Du und ich. Geschichte eines armen Offiziers - Rudolf Stratz - E-Book

Du und ich. Geschichte eines armen Offiziers E-Book

Rudolf Stratz

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Beschreibung

Berlin, frühes 20. Jahrhundert. Von Montags bis Samstags nehmen fünf Oberleutnants im Hinterzimmer eines Gasthauses nahe am Königsplatz gemeinsam das Mittagessen ein. Dabei diskutieren die fünf Männer – Hans Christian von Kerkow, Graf Allmendshofen, Oberleutnant von Tistler, der elegante Oberleutnant Wieprecht und Oberleutnant von Engelsporn – die gerade anstehenden Fragen der Zeit und grämen sich über ihre vergleichsweise militärische Untätigkeit in Zeiten des Friedens. "Früher hatte man den Dreißigjährigen Krieg gehabt – jetzt hatte man schon bald den vierzigjährigen Frieden." Da wird von Kerkow durch eine Einladung Allmendshofens zu einer Abendgesellschaft aus seiner Lethargie gerissen – um die Unglückszahl 13 zu vermeiden, muss dringend noch ein weiterer Gast gefunden werden. Bei diesem Anlass lernt von Kerkow die liebreizende und erfrischend unkonventionelle Gisela Gehring kennen. Bald muss er sich eingestehen, dass er in die junge Dame verliebt ist. Aber er ist nun mal Militär mit Leib und Seele – und ein "armer Offizier". Wie könnte er da eine Bindung eingehen? Doch er scheint auch der jungen Gisela nicht ganz gleichgültig zu sein ...Rudolph Heinrich Stratz (1864–1936) war ein deutscher Schriftsteller, der zahlreiche Theaterstücke, Erzählungen und vor allem Duzende Romane verfasst hat. Stratz verbrachte seine Kindheit und Jugend in Heidelberg, wo er auch das Gymnasium besuchte. An den Universitäten Leipzig, Berlin, Heidelberg und Göttingen studierte er Geschichte. 1883 trat er in das Militär ein und wurde Leutnant beim Leibgarde-Regiment in Darmstadt. 1886 quittierte er den Militärdienst, um sein Studium in Heidelberg abschließen zu können. Zwischendurch unternahm er größere Reisen, z. B. 1887 nach Äquatorialafrika. Mit dem 1888 und 1889 erschienenen zweibändigen Werk "Die Revolutionen der Jahre 1848 und 1849 in Europa" versuchte der Vierundzwanzigjährige erfolglos, ohne formales Studium und mündliches Examen zu promovieren. 1890 ließ er sich in Kleinmachnow bei Berlin nieder und begann, Schauspiele, Novellen und Romane zu schreiben. Von 1891 bis 1893 war er Theaterkritiker bei der "Neuen Preußischen Zeitung". Von 1890 bis 1900 verbrachte er wieder viel Zeit im Heidelberger Raum, vor allem im heutigen Stadtteil Ziegelhausen. Ab 1904 übersiedelte er auf sein Gut Lambelhof in Bernau am Chiemsee, wo er bis zu seinem Tod lebte. 1906 heiratete er die promovierte Historikerin Annie Mittelstaedt. Während des Ersten Weltkrieges war er Mitarbeiter im Kriegspresseamt der Obersten Heeresleitung. Bereits 1891 hatte er sich mit dem Theaterstück "Der Blaue Brief" als Schriftsteller durchgesetzt. Doch vor allem mit seinen zahlreichen Romanen und Novellen hatte Stratz großen Erfolg: Die Auflagenzahl von "Friede auf Erden" lag 1921 bei 230 000, die von "Lieb Vaterland" bei 362 000. Ebenso der 1913 erschienene Spionageroman "Seine englische Frau" und viele weitere Werke waren sehr erfolgreich. 1917 schrieb er unter Verwendung seines 1910 erschienenen zweibändigen Werkes "Die Faust des Riesen" die Vorlage für den zweiteiligen gleichnamigen Film von Rudolf Biebrach. Friedrich Wilhelm Murnau drehte 1921 nach Stratz' gleichnamigem mystischen Kriminalroman den Spielfilm "Schloß Vogelöd". Den 1928 als "Paradies im Schnee" erschienenen Roman schrieb Stratz 1922 nach Aufforderung von Ernst Lubitsch und Paul Davidson als Vorlage für den 1923 unter der Regie von Georg Jacoby realisierten gleichnamigen Film. 1925 und 1926 erschienen seine Lebenserinnerungen in zwei Bänden. Zwischenzeitlich weitgehend in Vergessenheit geraten, wird das Werk von Rudolph Stratz nun wiederentdeckt.-

