadt, siebentausendvierhunderteinundachtzig Stimmen für Schulze von der Sozialdemokratie« – er hatte die Zahl auswendig im Kopf – »und dann kommt erst der Liberale, und dann, 'ne Postkutsche später, erst wir. Ja nu – wann verstellen sich denn die Leute – jetzt oder damals? Oder kriegen sie in ihrer göttlichen Unschuld beides zusammen fertig? Mir ist's zu hoch!«

Er schüttelte bekümmert das scharfe Rassehaupt und zog mit ein paar sporenklirrenden Granden der Provinz und einem Johanniterritter weiter. Logow war mit dem Oberleutnant Eifer stehen geblieben. Um sie war niemand mehr.

Der andere frug plötzlich: »Logow ... wissen Sie auch, wie gut Sie's im Leben haben?«

Der junge Hauptmann war zuerst erstaunt. Dann nickte er: »Ich sag' mir: wenn's einem gut geht, so ist das nicht nur Glück, sondern auch Pflicht. Dann muß man auch was aus sich machen!«

Und in einer plötzlichen Offenheit, die seiner Natur sonst widersprach, setzte er hinzu: »Heute hab' ich so die Idee, es muß mir alles glücken! Was ich will, das kommt zu mir. Man hat so seine große Zeit. Die eine Hälfte hab' ich schon erreicht ...«

»Was wollen Sie denn noch?« meinte der Melancholikus trübe.

Erich von Logow warf den Kopf in den Nacken.

»Morgen krieg' ich's! Man muß nicht immer bescheiden sein! ... Ich geh' jetzt mal aufs Ganze! ... Und nun verzeihen Sie mir mein Gequatsch! Es kam mir nur so über die Lippen! ... Mir ist heut immer, als hätt' ich 'ne Pulle Sekt zu viel getrunken! ... Na ... gute Nacht, lieber Eiser!«

»Nacht, Sie oller Glückspilz! ... Pardon: Gute Nacht, Herr Hauptmann!«

Immer ruhiger wurden die Straßen, die der Hauptmann von Logow heute – zum letztenmal ohne Sporenklirren – durchschritt. Die Lichter in den Wirtschaften erloschen allmählich. Die Nachtschwärmer fanden nach Hause. Gassenweit regte sich nichts mehr als das Spiel des Ostwinds in leise geblähten Fahnen. Die wallten immer noch feierlich wie ein Nachhall des Festes durch das sternenhelle Dämmern. Drüben, am anderen Ende der Stadt, lehnte Maximiliane von Ottersleben in ihrem Stübchen am Fenster und schaute in die Nacht hinaus. Ihre Mutter hatte sich nicht enthalten können, noch einmal bei ihr anzuklopfen und ihr durch die Tür zuzurufen: »Kind ... eben ist Papa gekommen! ... Logow hat ihn für morgen mittag um eine ganz wichtige Unterredung gebeten. So. Nun weißt du's! Gute Nacht!«

Sie hatte nichts darauf erwidert. Sie brachte kein Wort heraus. Das Übermaß des Glückes machte sie stumm. Sie stand in ihrem weißen Gewand, mit gefalteten Händen, mit gläubigen Augen, andächtig wie eine Braut – harrend auf das Glück, dem diese Nacht sie leise entgegentrug wie im Traum. Es war so ruhig um sie, daß sie das schwere, freudebange Hämmern ihres Herzens hörte. Nichts rührte sich mehr, in den Straßen unten, über den Dächern und Fernen. Kaisers Geburtstag war verrauscht. Still schien der Mond über der schlafenden Stadt.

2

Inhaltsverzeichnis

Trüb brach der nächste Morgen an. In allgemeiner Unlust, aufzustehen, soweit es die königlich preußische Armee betraf. Es war ein Gähnen in den Kasernen, ein Sich-Recken in den Leutnantsbetten. Übernächtigkeit, Katerstimmung. Alltag. Des Dienstes ewig gleichgestellte Uhr. Freilich nur wenig Dienst. Ein bißchen Griffekloppen. Viel konnte man mit den Herren Offizieren und der Mannschaft heute vormittag doch nicht anfangen.

