Du Unbekannte. Der Roman einer Jugend - Rudolf Stratz - E-Book

Du Unbekannte. Der Roman einer Jugend E-Book

Rudolf Stratz

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Beschreibung

Aller Anfang ist schwer, das erfährt auch Ernst Wachsmut, als er nach Straßburg zieht, um dort sein Medizinstudium anzufangen. Die Kellnerin Walburg wird eine Stütze für ihn - vor allem, wenn es um die ausbleibenden Briefe seiner Kusine geht, die offenbar die verliebten Tage mit Ernst vergessen hat. Ernst nimmt die vorsichtig geflüsterten Ratschläge von Wally an, und er schlägt ihr eines Tages etwas gönnerhaft vor, ihr Straßburg zu zeigen. Das jünge Mädchen hat sich in Ernst verliebt und kann ihr Glück kaum fassen. Doch mit dem Beginn dieser Liaison ist ihr Schicksal besiegelt: Erst an ihrem Totenbett wird Ernst zu seiner Schuld stehen.-

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Rudolf Stratz

Du Unbekannte. Der Roman einer Jugend

Saga

Du Unbekannte. Der Roman einer JugendCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1928, 2019 Rudolf Stratz und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711507278

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

I

Schlag’ ihm aani uff — dem Dreckschwob!“

„Als bei, du Wackes!“

Das Gebrüll der raufenden Bubenhorde übertoste den Platz vor dem Elsässer Dorfkirchlein. Die Sommersonne schien hell. Die Bauern in ihren blauen Blusen und die Marktweiber in ihren schwarzen Flügelhauben schauten lachend zu.

„Was isch diss für e Krambol!“

„Immer, wann der kleine Prüssien dabei isch . . .“

„Der Sohn von dem altdietsche Sommerfrischler — dem Professor aus Strassburg.“

„Au fond isch es e gueter Bue!“

„Na — das freut mich zu hören!“ sagte barsch ein schlicht gekleideter Herr, der mit einer kleinen dicklichen Dame vorbeiging. Er trug auf einer unscheinbaren, mittelgrossen Gestalt einen derb-durchgeistigten, bärtigen Gelehrtenkopf mit blinkenden Brillengläsern. Seine Gattin sagte nervös durch das Zetergeschrei des kämpfenden Jung-Elsass:

„Da hast du unsern Herrn Sohn!“

„Es ist sein letzter Feriennachmittag hier, Sofie! Morgen früh sitzt er wieder in Strassburg . . .“

„Ach Gott — da geht die Rotte Korah wieder auf den Ernst los!“

„Er ist der Räuberhauptmann, und die kleinen Wackes sind die Gendarmen!“

„Kommt doch, ihr Rotzlöffel beisammen, wenn ihr Kurasch’ habt!“ schrie der kleine Altdeutsche.

„Eweck, du Bobbedickel! . . Au!“ Der vorderste Häscher plumpste rücklings auf das Pflaster. „Nu — du drecketer Teifel!“

„Schau nur, wie der Ernst die Dorfbengel verdrischt!“ sprach die Mutter erschöpft.

„Geben ist seliger als nehmen, Sofie!“

„Man könnt’ sich bald vor ihm fürchten, wie er da oben von seinem Bretterhaufen herunterdroht . . .“

Dem vierzehnjährigen Bub auf seiner Burg von Bauholz neben der Mairie flackerten die dunklen Augen in dem erhitzten frischen Gesicht. Die Mütze war ihm von dem brünetten Krauskopf geflogen, Kragen und Krawatte nur noch lose Fetzen um den blossen Hals. Er stand atemlos ganz vorn vor seiner Schar. Er deckte die Elsässer Spielkameraden hinter sich mit dem kampflustig vorgebogenen, dünnen Knabenkörper. Er war heiser vom Schreien.

„Heran, wer noch keine Keile ’kriegt hat!“

Aber unten wischten sie sich blutige Nasen. „Numme langsam!“ . . . „Nit so vif!“ Es traute sich keiner von den barfüssigen halbwüchsigen Polizeiorganen mehr so recht heran. Die Eltern des jungen Schinderhannes gingen weiter. Die Mutter seufzte:

„Manchmal mach’ ich mir doch Sorgen! Der Ernst ist gar zu wild!“

„Dafür ist er ein Bub, Mama!“

„Und wo er hinkommt, sind die andern Buben so dumm und tun gleich, was er will . . .“

„Sei doch froh, dass unser Einziger kein Schürzenmichele ist!“

Die Eltern hatten jetzt das Dorf im Rücken. Vor ihnen blaute und grünte weithin im Sonnengold das Rundbild des Elsass — die zerstreuten weissen Landhäuser, die bergansteigenden Rebenhalden, die grauen Burgruinen auf vorspringendem Luginsland, die dunklen Fichtenwälder und lichten Buchendome steil an den Hängen der Vogesen aufwärts bis zu den baumlos kahlen violetten Kämmen — der düsteren Grenzscheide gegen Frankreich. Die kleine dicke Mama schaute erschrocken zurück.

„Wenn nur der Ernst nicht jetzt was ausgefressen hat! Da rennt ein Mann aus dem Dorf und winkt hinter uns her!“

„… dass dich die Krott’petz’!“ murmelte der Professor auf gut Pfälzisch und schaute, die hohe Stirne runzelnd, über die Brille weg die Strasse lang.

„. . . oder es ist dem Ernst selber was passiert . . .!“

„Ein ganzer Haufe Volk läuft mit dem Mann mit!“

„Horcht mal, ihr Männer: is es der do?“ schrie atemlos der hemdsärmlige Werkmann und wies nach dem Ehepaar.

„Oui! Der Monsieur mit der Brill’ und dem Vollbart — diss isch ’r!“

„Leopold — bleib um Gottes willen ruhig!“ bat die Dame bang. Aber der Mann aus dem Volk, in abgetragener Arbeitsweste und blauen Monteurhosen, trat höflich, die Schirmkappe in der braunen Faust, heran. Er lächelte verlegen und aufgeregt über das gutmütige, schweissbeperlte Gesicht.

„Nemme Sie’s norr net krumm, dass ich so gerad’ dahergeloffe kumm’! Aber es bressiert halt!“ sprach er. Der Gelehrte war stehen geblieben.

„Ei — Sie reden ja das schönste Pfälzisch!“ meinte er wohlwollend.

„Jo, Herr! Ich bin aus der Rheinpfalz drüwwe! Ich bin norr alleweil hier am Neubau von der Märih beschäftigt!“

„No — da sind wir ja Landsleute!“ sagte der bärtige Hochschullehrer. „Ich bin der Sohn vom Ochsewirt aus Nussdorf in der Pfalz! Also — wo fehlt’s denn, lieber Freund?“

„Die Leuť sage, Sie wäre e Doktor!“

„Ich bin wenigstens Professor der Medizin an der Universität in Strassburg.“

„Wie ich dees g’hört hab’, do hab’ ich die Bein’ unner die Ärm’ genumme und bin gesprunge, dass ich Sie noch einhol’.“

„Ich bin aber in den Ferien hier, mein Bester! In meiner Villa da drüben! Ich praktizier’ hier nicht! Ihr habt ja einen Arzt hier im Dorf!“

„Der is doch üwwer Land!“ schrie der Pfälzer. „Der kummt erscht in e paar Schtunde wieder retour! Und unterdes verblutet sich die Krott’ ja. Do gucke Sie norr! Zeig’ mal her, Mamme!“

Auf dem Arm einer einfachen Frau sass erschöpft ein halbwüchsiges, hellblondes Mädel. Es sah für sein Alter noch sehr kindlich aus, aber seine dreizehn Jahre lasteten doch schon schwer und bogen der Mutter die linke Tragschulter schief. Dabei mahnte die kräftige Person noch die Kleine:

„Halt’ dein Beinche besser nach links in die Luft, mei’ Herzgebobbeltes, dass du mir’s Kleid net verdreckst“

Das Kind lächelte schwach und streckte das magere, strumpflos in einem staubigen kleinen Schnürschuh steckende Bein zur Seite. Es war schlicht, aber sehr sauber gekleidet und hatte ein reines, klares Gesicht mit einem feinen Näschen und blassen, schmalgerundeten Wangen. Das blosse, dunkelblonde Köpfchen war nett mit Wasser in der Mitte glatt gescheitelt und hinten, wo das dürftige Zöpflein baumelte, mit einer blauen Schleife herausgeputzt. Die Kleine schien weniger erschrocken als die andern, sondern eher verdutzt. Sie schaute aus den blanken, blauen Augen interessiert auf ihre mager unter dem kurzen Röckchen vorlugende, mit einem Leinwandfetzen umwickelte Wade. Es liess sich nicht erkennen, ob dies alte Taschentuch ursprünglich rotkariert oder nur vom Blut so gefärbt war. Immer noch tröpfelten dicke Purpurperlen langsam, in regelmässigen Abständen, unter dem Verband hervor zu Boden, und über die schnurgerade, in der Hundstagsglut des Jahres 1882 flimmernde Chaussee zog sich nach rückwärts im grellweissen Staub weithin die rote Spur. Der Professor legte der Kleinen beruhigend die Hand auf den blonden Scheitel.