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Rudolf Stratz

Du und ich

Geschichte eines armen Offiziers

Illustriert von f. von Reznicek

Saga

Du und ich. Geschichte eines armen Offiziers

© 1905 Rudolf Stratz

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711507070

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com - a part of Egmont, www.egmont.com

Im Hinterzimmer eines Bräus, nahe am Königsplatz in Berlin, war jeden Mittag ein Tisch reserviert. Da nahmen einige, zur Dienstleistung beim grossen Generalstab kommandierte Oberleutnants täglich, ausser Sonntags, ihr kärgliches Mahl ein. Sie kamen fünf Minuten nach eins, sahen beim Essen auf die Uhr und brachen fünf Minuten vor drei Viertel zwei wieder auf. Der Kellner war schon darauf abgerichtet, die Herren, die jetzt bei nahendem Frühjahr, kurz vor Beginn des neuen Mobilmachungsjahres, sechzehn und achtzehn Stunden täglich in der „grossen Bude“, dem von fern durch die Fenster leuchtenden, ziegelroten Generalstabsgebäude, und Nachts zu Hause arbeiteten, in fliegender Hast zu bedienen. Aber so kurz ihr Aufenthalt war, er gab doch, nach Berliner Begriffen, dem sonst mittelmässigen Lokal eine höhere Weihe. Die Uniform ehrte den Wirt und die anderen Gäste. Jeden Mittag war es ein Ereignis, wenn draussen der erste Säbel klirrte und der erste rote Kragen aufblinkte.

Am frühesten kam heute der Oberleutnant Hans Christian von Kerkow, ein grosser stattlicher Mann zu Anfang der dreissig, mit strengem preussischem Offiziersgesicht, der die Achselstücke eines bescheidenen Linienregiments an der östlichen Grenze mit hoher Nummer trug. Er sah übernächtig, blass und abgespannt aus und gähnte nervös, während er sich setzte, den braunen Schnurrbart drehte und, auf die Kameraden wartend, nach der nächsten Zeitung griff. Es war der „Simplizissimus“. Eine Anzahl junger Trottel, englisch glattrasierte und nach Habymode aufgestutzte, in Kürass, Attila, Dolman und dem Waffenrock der Garde waren da, auf dem Rennplatz um einen Buchmacher herumstehend, abgebildet, und der von der wochenlangen, nervenzerrüttenden Tag- und Nachtarbeit in der Eisenbahnlinienkommission erschöpfte Generalstäbler schob das Witzblatt wieder weg und dachte sich, während er unwillkürlich halb die Augen schloss und den Kopf zurücklegte: „So stellt sich nun der aufgeklärte Deutsche von heutzutage die Söhne der Sieger von 1870 vor.“

Eben wollte er vor Ermüdung einnicken, da berührte ihn ein inzwischen eingetretener junger Kürassieroffizier lachend am Arm. „Gute Nacht, Kerkow! Sind Sie über dem Simplizissimus eingeschlafen?“

Der andere deutete auf das Bild mit den jungen Lebeleuten in Uniform. „Sehen Sie ’mal die Kerle an, Allmendshofen! Da schuftet man sich nun halb tot ... und so spiegelt sich das dann in der Öffentlichkeit wieder ...“

