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Der erste Bewusstseinssprung – Rückerinnerung an die Anfänge der Zeit Daniel Meurois, der mit dem Bestseller "Essener Erinnerungen" bekannt geworden ist, gibt uns hier einen faszinierenden Einblick in das Leben Echnatons – dem sonnentrunkenen Pharao – und seiner Vision Atons. Basierend auf seinen Einsichten in die Akasha-Chronik – dem sogenannten "Buch der Zeit" – lüftet Daniel Meurois viele Geheimnisse über die Ideen und das Leben Echnatons. Das macht dieses Buch so einzigartig und unterscheidet es radikal von allem, was je über Echnaton geschrieben wurde. Von seinem Blick geführt erleben wir, wie ungewöhnliche Schicksalswege sich kreuzen und Menschen einander auf ihrer glühenden Suche nach dem Göttlichen begegnen. Es ist ein geradezu magisches Werk, das sich intensiv mit den großen Fragen der Menschheit auseinandersetzt – Fragen, die uns immer beschäftigen werden. Leicht zu lesen wie ein Roman, ist dieses authentische Zeugnis ein herausragendes Buch – hochaktuell und voller Leidenschaft – fraglos eines der wichtigsten von Daniel Meurois überhaupt ... Es wird jeden inspirieren, der sein gegenwärtiges Leben mit vollem Bewusstsein führen und aktiv gestalten will.
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Seitenzahl: 694
Daniel Meurois
Das Geheimnis des Aton
Aus dem Französischen von Dr. Gerhild Schulz
Alle Rechte vorbehalten.
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Copyright der Originalausgabe © by Daniel Meurois
Titel der Originalausgabe: »La Demeure du rayonnant - Mémoires égyptiennes«,
Editions le Passe-Monde (17. März 2011)
Veröffentlicht in Partnerschaft mit Maurice Baldensperger und Francis Hoffmann GbR »Publish Vision«; [email protected], www.publishvision.de
Copyright der deutschen Ausgabe © 2018 Verlag »Die Silberschnur« GmbH
ISBN: 978-3-89845-583-1
eISBN: 978-3-89845-819-1
1. Auflage 2018
Übersetzung: Dr. Gerhild Schulz
Umschlaggestaltung: XPresentation, Güllesheim; unter Verwendung des Fotos: Akhenaten, Nefertiti and their children. Photographer: Gerbil from de.wikipedia, Wikimedia creativeCommons.org
Verlag »Die Silberschnur« GmbH · Steinstraße 1 · D-56593 Güllesheim
www.silberschnur.de · E-Mail: [email protected]
“Für die Liebe, die von Leben zu Leben zurwahren Liebe führt.”
Vorwort
Kapitel1Die Nacht von Alpu
Kapitel2Theben
Kapitel3Der Flug des Ibis
Kapitel4“Du bist kein echter Priester!”
Kapitel5Die Stadt des Strahlenden Gottes
Kapitel6Echnaton
Kapitel7Die Segnung
Kapitel8Das Geständnis
Kapitel9Heimlichkeiten
Kapitel 10Spielarten des Widersachers
Kapitel 11Einsamkeit
Kapitel 12Das Argument der Schwachen
Kapitel 13Seelische Erschütterungen
Kapitel 14Der Skarabäus
Kapitel 15Asneti
Kapitel 16Die unerbittliche Milde
Kapitel 17“Die Höheren Wesen”
Kapitel 18Am anderen Ufer
Kapitel 19Sanandaton
Kapitel 20Die Nacht des Sedfestes
Kapitel 21Semenchkare
Kapitel 22“Ich will mich Dir ganz hingeben”
Nachwort
Hinweise
Über den Autor
Die Pforten der Zeit öffneten sich ganz plötzlich, innerhalb von zwei verrückten, trunken machenden Tagen …
Daraufhin hatte ich ein ganzes Jahr lang, Tag für Tag, bei klarem Bewusstsein, Zugang zu der Erinnerung, die sich dahinter verbarg, allerdings freilich nur zu einem kleinen Teil davon. Warum das alles? Damit ich euch eine Geschichte erzählen kann, eine einfache, aber schöne Geschichte, welche das Unbewusste unserer Menschheit auf ungeahnte Weise geprägt hat.
In das Weltgedächtnis einzudringen, in die sogenannten “Akasha-Annalen”, erfordert freilich eine ganz bestimmte Arbeitstechnik1 und ein hohes Maß an persönlicher Disziplin. Außerdem braucht man dafür eine natürliche Begabung. Diese ist sogar besonders wichtig.
Das Phänomen tritt als eine Reihe von “Visionen” in Erscheinung. Nun verbindet man mit diesem Wort für gewöhnlich einen flüchtigen, unkontrollierten Eindruck, der sich dem Geist aufdrängt, wenn er sich, von der Wirklichkeit abgelöst, dem Mystischen zuwendet. Das ist hier jedoch keineswegs der Fall.
Jede Vision der Vergangenheit, zu der ich Zugang hatte, jedes Bilderlesen, wurde durch eine willentliche Entscheidung von mir ausgelöst. Es war stets sehr präzise.
Wenn die Rede davon ist, im Buch der Zeit zu lesen, so entspricht das natürlich in keiner Weise dem rationalen Geist unserer Epoche. Spätere Zeiten werden das vielleicht völlig anders sehen. Es kann gut sein, dass man diese Dinge dann für mathematisch beweisbar hält. Ich selbst habe nicht die Absicht, die Authentizität meines Berichtes nachzuweisen.
Ich möchte lediglich so ehrlich wie möglich darlegen, was ich erlebt habe. Dafür ist mein gegenwärtiges Bewusstsein in die Pharaonenzeit des alten Ägyptens unter Echnaton eingetaucht.
In diesem Sinne besteht meine Arbeit zunächst einmal darin, etwas zu bezeugen. Ich kann mich dabei auf keinerlei schriftliche Zeugnisse stützen, zumindest sind mir keine bekannt. In gewisser Weise ist es eine Reportage, die etwa 3400 Jahre alt ist, eine Chronik, in der es im Kern um die Liebe geht – in all ihren Dimensionen.
Es handelt sich also keineswegs um einen Roman, selbst wenn das Buch sich vielleicht so liest. Möglicherweise ist es für manche Leser angenehmer und bequemer, sich vorzustellen, diese Texte seien der Fantasie eines Schriftstellers entsprungen.
Dieser Bericht erzählt von einem meiner Leben in einer fernen Vergangenheit. Die Erinnerung daran ist spontan aufgetreten. Es hat sich so ergeben, vielleicht war es auch notwendig.
Mir ist völlig klar, dass ich mich mit dieser Behauptung sehr angreifbar mache, vor allem für den Vorwurf der Häresie … zumindest in unserem abendländischen Kontext. Indes … welche Bedeutung hat das schon! Es gibt Dinge, die man als Mensch einfach nicht für sich behalten kann. Wenn man sich deshalb über jemanden lustig macht oder ihn verspottet … was soll’s!