„Nun erzähľ mal, mein Töchterle: was ist dir denn passiert?“

Das Kind sah ihm zutraulich in das bärtige Gesicht und nickte eifrig.

„Ich hab’ dem Babbe’s Esse nach der Mairie bringe wolle,“ berichtete es mit feiner Stimme, „. . . und wie ich da obe an der Protzeburg vorbeigeloffe bin . . .“

„Die Protzeburg nenne wir als das Schlössche da owwe!“ Ihr Vater zeigte hinüber nach dem höchsten der Rebenhügel am Fuss der Vogesen, wo zwischen Teppichbeeten und Gewächshäusern, hinter einer altersgrauen Steinbalustrade, ein langgestreckter altfranzösischer Edelsitz aus der Zopfzeit seine beiden dicken runden Ecktürme zum tiefblauen Himmel hob.

„Des isch das Château Geissau“, erläuterten Elsässer Stimmen aus der Menge. „Der Propriétaire isch e richer Fabrikherr aus Mülhuse.“

„Der Monsieur de Dietsch!“

„Der isch nur itzt im Sommer e kurzi Zit hier!“

„Na — Maidele — wer hat dir denn nun in der Protzeburg ’was getan?“ forschte der Professor.

„Da is uff einmol der Güstave rausgesprunge gekumme!“

,,Sell is nämlich der chrischtliche Name for e Köter vun dem Dietsch!“ schrie der Vater. „E Köter so gross wie e Kalb!“

„Babbel Kreisch net so!“ mahnte die Mutter.

„. . . den hawwe die Buwwe geneckt gehabt! Jetzt geht dees Schinnoos her und beisst der Walburg ins Bein!“

,,Na — davon stirbt man nicht, Walburgche!“ tröstete der Strassburger Gelehrte. „Jetzt bringen wir dich gleich mal da hinüber zu mir ins Haus! Sie, Pappa, springen unterdes in die Apotheke nach Verbandzeug! Und Sie, Frau,“ er wandte sich zur Mutter, „Sie kann das schwere Kind nicht länger tragen! Geb’ Sie es doch weiter! Es stehen doch Männer genug rum! . . . Herrgott, Ernst: Benimm dich nicht wie ein Neckarfleetz! Was ist denn das für eine Art, die Leute zur Seite zu puffen!“

„Weil ich das schaff’!“ schrie der Bub. Er hatte das Schlachtfeld der Räuber und Gendarmen im Stich gelassen. Er war noch atemlos vom Laufen. „Her mit dem Kind! Was — das Gewicht wär’ für mich zu viel? So ein Püppchen schlepp’ ich noch lang! . . . Jetzt legst mir deine Händ’ hinten um den Hals . . . dass ich ’s Gleichgewicht krieg’! . . . So . . . da schaut her!“

Den Oberkörper weit zurückgelegt, mit hochrotem, kampfzerzaustem Kopf, keuchend, zuweilen stehenbleibend und verschnaufend, trug der Gymnasiast seine Last die hundert Schritte durch den Garten bis zu der Villa. Hinter ihm nickte der Professor still vergnügt seiner Frau zu.

„Da guck den Lausbub an, Sofie! Der spuckt sich gleich in die Händ’!“

„Und die andern, die nicht so flink sind, dürfen zuschauen und ihn bewundern! Dann ist er schon zufrieden! Es ist ja bei ihm nur der Ehrgeiz! Ach, Leopold: Ich kenn’ doch unsern Sohn!“

Der Ernst hörte die Worte der Mutter nicht. Sein Herz hämmerte. Sein Atem flog. Er trug auf seinen Armen das Kind des Volkes in sein Elternhaus. Dort setzte er es vorsichtig in einen Sessel und trocknete sich mit einem fragwürdigen. Sacktuch die Stirne und hörte neben sich die Stimme des Vaters:

„So! Nun mach’ dich weiter nützlich und geh’ mir beim Verbinden zur Hand! Das ist eine gute Vorübung. Du wirst ja doch einmal Arzt . . . und wenn du noch so grossartig das Gesicht verziehst! Die Fisematenten kenn’ ich! Das imponiert mir gar nicht! Nun wasch’ dir gefälligst erst die Hände gründlichst mit Nagelbürste und Karbolseife! Und dann hol’ einen Eimer Wasser und wirf die Sublimatpastillen da hinein!“

Das Wasser färbte sich schön rosenrot. Der Ernst hob den Krauskopf von der Schüssel und beobachtete, wenn er auch nicht Doktor werden wollte, doch voll unwillkürlicher Neugier, wie der Vater mit merkwürdig leichten, schnellen Fingern die Lappen von der dünnen Kinderwade löfte. Da war der Hundebiss. Man sah deutlich die bläuliche Kerbe der Schneidezähne und die beiden tieferen Löcher der Eckzähne in der dunkelrot geschwollenen Haut. Der Professor wusch, desinfizierte, verband. Gab der Kleinen einen freundschaftlichen Klaps und sagte:

„In vierzehn Tagen kannst du wieder tanzen gehen, Mamsellche! Ihr dürft ganz ruhig sein — die Eltern! Tragt das Kind jetzt nur heim! Die weitere Behandlung übernimmt dann der Kollege aus dem Dorf!“

„Und wieviel koschť das jetzt, Herr Doktor?“ frug der Pfälzer und kramte wirklich schon in der Tasche seiner blauen Monteurhose. „Nix? No sag’ ich aber schönstens Merci!“

„Bedank’ dich, Walburgche!“ mahnte die Mutter. „Das Kind kann sonst so liebe Knickse mache! Awwer jetzt geht’s net! Gib wenigstens schön die Hand!“

„Vergelt’s Gott viel tausend Mal“, sagte die Kleine herzlich mit ihrer feinen Stimme und reichte vom Arm des Vaters herunter dem Professor und dann dem Ernst das magere Pfötchen. Dann wanderte die Pfälzer Familie davon in die Sonnenglut des Elsass hinaus. Auch der Gelehrte langte sich im Flur den Strohhut vom Haken.

„Wohin denn noch vor Tisch bei der Hitze, Leopold?“ rief seine Frau aus dem Wohnzimmer.

„Ich muss doch auf alle Fälle hinüber nach dem Château Geissau und mir das Mistvieh von Hund anschauen, ob es nicht einen verdächtigen Eindruck macht . . . gerade jetzt in den Hundstagen . . .“

„Überlass das doch der Polizei . . .“

„. . . bis die kommt, kann der Köter noch zehn Menschen gebissen haben . . . Es wäre doch die Möglichkeit von Tollwut-Symptomen . . . Ja . . . Sofie . . . dafür ist man nun in Herrgottsnamen mal Arzt! . . . Komm mit, Ernst!“

Backofenglut zitterte über dem schattenlosen Weg. Breitblättrig buschten sich zu beiden Seiten die Tabakstauden und mit dottergelben Körnertrauben die Maiswedel. Hopfengerank wand sich um hohes Drahtgespinst. Die Rebstöcke standen, mit noch fast unsichtbaren hellgrünen Beeren, tausendfach in Reih und Glied. Schwer schwankte das erntereife Gold der Ähren. Vater und Sohn gingen schweigend durch die Fülle des scheidenden Sommers. Endlich sagte der Professor:

„Ernst — es wäre mir lieb, wenn du nicht fortwährend mit den Fussspitzen gegen den Boden stossen und unnütz Staub aufwirbeln möchtest! Warum schlurfst du denn hin mit ’m Gesicht wie zehn Tag’ Regenwetter?“

„Weil du vorhin wieder gesagt hast, ich sollte Arzt werden!“

„Na — und?“

„Du weisst ja, was ich werden will“

„Du malst mit Feuereifer, du zeichnest, du modellierst!“

„Ja — eben . . .!“

„. . . und hast ausserdem noch einen Haufen kleiner Gaben! Du fingst. Du verzapfst bei der Klassenaufführung die Klytämnestra. Du hältst Volksreden an deine Mitschüler . . .“

„Ich bin eben vielseitig . . .“

„Aber etwas leisten, heisst heutzutage einseitig sein — leider — Glaubst du, ich hätte das nicht auch empfunden, obwohl ich es doch ganz hübsch weit gebracht hab’ — für einen Bauernsohn aus der Pfalz! . . . Du tummelst dich in allen möglichen Künsten!“

„Das ist doch schon eine ganze Menge . . .“

„Aber nicht eine Menge Ganzes, sondern eine Menge Halbes. Und alles Halbe im Leben ist Ballast und muss über Bord!“

Der Knabe lächelte nachrichtig zu der Weisheit des Alters und schwieg. Der Vater scheuchte mit der Hand eine summende Hornisse. Nach einer Weile begann er:

„Das Gefährliche, Ernst, das ist der Beifall, den so ein Tausendfassa wie du mühelos überall einsackt. Deine Mama macht Augen wie die Kugeln, wenn sie dich sieht. Deine Kameraden staunen dich an, wie die Kuh das neue Tor. Sogar die Lehrer sind nicht gescheiter. Der alte Keiler ist ganz vernarrt in dich . . .“

„Die wissen eben besser, was in mir steckt!“

Der Professor lachte und legte kameradschaftlich den Arm um die Hüfte des neben ihm schreitenden Knaben.