Graf Allmendshofen setzte sich, lächelte und meinte: „Es gibt auch solche! Leider! Mehr als genug! Gerade bei uns Kavalleristen ...“

Er war nicht so erschöpft wie Kerkow, obwohl er den gleichen Dienst hatte. Er besass eine glückliche Gabe, alles, was er angriff, vom Standpunkt des vornehmen Amateurs durchzuführen. Denn er hatte es nicht nötig — ganz anders wie sein Kamerad, der blutarme, in einer Freistelle des Kadettenkorps aufgewachsene und mit „Königszulage“ von dreissig Mark monatlich ausgestattete Linieninfanterist. Das machte ihn, den schwäbischen Reichsgrafen aus altbegütertem Hause, auch bei noch so strenger Generalstabsarbeit ruhig. Er wollte auch nicht ewig dabeibleiben, sondern irgendwie in die diplomatische Karriere überzuschlüpfen suchen, wie es sein Bruder getan.

Unmittelbar hinter ihm waren auch die drei anderen Mitglieder der Tafelrunde eingetreten, alle drei Infanteristen: der Oberleutnant von Tistler, ein zäher, hagerer kleiner Herr mit einem Zwicker und dem pedantisch-nervösen, immer etwas gereizten Gesichtsausdruck des Stubenarbeiters, dann als ein gerades Gegenteil zu ihm, dem militärischen Philister, der Oberleutnant von Engelsporn, eine etwas leichtsinnige Fliege, aber sehr brauchbar, früher Feldsoldat, dann als Prinzenbegleiter, vulgo „Bärenführer“ ein Jahr im Ausland gewesen und jetzt, auf dass es ihm nicht zu wohl ergehe, zur Eisenbahnlinienkommission verdammt oder bevorzugt, und endlich der elegante Oberleutnant Wieprecht, der einzige Bürgerliche in einem exklusiven Regiment eines Bundesstaates und als „Konzessionsschulze“ nach seiner Meinung zu doppelter Vornehmheit verpflichtet.

Der Kellner brachte im Laufschritt die Suppe, der kleine tyrannische Tistler prüfte auf der Uhr, ob es mit der Zeit stimmte, und die Herren assen und tranken dazu jeder einen Schnitt dunkles Bier — nicht mehr, um nicht Nachmittags müde zu werden. Den Infanteristen schmeckte es, dem Kürassier weniger. Er war an andere Kost gewöhnt und hätte ein Diner unter den Linden vorgezogen. Aber der Weg dahin war zu weit und vor allem: er wollte nicht unkameradschaftlich erscheinen. Er speiste jeden Tag mit den Fusssoldaten. Ging es gut, so wurden sie doch in kurzem einander gleich, wurden Hauptleute im Generalstab und trugen einer wie der andere das ersehnte Zeichen der Auserlesenen der Armee, die breiten dunkelroten Streifen, an den Beinkleidern.

Herr von Tistler schob den Suppenteller weg und sagte zu Kerkow: „Gawarîte pa russki?“ Er wollte wie gewöhnlich die Gelegenheit benutzen und an dem perfekten Russisch des anderen, das der sich in seiner Grenzgarnison mit eisernem Fleisse an einsamen Winterabenden Jahre hindurch eingebleut, seine eigenen, etwas schwachen Kenntnisse bereichern. Aber die übrigen widersprachen. Nach dem 1. April könne wieder russisch bei Tisch gesprochen werden! Aber jetzt nicht, wo man ohnedies nicht mehr wisse, wo einem der Kopf stehe! Man wolle doch wenigstens eine halbe Stunde am Tage Mensch sein! Sonst schnappe man ja schliesslich ganz über ...

Einen Augenblick war es still und dann sagte Leutnant von Engelsporn wie zur Bestätigung: „Eschler ist schon so weit!“

„Der Artillerist?“ fragte Wieprecht.