Es geht hier also wirklich um Reinkarnation, auch wenn sie nicht explizit Thema ist.
“Echnaton und der Strahlende Gott” ist vor allem das Zeugnis eines Mannes, der tief greifende und bewegende Dinge erlebt hat. Sie stehen im Zusammenhang mit der Verbreitung eines Ideals, das für die Menschheitsgeschichte zweifellos von entscheidender Bedeutung war.
Man mag einwenden, es sei – wie jedes Zeugnis – höchst subjektiv. Das ist gut möglich. Schließlich geht diese Geschichte auf eine sensible, menschliche Wahrnehmung zurück – sie wurde nicht maschinell erstellt. Selbst eine Maschine … ist ja nicht immer völlig objektiv. Würde es sich dabei etwa um eine Kamera handeln, die ein Ereignis aufnimmt, so wäre doch zumindest ein Kameramann erforderlich, der über die Perspektive entscheidet.
Außerdem würden die aufgenommenen Bilder dann geschnitten und in der Montage zu Sequenzen zusammengesetzt, die einer bestimmten Absicht entsprechen.
Was ist also schon Objektivität? Wären in unserem Fall historische Texte, die von Ägyptologen aufgefunden wurden, denn objektiver? Meiner Meinung nach nicht und zwar schon deswegen, weil uns aus der Zeit Echnatons – des ‘sonnentrunkenen Pharaos’ – nur sehr wenige und höchst fragwürdige Dokumente vorliegen.
Es ist ja allgemein bekannt, dass seine Nachfolger alles taten, um die Spuren zu verwischen. So wurden die Kunstwerke und Texte aus seiner Regierungszeit fast vollständig zerstört oder verfälscht. Die Stadt Akhetaton aber wurde dem Erdboden gleichgemacht.
Selbst ein Historiker, so lauter er auch sein mag, forscht und schreibt zwangsläufig in einem subjektiv gefärbten Kontext. Zunächst einmal ist er ja ein Mensch, mit seiner eigenen, persönlichen Wahrnehmung. Auf der anderen Seite ist er freilich von seinem sozialen, religiösen und politischen Umfeld geprägt, also von den gängigen Ideologien und Sichtweisen seiner Zeit. Darüber hinaus darf man nicht vergessen, dass auch der Historiker sich auf Quellen von Zeitgenossen stützt, die ihrerseits nicht unbedingt verlässlich sind. Warum? Weil auch sie Menschen waren, die von gewissen Interessen bestimmt und möglicherweise schlecht informiert waren. Auch sie konnten sich irren oder aus ideologischen Gründen absichtlich verfälschte Informationen weitergeben! Insofern sind sie nicht zuverlässiger als die Geschichtsschreiber einer beliebigen Epoche oder die Medien, die uns aus einer bestimmten Zeit vorliegen …
Es war mir daran gelegen, meine Arbeit so objektiv wie möglich zu gestalten. Freilich ist sie dennoch von meiner persönlichen Sicht auf die Dinge geprägt, das ist mir durchaus bewusst. Es wäre eine ganz andere Geschichte geworden, wenn eine der beiden Hauptfiguren, Mayan-Hotep oder Isia-Lisia sie erzählt hätten. Sie wäre dann von einer anderen Stimmung geprägt.
Was die Dialoge angeht, darf der Leser sich zu Recht fragen, woher sie eigentlich kommen und wie genau sie wiedergegeben sind. Doch auch daran habe ich nichts geändert, sondern alles so aufgeschrieben, wie ich es Tag für Tag meinen Visionen entnehmen konnte.2
Ich habe mir einzig erlaubt, bestimmte Dinge zu kürzen und aus der Vielzahl der Ereignisse, die ich wiedererleben durfte, die entscheidenden Momente auszuwählen. Ohne solche Schnitte, hätte das vorliegende Werk vielleicht zwei- oder dreitausend Seiten. Es wäre dann völlig unlesbar. So bestand meine Arbeit als Schriftsteller auch darin, bestimmte Szenen herauszunehmen, genau wie ein Regisseur es bei der Montage macht, wenn der Film fertig gedreht ist.
Was die Schreibweise der Eigennamen angeht, habe ich mich dazu entschlossen, sie so wiederzugeben, wie sie von meinem inneren Ohr aufgenommen wurden – natürlich abgesehen von denen, die in der offiziellen Geschichte bereits fest verankert sind.
Eines bleibt noch zu sagen: Ein solches Werk zu schreiben verändert seinen Autor. Anders gesagt, ich muss zugeben, dass es mich zutiefst berührt hat, diese Geschichte wiederzuerleben und große Teile davon niederzuschreiben. Es hat etwas in mir verwandelt. Ich habe den Eindruck, dass sich mein Blick auf das Leben dadurch erweitert hat. Mein Bedürfnis, Zärtlichkeit zu geben und zu empfangen, meine Bereitschaft zur Empathie und meine Liebe zum Leben sind größer geworden.
Es ist mir ein Anliegen, diese Vision mit möglichst vielen Menschen zu teilen und diese Liebe weiterzugeben. Das geschriebene Wort hilft mir dabei. Es geht mir nicht darum, mich von einer emotionalen Last zu befreien, sondern den großen Veränderungen, die unserer Welt bevorstehen, neue Horizonte zu eröffnen … Sie dämmern bereits herauf, denn “Echnaton und der Strahlende Gott” gehört nicht einfach der Vergangenheit an, wie man meinen könnte. Es ist eine Geschichte der Gegenwart. Sie bringt uns in Berührung mit unseren tiefsten Fragen und unserer ewigen Suche. Dabei birgt sie eine völlig neue Sichtweise, die ich jedem ans Herz legen möchte – die eines wahrhaftigen Friedens.
Es war vor langer Zeit – vor so langer Zeit, dass die menschliche Erinnerung keine Spur mehr daran bewahrt … Es ist so lange her, dass auch in alten Büchern nichts mehr darüber zu finden ist. Es ist wirklich sehr lange her. Nur ein paar Steine, die im Sand schlummern oder ein paar in den Fels gegrabene Blicke könnten noch davon zeugen.
Und doch erinnere ich mich … denn ein Herz löscht niemals die Verbindung aus, die es mit anderen Herzen eingegangen ist. Ich erinnere mich, weil die Zeit ein seltsamer Fluss ist, der manchmal von einem verlangt, an seinen Windungen entlangzuwandeln und eine Saat auszubringen.
Es war also vor langer Zeit … vor fast dreitausendvierhundert Jahren unserer Zeitrechnung, irgendwo in einer Wüste zwischen Euphrat und Tigris … wo die Sonne unbarmherzig sengt und seit Ewigkeiten Winde über den steinigen Boden kreisen.