„Mein lieber Junge: in dir steckt vor allem ein mordsmässiges Selbstgefühl! Das ist dir angeboren, und deine Umgebung und du selber tun alles, damit das Pflänzchen recht ins Kraut schiesst. Überall musst du das grosse Wort führen! Überall musst du der Erste sein!“

„Einer muss es doch sein!“ rief der Ernst hitzig.

„Du bist sehr für die Heldenbewunderung. Aber der Held, den du bewunderst — den siehst du, wenn du vor dem Spiegel stehst!“

„Pah . . .“

„Das ist bei dir so die richtige Antwort! Ich halte sie den beginnenden Flegeljahren zugute.“

„Danke, Papa!“

„Aber mach’ auch nicht so ein unglückliches Gesicht, dass du an solch einen alten Esel von Vater geraten bist, Ernst: ich mein’ es gut mit dir! Lauf du meinetwegen in deiner freien Zeit mit dem Keiler und pinsel’ die Vogesen. Die Vogesen haben schon viel durchgemacht. Die können sich nicht wehren! Aber wenn es mal an die Berufswahl geht, dann rede ich auch ein Wort mit, mein Sohn, und zwar gründlich! So . . . uff — da sind wir endlich an der Protzenburg! Na — dem Monsieur aus Mülhausen scheint es wirklich an Kleingeld nicht zu fehlen. Schau’ nur die Teppichbeete!“

Die Blumenschnörkel zu beiden Seiten des Gartenwegs leuchteten buntscheckig wie eine Malerpalette in der Sonne. Aber wenn man näher hinsah, waren es nur die drei Farben blau — weiss — rot, die in verschiedenen Schattierungen immer wiederkehrten: Die Trikolore der französischen Republik jenseits des hinter dem welfchen Schlösschen aufsteigenden Wasgenwalds. Im Dämmern der Türwölbung schimmerte das weisse Häubchen einer öffnenden Jungfer. Der Gelehrte gab ihr seine Karte.

„Bitte fragen Sie Herrn de Dietsch, ob Universitäts- professor Leopold Wachsmuth aus Strassburg ihn einen Augenblick sprechen kann!“

„A votre service, Monsieur le Professeur!“ Der grosse Mülhauser Spinner kam selbst aus dem offenen Gartensaal dem Besucher entgegen. Er war ein grosser, magerer und knochiger Mann mit viereckigen Schultern und langen Beinen. Rötlicher Haarbusch über der starken Stirne. Rötlicher Vollbart. Die an sich barsche und befehlsgewohnte Stimme jetzt geschmeidig höflich, während er den Gast in die kühle Halle geleitete. „Permettez que je vous présente à Madame de Dietsch!“ Er machte eine Handbewegung gegen eine wohlbeleibte Dame in mittleren Jahren, die gezwungen über das ganz weiss gepuderte Gesicht lächelte, und ging in recht gutes Hochdeutsch über. „Meine Frau stammt aus Nancy. Sie spricht leider nur Französisch! Hier — Monsieur Davignon aus Mülhausen — Monsieur Werlé — meine Geschäftsfreunde — nun — man kennt ja im Elsass diese Namen — Madame Werlé — mein Jagdgast: Colonel Le Blond aus Paris — bitte nehmen Sie Plagtz! Ihr berühmter Name ist mir nicht fremd, Herr Professor! Übrigens auch nicht der Ihres Herrn Schwiegervaters — des Ministers! . . . Er entstammte doch einer der ersten bayerischen Familien . . .oh — helfen Sie meinem Gedächtnis nicht — ein Baron Paur — nicht wahr? . . . Paur zu Rain! Nun — sehen Sie! Ich habe auch einige Interessen drüben in der Rheinpfalz! Ich hatte daher während der Amtszeit Seiner Exzellenz öfters mit ihm geschäftlich zu tun . . .“

„Mein Schwiegervater hat längst den Kram hingeschmissen! Der baut jetzt in Ruh’ seinen Kohl auf seinem Gut in Niederbayern!“

„O ja . . . leider . . . und da ist Ihr Sohn . . . Gymnasiast in Strassburg . . . vortrefflich! Und womit kann ich Ihnen dienen, Herr Professor?“

Der Ernst sass stumm da, während sein Vater mit dem Grossindustriellen aus dem Mülhauser Wetterwinkel im letzten Süden des Elsass sprach, und beobachtete, was eben Buben beobachten: — was der Herr de Dietsch für grosse Füsse hatte, in langen, vorn ganz viereckigen Stiefeln, und das weisse Reismehl auf dem Gesicht der Madame de Dietsch, als hätte sie sich mit einer Handvoll Staub von der Chaussee draussen eingerieben, und den martialischen schwarzen Schnurrbart des Pariser Obersten. Es war der erste französische Offizier, den der Gymnasiast sah. Schliesslich schaute er, mit seinem tiefbraunen Gesicht, auch nicht anders aus als andere Leute. Der Colonel redete in schnellem Französisch mit der Dame des Hauses und dem Fabrikanten. Man war mit einem Schlag, hier im Château Geissau, mitten im Elsass, in ein Stück Frankreich versetzt. Nur Monsieur de Dietsch unterhielt sich mit seinem Gast auf deutsch und stand auf.

„Also beglückwünschen wir uns, dass diese Tochter nur leicht blessiert ist! Ah bah — bah — bah — ordnen wir doch diese Bagatelle auf der Stellel Gestatten Sie, dass ich mein Scheckbuch hole!“

„Deswegen bin ich nicht in der Mordshitze herübergelaufen, Herr de Dietsch! Der Vater wird sich schon melden! Ich bin Mann der Wissenschaft! Mich interessiert es, den Hund zu sehen!“

„Den Güstave! Mein Gott — was weiss ich denn von ihm? . . . Er gehört meiner Tochter! . . . Maman: Wo ist Laurienne? Nebenan? Venez, ma petite! Duzwitt! Il y a du monde!“

Eine dreizehnjährige kleine Dame trat herein. Sehr hübsch das rosige altkluge Gesicht, die Gestalt klein und zierlich, mit winzigen, niedlichen Händen und Füssen. Sie hatte das rötlich blonde, gelockte Haar des Vaters und die dunkeln französischen Augen der Mutter. Sie war in ausgezeichnetem Pariser Geschmack, aber noch ganz als Bébé gekleidet, in kurzem, blauem Röckchen über den dünnen, wadenlosen Beinen und einer mächtigen rotweissen Schleife seitlings an der Taille. Sie war schon kokett. Sie spielte die Verwirrte, als sie von dem Unglück hörte. Sie markierte Angst um die kleine Walburg. Sie schlug dann, bei der Nachricht, dass es nichts Gefährliches sei, gefühlvoll die Augen auf: „Dieu merci!“

„Ich werde den Güstave holen!“ sagte sie dann. Ernst sprang auf und lief ihr in den Garten nach.

„Ich komm’ mit!“

„Pourquoi?“

„. . . damit er Ihnen nichts tut!“

„Güstave?“ Sie rundete seelenvoll das Mäulchen: „il est doux comme un mouton!“

„Ich versteh’ kein Französisch! Wir sind hier in Deutschland!“ sagte der Bub trotzig und ging neben ihr her. Nun konnte das kleine Fräulein de Dietsch auf einmal auch Deutsch.

„Diss ist mir tuttmemschos!“ sagte sie. „Sind Sie ein Prüssien?“

„Ein Bayer bin ich!“

„Oh — diss ist besser!“

„Das is auch tuttmemschos — Bayer oder Preuss! Wir sind hier alle Deutsche! Sie auch!“

„Une Alsacienne!“ sagte die Kleine diplomatisch. Alle ihre Worte klangen wie ein Echo aus dem Elternhaus. „Attention!“ sie klatschte in die Hände, „da kommt der Güstave quer über die Beete, wie er mich sieht! Venez — mon ami!“

Ein hochbeiniger Wolfshund sprang mit heraushängender Zunge, vor Freude winselnd, an Laurienne de Dietsch empor. Er legte ihr die Pfoten auf die schmächtigen Schultern. Sein Rachen überhöhte ihr rotblondes Haar. Sie stand unter seiner Last lachend und federnd aufrecht wie eine kleine Tierbändigerin. Ernst Wachsmuth betrachtete sie in stiller Andacht. Sie kraute dem Güstave hinter dem Ohr und gab ihm einen liebevollen Stoss.

„Die Gassebuwe haben ihn irritiert! Sonst ist er das beste Kamerädle von der Welt!“ sagte sie. „Allons! Gustave, mon petit! Präsentier’ dich à Monsieur le Professeur!“

Der Hund stand wedelnd in der Mitte des Saales und schaute aus klugen, glänzenden Augen zu den Menschen empor. Er liess sich mit der Seelenruhe des Familienlieblings durch die forschenden Brillengläser des fremden Herrn anfunkeln.