Erich von Logow war zeitig auf, nach seiner Gewohnheit schon vom Kadettenkorps her, in dem er als Waise, nach dem frühen Tod seiner Eltern, aufgewachsen war. Sein Kopf war klar. Er fühlte sich morgenfrisch und straff wie immer, aber voll einer Unruhe, die er kaum beherrschen konnte und die von Stunde zu Stunde stieg. Die Zeit kroch unerträglich langsam dahin. Ungeduldig schritt er in seiner Wohnung auf und nieder, ein paar spartanisch einfachen Räumen. Er hätte sich mit seinem Gelde üppiger einrichten können. Aber er legte keinen Wert darauf. Er verachtete jede Art von Verweichlichung. Er war auch nie lange hintereinander in seiner Garnison seßhaft gewesen. Militärturnanstalt, Kriegsakademie, ein Jahr lang schon einmal zur Dienstleistung beim Generalstab kommandiert, dann die Brigadeadjutantur – das Infanterieregiment Burggraf war immer nur der Ausgangspunkt und Stützpunkt seiner militärischen Laufbahn gewesen. Nun sagte er ihm ganz Lebewohl.

Es war erst zehn Uhr vormittags. Er wußte nicht, was tun. Er blieb vor dem einzigen Luxus seines Lebens stehen, dem Schrank mit seiner kriegswissenschaftlichen Bibliothek, langen Reihen in Halbfranz gebundener, abgegriffener, innen von Randstrichen und Tinteneintragungen erfüllter deutscher, französischer, russischer Bände, obenauf die Büsten der beiden Kriegsgötter, Napoleons und Friedrichs des Großen. Er dachte sich, wie er es zuweilen tat: ›Wenn die beiden gleichzeitig gelebt hätten und aneinandergeraten wären – Donnerwetter ja!‹ Er nahm ein Buch heraus. Es schien ein Heft der Einzelschriften des Großen Generalstabs zu sein. Ganz klar wurde es ihm nicht. Er stellte es auf seinen Platz und nahm seine Wanderung durch die Zimmer wieder auf. Der Bursche trat ein. Er brachte ihm Überrock und Mantel und grinste. Der Militärschneider hatte heute früh in aller Eile auf den Achselstücken den zweiten Stern, das Zeichen der Hauptmannswürde, befestigt. Erich von Logow fuhr in den Paletot, schnallte den Säbel um und setzte den Helm auf. Er hatte immer noch eine Stunde Zeit. Er wollte lieber solange noch draußen ein wenig auf den Straßen herumgehen. Er schritt an der Kaserne vorbei. Auf Leitern standen Musketiere und nahmen die Tannengirlanden von Kaisers Geburtstag ab. Auf dem kleinen freien Platz davor übte seine alte Kompanie, in Glieder auseinandergezogen. Der kleine dicke Hauptmann Neugereuth leitete den Dienst persönlich.

»Dazu hat man nun drei Herren!« sagte er erbost zu Logow. »Der eine versetzt, der andere auf Jagdurlaub, der dritte so höllenverkatert, daß er nich aus dem Bett findet! Na, der gute Solkowski wird noch ein unangenehmes Viertelstündchen erleben, wenn er wieder so weit Mensch ist.«

Erich von Logow lächelte zerstreut und ging weiter. Er hatte jetzt die Richtung nach dem Otterslebenschen Hause eingeschlagen. Seine Schritte verlangsamten sich unwillkürlich, je näher er kam. So konnte ihn ein junger Artillerieoffizier, der von einer Seitengasse einbog, mit wenigen Sprüngen einholen und schlug ihm von hinten auf die Schulter: »Logow ... Sind Sie auf dem Weg zu uns?«