„Ja. Gestern total zusammengeklappt.“

Und der Reichsgraf nickte: „Einfach niedergebrochen! Hat über seinen Mobilmachungspapieren gelegen und einen Heulkrampf gekriegt: Er könne nicht mehr! Sein Kopf sei wie vernagelt. Alles schwarz vor den Augen! Er sei ein untauglicher Offizier und er wolle jetzt nach Hause gehen und sich totschiessen! Kerle wie ihn könne Majestät nicht brauchen. Na — man hat ihn nun beruhigt. Er kriegt drei Monate Urlaub: Wiesbaden, Kaltwasserkunst! Und dann zurück in die Front. Die grosse Bude hat er wohl gestern zum letzten Male von innen geschaut ...“

„Armer Kerl!“ meinte der Grenadier und der gewesene Prinzenbegleiter pflichtete ihm bei. „Eigentlich ist’s doch eine grosse Grausamkeit! Es kann doch jedem von uns passieren.“

Hans Christian von Kerkow hatte die ganze Zeit geschwiegen und auch nur wenig gegessen. Er hielt sich spartanisch einfach und war mager und sehnig wie ein Athlet. Jetzt sagte er ruhig, aber mit einer schneidenden Bestimmtheit: „Und jeder von uns muss es sich dann auch gefallen lassen, wieder heimgeschickt zu werden! Diese Auslese — diese Aichung auf unsere Nervenstärke ist absolut notwendig!“

„Ja — aber zu übertreiben braucht man es doch nicht!“

„Doch, Allmendshofen! Es muss sogar übertrieben — es muss im Frieden das Unmögliche von uns gefordert werden, damit im Krieg das Mögliche geschieht!“

„Na — Sie halten’s jedenfalls aus, Kerkow!“ sagte Graf Allmendshofen gutmütig und der kleine, schwächliche Herr von Tistler bestätigte das mit einem leisen Neid. „Ich wollte, ich hätte Ihre Arbeitskraft!“

„Wenn all unser Arbeiten nur was hülfe!“ meinte Wieprecht ganz unvermittelt und hoffnungslos.

„Wieso: wenn’s nur was hülfe?“

„Ach ... es gibt ja doch keinen Krieg!“

Die anderen schauten vor sich hin. Innerlich wünschte sich wohl ein jeder von ihnen einen neuen Feldzug. Aber Kerkow erwiderte: „Unsere Mobilmachungsarbeit ist nicht nur für den Krieg bestimmt, sondern auch gegen den Krieg — wir sichern eben dadurch den Frieden!“

„Nun ja! Und so geht das fort ... jahrelang und nun schon jahrzehntelang. Immer nur Manöver — immer nur Platzpatronen und markierten Feind. Aber wohin führt das schliesslich? Zum ewigen Frieden! Und wozu sind wir dann auf der Welt?“

„Um unseren Dienst zu tun! Und wer darin keine Befriedigung findet, der sollte — nehmen Sie mir’s nicht übel, Wieprecht — lieber, wenn er kann, seinen Abschied nehmen.“

Wieprecht bekam einen etwas roten Kopf. „Ich bin wahrhaftig Soldat mit Leib und Seele, Kerkow ... gerade so gut wie Sie! Aber eben deswegen! Es ist doch ein greulicher Gedanke, einmal in Pension zu gehen, ohne je einen Franzosen oder Russen im Feld gesehen zu haben.“

Die Zuhörer nickten. Es war ja wahr: Früher hatte man den Dreissigjährigen Krieg gehabt — jetzt hatte man schon bald den vierzigjährigen Frieden. Dabei blühte alles auf — alle fühlten sich wohl — nur die nicht, denen bei jedem Schritt mahnend das Eisen an der Hüfte klirrte. Kerkow aber versetzte, immer mit demselben harten Ernst: „Es tut uns eben niemand den Gefallen, uns anzugreifen. Verlangen Sie nun, dass Deutschland unsertwegen auf Eroberungszüge ausgeht?“