„In der Tat, Herr de Dietsch,“ sagte der dann, „das Tier macht gesundheitlich einen ganz stubenreinen Eindruck. Aber behalten Sie es jedenfalls der Sicherheit halber die nächsten Wochen hindurch gut im Auge!“

„Nun: um Sie ganz zu beruhigen, werde ich Ihnen seinerzeit noch mit zwei Zeilen ein Bulletin über Monsieur Güstave’s hohes Befinden erstatten! . . . Ha ha! . . . Keinen Dank . . . es war mir eine Ehre, Herr Professor!“

„Güstave — gib dem Herrle hübsch une petite main!“ mahnte das Kind Laurienne. Sie kniete neben dem Tier auf dem Parkett. Der Ernst stand davor und schaute, die erdfeuchte Hundepfote in der Hand, verträumt auf den rotblonden Wirrkopf hinunter und trollte sich dann hinter dem Vater über die Schwelle. Draussen, in freier Sommerhitze und Insektensummen, unter blauem Himmel, zwischen Rebengrün und Weizengold, sagte der Gelehrte, aus seinem aufgestauten Groll heraus, barsch wie im Selbstgespräch: „Und das nennen sie bei uns das Elsass regieren! Kriecherei vor den mit allen Pariser Wassern gewaschenen Notabeln, Hilflosigkeit gegenüber dem ersten besten Dorf-Curé, und gegen das Volk, das eine demokratische Verwaltung gewöhnt ist, den Unteroffizierston! Gott besser’s!“

Und weiter zu dem Sohn, als wäre das schon ein Erwachsener:

„Ein schöner Jagdgast, der Colonel! Diese französischen Gesellschaften haben überall die Jagden gepachtet und klettern das ganze Jahr in den Vogesen herum, damit sie für den Ernstfall alle Grenzpässe kennen! In Strassburg, rund um den Broglie, da schiessen sie auch Böcke — aber in ihren Amtsstuben — und merken vor lauter Verfügungen und Regiererei die nächsten Dinge vor ihrer Nase nicht! Manchmal möcht’ ich, ich wäre wieder über’m Rhein in Altdeutschland! Schau dir das Münster gut an, Ernst, vielleicht siehst du es nicht mehr lange! Deswegen reisen wir dieses Jahr schon vor Schluss der Ferien nach Strassburg heiml“

Gewaltig ragten im letzten Zwielicht Plattform und Turm der Kathedrale schon weithin sichtbar vor dem verblassenden Violett der fernen Schwarzwaldhöhen über die dämmernde Rheinebene. Ernst guckte, vom offenen Eisenbahnfenster aus, mit gemischten Gefühlen auf das feierliche Bild. Denn gleich hinter dieser steinern zum Sternenhimmel aufstrebenden Herrlichkeit stand drüben das langweilige Lyzeum. Man konnte es erwarten, dass man da bald wieder auf der Schulbank hockte. Aber das Münster wuchs unerbittlich aus der Nacht und kam näher und näher und überschattete das winklige Giebelgewirr Alt-Strassburgs. Dessen viele, grellrot durch das Abenddunkel leuchtenden neuen Ziegeldächer gerade vor dem Dom — das waren die Spuren der Belagerung von 1870 — die Neubauten an Stelle der weiten Brandstätten am Steintor vor der dritten deutschen Parallele. Der Gymnasiast konnte sich noch an die langen, grauen Trümmerhaufen des zerschossenen Walls erinnern, die wie Kraut und Rüben dagelegen, als er vor sechs Jahren mit den Eltern in Strassburg einfuhr. Jetzt war der verkohlte Kriegsschutt längst weggeräumt, und innen, in der glühenden, stickigen Stadt, wirrte und lärmte der Alltag um den Fiaker, der vom alten Bahnhof über den Kleberstaden nach der Blauwolkengasse rumpelte. Dort, in der Wohnung im ersten Stock, lag schon eine Depesche für den Vater. Er las sie und brummte etwas in den Bart und schüttelte den Kopf. Er sprach lange im Nebenzimmer mit der Mutter und schnauzte beim Herauskommen auf gut Pfälzisch den Sprössling an, der erwartungsvoll dastand.

„Halte jetzt gefälligst nicht Maulaffen feil, mein Sohn, sondern setz’ dich nur ruhig auf deinen Hosenboden und mach’ endlich deine Ferienaufgabe für das Lyzeum! Du wirst noch früh genug zu horchen kriegen, ob wir in Strassburg bleiben oder nicht!“

Das Lyzeum duckte sich halb verkrochen als ein düsterer alter Jesuitenbau an die Masse des Münsters. Auf dem Schlossplatz davor standen ein paar Wochen später, morgens um acht, zu Haufen, die Buben. Stürmisches. Hallo begrüsste den Ernst, den ungekrönten König der neuen Untersekunda. Seine Anhänger umringten ihren Häuptling. Er besass in den beiden feindlichen Lagern der Klasse seine Gefolgschaft. Er verstand sich auf das Kunststück, das selbst dem Statthalter der Reichslande, dem Feldmarschall von Manteuffer, nicht gelang, und brachte die Elsässer und die Altdeutschen unter einen Hut — hier den Charele Vogelin, genannt le petit Parisien, den Sohn des grossen Strassburger Advokaten, und den Schang Werlé, den Erbprinzen der Kattunfabrik drüben in Schirmeck — und dort den Julius Lautensack, den Sohn des kaiserlichen Ministerialrats bei der Statthalterei, und den Alexander, den Ältesten des königlich-preussischen Generalmajors von Willitzkow, und den Franz Gimber und noch ein Dutzend Auserwählte, die Ernst Wachsmuth seiner Gönnerschaft würdigte.

Und auch der Klassen-Ordinarius, der Keiler, blinzelte ihn, als der Unterricht begann, wohlwollend vom Katheder an. Der alte Junggeselle sah aus, als hätte sich der Wanderer Wotan aus Versehen in das Zimmer der Untersekunda verirrt. Wehender Graubart. Wehende graue Mähne. Wehender grauer Mantel. Ein Bass wie Sturm im Wald. Sooft er konnte, bei Nebelgeriesel und Nebelbrauen, strich er im Schlapphut, mit Skizzenbuch und Staffelei durch die Berge und pinselte Luft und Laub, Wolkenzug und Wassersturz, Mittagslicht und Mondschein. Denn in ihm stak ein Maler — ein verkannter Maler — einer, der es nicht hatte werden sollen, weil der Vater eben ein Hufschmied drüben im Renchtal war. Aber andere — die durften es besser haben! Die konnten was aus sich machen.

„Du bisch nit e Buresuhn wie ich, Ernscht!“ sagte er in der Pause in seinem Schwarzwälder Deutsch, wenn er sich gehen liess. „’s ische Schand g’nue mit mir und bliebt e gottsträflig U’recht. Aber du wursch e Kuenschtler! Du häsch des Zeug dazu, Atterli! Aus dir wird was Grosses — was ganz Grosses!“ und plötzlich wieder in Hochdeutsch verfallend, mit einem grimmigen Blick der buschigen Augen durch die Kerkerscheiben der Schulstube nach den unsichtbaren Wasgenwaldhöhen: „Sowie ich ein bissel hier mit dem Dreck im Reinen bin, dann marschieren wir mitenanner in die Vogesen und malen nach Herzeluscht!“

Im tiefsten Forst, wo noch Wildschweine und Wölfe hausten, rauchte da im Wasgenwald ein Kohlenmeiler — ein richtiger Meiler wie aus dem Mittelalter — mit der wabernden Lohe seines Flämmchengezüngels durch die Luftlöcher der Erdpackung über der still schwelenden Glut. Auf den weiten, windumpfiffenen kahlen Hochkämmen strichen da im Regen ganze Heere gespenstiger grauer Nebelfrauen, die Sonne malte tausend Goldkringel in den Säulendom hoher herbstbunter Buchen. Oben aus dem efeuumsponnenen verwitterten Bergfried spreizte ein Eichbaum wie ein geisterhafter Turmwart seine hundert Arme über die Burgruine, in der einst Ritter und Edelfrauen sich geküsst. — Der Keiler und der Ernst pinselten bienenfleissig das Alles mit Wasser und Öl. Sie füllten ganze Skizzenbücher. Sie malten von Samstag mittag bis Sonntag abend grün bemooste Hexenplätze und graue Heidenwälle und braune Holzhauerhütten. Nur den Menschen und Tieren gingen sie vorsichtig aus dem Wege. Die konnten sie nicht. Sie tuschten sie höchstens ganz klein, wie die Liliputaner, als Staffage in ihre Landschaftsstudien hinein.

Einmal tupften sie ein paar bedeutsame, winzige, scharlachrote Flecken in den Hintergrund einer öden, einsamen Hochweidefläche, über die in regelmässigen Abständen eine Reihe weisser Steinmale auf dem herbstlich dampfenden Boden hinlief. Das war der Trennungsstrich zwischen Deutschland und Frankreich, und dort jenseits von ihm schlenderten schon sonntäglich, trällernd und pfeifend, die ersten Rothosen — so nahe, dass ihr Zigarettenrauch herüberwehte, kleine blau-schwalbenschwänzige Infanteristen aus Gérardmer oder einem der anderen Grenznester drüben auf der welschen Seite, die ebenso von schlafenden Heeren starrten wie die Bergschluchten auf dem deutschen Vogesenhang.