»Ach ... Sie sind's, Ottersleben ...«

Der junge Hauptmann, dessen neue Gradabzeichen der andere nicht beachtete, schüttelte dem Feldartilleristen kameradschaftlich die Hand. Otto von Ottersleben, der ältere Sohn des Obersten, war ein auffallend hübscher Mensch von dem schlanken, hohen Wuchs seiner Schwestern. Er hatte weiche dunkle Augen. Etwas Einschmeichelndes und Liebenswürdiges in Stimme und Bewegungen. Um das rechte Handgelenk trug er ein silbernes Armband, seine Lackstiefel glänzten im Schnee. Ein feiner Hauch von Kölnischwasser, als Gegenmittel wider den Dunst der Pferdeställe, umwitterte ihn. Er meinte, sich mit der vom Handschuh befreiten Rechten, an deren kleinem Finger der Nagel einen halben Zoll lang gepflegt war, über die Stirne fahrend: »Ich hab' ein bißchen 'nen Brummschädel! ... Aber ich muß anstandshalber mal bei meinem alten Herrn antreten! ... Der Grotjan, der kennt den Weg als Bräutigam ja nu schon auswendig ...«

Sein Begleiter, der Pionierleutnant Hans Grotjan, der nun auch herangetreten war, trug behutsam den allmorgendlichen, in Seidenpapier geschlagenen Blumenstrauß für Dorle Ottersleben, seine Verlobte, in der Hand. Seine freundlichen und treuherzigen Züge leuchteten vor stiller Zufriedenheit. Er war glücklich, die Dorle zu kriegen. Er war mit Dienst und Vorgesetzten einverstanden. Er stand sich gut mit den Kameraden. Er hatte mit niemandem Streit. Seine hellblauen, klaren Augen entdeckten sofort den zweiten Stern auf Logows Achselstücken. Die beiden Leutnants gratulierten dem Hauptmann. Dann setzten alle drei, den neuen Vorgesetzten in die Mitte nehmend, ihren Weg fort, und der Artillerist gähnte: »Na ... ich bin nur froh, wenn ich nun bald hier 'rauskomme! ... mal keine Roßäpfel morgens rieche ... Herrschaften ... Berlin! ... Laßt mich nur erst mal dort sein! Ihr werdet euch wundern! ...«

»Das fürchtet dein Vater auch!«

»Ach, Papa hat ja keinen Schimmer!« meinte der Leutnant von Ottersleben mitleidig.

Logow achtete kaum auf das Gespräch. Er war blaß, als sie jetzt vor der Haustür standen. Aber das fiel heute, an dieser Art von Aschermittwochstag, keinem auf.

Dorle Ottersleben, die oben schon im Flur auf der Lauer gelegen, schleppte auf der Stelle ihren Bräutigam mit sich fort. Sie hatten im Salon ihre eigene ungestörte Verlobungsecke. In der tuschelten und raunten sie stundenlang.

Logow und der Sohn des Hauses begrüßten inzwischen im Wohnzimmer Frau von Ottersleben und ihre älteste Tochter. Maximiliane war nur zum Frühstück für einen Augenblick erschienen, blaß, verträumt, mit einem verlorenen Lächeln, hatte viel weicher und inniger als sonst den Eltern den Morgenkuß gegeben und sich gleich wieder in ihr Stübchen zurückgezogen. Ulla saß, als die beiden eintraten, am Fenster und beugte still den klassischen brünetten Kopf über eine Stickerei. Es war kein Leben in ihr, außer dem regelmäßigen Sticheln der weißen Finger und zuweilen einem leisen Aufhusten. Denn sie hatte sich wieder einmal erkältet und sah angegriffen aus. Dies Blutlose, Statuenhafte hatte sie meist, wenn sie mit sich und den Ihren allein war. Jetzt, bei dem Rasseln der Säbel, dem Klirren der Sporen draußen kam Ausdruck in ihren Blick, Wärme in ihre Wangen, während sie langsam das Haupt hob. Und wenn auch nur ihr Bruder und ein Freund des Hauses eintraten – sie brauchte Männer, auf die sie Eindruck machte. Einen ganz unpersönlichen nur, ganz ohne Nebengedanken. Sie mußte den Reiz ihrer Erscheinung an sich fühlen, um ganz zu werden, was sie war. Dann blühte sie auf einmal auf, wie sie sich jetzt leise lächelnd halb umwandte und den beiden vertraulich zunickte, begriff man, daß sie als das schönste Mädchen galt, das die Garnison seit vielen Jahren gesehen.