Ich war zu Fuß unterwegs seit … ich weiß nicht mehr wie lange … Ich ging allein zwischen einer kleine Gruppe von Nomaden mit ihrer Kamelkarawane. Ich wollte nach Alpu3, einem großen Marktflecken mitten in der Wüste. Die Straße war in der Schotterebene kaum erkennbar. Endlos zog sie sich am Rand des kargen Gebirges entlang. Ich war nicht in der Stimmung, mit meinen Reisebegleitern zu lachen oder zu plaudern. War ich mit den Jahren schweigsam geworden? Vermutlich war meine Seele zu voll vom Glück und von den Verletzungen eines ganzen Lebens … Ich wollte nur bald Alpu erreichen, das war alles. Im Grunde wünschte ich mir, mein Leben würde dort enden.
Ich wusste, dass ich erwartet wurde. Zumindest konnte ich darauf hoffen … wenn alles so war wie früher, wenn sich nichts und niemand verändert hatte. Am Eingang der Stadt musste ein großes, weißes Haus mit breitem, flachem Dach stehen. Ob es noch immer von Feigenbäumen umgeben war?
Vor einem Monat hatte ich eine Tontafel dorthin schicken lassen, in die ich das Siegel meines Ringes gedrückt hatte. War sie angekommen? Meine Gedanken erstarrten. Ich wusste nicht einmal mehr, ob mein Herz Freud oder Leid empfand.
Während die Sonne sich purpur färbte, erschienen am Ende des letzten Tages vor unserer kleinen Gruppe endlich die ersten Terrassen der altertümlichen Stadt Alpu. Die Straße wurde breiter. Es waren mehr Menschen auf ihr unterwegs, fast als habe die Wüste selbst auf einmal eine Menge Seelen hervorgebracht. Bald war ich von vielen Händlern und Bauern umgeben, die hastig voraneilten.
Bis auf die Kolonnen von Frauen, die mit riesigen Kornballen auf dem Kopf stolz einherschritten, war mir nichts mehr vertraut. Neue Häuser ragten allenthalben empor und die Lager der Schäfer erstreckten sich viel weiter ins Land hinein, als ich es von früher kannte. Die Stadt hatte sich ausgebreitet. Würde ich das große Haus mit den Feigenbäumen überhaupt noch finden? … Ich zögerte, es mein Haus zu nennen, so viel Zeit war seit jenem Tage vergangen, an dem ich fortgegangen war. Wie viele Sternenkonstellationen waren inzwischen über mich hingezogen! Damals war ich noch jung, es war eine andere Zeit, vielleicht sogar ein anderes Leben … Ja, gewiss ein anderes Leben. Auf beiden Seiten des Weges begannen nun die Feuer der Nomaden zu knistern. Ich weiß noch, dass sie meiner Seele etwas von der Fröhlichkeit wiedergaben, die ihr fehlte. Es war wohl der Duft dieses Feuers, der Erinnerungen hervorrief. Und so richtete ich mich auf und begann, schneller zu gehen.
Aus dem Stimmengewirr der Vorübereilenden drang plötzlich eine Stimme heraus und berührte mich im Innersten. Sie klopfte gleichsam an die Türe meiner Seele. Sie klang zögernd und entschieden, schüchtern und kraftvoll zugleich.
“Nagar … Nagar-Teth …!”
Ich blieb stehen und sah mich um.
“Nagar-Teth … bist du es wirklich?”
Am Wegesrand erblickte ich eine kleine Gestalt, die völlig in einen dunklen Schleier gehüllt war. Sie saß auf einem großen Stein und starrte mich an, als warte sie auf mich.
“Bist du es denn?”
Langsam ging ich auf sie zu, stellte die Stofftasche zu meinen Füßen ab und zögerte weiterzugehen. Sie machte eine Geste und stand auf, wobei ihr Schleier zu Boden sank. Da sah ich ihr Gesicht, ein schönes, längliches Gesicht, gerahmt von dichtem, grauem Haar, das bis auf die Schultern herabhing. Ich kannte dieses Gesicht. Es war von der Zeit gezeichnet, doch in ihrem Blick lag noch immer das Feuer der Jugend. Ich musste nicht lange überlegen … wie eine Flutwelle stieg alles auf, schlagartig war es wieder da, genau wie früher, ohne Vorwarnung, und ließ alles andere um mich herum verblassen.
Es war wirklich Tyrsa, die Tyrsa aus meiner Jugend, meine Schwester, meine Freundin, meine Gefährtin … Wie hatte ich sie genau genannt? Tyrsa vielleicht, ganz einfach. Ich wusste es nicht mehr … Ihr Gesicht hellte sich auf und ich nahm ein tiefes, inniges ‘Ja’ in ihren lachenden Augen wahr. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns in die Arme gefallen wären. Es war zu stark … zu viel Glück und zu viel Leid … und vor allem war es so lange her!
So schauten wir uns nur einen Moment lang schweigend an, dann machte ich einen Schritt auf sie zu und wollte sie mit zur Straße ziehen.
“Bringst du mich nach Hause?”
“Es gibt kein Haus mehr”, sagte sie mit einem müden Lächeln.
“Kein Haus mehr?”
“Nein … kein Haus. Schau, wir leben jetzt hier. Komm mit.”
Also ging ich hinter Tyrsa her von der Straße weg. Wir kletterten über ein paar Steinhaufen. Mir fiel sofort auf, dass wir auf ein Zelt zugingen, dass sich an eine kleine Erhebung schmiegte. Es war eines jener Nomadenzelte, die aus erdfarbenen Stoffen und Tierhäuten gemacht sind. Sein Eingang wurde von einem bescheidenen Feuer spärlich erhellt. Hier wollte ich mich hinsetzen. Ohne dass wir ein weiteres Wort gewechselt hätten, servierte Tyrsa mir eine Schale voll von jenem heißen, roten und würzigen Getränk, das mir in meiner Jugend allabendlich so viel Freude bereitet hatte.
“Was ist passiert?”, wagte ich endlich zu fragen.
“Es waren die Gelbköpfe4, Nagar. Sie sind schon vor vielen Jahren hergekommen … und haben sich hier eingerichtet, wie du siehst. Sie haben uns alles gestohlen. Was sie uns nicht weggenommen haben, haben sie zerstört. Der Pharao hat uns kaum geschützt, als das geschah, wusstest du das? Das hat niemand verstanden.”
“Ich weiß, Tyrsa … so war es … Das musste wohl so sein! Er wollte versuchen …”
Tyrsa war sprachlos, als sie meine Worte hörte.
Sie starrte mich an, wie um in den Tiefen meines Blickes etwas wiederzufinden, was das Leben unangetastet gelassen hatte. Es war ihr einfach unverständlich.
“Er wollte versuchen …”, sagte ich noch einmal.
“Aber wer denn, Nagar? Erklär es mir.”