Diese Skizzen vom Erbfeind waren die letzte Ausbeute gewesen. Nun schnallten der Professor Keiler und der Ernst befriedigt ihre Mappen zu und wanderten das Tal der Thur hinab nach Thann. Dort qualmten schon die ersten Fabrikschlote um das Theobaldsmünster, und drunten in Mülhausen, wo die Beiden bis zur Weiterfahrt nach Strassburg vor dem Bahnhof herumbummelten, verfinsterte sich der schon abendgrauende Himmel vom Rauch von hunderten von Schornsteinen. Die breiten, nüchternen Strassen wimmelten und wogten. Man hörte kaum ein deutsches Wort. Der Ernst bekam keine Antwort auf eine deutsche Frage. Erst als er sie auf französisch wiederholte, wies der nächste Vorüberkommende auf die Waldhöhe jenseits der Bahn:

„Monsieur de Dietsch? Mais oui! — Suivez la passerelle au-delà de la gare!“

„Das ist zu weit! Da kommt man heut nicht mehr hin!“ sagte der Gymnasiast mit einem Blick über die Eisenbahnbrücke weg zu dem von prunkvollen Villen der Grossindustriellen übersäten Rebberg.

„Was wilt denn du bei den Kaibs da obe?“ grollte der graubärtige Wotan neben ihm. „Das isch e welsche Bagag’, der Reih’ nach, wie sie gewachse sind!“

„Ja — der Papa hat auch gestern beim Frühstück wieder feste auf die Notabeln geschimpft und gesagt: denen kommt kein wahres Wörtle aus’m Maul! Das sehe man wieder an so’ner Kleinigkeit mit dem Dietsch! Von dem ist doch keine Zeile gekommen, obwohl er dem Papa extra versprochen hat, er wollt’ ihm schreiben, wie das mit dem Hund . . . Ach . . . jetzt da guck’ her!“

Der Gymnasiast unterbrach sich erfreut. Er liess seinen Mentor stehen und lief nach dem Bahnhof zurück, auf einen Backfisch zu, der da dünnbeinig und leichtfüssig im Strom der Reisenden herausschlüpfte, und zog überglücklich die Mütze.

„Wie geht’s dem Güstave, Mademoiselle de Dietsch?“ frug er schnell und aufgeregt. Die Dreizehnjährige vor ihm war schon kleine Dame. Sie streifte den fremden Jungen kaum mit einem frostigen Seitenblick. Erkannte ihn dann. Blieb stehen und zeigte lachend die kleinen weissen Zähne in dem hübschen Gesichtchen.

„Oh — Salü!“ sagte sie. „Der Chien — der befindet sich nit üwel! Der ist saïn et sauf!“

„Mais, Laurienne.“ Die Gouvernante, die im Bahnhofgetümmel zurückgeblieben war, flatterte wie eine Glucke heran und sah voll Entsetzen ihre Schutzbefohlene im Gespräch mit einem angehenden jungen Mann. Sie fasste sie am Arm. Sie schleppte sie mit sich fort. Sie begann atemlos: „Was hat denn diss zu beditte?“ Ihre weiteren Worte verloren sich im Wind. Der Ernst schaute verklärt dem kleinen Rotkopf unter dem grünen Mützchen nach. Die schwere Tatze des Wotan legte sich ihm auf die Schulter.

„Mir scheint, du hälscht es mehr mit dem Maidli da als mit dem Hund!“ sagte er strafend. „Schämsch di nit? Dafür bisch zu jung! Du brauchsch noch kein’ Schatz’! Los! ’s Zügli geht bald ab! Kumm mit nach Strassburg!“

Stockfinster stand die Nacht vor den Scheiben, als der Zug, sich der Festung näherte. Hoch über der unsichtbaren, wunderschönen Stadt glomm am schwarzen, sternenlosen Himmel ein einziger, rötlicher Punkt, und der Ernst dachte an den alten Strassburger Spass, dass da der höchstgestellte Beamte der Reichslande wohne: nämlich der Feuerwächter auf dem Münster. Den Dom selbst hatte die Herbstnacht verschluckt. Wie hatte der Vater vor ein paar Wochen gesagt? ,Guck dir das Strassburger Münster nur noch mal genau an! Vielleicht siehst du es bald gar nicht mehr!’ Der Papa war die ganze Zeit seitdem unruhig und erwartungsvoll, anders, als der Ernst ihn sonst in seinen verschiedenen Gestalten kannte: Gehetzt und zerstreut, die Uhr in der Hand, mit den Seinen am Frühstückstisch, gemütlich-grob mit den Patienten, kurz und barsch zu den Schwestern, in tiefem Ernst, nachdrücklich, langsam mit vielen lateinischen Worten sprechend, zu der Schar der ehrfurchtsvoll lauschenden Assistenten und Studiosen, und endlich, seiten einmal, fremdartig, fast unheimlich, in der Vermummung der Klinik, im langen, weissen, blutgesprenkelten Operationskittel, von einem durchdringenden Karbolgeruch und Ätherdunst umweht. Aber so ganz ohne Veranlassung nervös, wie am Nachmittag des nächsten Tages, gleich nach Tisch, hatte der Sekundaner seinen alten Herrn noch nicht gesehen. Es war noch lange nicht Zeit zur Sprechstunde. Trotzdem hob der Professor schnell den bebrillten Kopf, als es draussen klingelte, und brummte dann unwirsch: „Herrgott — Strohsack — ja!“, wie ’s Jülie, das Mädchen, den Kopf durch den Türspalt steckte und meldete:

„S’isch e Mann drausse mit’m kleinen Maidel! Das hat e Boukettche in’d Händ! Der Mann schwätzt so e Schwoweditsch üs d’r Pfalz! Er sait, er muess barduh zum Herr Professor!“

„Na herein mit der Landplag’!“ sagte der Gelehrte mit der Geduld des Arztes und seufzte gottergeben. Gleich darauf übersonnte ein väterliches Lächeln sein strenges, ironisches Gesicht. „Guck emal an: Das ist ja das Mamsellche, das neulich der böse Hund gebissen hat! . . . Und einen so schönen Strauss aus blauen und weissen Astern bringt’s mit — in den bayrischen Farben! Ha, Respekt: jetzt kannst du ja wieder ein Knickschen machen wie bei Hof! Setz’ dich, mein Töchterle!“

„Ich bin so frei!“ sprach die Walburg hübsch hochdeutsch mit ihrem feinen hellen Stimmchen und nahm Platz. Ihr Vater, der sonntäglich angezogene Werkmeister Lortz, blieb stehen. Der sonnengebräunte Pfälzer lachte dabei gutmütig.

„So unscheniert bin ich net, Herr Professor, dass ich Ihne Ihre koschtbare Zeit schtehl! Ich hab’ norr grad uff Strassburg gemusst, um e paar Armaturstücke zu hole! No hab’

ich mir gedenkt: Du nimmst die Walburg mit, damit die Krott sich noch emol schön bedankt!“

„Bist du denn wieder ganz beisammen, Kind?“ erkundigte sich der Ernst herablassend, mit der Würde des Gymnasiasten. Er hatte sich neben die Kleine gesetzt. Sie hob eifrig bejahend das zarte, blondbezopfte, mit einer blauen Schleife gezierte Köpfchen. Sie war für den Besuch in Strassburg niedlich von der Mutter herausgeputzt, blitzsauber abgeseift und glatt gestrählt, funkelnagelneu eingekleidet, mit roten Bäckchen und blanken blauen Augen wie eine eben frisch im Spielzeugladen gekaufte lebensgrosse Puppe.

„Mir fehlt nix mehr!“ sagte sie.

,,Aber eine Narbe hast du behalten?“

,,Sell schon!“ Sie klopfte mit der mageren Kinderhand auf die weisszwirnen bestrumpfte dünne Wade. „Aber das macht nix! Wir sind ja gehupft und gesprunge! So ein Pläsier haben wir g’habt!“

„Was hat euch denn so riesig gefreut?“

„Geld hawwe die in der Protzeburg zahle müsse!. . .ja . . . du liebi Zeit!“ Die kleine Pfälzerin vergass ihr mühsames Hochdeutsch. Sie schlug die Hände zusammen und hob mit offenem Mund andächtig die Augen zum Himmel. „Das Kleidche hier hab’ ich davon gemacht gekriegt mit Schuhche und e Hut — und Hemderche — e halbs Dutzend — und das Korallekettche um den Hals — is das net lieb? und ’s is noch arg viel Geld übrig gebliebe! Das liegt in der Sparkass’! Das g’hört mal für mei’ Hochzeit — sächt der Babbe!“

„Na — dann bist du ja jetzt eine gute Partie!“ Der Ernst lachte. „Vielleicht heiraten wir uns noch mal!“

„Ich lass’ mich alleweil wieder vom Hund vom Herrn Dietsch beisse, wann er mag! Der Babbe hat g’sächt: des hab’ ich gar net gewusst, dass so e Wädche so viel wert is!“

„Allons, Walburgche!“ Der Werkmeister nahm die Kleine bei der Hand. „Dem Herrn Professor is sei’ Zeit heilig! Do kummt ebe auch noch die Magd mit eme dicke Brief! . . . Also noch emol: Bleiwe Sie gesund und fröhlich! Sie auch — der junge Herr! Adje!“

Der Ernst geleitete Vater und Tochter auf den Vorplatz hinaus. Als er in das Zimmer zurückkam, stand da der Professor und schaute ihn, das geöffnete Amtsschreiben in der Hand, nach seiner Art über die Brille weg an.