Erich von Logow war steif und förmlich vor Aufregung. Er verbeugte sich stumm gegen Frau von Ottersleben, die ihm freundlich die Hand drückte.

»Meinen Glückwunsch zum Hauptmann, Herr von Logow! Mein Mann erwartet Sie! Sie wissen ja den Weg in sein Arbeitszimmer!«

Sich auf der Schwelle von ihm verabschiedend, meinte sie zu ihrem Sohn: »Weißt du, Ottochen ... Eigentlich bist du gerade jetzt hier recht überflüssig. Du wirst später erfahren, warum. Wie wäre es, wenn du noch ein bißchen spazieren gingst?«

»Ich bin schon draußen, Mama!«

Der Leutnant schloß behutsam die Tür hinter sich. Er pfiff dabei durch die Zähne. Er begriff, was vorging. Er hatte es schon lange erwartet. Er mußte lachen, während er die Treppe hinabstieg. Es machte ihm Spaß, daß die Schwestern so abgingen wie warme Semmeln. Es schmeichelte seiner brüderlichen Würde. Komisch nur, daß nun ausgerechnet gerade die Ulla noch übrigblieb, die Älteste, die Schönheit der Familie ...

Zwischen der und ihrer Mutter herrschte, als sie wieder zusammen allein im Zimmer saßen, ein langes Schweigen. Endlich ließ Ulla die Hand mit der Nadel sinken und seufzte vor sich hin: »Ach ja ...«

Es war die Mattheit einer Ballkönigin im fünfundzwanzigsten Lebensjahr. Dann, als Frau von Ottersleben aufstand und sich ihr näherte, machte sie eine ungebärdige, abwehrende Bewegung.

»Ich bitte dich, Mama, laß mich in Ruhe! Ich weiß alles, was du sagen willst!«

Nach einer Pause, in der sie sich mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt hatte, fügte sie hinzu und nahm dabei ihre Arbeit wieder auf: »Ihr habt immer viel zu viel aus mir gemacht, Mama! Mich herausgeputzt und zur Schau gestellt, als wäre ich Gott weiß was! Nun rächt sich das! Das ist, wie wenn was zu teuer im Ladenfenster steht. Schließlich will's keiner. Die große Partie, die jahrelang in der Luft gelegen hat, ist nichts geworden! Ich bin nicht Gräfin geworden! Er ist fort! Und die anderen trauen sich nicht heran. Alle fürchten sich vor meinen Ansprüchen! Schließlich bleib' ich euch auf dem Hals!«

»Ulla ... sei doch nicht so verbittert!«

»Ja, ein Vergnügen ist's doch nicht, Mama, wenn die jüngeren Schwestern vor einem heiraten! Dadurch wird man viel älter, als man ist! Man gehört bald ganz zum alten Eisen!«

»Gönn doch der Maxe ihr Glück!«

»Ich tu's ja! Ich gönn' ihr ja, was sie mag! Ich will nur auch was für mich haben! Ich wollt', ich wär' so ein kleiner fideler Stöpsel wie 's Dorle! Die finden gleich ihr Publikum. Da war' ich längst versorgt und aufgehoben, und ihr wärt mich los!«

»Kind – das ist doch nicht dein Ernst!«

Das schöne Mädchen erhob sich und dehnte müde die Arme. Die hohe Gestalt vom weißen Morgenkleid umflossen, stand sie mitten in dem Zimmer.