Ich glaube, ich habe bloß mit einem Lächeln geantwortet. Worte fand ich keine. Da entstand ein langes Schweigen zwischen uns. Einen Moment lang befürchtete ich, Tyrsa und ich könnten uns völlig fremd geworden sein.
“Und unser Vater, Sekhmet?”, fragte ich endlich. “Wo ist er denn? Erzähl es mir.”
Tyrsa schlug die Augen nieder.
“Du kannst dir ja denken, dass er nicht mehr lebt … Er war schon alt, als sie uns das Haus wegnahmen. Es ist ihm schwergefallen, in diesem Zelt zu leben. Nicht, weil sein Herz verbittert war. Aber sein Körper war verbraucht. Er ist schon vor mehr als fünf Jahren ins Reich ohne Schatten gegangen.”
Und dann erzählte Tyrsa mir ganz genau, wie unser Vater Sekhmet von uns gegangen war, nachdem er zunächst passiven Widerstand gegen die Gelbköpfe geleistet hatte und den Auszug aus dem Haus, sowie das schwindende Einkommen der Familie, die von nun an mittellos war, erleben musste. Ja, mir war schon klar, dass Sekmeth uns verlassen hatte. Ich hatte nur nicht daran denken wollen, wohl um nicht eine Wunde aufdecken zu müssen, bevor ich sicher war, dass es einen guten Grund für sie gab … Nun aber war sie da.
Seltsamerweise fühlte ich keinen Schmerz. Mein Herz wurde vielmehr von einer Welle der Frische berührt. Es war wie das Flügelschlagen eines auffliegenden Vogels. Ich wollte mich an nichts anderes erinnern als an die Schönheit seines blauen Blicks.
Sekhmet verdankte ich alles, oder doch fast alles. Seit jenem Tag, an dem er mich alleine auf einer Straße in der Gegend von Alpu hatte herumirren sehen, war er mein Adoptivvater gewesen. Ich war gewiss nicht älter als zwölf Jahre. An meine Vergangenheit hatte ich keine Erinnerung mehr. Es hatte sich ein Schleier über sie gelegt, der offensichtlich nicht mehr gelüftet werden konnte.
So reichen meine ersten Erinnerungen bis zu jenem Zeitpunkt zurück, als ich ihn zum ersten Mal sah. Er ging auf dem Schotterweg der Wüste neben seinem Esel her. Ich hatte Hunger und Durst, mir war heiß und das Einzige, was ich noch im Kopf hatte, war diese Straße. Als er mich sah, sagte er kein Wort. Sein Blick fiel sogleich auf das Medaillon aus Bronze, das ich an einer Lederkordel um den Hals trug. Ich wusste selbst nicht, wo es herkam und was es bedeutete. Es war ein bescheidenes, rundliches Stück Metall, in das ein Stern mit acht Strahlen eingeprägt war. Er nahm es in die Hand und runzelte die Stirn. Dieses schlichte Zeichen hatte Sekhmet genügt, um den Beschluss zu fassen, mich zu sich zu nehmen.
Das war der eigentliche Tag meiner Geburt. Es war der Tag, an dem ich begann, eine Geschichte zu haben. Von nun an lebte ich mit ihm, seiner Tochter Tyrsa und ihren vier Brüdern unter einem Dach. Sekhmets Frau war ein paar Jahre zuvor im Kindbett gestorben …
Während meine Gedanken in die Vergangenheit schweiften, schenkte Tyrsa mir noch eine Schale des würzigen Getränks ein.
“Erinnerst du dich?”, fragte sie und nahm meine Hand. Ihr Lächeln war auf einmal so strahlend, dass alle Nostalgie aus meiner Seele wie weggefegt war.
“Erzähl doch”, bat sie immer wieder, “erzähl mir dein Leben, Nagar!”
Ich aber konnte es nicht … Was tief in meinem Herzen verschlossen lag, war zugleich so leicht und so schwer … eine so seltsame Verschmelzung von Sonne und Wolken, Hoffnung und Bitterkeit. Es hatte keinen Namen … Niemals würde ich es ausdrücken können …
Vor dem Zelt knisterte das Feuer. Tyrsa hatte eben etwas getrockneten Kuhmist hineingeworfen, um die Flammen anzufachen.
Der Mantel der Nacht breitete sich sachte über uns aus. Ich hob den Kopf, um den Duft der Nachtluft tief einzuatmen, da fing mein Blick das Funkeln des ersten Sterns ein, der hoch über dem zackigen Horizont des Gebirges aufging.
“Hast du es noch?”, fragte Tyrsa mich fröhlich.
“Nein”, antwortete ich, ohne zu überlegen. Ich war sicher, dass sie mein Medaillon meinte. “Nein, ich habe es nicht mehr.”
“Hast du es also verloren?”
“Nun ja, ich habe es verschenkt … Ich weiß, Sekhmet hätte das nicht gerne gesehen, aber … es gibt die Weisheit der Bücher, die Weisheit der Tempel … und dann gibt es noch die Weisheit, der man im Laufe seines Lebens begegnet, während man seinen Weg geht. Darin hat jeder von uns seine eigene Geschichte.”
Tyrsa nickte.
Einen Moment lang dachte ich, ich könne es dabei bewenden lassen, sie habe im Wesentlichen schon verstanden, was ich damit sagen wollte. Hatte sie nicht aus derselben Quelle getrunken wie ich?
Sekhmet, unser Vater, war kein gewöhnlicher Mensch gewesen. In seiner Jugend, bevor er geheiratet hatte, war er viel gereist, genau wie sein Vater es vor ihm getan hatte. Er nannte sich “Ishva5”, das hieß bei uns, dass er viele Geheimnisse barg. So war es auch – und doch gab es kein einziges, das er uns nicht im Laufe der Jahre anvertraut hätte. In Wahrheit war Sekhmet Priester – ich meine – immer schon. Er wurde als Priester geboren. Er gehörte zu jenen seltenen Menschen, für die das Heilige und das Profane sich von jeher durchdringen. Und so war er für Tyrsa und mich, aber auch für ein paar andere, eine Brücke gewesen, auf der wir unablässig vom Menschlichen zum Göttlichen übergehen konnten. So vieles wusste er von den Mechanismen der Seele und vom Aufbau der Welt.
In seinem Hause waren wir reich. Nicht nur an materiellen Gütern, sondern auch an Wissen. Folglich war unsere Familie – die Familie, die nun ja auch meine geworden war – in Alpu recht angesehen.
Sekhmet zelebrierte täglich in einem Tempel, der direkt in den Felsen gehauen war.