„Jetzt ist es entschieden, Ernst!“ sagte er. „Meine Berufung auf den Lehrstuhl nach Giessen ist da!“

„Au! Fein!“ Der Bub machte einen Luftsprung. „Warum freut denn dich das so?“

„. . . weil’s was Neues ist!“

„. . . und hoffentlich was Gutes! Also: von jetzt ab gehst du in Giessen ins Gymnasium, und in vier Jahren machst du mir dort’s Abiturium und wirst ein Medizinmann wie dein Vater.“

II

„Heil Kommilitonen!“ Die helle Jünglingsstimme gellte durch die dicke heisse Rauchluft, in dem die Deckenlampen nur noch undeutlich wie trübe, gelbe, mitternächtige Monde schwammen. „Gestern hat man uns zum letztenmal Primaner geschimpft! Gestern haben wir uns zum letztenmal die Stiebel auf der Südanlage schief gelaufen! Das Zwing-Uri, das dort ragt, das Gymnasium, liegt hinter uns! Das Leben ruft! Gewaltig rauscht der Flügelschlag der neuen Zeit um unsere Ohren! Prost den Ganzen, ihr jungen Männer und Muli!“

Ernst Wachsmuth schwenkte, hoch in schlanker Jünglingsgestalt vom Präsidentenstuhl aufgereckt, das schäumende Seidel gegen die Abschiedskommers-Tafel der Abiturienten. Er hatte den erhitzten dunklen Krauskopf zurückgeworfen. Ein stolzes Lächeln spielte ihm um die trotzig geschnittenen vom ersten Flaum seiner neunzehn Jahre beschatteten Lippen. Seine braunen Augen flatterten hitzig den Tisch entlang und fegten in verächtlichem Mitleid über die leeren Stühle.

„Ich sehe viele hier, die nicht mehr da sind! Unsere Herren Professoren haben sich sachte verkrümelt! Die Schlappiers unter uns Freigelassenen, die Spiesser, die Nachtwächter, die Schürzenkinder haben sich gedrückt! Aber du, du heiliges Dutzend, du Leuchte dieser langstieligen Schuljahre — du Klassenbund: die Räuberhöhle — ihr seid mir treu geblieben! Prost! Euer Hauptmann grüsst euch!“

„Hippt in die Heh’! wir lebe hoch!“ rief in gutem Frankfurterisch das hagere, dürftige Stutzerchen neben dem Redner und feixte ironisch über das pfiffige, junge Gesicht.

„Silentium, Philippche!“

„Ei — man wird doch noch redde därfe!“

„Aber würdige Dinge . . .“

„Gott — ich bin halt ’n blasierter Mensch . . .“

„Kommilitonen!“ Der Sprecher wandte sich feurig an das Rund der Räuberhöhle. „Wir wollen dem Leben in das Medusenantlitz schauen!“

„Hört! Hört!“

„Es war nicht jeder so schlau, Philippche, wie du und hat ’nen Frankfurter Bankier zum Vater! Wir andern müssen aus eigener Kraft das Leben zwingen! Hoch das Leben!“

„Hoch die Weiwer!“

Halt’s Maul, du gottloser Frankfurter! Es lebe die Jugend! Es lebe die Zukunft! Es lebe das Glück! Jungens: Das hat schon der alte Napoleon gesagt: Glück ist. ’ne Eigenschaft! Die wollen wir gründlich besitzen!“

„Feierabend, ihr Herren!“ mahnte zum drittenmal von der Tür her der Wirt. Der Ernst strich sich mit der Hand über die Augen. Er kam aus seinem Höhenrausch zu sich. Sein frisches, erhitztes Antlitz wurde sehr feierlich.

„So gehen wir denn ins Leben hinaus!“ sprach er laut durch das Rücken der Stühle, das Zahlen und Mäntelanziehen. „Wir treten hinaus in die Nacht. Sie steht da draussen dunkel vor uns wie die Zukunft. Aber am Himmel oben funkeln alle Sterne und weisen uns den Weg! Hände her, Jungens! Bisher haben wir geochst! Jetzt wollen wir die zwei grossen Dinge im Leben üben: Wir wollen kämpfen und küssen! Lebt wohl! Lebt wohl!“

„Und du, Philippche!“ Er schob seinen Arm unter den des Frankfurters. „Trott’ jetzt nicht so geschäftig nach deiner Bude, als gingst du schon auf die Börs’! Ich kann noch nicht heim! Ich bin zu erregt. Wir wollen noch einen Mondscheinbummel durch das Städtchen machen!“

Das Philippche warf einen geringschätzigen Blick auf die grauen Rathausbogen und das mittelalterliche Holzwerk der Hirschapotheke, an denen in nächtlicher Stille ihre Schritte widerhallten.

„Adje, Giessen! Mir ist mies vor dir!“ sprach er. „Das war schon ’ne Fastnachtsidee von meinem Baba, dass er mich für das letzte Jahr hierher aufs Gymnasium getan hat, damit ich nicht zu frühzeitig in Frankfurt auf der Zeil verdorbe werd’! Etsch! Ich bin grad verdorbe!“

„Ach, Philippche! Du tust ja nur so!“

„Aber vielleicht hat der Baba in seiner Ei’falt recht gehabt, und es wär’ mit mir in Frankfurt noch ärger geworde! Ich bin doch so e junger Lebemann . . .!“

„Ein junger Mann fürs Leben soll man sein!“

Ernst Wachsmuth bog im Sturmschritt mit dem Freund um die Ecke nach dem Neustädter Tor zu. Er hatte sich die Mütze von dem dunkeln Wirrkopf gerissen und liess sich die erhitzte Stirne vom Nachtwind kühlen.

„Ach, Philippche! Das Leben! Das Leben! Jetzt liegt’s vor einem! Man möcht’ es mit den Armen fassen! Man möcht’s an sich reissen! Endlich ist man frei.“

Ernst Wachsmuth stand, draussen vor der Stadt, mit dem Philippche auf der Brücke. Unten glitzerte im Mondschein das spärliche Wasser der Lahn. Er schaute tiefsinnig hinab.

„Ich will viel vom Leben!“ sprach er. „Sieh . . . hier sind wir fast auf freiem Feld — unter Gottes reinem Himmel . . .“

„Ich will jetzt heim! Mich schläfert’s!“

„Philister! . . und um uns die dunkle kühle Nacht — und in einem ein Gefühl . . . ein Vorgefühl . . . weisst du, Philippche . . . Wir haben ja alle noch nichts mit den Frauen erlebt — du auch nicht, wenn du dich auch als einen ruchlosen kleinen Frankfurter Weltstädter drapierst . . . Aber jetzt, wo wir erwachsen sind — jetzt entschleiert sich uns das Bild von Saïs — vielleicht bald! Da, sieh mal, da — da . . .!“

Aus dem weisslichen Geflimmer der Milchstrasse hoch oben schoss eine Sternschnuppe märchenhaft, in leuchtendem Bogen, blitzschnell über den ganzen Himmel und fuhr irgendwo, fern, ein Gast aus anderen Welten, auf die dunkle Erde nieder. Der Ernst folgte mit verzückten Augen dem Meteor.

„Das ist ein Zeichen von oben!“ sprach er andächtig. „Philippche — ich glaub’, ich werd’ bald etwas Grosses erleben! Ich ahne, wie die Frau gewaltig, sieghaft in mein Leben tritt! Schau’: da oben steht, heller als alles umher, die Venus . . .“

„. . . . und dort drüwe steht e Latern’ und weist mir den Weg in meine Wohnung! . . Ich fahr’ morge früh nach Frankfurt heim! Am Nachmittag ist Rennen in Niederrad! Da könnt’st du mich in meinem ganzen Glanz bewundere! Ich glaub’, ich werd’ ’n argen Sükzess haben! Die ganze Haute-Volée ist da! Alle meine Frankfurter Verwandten! Mei’ Schwester, das Dorettche, kommt naus! Und Bäsche, die Schweremeng’! E ganzer Geflügelhof!“

„Und ich darf daheim Familie simpeln!“ sprach der andere erbittert.

,,Stuss!“ Das Philippche lächelte nachlässig und überlegen. „Komm doch ei’fach mit mir n’über nach Frankfurt! Ob ich dich wirklich mitnehm’? Was e dumm’ Frag’! Du bist doch mein Freund! Lass du dich ruhig morgen nachmittag von denne Frankfurter Mäderche begucke! Du schaust gar nicht so üwel aus! Ich wollt’, ich täť so e Figur mache wie du!