„Das natürlich nicht!“

„Nun also! Dann bleibt uns wohl nichts übrig, als eben im Frieden unsere Pflicht zu erfüllen. Das ist vielleicht schwerer als im Krieg. Darin haben Sie wohl recht!“

„Aber es ist nie so das Richtige, das Letzte — wie bei anderen Berufen.“

„Ich weiss nichts von anderen Berufen!“ sagte Hans Christian von Kerkow kalt. „Ich bin Offizier. Alle meine Vorfahren sind Offiziere gewesen, so lange wir zurückdenken können — und das ist doch einige Zeit her — so bis zu den Quitzows und so weiter. Es ist nie jemand auf den Gedanken gekommen, etwas anderes zu werden. Man trat eben in die Armee, und wenn Krieg war, liess man sich totschiessen, und wenn Frieden war, blieb man auf dem Exerzierplatz und drillte seine Kerls. Das konnte man sich nicht wählen, das kam, wie Gott wollte. Die Hauptsache war: man diente! So oder so! Und ich meine: dies ‚ich dien!‘ das ist ein gutes Wort für uns. Gerade unseren grossen Siegen ist eine jahrzehntelange stille Friedensarbeit vorhergegangen. Die Leute, die die geleistet haben, sind darüber weggestorben und unbekannt geblieben und Glücklichere haben für sie geerntet — aber sie haben eben ihre Pflicht getan. Und das musste ihnen genügen. Und uns auch!“

Herr von Tistler hatte schon ein paarmal auf die Uhr gesehen. Er mahnte jetzt dringend zum Aufbruch. Die Generalstäbler verliessen das Bräu und gingen wieder dem grossen roten Gebäude am Königsplatz zu, Kerkow und Allmendshofen zusammen ein wenig hinter den übrigen.

Der Kürassier war der, auf den des anderen Worte am meisten Eindruck gemacht hatten, gerade weil sie seinem süddeutschen, gutmütigen und ein wenig lässigen Wesen am wenigsten entsprachen. Ehe er nach Berlin zur Kriegsakademie gekommen, hatte er dies starre Altpreussentum, wie es sich in seinem Begleiter offenbarte, kaum gekannt — diese unerschütterliche Dienstbereitschaft und bittere, verächtlich-vornehme Armut des Kriegsadels, auf die solch ein Kerkow, der jeden Groschen dreimal umdrehen musste, ehe er ihn ausgab, in seinem Innersten vielleicht noch stolz war, den reichen Bürgerlichen, wie Wieprecht, gegenüber sicherlich.

Man musste Respekt vor dieser Entsagungskraft haben, mit der solch ein armer Leutnant sich seinen Weg durchs Leben bahnte. Aber ein wenig fühlte der schwäbische Reichsgraf, der im Ahnenschloss am Ufer der Jaxt aufgewachsen und in einem sorglos reichen Kavallerieregiment Offizier geworden war, doch auch Mitleid mit den armen Rittern der Mark. Dabei hatte er Kerkow gern, wie der ihn. Die Gegensätze ihres Wesens zogen sich an.

„Sie müssen ’mal wieder ordentlich raus, Kerkow!“ sagte er. „Morgen ist Sonntag. Da reite ich früh in den Grunewald. Kommen Sie mit! Nehmen Sie einen von meinen Gäulen wie sonst! Nehmen Sie den Pascha! Der macht Ihnen ’was zu schaffen!“

„Gern! Ich wollte nur, ich könnte mich einmal bei Ihnen für Ihre Freundlichkeit revanchieren.“

Sie waren am Generalstab angekommen. Vor dem Eingang stand ein glattrasierter herrschaftlicher Diener. Graf Allmendshofen warf seine Zigarette weg und fragte: „Nun, Franz ... waren Sie bei meinem Vetter?“

„Sehr wohl, Herr Graf! Erlaucht sind verreist.“

„Na — und dann bei Herrn von Lücke?“

„Der Herr Baron lässt sehr bedauern. Er sei heute abend schon versagt.“

„Und in der englischen Botschaft?“

„Mr. Atkinson lässt sagen, es sei ihm heute unmöglich, und er wisse auch sonst niemanden!“

„Das ist doch wie verhext!“ murmelte der Kürassier ärgerlich.