In dieser Atmosphäre war ich aufgewachsen, ohne den Grund dafür recht zu verstehen … zumindest nicht bis zu meinem vierzehnten oder fünfzehnten Lebensjahr. Zu diesem Zeitpunkt verkündete mein Vater, dass man ihm zu verstehen gegeben hatte, ich solle im großen Tempel der Stadt Medizin und Astrologie studieren. Es gab dort eine Priesterschule, in der meine Zukunft und mein Wohlstand bereits vorgezeichnet waren. Es war eine Ehre, ich musste nur noch gehorchen. Das war zu einer Zeit, in der man mit fünfzehn Jahren ein Mann wurde, der fähig war, sein Leben in die Hand zu nehmen, hart zu arbeiten und seine Tränen zu unterdrücken. Es war auch das Alter, in dem man daran denken konnte, sich eine Frau zu suchen … Doch ich würde Priester werden und zwar eine Art von Priester, der die menschliche Liebe den Normalsterblichen zu überlassen hatte.
Während sie das Feuer weiter anfachte, begann Tyrsa, die meine Gedanken zu lesen schien, von unserer Jugend zu sprechen.
Vielleicht wollte sie mich damit wieder etwas zugänglicher machen. Mit meiner Stofftasche und meinem vom Wüstenstaub bedeckten Mantel sah ich zweifellos noch etwas verstört aus.
In Wahrheit kam ich mir vor wie ein Baum mit schwerem Laub, auf der Suche nach einer Erde, die tief genug ist, um Wurzeln darin zu schlagen. Ich hatte so viel Liebe gegeben und empfangen, dass ich einfach erschöpft war …
Wie viele Stürme des Lebens hatte ich überstanden! Tyrsa spürte das zweifellos und sprach erst einmal lieber von sich.
“Du stellst mir gar keine Fragen, Nagar-Teth … Weißt du … Im Jahr deiner Abreise habe ich geheiratet, im Gegensatz zu dem, was ich mir gelobt hatte. Und so habe ich dem Dienst im Tempel den Rücken gekehrt. Das hat unseren Vater sehr aufgebracht. Mein Mann war ein reicher Händler. Er besaß in der Hauptstraße eine Verkaufsbude, wo er mit Gold und Edelsteinen handelte. Er war als Mann eigentlich vielen anderen in der Stadt ähnlich, doch ich hatte in seinen Juwelen kurz jene aufblitzen sehen, die am Himmel leuchten. Er schenkte mir drei Söhne, von denen mir nur einer geblieben ist. Und er war das erste Ziel der Gelbköpfe, als sie über Alpu hereinbrachen. Er besaß einfach zu viel Gold, um nicht Neid und Missgunst auf sich zu ziehen.
Siehst du, so habe ich nur noch einen Sohn. Unser Vater hatte gerade noch Zeit, ihm die Grundbegriffe der Pflanzenheilkunde beizubringen. Willst du ihn nicht noch ein wenig darüber lehren, Nagar?”
Im ersten Moment wusste ich nicht, was ich dazu sagen sollte. Ich war etwas überrascht von der Bitte. So nahm ich das Feuer, das in Tyrsas Augen leuchtete, genauer unter die Lupe.
“Ja, natürlich …”, sagte ich schließlich.
“Du wirst wieder mit uns leben, nicht wahr? Er würde dich gerne hören, und so viele andere auch. Bis du nicht ‘Priester des Pharaos’ geworden? Das sagen zumindest die Leute …”
Ich fuhr hoch.
“Nein, Tyrsa, nein … Das darfst du nicht glauben. Ich war nie Priester des Pharaos. Im Übrigen gab es gar keine Priester mehr …”
“Keine Priester mehr?”
“Nein … zumindest war das sein Wunsch … der Wunsch des Pharaos.”
“Du hast ihn also gut gekannt! Man sagt, er sei auf die andere Seite des Lebens gegangen. Ist das wahr? Man sagt auch, der neue König sei noch ein kleiner Junge, der kaum in der Lage ist, zu regieren? Stimmt auch das?”
“Ja, Tyrsa, alles, was du sagst, ist richtig. Der, den ich kannte, den ich liebte und dem ich gedient habe, ist auf der Barke des Sonnengottes Re zu seinem Vater zurückgekehrt. Dank seiner ist all das geschehen und könnte auch weitergehen.”
“Erzählst du es mir, Nagar?”
Schon wieder hatte ich einen Kloß im Hals. Was war nur aus dem so selbstsicheren und stolzen Nagar-Teth von einst geworden?
Seine Ruhe und Souveränität schienen von all den Sandstürmen weggeweht worden zu sein … Worte und Szenen aus meiner Kindheit stiegen in mir auf, wie Wellen, die ans Ufer branden.
Ihr einlullendes Echo erklang in mir wie das Hallen von Schritten in den langen, steinernen Fluren der Tempel von Theben.
Während Tyrsa ein paar Fische in die Glut legte, sah ich mich wieder in einem braunen Gewand vor den Priestern von Alpu stehen, die mir das Wesen des Menschen erklärten, die verschiedenen Schichten, aus denen sein Körper und seine Seele aufgebaut sind. Außerdem hörte ich von der Sternenspur, die bis in sein tiefstes Wesen hineinführt. Dann ließ ich ganz sanft und sachte Sekhmets Stimme wieder zu mir kommen, damit sie mich lehren solle, welche Öle die Seele heilen – all diese Öle, die man herstellt und bei Vollmond mit endlosem Singsang nährt.
“Nagar-Teth”, hatte Sekhmet eines Tages feierlich zu mir gesagt, “der Tag wird kommen, an dem du das Geheimnis des Medaillons, das du um den Hals trägst – an dem ich dich als einen von uns erkannt habe – lüften wirst. Es war weniger der Stern, der mich angezogen hat, als vielmehr dies unscheinbare Zeichen, das in seine Rückseite eingraviert ist. Siehst du, es ist ein seltsames Kreuz, das ständig auf deiner Brust liegt. Du denkst nie daran, doch du sollst wissen, dass dieses bewegte Kreuz6, dir ein nicht weniger merkwürdiges Schicksal aufprägen wird. Seinetwegen und durch den Stern, der über ihm steht, bin ich auf deinen Weg geführt worden. So gehe diesen Weg, denn ich bin nur ein Grenzstein am Wegesrand.
Doch vergiss nur eines nicht, mein Sohn, ein solcher Weg gehört dir nicht. Du wirst niemals etwas anderes als ein Dienender darauf sein. Es werden sich freilich welche finden, die dich ‘Meister’ nennen, daran besteht kein Zweifel. Du aber wirst wissen, was dieses Wort in Wahrheit bedeutet. Du wirst um das Gewicht wissen, welches es dem Körper auferlegt, aber auch was es der Seele abverlangt. Nun ja, du wirst schon noch erfahren, wer der Meister ist …”
“Nimm das, Nagar”, sagte Tyrsa. Sie riss mich aus meinen Träumereien und legte einen Weizenfladen in meine Hand, auf dem ein Fisch lag, der nach Glut und Gewürzen duftete. “Iss”, sagte sie nachdrücklich, “dein Körper braucht es …”
“Weißt du eigentlich, dass mir vor einer Woche zufällig die Schreibtafel mit deinem Siegel überbracht wurde? Deshalb habe ich jeden Tag, während ich die Schafe bewachte, am Straßenrand nach dir Ausschau gehalten. Ich hatte längst nicht mehr gewagt, auf deine Rückkehr zu hoffen.