Also morge sind wir Kavaliere!“ Das Philippche langte vor seiner Wohnung an der Johanniskirche den Hausschlüssel aus dem Hosensack. „Zieh dich nor nobel an! Wir müsse als junge Swells auftrete! Gib dir was recht Blasiertes — Verstehst? . . . Die Frankfurter sind abgebrühte Leuť . . . So was nachlässig Ungeniertes! So e kleiner Klubmann! . . . Mach’ mir’s nach . . .“

„Ich dank’ dir, Philippche!“

„Kei’ Ursach’! Sela! Streusand drauf! Das gibt e Hauptkiwick! Morgen früh um 10 komm’ ich an’s Selterstor und hoľ dich ab!“

Am andern Morgen um zehn Uhr lag Ernst Wachsmuth noch im tiefsten Schlaf, unbekümmert um das Wagengerassel der hessischen Marktbauern von der Seltersstrasse her durch das offene Fenster. Über das holperige Pflaster trollte sich eilig, in der vornübergebeugten Haltung des Sportsmanns, das Philippche heran, das flotte Hütchen im Genick, in ganz kurzem, hellem Turf-Paletötchen, mit umgehängtem Krimstecher, wie ein junger Stammgast von Epsom. Vor dem Haus des Professors Wachsmuth hielt ein Dorffuhrwerk, das ihn zu einem Patienten nach auswärts abholen sollte. Einen Augenblick sah das Philippche oben im Flur durch die halboffene Tür den grossen Kliniker selbst stehen, schon in Hut und Mantel, die Kaffeetasse noch in der einen Hand, in der andern einen Stoss Morgenpost, über die sein bärtiges, nervös durchgeistigtes Gesicht sich hastig und ungeduldig beugte. Der kleine Weltmann machte, dass er ungesehen auf dem Gang an dem Vater Wachsmuth vorbeiwitschte, und stiess die Tür zu der Primanerbude auf und beobachtete aus verkniffenem Auge den von Ernst Wachsmuth mit der Schere ausgeschnittenen schwarzen Silhouettenfries von olympischen Göttern und Tieren längs der Deckenkante, die auf die Blümchentapete gehefteten Ölstudien, den tongekneteten kleinen Löwen auf dem Nudelbrett, die mit Kohle und Kreide schraffierten Skizzenblätter, in genialer Unordnung zwischen Hemd und Hosen und Stiefeln. Dann klatschte der kleine Frankfurter ungeduldig in die Hände:

„Do leiht das Laster und schläft! Uff, du Schinnoos! Guck: Da steigt dein Vater eben unten in die Chaise und fährt davon! Jetzt kannst eschappiere, mei’ Sohn! Los! Die Eisebahn wartet nicht! Und die Peerd’ im Wäldche noch weniger!“

Auf dem Rennplatz im Frankfurter Stadtwäldchen draussen am linken Mainufer stand die Dorett’, die Schwester des Philippche, inmitten des buntscheckigen, musiküberschmetterten Ameisengewimmels, im Kreise ihres Clans, des Patriziats aus den Taunusanlagen und der Bockenheimer Landstrasse, und ihrer vielen Dutzend Basen und Freundinnen, kleinen Goldfischchen aus dem Main mit schwerer Mitgift wie sie, und ihrer noch zahlreicheren Verehrer in der Neuen Börse drüben und den grossen Handelskontoren an der Zeil und aus den Millionärs-Villen in Wiesbaden und den Kavalleriekasinos ringsum am Main und Neckar und Rhein.

Ein breitkrempig aufgeschlagener, mit bunten Kunstblumen ausgeputzter Strohhut umrahmte über seidendunklem Löckchengeringel das schwarzäugige hübsche Puppengesichtchen der Dorett’ mit dem kirschroten Kindermund und der kleinen neugierigen Stupsnase. Die Taille presste eng und lang, vorn spitz zulaufend, ihr zartes Persönchen in der Mitte wespengleich zusammen. Weitfaltig bauschte sich darunter in Bändergeflatter und Rüschengeraschel, mit dem Saum gerade den Boden streifend und die kleinen Schuhe halb verdeckend, der Glockenrock aus schleierdünnem, teurem Seidenmusselin. Unter ihrem weissen Spitzenschirm, in weissem Kleidchen auf grünem Rasen sah das Dorettche aus wie ein grosses Stück Zucker, um das massenhaft die bunten . . . und grauen Fliegen der Herrenwelt summten. Sie guckte ihnen allen seelenruhig, mit der Sicherheit der verwöhnten Erbin, ins Gesicht und schwatzte auf gut frankfurtisch, wie ihr der Schnabel gewachsen war, mit zweierlei Tuch und goldener Jugend und hob sich auf den Füsschen und winkte aufgeregt mit der kleinen Hand, als sie ihren Bruder, blasiert, mit den Hängeschultern eines britischen Pferdekenners, die Tribüne entlangtrotten sah.

Philippche! Komm e mal her! Sie zog den übernächtigen jungen Turfmann beiseite. „Jesses — wie schaust denn du aus, du zahmer Engländer! Ganz geel um die Nas’! Ihr mögt’s schön getriebe habe — heute nacht auf dem Kommers!“

„Das sind Männersache! Das ist nix für euch Kinner!“

„Geh da ehinner!“ Die Dorett führte den Bruder hastig bis an die Schranke der Rennbahn und wandte das schwarze Köpfchen, um sicher zu sein, dass niemand zuhörte, und sprach erhitzt auf das Philippche ein: „Also horch mal: Wenn du mein Bruder sein willst, dann darfst heut mit dem Charley kein Wörtche rede! Ich bin seit gestern bös’ mit’em!“

„Ach geh!“

„Aber arg! Gestern, beim Spazierereite im Wäldche, haben wir uns so wüst verzankt! Dem will ich’s zeige, dem Schlüffel!“ Das Frankfurter Patrizierkind schaute feindselig nach dem Sattelplatz hinüber. Dort stand, zwischen bunten Jockeijacken und farbigen Kavallerieuniformen gähnend ein glattrasierter schmächtiger junger Herr mit grossen Ohren und einer grossen Nase in dem sorgenvollen ältlichen Gesicht, eine Reihe von Klubwappen am Riemen des über die Schulter gehängten Opernglases, und drehte, die Hände in den Taschen des kurzen Sportpaletots, der Dorett’ herausfordernd den Rücken zu. Deren Augen funkelten.

„Jetzt tut er, als wär’ ich für ihn Luft! Aber wart’ nur, Alterle!“

„Loss ihn!“ sagte das Philippche nachlässig zur Schwester. „Ich hab’ e Nouveauté für dich auf Lager! Guck’ dir emol da drüben meinen Freund an!“

„Den Grossen, mit den dunkeln Augen und dem Krauskopf? — Du — das is mal e hübscher Mensch!“

„Gelt? E junger Maler aus München! Ich sag’dir: ’n Talent! Der hat ’ne grosse Zukunft!“

„Ach!“ Das Dorettche schaute gespannt hinüber. Sie schien etwas zu überlegen.

„Dabei aus stinkfeiner Familie! Der Vater ist Minister in München. Ein Baron Paur zu Rain! Kreuzzugsnoblesse!“

„Warum net gar!“

„Ich stell’ ihn dir vor! Ernst — geh bei! Das ist mei Schwester! Entschuldig’ mich! Ich seh’ da g’rad meinen Freund, den Grafen Rott!“

Das Philippche stürzte sich auf einen blutjungen, rotbäckigen Husaren, noch ein halbes Kind in Uniform. Er schlenderte lässig, warm ums Herz in Nachbarschaft eines blauen Attila und einer Grafenkrone, dem Sattelplatz zu. Ernst Wachsmuth stand vor dem schönen fremden Mädchen. Er schaute ihr verwirrt und aufgeregt in das Kindergesicht. Sie erwiderte unschuldig lächelnd den Blick. Ihre Augen glänzten. Sie frug:

„Das Philippche sagt, Sie täte male! Ist das wahr, oder redd’ er nur wieder so?“

„Doch! Doch, gnädiges Fräulein!“ Das frische Gesicht des Jungmanns rötete sich in fröhlichem Eifer. „Ich führe schon tüchtig den Pinsel!“

„Und er sagt, Sie hätten so arg viel Talent!“

„Ich hoffe es wenigstens einmal zu ’was zu bringen, gnädiges Fräulein!“

Ernst Wachsmuth sprach es mit klopfendem Herzen und holte beklommen Atem. Er hatte das Gefühl, dass er zum erstenmal in seinem Leben Eindruck auf eine Dame der Gesellschaft machte. Die Kleine sah ihn seelenvoll an.

„Ein Maler — das ist doch etwas anderes! . . . Sonst reden die jungen Herren als nur von den Pferden oder von der Börs’ . . .“

„. . . oder sie sagen Ihnen Schmeicheleien, gnädiges Fräulein!“ Ernst Wachsmuth suchte das recht lachend-leichthin und weltläufig zu bringen. Er stolperte aber doch ein bisschen über den kühnen Satz.