»Gott ... zum Lachen ist's jedenfalls auch nicht, Mama! Wenn man so denkt: die Maxe, die noch kaum fertig ist – die immer noch Augen macht, als wäre sie gestern auf die Welt gekommen, die kriegt also, was sie will! Und ich ...«

Sie brach ab und sah sich vor dem großen Stehspiegel an und sagte langsam, im Anblick ihrer dunklen, tannenschlanken Schönheit: »Und ich ... ich ... schau mich mal an, Mama ... ich werd' also 'ne alte Jungfer! ... ich hab' so Angst davor ... so gräßlich Angst! Lieber alles als das!«

»Ulla – nun sei doch ruhig!«

»Lieber Gott! Ich bin's ja!« Sie ließ sich wieder an ihrem Fensterplatz nieder und griff nach der Stickerei. Ihre Hände zitterten, trotz der äußerlichen Teilnahmslosigkeit, die über sie gekommen war. Sie stach sich in den Finger, führte ihn an den Mund und sog mit zusammengepreßten Lippen das Blut. Dabei blickte sie düster vor sich hin, unter der Last einer Schicksalswendung, die sich an ihr vollzog, ohne daß sie sie recht begriff. Frau von Ottersleben sprach auch nicht mehr. Es war still in dem Raum. Aber ferne, über den Gang her, vernahm man aus dem Gemach des Obersten undeutlich den gedämpften Klang von Männerstimmen.

Maximiliane von Ottersleben hatte es in ihrem Stübchen gehört, als Logow draußen auf dem Flur vorbeiging, um sich zu ihrem Vater zu begeben. Sie kannte seinen raschen, gleichmäßigen Schritt. Nun war die Entscheidung da: die große Stunde. Sie fühlte eine Weihe über sich. Sie stand mitten in ihrem Zimmer, das auf die stille, verschneite Hintergasse hinausging, und tat vor sich selber ein Gelübde, den herben Reiz ihrer Züge von einem heiligen Ernst verklärt: Ich will seiner würdig werden. Er soll es nie bereuen, daß er gekommen ist. Ich geb' ihm Liebe um Liebe! Mehr Liebe, als er ahnen kann. Denn er hat ja noch nie offen mit mir gesprochen. Mehr Liebe, als ich selbst begreife. Ich hätte es nie geglaubt und niemand außer mir weiß es, daß man einen Menschen so lieben kann ...«

Von der Wand ihres Mädchenzimmers lächelte die Sixtina aus weißem Rahmen auf sie hinab. Sie schlang die Hände ineinander. Sie hatte feuchte Augen. Sie fühlte sich wie auf einer Insel voll hellem Sonnenschein, geborgen in Licht und Liebe, und draußen die graue Welt. Plötzlich faßte sie ein Schrecken. Die Angst vor dem Glück. Sie dachte sich, während ihr der Herzschlag stillstand: »Es ist zu viel für mich! Kann denn ein Mensch das tragen?« Dann erfüllte sie eine erlösende Bejahung. Sie hob tapfer lächelnd den Kopf: ›Die Liebe kann's! Die grenzenlose Liebe ...‹

Sie versank in Träumen, in Staunen: ›Woher hat er's nur gemerkt? Ich hab' gedacht, ich hätte mich nie verraten, in der ganzen langen schweren Zeit! Ich hab' meinen Stolz so ängstlich gewahrt. Aber es gibt ein Hellsehen der Herzen. Das ging von mir zu ihm, ohne daß ich es wollte und wußte, und kommt zu mir zurück.‹

Sie fühlte sich fromm und voll Dank und Demut. Sie sagte sich: ›Ich will von jetzt ab gut zu allen Menschen sein und meine Eltern und meine Geschwister noch mehr lieben. Ich will alle meine Fehler ablegen. Ich will das Beste aus mir machen, was ich kann, um seiner wert zu sein ... ich hab' ihn so lieb ... ich hab' ihn so unendlich lieb ... ich weiß nicht, was ich in der Welt anfangen würde ohne ihn ... da wär' ich lieber tot ...‹