„Was ist denn eigentlich los?“

„Ach — nur eine Dummheit! Mein Vater ist augenblicklich hier in Berlin, weniger um mich zu sehen, als wegen meiner neuen Schwägerin. Mein Bruder, der Diplomat, hat sich doch eine Frau aus Amerika mitgebracht. Er selbst ist nun noch in Geschäften drüben und meine kleine Schwägerin reisst sich natürlich die Beine aus, um den Schwiegervater würdig zu empfangen, und hat die paar Leute, die sie hier schon kennen gelernt hat, zu heute abend zu einer Abfütterung zusammengetrommelt — mich selbstverständlich auch. Und nun will es der Teufel, dass wir dreizehn sind und bleiben! Da setzt sich mein Vater niemals an den Tisch! Denkt nicht daran! Er ist noch ein Mann der alten Schule. Nun hab ich Daisy heilig versprochen, für einen Vierzehnten zu sorgen, und krieg’ es nicht fertig. Eine Absage nach der anderen! Da eben wieder. Ich weiss keinen Rat mehr! Oder doch — halt — Sie sagten doch vorhin, Sie möchten mir gerne einmal einen Gefallen erweisen! Kommen Sie heute abend — ja?“

„Aber ich kenne doch Ihre Frau Schwägerin gar nicht!“

„Franz — lassen Sie sich von dem Herrn Leutnant eine Visitenkarte geben und geben Sie sie sofort bei der Frau Gräfin ab! Das genügt! Meine Schwägerin weiss, dass ein Generalstäbler jetzt nicht Zeit hat, Kaffeevisiten zu machen ...“

„Ja eben! Unsere Zeit ist doch jetzt so kostbar ...“

„Auf acht Uhr ist eingeladen. Also kommen Sie gegen neun zum Abendessen, schädigen Daisy mit etwas Rebhuhnpastete und Mumm extra dry und gehen um elf wieder weg ... zu reden brauchen Sie auch nichts ... ich besorge Ihnen eine stumpfsinnige Tischnachbarin ...“

Kerkow musste lachen. „Nein. Das schon lieber nicht!“

„Also dann eine, die von selber schwatzt! Dann können Sie ungestört essen und sich Ihr Teil denken! Also schönsten Dank! — auch im Namen meiner Schwägerin — und nun wollen wir machen, dass wir in die Bude kommen ...“

Oben in der drängenden Arbeit der Eisenbahnlinienabteilung vergassen beide binnen kurzem die Schwägerin Daisy, den dreizehnten bei Tisch und alle weltlichen Dinge. Erst als Kerkow gegen Abend sein in der Nähe des grossen Generalstabs vier Stock hoch gelegenes möbliertes Zimmer betrat, wo der Bursche schon die Lampe angezündet hatte und auf dem Tisch ganze Stösse von mit Zahlen bedeckten Papierbogen der Nachtarbeit harrten, fiel ihm die Einladung wieder ein und er ärgerte sich. Wie kam er denn mit dem allem durch, wenn er auf einmal in Gesellschaft lief? Ein Ritt in den Grunewald — das war etwas anderes. Da übte man sich im Sattel und kräftigte sich für den Dienst! Aber da — sich unter die Weiber hinzusetzen und dummes Zeug zu reden und zu hören, wo man doch den ganzen Kopf voll von den wichtigsten Geschäften hatte — es war zu abgeschmackt! Aber ändern liess es sich jetzt nicht mehr.