„Ach — das mag ich schon gar nit hören! So bin ich nit! Ich bin ein ernsthaft Mädche!“ Die Dorett’ schaute zutraulich zu ihrem Gegenüber empor. „Was male Sie denn? Landschaften?“

„Bäume, Tiere, Menschen, wie’s kommt!“ Der junge Mann lachte. „Vor mir ist nichts sicher, gnädiges Fräulein!“

„Auch Porträts?“

„Das ist gerade meine Stärke.“ Der Abiturient holte Atem. Es kam über ihn: „Wenn ich Sie einmal skizzieren dürfte, gnädiges Fräulein . . .“ Gleich darauf stand ihm das Herz still. Er erschrak hinterher. Er wusste auf einmal: ,Jetzt bin ich zu weit gegangen! Jetzt hat’s geschnappt!’ Aber das Dorettche sagte ganz harmlos, mit einem sanften Augenaufschlag:

„Ja — warum denn nit?“

Sporen klirrten, Säbel rasselten. Ein ganzer Trupp Kavalleristen kam vom Sattelplatz — Rennreiter und ihre Regimentskameraden aus nahen und fernen Garnisonen, silberverschnürte blaue Bockenheimer Husaren und Bonner Königshusaren, dunkle Hanauer Ulanen, russisch grüne Darmstädter und himmelblaue Mannheimer Dragoner, sogar der grüngesäumte weisse Kragen eines Deutzer Kürassiers. Junge Frankfurter Geldaristokraten in englischem Zivil pilgerten mit ihnen. Darunter auch der Sportsmann mit den grossen Ohren, den die Dorett’ vorhin Charley genannt hatte. Sein trockenes, faltiges Gesicht lächelte verächtlich. Er warf im Vorbeigehen einen raschen, feindseligen Blick auf Ernst Wachsmuth, und neben dem sagte gleichzeitig das Dorettche schnell und so laut, dass der drüben es hören musste:

„Also abgemacht: Sie male mich! Wir rede nachher noch drüber! Ich sag’s gleich dem Baba!“

Ein sehr kleiner, graubärtiger Herr kam humpelnd, aber eilig über den Rennplatz. Er hatte nichts zu tun, als Grüsse zu erwidern, und rief jedesmal laut, wenn er den Hut lüftete, den Namen des Geschäftsfreundes: „Herr Doll!“ — „Herr Medenwald“ — „Herr Pilgram“ in einem leicht singenden Ton. Vor den Damen hob er mit altmodischer Höflichkeit den Zylinder. Er dankte verbindlich den Offizieren, die regimenterweise die Hand an den Mützenrand hoben. Er schüttelte dem jungen Mann, den er im Gespräch mit seiner Tochter fand, die Hand, ohne erst die Vorstellung abzuwarten. „So, so — Sie malen! . . . Schön! . . . Schön! Das hör’ ich alleweil gern!“ und hinkte weiter, und das Philippche, das ihm gefolgt war, sagte zu Ernst:

„Mein Baba versteht was von der Kunst! . . . Die Galerie Gallina, das is doch e Frankforter Sehenswürdigkeit! Vielleicht hängt der Baba sich auch emal was von dir an die Wand. Den Baba — den halt’ dir warm! Aber jetzt läutet’s! Des gibt e brilljant Renne!“

Ernst Wachsmuth stand allein. Er schaute dem Bankier Johann Gallina nach, der drüben, abseits von den anderen Sterblichen, mit ein paar Fürstlichkeiten und Generalen zusammenstand. Er kümmerte sich nicht um das Flugbild des vorbeiflitzenden Pferderudels. Er starrte traumverloren vor sich in die blaue, sonnige, warme Weite, und in ihm stieg eine heisse Welle von Glücksgefühl empor, und er spähte umher, während draussen ein Mainzer Feldartillerist, mit der Trense wirbelnd, unter dem tosenden Geschrei der Tribünen, seinen Gaul um einen Kopf vor einem feuerroten Zietenhusaren durch das Ziel peitschte, und suchte nach dem Dorettche Gallina und fand es nicht unter der Menge, sondern nur den Herrn mit den grossen Ohren, der langsam, wie zufällig, dicht an ihm vorüberging und ihn eine Sekunde scharf, fast warnend oder drohend, fixierte.

Hinter der Tribüne, an einer einsamen Stelle, stand zugleich jetzt, nach Schluss des Rennens, erhitzt das Philippche und zappelte mit den Händen der Schwester beinahe in das niedliche, naiv erstaunte Frätzchen.

„Was ist das für e Manier? . . . Was soll denn des mit der Kokettiererei?“

„Von mir doch nit?“ frug das Dorettche mit der Unschuldsmiene eines aus den Wolken gepurzelten Engels.

„Du machst meinem Freund, dem Ernst, Aage . . . Jawohl, Aage machst du ihm!“

„Meenste, Philippche?“ Das Patrizierkind lachte pfiffig.

„Aage . . .e jedes wundert sich!“

„Des sin mei’ Sorje!“

„Der Charley schneidet vor Eifersucht e Gesicht, als dät er gleich verblatze!“

„Des soll er ja gerad! Des is ja e Einfall von mir — nit mit Geld ze bezahle!“

„. . . dass du meinen Freund an der Nas’ herumführst . . .“

„Bloss e bissi, Philippche!“

„Um den Charley eifersüchtig zu mache? Warum suchst du dir denn für den edle Zweck akkurat den Ernst aus?“

„Dei’ Barönche? ha — warum denn nit?“

„. . . weil junge Leuť aus Frankfurt, die sich für so was eigne, genug am Platz sind!“

„Ha — ich werd’ mich deswege doch nit mit eme Hiesige verkrache!“ sprach das Dorettche seelenvoll. „Mit einem muss ich’s doch probiere! Dein Freund is e Auswärtiger! E Maler! Der verschmerzt des in München bald.“

„Du hörst jetzt auf damit — verstanne?“

„Nit, bevor der Charley aus der Haut gefahre ist!“

„Und dabei hat sie e kindlich Silberstimmche, als könnť sie kei’ Wässerche trübe! Steig mir den Buckel nuff, du schlechť Mädche!“

Der Bruder lief erbittert nach vorn. Er sah da, mit bösem Gewissen, den Primaner Wachsmuth stehen — verträumt, in stiller Seligkeit, mitten in der fremden Menge. Er verkniff schuldbewusst seine spitzen Züge zu einem süsssauren Feixen und gab sich die Marke des heutigen Tages für die junge Kaufmannswelt, das Air des passionierten Sportsmanns.

„Des war e Renne, Ernst!“ rief er begeistert. „Hab’ ich’s nit den Herre Buchmachern prophezeit: Der Artillerist macht’s! Aber die wolle ja alles besser wisse!“

„Da hast du wohl viel gewonnen?“ frug Ernst Wachsmuth geistesabwesend. Das Philippche zuckte etwas kleinlaut die Schultern.

„Gott — eigentlich nit! Ich hab’ doch aus Freundschaft auf den Grafen Rott gesetzt und verlore! Der Artillerist hat halt das bessere Pferd geritte! Aus dem Stall vom Charley da drüben! Wer des is? Der mit den scheppe Ohre zwischen den Offiziere? Ha — der Karlche Badenius, vom Bankhaus Badenius am Rossmarkt. Wir nennen ihn als Charley, weil er drei Jahre Volontär bei Persing Brothers in der City in London gewesen ist. Von dort hat er sich den Hindernisstall mitgebracht! Lauter irische Hunter! Der Charley hat’s gut! Gott . . . da läuft mei’ schwesterliche Liebe . . . Du — hör’ mal!“

Aber das Dorettche kümmerte sich nicht um ihren Bruder. Sie liess ihn einfach stehen und schlenderte ostentativ mit Ernst Wachsmuth weiter, kameradschaftlich lachend und schwatzend, gerade an der feinen Welt auf den Tribünen vorbei, dass jeder sie beide zusammen sehen konnte — der Charley Badenius in der Klubloge vor allem!

„Gehen Sie denn jetzt wieder gleich nach München retour?“ frug sie vertraulich. Der Abiturient schüttelte beglückt den dunklen Krauskopf.

„Nein, gnädiges Fräulein! Jetzt sind ja noch Ferien!“

„Ich hab’ nur gedenkt, weil Ihr Vater in München Minister ist!“

„Mein Grossvater war es einmal Anno Tobak . . .“

„Ach so! Da hat sich das Philippche geirrt! Der hat gesagt, der Baron Paur . . .“

„Ja — das ist mein Grossvater, aber der sitzt längst beschaulich auf seinem Schloss Frauenmoos in Niederbayern.“

„Und da fahren Sie jetzt zu der Exzellenz hin?“ erkundigte sich die Dorett’ Gallina, doch in dem stillen Wunsch, den neuen Verehrer nach getaner Schuldigkeit recht bald weg zu wissen.

„Nein, gnädiges Fräulein! Da ist es mir zu langstielig! Bis es Zeit für die Kunstakademie in München wird, suche ich meine Tante heim — die Schwester meiner Mutter.“

„Wo lebt denn nachher die?“ forschte das Dorettchen etwas beklommen, in der Hoffnung, ihren Begleiter morgen über allen Bergen zu sehen. Es wurde ihr doch nicht recht wohl in ihrer Haut bei dem Spiel mit dem Feuer. Sie hatte so einen unheilverkündenden Blick des jungen Mannes mit den grossen Ohren von der Klubtribüne drüben aufgefangen . . .

„Meine Tante Drach?“ Ernst lachte unbefangen. „Wir nennen sie immer so. Es ist eine Baronin Drach von Wunnenstein. Die haust auf ihrer Burg in Württemberg, gerade überm Neckar!“

„Und da zieht Sie’s mehr hin?“ Die Dorett’ hob harmlos lächelnd ihre dunkeln Wimpern. „Da hat’s wohl in der Burg hübsche Mädchen?“