Und so habe ich mir, um mir die Zeit zu vertreiben, die Bilder von dem Tag, an dem du abgereist bist, vor Augen gehalten. Das ist über zwanzig Jahre her, Nagar! Kannst du dich auch so gut daran erinnern wie ich? Dein Ruf als Kundiger der Pflanzen und Öle, dein Wissen über alles, was unseren Körper belebt, hatte sich bereits weit über Alpu hinaus herumgesprochen. Dein Ansehen wurde von den Karawanen weitergetragen. Wer hat wohl am Ufer des Nils von dir erzählt? Wir werden es nie erfahren. Doch ich werde niemals den Schock vergessen, den es uns versetzte, als wir hörten, dass der Pharao dich an eine seiner Schulen berufen will. Du solltest nach Theben gehen – Mitten in die Rote Erde! Das konnte man nicht einmal ablehnen. Es war ein höchst offizieller Befehl! Du hast dich ihm aber auch nicht widersetzt. Du nahmst einfach das blaue Gewand des Priester-Ausbilders, der du geworden warst, deinen Mantel, ein paar Schalen und den dicken Silberring, den dein Siegel zierte. Und dann bist du gegangen. Ich weiß nicht, was dich dazu getrieben hat.”
“Ich wusste es auch nicht, Tyrsa …”
“So sind Monate vergangen und schließlich Jahre. Von Zeit zu Zeit hörten wir etwas von dir, von deinem Leben und der Verantwortung, die du übernommen hattest. Es kamen auch ein paar Palmblätter, die von deiner Hand beschrieben waren und dein Zeichen trugen … und doch war es, als seiest du in eine andere Welt gegangen … ohne das leiseste Versprechen auf Rückkunft.
Wir haben es gelassen akzeptiert, weil wir dich liebten und wussten, dass du nicht zu jenen gehörst, die vergessen, wenn sie weit weg sind. Ich erinnere mich noch an deine Worte an jenem Morgen, an dem du uns auf der Schwelle des Hauses verlassen hast. Du hast einfach gesagt: ‘Ich gehe nicht um meiner selbst willen. Es gibt Momente im Leben eines Menschen, in denen man weiß, dass man sich dem Unbekannten anvertrauen muss, weil dieses Unbekannte der Ruf eines Schicksals ist, dem man nicht ausweichen kann. In Wahrheit gehe ich nicht zum Pharao. Ich möchte nur diesem Licht dienen so gut ich kann.’
Bei diesen Worten hast du deinen Finger auf das Medaillon gelegt, das du am Hals trugst. Und dann hast du dich langsam umgedreht und bist zur Karawane gegangen, die hinter den Feigenbäumen auf dich wartete.
In den ersten Tagen habe ich den Himmel verflucht und zwar umso mehr, als ich sah, dass mein Vater kaum mehr inneren Frieden damit hatte, als ich selbst. Damals habe ich zum ersten Mal begriffen, dass all sein Wissen, unser Wissen, nicht ausreichte, um einen echten Schmerz zu lindern …
Ich verstand aber auch, dass das vielleicht gerade der Grund war, warum du so schnell fortgegangen bist, warum du all deine Ämter an einem einzigen Tag abgelegt hast. Du hast es wohl geahnt und wolltest über dieses Wissen hinausgehen.
Nur unsere Brüder und ein paar Leute, die uns nahestanden, schienen keinen Schmerz zu fühlen. Ohne es zu ahnen, hattest du hier eine so wichtige Rolle gespielt, ausgerechnet du, das Findelkind, von dem man nichts wusste! Du, der du im Umgang mit Sekhmet und den Priestern so schnell gelernt hattest, als würdest du einer Laufbahn folgen, auf die niemand Einfluss nehmen kann.
Du, in dessen Blick ständig der schmerzhafte Ruf nach etwas anderem lag! Hast du gefunden, was du gesucht hast, Nagar? Hast du der Sonne gedient, von der du träumtest?”
Ich hüllte mich fester in meinen Mantel und schaute Tyrsa tief in die Augen, bis in ihr Inneres Wesen hinein.
“Oh ja, kleine Schwester, ich habe sie gefunden … Ich habe so viel gefunden, dass ich sogar glaubte, mich darin zu verlieren. Ich hab so viele Wege aufgespürt, die auf diesen einen Weg führen und meine Seele ist so hoch in den Himmel aufgestiegen, dass nur noch ein allerletzter Hauch mir gefehlt hat … uns gefehlt hat. Tyrsa! Es ist uns fast gelungen, verstehst du? Es ist uns fast gelungen!”
“Aber was denn, Nagar? Wovon sprichst du?”
Ich warf die Reste meines Fisches ins Feuer, das noch heftiger zu knistern begann. Dann erhob ich die Augen zum Sternenzelt. Inzwischen war es stockfinstere Nacht. Sie lag wie Samt über unseren Köpfen und der Rauch des Lagerfeuers stieg in feinen Schwaden zu ihr auf.
Endlich spürte ich, wie meine Stirn und meine Schläfen sich entspannten. Es herrschte eine demütige, sanfte Stimmung, die ich so lange nicht mehr erlebt hatte, dass ich ihren Duft vergessen hatte. Würde ich mich ihr öffnen, mich ihr hingeben können? Es ist manchmal schwer, locker zu lassen, selbst wenn man Liebe und Zärtlichkeit zur Genüge kennengelernt hat! Das Licht aber kann man niemals in sich festhalten. Man bittet es zu sich, lässt es in sich wirken, wie es ihm beliebt. Es leuchtet bis in unsere innersten Winkel und stiftet zuweilen Unruhe – ja, vor allem Unruhe. Dann sagt man zu ihm: “Verfüge über mich, du bist hier zu Hause.” Doch niemals kann man es zurückhalten! Der Ozean gehört nicht seinen Wellen …
Nun ja, an diesem Abend, in dieser Nacht, während ich zuschaute, wie meine Füße im Schein der Flammen im Sand spielten, löste sich die geballte Faust in meinem Inneren. Und so bedeckte ich meinen Kopf mit einer Wolldecke und begann zu sprechen, langsam, ein Wort nach dem anderen, eine Perle nach der anderen, wie ein Greis mit dem Herzen eines Kindes. Also erzählte ich Tyrsa die Geschichte von Nagar-Teth, die wahre Geschichte all jener, welche die Sonne so liebten …
“Die Reise war lang … Erst einmal ging es quer durch die Wüste und dann bestiegen wir im alten Hafen von Ugarit7ein Schiff des Pharaos. Die Überfahrt dauerte mehrere Wochen. Mit seinem großen quadratischen Segel mit blauen Fransen fuhr unser Schiff friedlich am Ufer entlang. Es legte in jeder größeren Stadt an, die in Sicht kam. Dabei wurde ein reger Handel mit Nahrungsmitteln betrieben.