Wenigstens setzte er sich vorläufig hin und arbeitete noch rasch ein bisschen, wie sonst den ganzen Abend hindurch, wo er sich kaum eine Viertelstunde für Tee und ein paar Scheiben Schinken und Brot gönnte. Gleich nach dem Mahl pflegte er dann wieder, bis weit nach Mitternacht, bei der Lampe zu sitzen und hatte sich auch heute bald so in seine Tabellen vertieft, dass er plötzlich mit Schrecken die Uhr ein Viertel nach acht schlagen hörte. Nun musste er sich eilen, um sich in den Waffenrock zu werfen und zurecht zu kommen, ohne unnütz Geld für eine Droschke auszugeben, zumal auch das Wetter trocken und den Lackstiefeln günstig war.

In unbehaglicher Stimmung durchquerte er von Moabit aus den Tiergarten. Gräfin Daisy wohnte natürlich auf dessen anderer Seite, in einer der vornehmen Villenstrassen des Westens, deren aufdringlich luxuriöse Hausfronten ihn immer ärgerten, wenn er mit Allmendshofen vorbeiritt. Und ebenso die Menschen darin, obwohl er sie nicht kannte. Er verkehrte in Berlin nur mit einigen verwandten oder befreundeten Offiziersfamilien. Aber ihm war dieser, ganze Strassen und Stadtviertel füllende Reichtum an sich unbehaglich. Im Elternhaus, in der kleinen Garnison, hatte er derlei nie gesehen. Im Regiment gab es wohlhabende und minder wohlhabende Offiziere. Aber man lebte doch auf ziemlich gleichem, eigentlich einfachem Fuss. Hier in Berlin erst begriff er, was Reichtum war ... diese Paläste, diese Gewächshäuser dahinter, die lautlos auf Gummirädern federnden Equipagen und Abends die hellerleuchteten Fenster und die langen, unten im Dunkel harrenden Wagenreihen ...

Auch schon diese Treppenhäuser, wie das, in das er nun trat! Diese schweren, kostbaren Läufer, diese buntgemalten Glasscheiben, diese Palmen in den Ecken, dies verschwenderische elektrische Licht — jeder Gegenstand hier schien zu rufen: Wir haben Geld! Auf ihn verfehlte das seinen Eindruck. Er beneidete diese Leute, die hier wohnten, gar nicht. Eher verachtete er sie, weil sie von anderen Menschen Geld verdienten oder verdient hatten ...

Als ihm oben im Vorflur der Diener ein silbernes Tablett präsentierte, lag nur noch ein Kärtchen darauf. Er war also richtig der letzte Gast. Er überflog gleichgültig seinen Namen, „Herr Oberleutnant von Kerkow“, öffnete den Falz der Karte und las weiter: „wird gebeten, Fräulein Gisela Gehring zu Tisch zu führen.“

Gisela Gehring ... der bürgerliche Name in dem gräflichen Hause fiel ihm auf. Dann dachte er nicht weiter darüber nach, sondern strich flüchtig vor dem Spiegel Scheitel und Schnurrbart und machte, dass er in den Salon kam, aus dem ein Stimmengewirr in englischer Sprache scholl.

Es war wirklich wie ein Stück Angelsachsentum, in das man da mitten aus Berlin hineintrat. Als Kerkow erschien, entstand eine plötzliche Stille und er empfand — oder bildete sich wenigstens ein: Jetzt fragen sich die alle: wie kommt denn dieser Leutnant von der Linieninfanterie hier in unseren Kreis von Herren der englischen und amerikanischen Gesandtschaft, von deutschen Diplomaten mit Bonner und Heidelberger Schmissen, von Potsdamer Gardekavalleristen — Freunden und Verwandten Allmendshofens — und ihrer Damenwelt, die offenbar auch zum grössten Teil aus Ladies von jenseits des grossen Wassers bestand.