Ich erlebte all das wie im Traum. Das Wiegen der Wellen gab mir das Gefühl, nicht mehr ganz in meinem Körper zu sein. Und so bewegte sich mein Bewusstsein in jenen Randbereichen des Lebens, in denen man nicht mehr recht weiß, wer man ist und wohin man geht. Die Welt der Seeleute und Händler war mir so fremd … Ich erinnere mich fast nur noch an die Sonne, das tiefe Blau des Wassers und die Reling, auf die ich mich ständig stützte.
Zwei Männer trugen die Verantwortung für mich. Der erste hatte sich als Würdenträger vorgestellt, der mit Belangen des Tempels beschäftigt war. Der zweite war ein einfacher Soldat, der für unsere Sicherheit sorgte. Meine beiden Begleiter waren nicht sehr gesprächig, was mir gar nicht unrecht war, denn ich wollte mit meiner Seele alleine sein.
Eines Morgens tauchte endlich das Ufer der Roten Erde auf. Wir verließen unser Schiff, um in ein bescheideneres Boot umzusteigen, mit dem wir tiefer ins Land vordringen konnten. Zuerst ging es zwischen Papyrusstauden und Wasserhyazinthen durch eine sumpfige Gegend. Sie war von einer seltsamen Schönheit. Ich war einen solchen Anblick nicht gewohnt und schreckte jedes Mal hoch, wenn ein Schwarm Enten, die wir aufgescheucht hatten, geräuschvoll über unsere Köpfe hinwegflatterte. Alpu kam mir schon sehr weit weg vor. Es war nur noch eine ferne Erinnerung. Es war alles so schnell gegangen, dass ich selbst nicht mehr wusste, ob ich geflohen oder wirklich einem Ruf gefolgt war. Den Nil hinaufzufahren schien endlos zu dauern. Wir mussten mehrere Nächte eingehüllt in unsere dicken Wollmäntel an Deck verbringen.
Dann kam endlich der Tag, an dem ich den Boden des Pharaos zum ersten Mal betrat.
Es war Abend. Ich befand mich auf einem kleinen Steg kurz vor Theben, auf dem halb nackte, lachende Fischer gerade ihre Netze falteten. Die Luft roch kräftig nach Weihrauch und ein kleiner Junge spielte Flöte, während er seine Füße in die Uferwellen tauchte. Ich sprach kein Wort, so stark erlebte ich die Magie des Augenblicks.
Ein Mann, den ich nicht kommen gesehen hatte, nahm sich meines bescheidenen Gepäcks an. Alsbald wurde ich auf einen breiten Weg geführt, von dem aus ich hinter den Blättern eines Palmenhains die Befestigungen der Stadt erahnen konnte. Der Himmel war feuerrot. Nachdem wir eine erste Stadtmauer hinter uns gelassen hatten, wurde ich in ein Haus mit geräumigen, angenehm kühlen Zimmern geführt. Das tat mir sehr wohl. Es sollte meine Herberge für die Nacht sein. Neben dem Springbrunnen, der das Hauptgemach schmückte, standen zwei Diener, die nur mit einem Lendenschurz aus Leinen bekleidet waren. Es wurde mir gesagt, sie seien mir zu Diensten, würden sich um mein Wohl kümmern und mir auch an meinen neuen Wohnort folgen. Am nächsten Morgen würde ich sehr früh abgeholt und in die Stadt und den Tempel eingeführt werden.
“Die Diener sind aus dem Hause Mayan”, bekam ich zu hören. “Darauf weist das Zeichen auf dem Metallarmband hin, das sie oben am Arm tragen.”
“Mayan?”
“Das ist der Schriftmeister im Palast des Pharaos. Er ist auch Hauptwesir und eine große Autorität, Herr Nagar. Er hat deine Reise hierher organisiert. Ich bringe dich morgen zu ihm, wie er es mir befohlen hat.”
Mit diesen Worten verabschiedete sich mein Reisebegleiter von mir und ließ mich mit meinem Erstaunen allein zurück. Ich aber überließ mich meinen Gedanken.
“Herr Nagar!” … So hatte man mich noch nie genannt. War es der Ort, der das erforderte? Ich wusste nicht recht, ob ich mich geehrt fühlen oder schämen sollte, jedenfalls musste ich schmunzeln.
Die beiden Bediensteten servierten mir eine Mahlzeit aus Linsen und in Honigwein getränkten Früchten. Danach schlief ich bald ein.
Die Rufe der Kamele rissen mich im ersten Morgengrauen aus dem Schlaf. Der Name Mayan drang sehr bald durch meine Benommenheit zu mir durch und ich zwang mich, sofort aufzustehen, obwohl meine Muskeln von der wochenlangen Reise schmerzten. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft fiel mir auf, wie schön mein Zimmer war. Es stand ein ganz flaches Holzbett darin, das mit blauen und purpurfarbenen Einlegearbeiten aus Glas verziert war. Es gab Matten und an der Wand befand sich ein langes Fresko, das eine Fischerszene darstellte. Neben der Türe, die auf die Terrasse führte, thronte ein mit Wasser gefüllter Krug. Ich hatte kaum Zeit mich zu waschen, schon wurde ich, wie angekündigt, abgeholt. Es war eine Gruppe von fünf oder sechs bewaffneten Wächtern, bekleidet mit kurzen, sandfarbenen Lendenschurzen und silbern blitzenden Halskrägen.
Alsbald folgte ich ihnen zügigen Schritts durch eine ganze Reihe von Gärten. Alles war von unwirklicher Schönheit. Noch nie hatte ich etwas Derartiges gesehen … Reiche Anwesen lagen zwischen vielfältigen, kleinen Obstgärten und blumengeschmückten Höfen. Wasser schien überall im Übermaß vorhanden zu sein. Auf den Terrassen wuchsen riesige Dattel- und Granatapfelbäume und noch andere Baumarten, die mir unbekannt waren. Die Häuser waren dem Anschein nach eher schlicht, doch erhaschte man hie und da einen Blick auf lange Säulengänge aus bemaltem Stein und Innengärten voll üppig blühenden Hibiskus. Ich weiß nicht mehr, wie viele Schutzwälle und kleine Brücken wir überquerten, und auch nicht um wie viele prachtvolle Wohnungen wir herumgehen mussten, doch irgendwann wurde mir klar, dass wir in den innersten Bereich vorgedrungen waren, der dem Palast und seinen Herrschern vorbehalten war. Ich war überrascht, wie emsig und aktiv die Menschen zu dieser frühen Stunde schon waren. Jeder, dem wir begegneten, schien eine ganz bestimmte Aufgabe zu haben, die in aller Ruhe erledigt werden musste. Meine Augen waren ja an das bunte Treiben des großen Marktes von Alpu gewöhnt und so erschien mir hier alles auf wunderbare Weise von Ruhe, Ordnung und Schönheit bestimmt.