Die Frau des Hauses, die kleine gräfliche Amerikanerin, kam auf ihn zu — hübsch, schmächtig, liebenswürdig und nervös vor Aufregung über ihre Gesellschaft. Sie dankte ihm in einem drolligen gebrochenen Deutsch, dass er gekommen, und stellte ihn dann, nachdem er ihr die mit Brillanten übersäte Hand geküsst, erst ihrem Schwiegervater vor, dem weissbärtigen, korpulenten und süddeutsch-jovialen alten Grafen Allmendshofen, hierauf den anderen Anwesenden, ohne dass er einen Namen dieser Träger tadelloser Fräcke, und Trägerinnen luxuriöser Roben verstand. Er sah eigentlich immer nur dieselben weissen Hemdpanzer und aufgedrehten Schnurrbärte, dieselben blossen weissen Schultern und rosigen Gesichter und flimmernden Perlenschnüre und glitzernden Boutons und fühlte sich fremd in diesem liebenswürdig lächelnden und fächelnden und schwatzenden Menschenhäuflein — wirklich als der Vierzehnte bei Tisch, der eigentlich Überflüssige. So trat er zu dem Kürassier, seinem Kameraden im Generalstab, dem einzigen, den er hier kannte, und begrüsste ihn mit einem Händedruck und sagte halblaut: „Ich soll ein Fräulein Gehring zu Tische führen!“

„Ja. Seien Sie froh!“

„Aber ich muss doch wissen, wer sie ist!“

„Ach so — da drüben — die Dame, der der Husar und mein Schwager aus Wien so verzweifelt die Cour machen — in dem seidengrauen Kleid mit aufgelegten Straussenfedern und dem Brillantgürtel ...“

Hans Christian von Kerkow schaute hin. Sie war mittelgross — nicht mehr ganz jung — etwa fünfundzwanzig. Ihr Gesicht hatte, ohne eigentlich schön zu sein, einen sehr angenehmen Ausdruck. Sprechende Augen — ein reizendes Lächeln um den Mund — alles etwas persönlicher und geistig belebter als sonst bei jungen Mädchen. Dazu trug vielleicht auch bei, dass sie die blonden Haare zurückgewellt trug und so die Stirne mehr hervortrat.

Eben wurde zu Tisch gebeten. Er ging auf sie zu und reichte ihr, während sie noch rasch einer Dame einige englische Worte zurief, mit einer stummen Verbeugung den Arm und dachte sich, mit welcher mühsam herbeigeholter Banalität er das Gespräch mit der Unbekannten eröffnen solle. Da begann sie ganz unbefangen selbst, noch während sie neben ihm in den Speisesaal ging: „So — nun rede ich aber deutsch! Oder ziehen Sie es vor, noch weiter diesen englischen Sprachkursus mitzumachen?“

„Nötig wäre es mir schon! Mein Englisch ist ziemlich eingerostet. Aber ich bin doch mehr für unsere Muttersprache.“

„Nicht wahr! Aber darin sind nur wir Deutsche so tolerant! Wenn ich mir das anderswo dächte — in Neuyork etwa — das wäre ganz unmöglich ...“

„Sie kennen Neuyork, gnädiges Fräulein?“

„Freilich! Ich habe Papa oft auf seinen Geschäftsreisen nach Amerika begleitet. Bis San Francisco hin. Dabei hab’ ich eben auch Daisy“ — sie wies auf die kleine Yankeegräfin — „kennen gelernt und mit ihr Freundschaft geschlossen.“

Man hatte sich gesetzt. Das Stimmengewirr, das sonst erst im Laufe eines Mahles eintritt, schwirrte sofort jetzt schon über die ganze Tafel, hauptsächlich dank dem Vierteldutzend quecksilberner Amerikanerinnen, die nach drei Seiten zugleich redeten und lachten, und, wenn ein anderer sprach, mit den Augen an seinen Lippen hingen, um an sein letztes Wort ihr erstes anzuknüpfen. Dabei hörten sie aber nie recht zu. Es war kein eigentlicher Zusammenhang zwischen Rede und Antwort. Die Unterhaltung zitterte und flirrte vom Hundertsten in das Tausendste im Zickzack hin und her, sprang da und dorthin ab, ohne irgend einen Gedanken zum Abschluss zu bringen, ja ohne die Sätze zu Ende zu sprechen.