Endlich erreichten wir die Schwelle eines Gebäudes, das größer und bedeutender war als die anderen. Am Fuße der breiten Steintreppe, die zum Eintreten einlud, stellte die aufrecht stehende Statue eines Mannes mit Löwenkopf eine beeindruckende Wächterfigur dar.
Nachdem wir einige mit Fresken geschmückte Säulengänge durchquert hatten, befand ich mich schließlich in einem großen Saal, dessen Decke und Mauern vollständig bemalt waren.
Große, duftende Rauchschwaden stiegen aus einem Becken empor, das auf einem Dreifuß auf einer Säule stand. Unweit davon erblickte ich drei Männer, die ins Gespräch vertieft waren. Worauf sie saßen erinnerte eher an Throne als an einfache Sitzgelegenheiten. Bald wurde ich zu ihnen geführt. Als sie mich dergestalt eskortiert näherkommen sahen, erhoben sich zwei von ihnen sogleich. Der dritte aber blieb unbeweglich sitzen und musterte mich ostentativ von Kopf bis Fuß.
Ich tat mein Bestes, um ihn nach der Sitte unseres Volkes zu grüßen und er bedeutete mir, näher zu kommen, während seine Gesprächspartner von selbst verschwanden.
“Meister Nagar-Teth!”, sprach er mit unglaublich selbstsicherer Stimme. “Hattest du eine angenehme Reise?”
Beeindruckt von der Kraft, die er verströmte, stammelte ich, ja, alles sei zum Besten gewesen und dankte ihm für seine Fürsorge.
Nun stand der Mann auf und machte ein paar Schritte auf mich zu, während er meine Begleiter mit einer Geste verabschiedete. Jetzt waren wir also allein.
“Ich bin Mayan-Hotep”, fuhr er im selben Tonfall fort. “Ich bin Palastvorsteher, habe aber noch viele andere Aufgaben … Aber die Ämter, die der Pharao mir gegeben hat, sind nicht so wichtig … du wirst mich schon noch kennenlernen.”
‘Du wirst mich kennenlernen.’ … Diese wenigen Worte hatten eine eigentümliche Resonanz in meinem Inneren. Ich wusste nicht, wie ich sie auffassen sollte.
“Komm doch näher, Meister Nagar … Weißt du, dass dein Ruf dir bis hierher vorausgeeilt ist? Das soll dich nicht wundern, denn der Pharao hat überall seine Kundschafter. Er selbst wollte dich hier in Iat8 haben. Er ist der Ansicht, das traditionelle Wissen deines Volkes könnte sich mit unserem verbinden und es bereichern.”
“Ich bin noch zu jung, um eines solchen Vertrauens würdig zu sein”, gab ich leicht beschämt zurück. Es war mir etwas unangenehm. “Ich weiß wirklich nicht …”
“Unterrichtest du nicht Hunderte von Studenten? Nennt man dich etwa nicht ‘Meister’, soviel ich gehört habe?”
“Nein, Herr Mayan, so nennt man mich nicht … Wer in den Augen mancher als Meister erscheint, ist doch in den Augen vieler anderer noch immer ein Novize. Ich kann eine solche Bezeichnung nicht annehmen … Da hat man dich wohl falsch informiert.”
Die Mundwinkel meines Gegenübers verzogen sich zu einem Lächeln. Er antwortete nicht. Erst in diesem Moment fiel mir die Majestät seines Ganges und seiner Kleidung auf. In Wahrheit trug er nur ein einfaches, langes Gewand aus weißem Stoff, das an der Taille von einem breiten, mit Gold durchwirkten Gürtel zusammengehalten wurde, es passte aber wunderbar zur dunklen Tönung seiner Haut. Sein Gesicht, das von üppigem Haar umrahmt war, erlaubte keine Rückschlüsse auf sein Alter. Das Leben schien keine Spuren darin hinterlassen zu haben.
“Wie auch immer, nun bist du hier, Meister Nagar”, sagte Mayan-Hotep. “Lass dir eines gesagt sein: Wenn es dir gelingt, das Wohlwollen des Pharaos zu gewinnen, ist dein Glück gemacht, dann wirst du in unserer Mitte das angenehmste Leben führen. Jedenfalls wirst du wohl in der Lage sein, unseren Studenten beizubringen, was sie wissen müssen, da bin ich mir sicher. Zu viel Bescheidenheit schadet, findest du nicht?”
Während er diese Worte sprach, schaute mir Mayan tief in die Augen, als wolle er noch das leiseste Wimpernzucken aufspüren.
“Wenn du von einer aufgesetzten Bescheidenheit sprichst, möchte ich dir nicht widersprechen. Sie ist die List der Stolzen. Andererseits … bezweifle ich nicht, dass der Pharao und du mich mit Augenmaß beurteilen und auch richtig einschätzen können. Ungeachtet des Ranges meiner Familie, haben alle ihre Mitglieder stets einfach gelebt. Um Reichtum geht es mir nicht.”
Mayan musterte mich noch einmal eindringlich.
“Worum geht es dir dann?”
Diese unverblümte, ja fast schon unverfrorene Frage verschlug mir die Sprache.
“Nun, Meister Nagar?”
“Ich weiß nicht”, erwiderte ich recht kleinlaut. “Ich weiß nicht, wie ich das nennen soll. Ich habe noch keinen Namen dafür gefunden …” Während ich diese Antwort gab, sagte ich mir, dass ich soeben jede Chance verspielt hatte, mir in Theben eine Existenz aufzubauen. Nein, ich war nicht bescheiden … In einer solchen Situation sprachlos zu sein oder keine Erklärung parat zu haben, war einfach nur Dummheit. Vielleicht war es besser, wenn ich nach Alpu zurückkehrte und aufhörte, mir so etwas wie eine ‘Berufung’ einzureden oder sie zu ersehnen.
“Wir werden später zusammen essen, Nagar. Passt es dir heute Abend?”
Verblüfft von Mayans Vorschlag, nickte ich nur mit dem Kopf und legte zum Zeichen des Respekts die Hand aufs Herz. Ich wurde geprüft, das war klar. Das dämmerte mir langsam … Allerdings wusste ich nicht, wie weit der Test ging und was genau von mir erwartet wurde.
So ging meine erste Begegnung mit dem Großwesir zu Ende. Unmittelbar darauf wurde ich in ein Gemach gebracht, das nicht weit von seiner eigenen Wohnung entfernt war. Dort warteten die beiden Diener vom Vorabend bereits auf mich. Sie hatten sogar mein Gepäck mitgebracht. Dies würde von nun an mein Zimmer sein. Wie das vorherige hatte es eine große Terrasse, von der aus man einen sehr schönen Blick in die Obstgärten hatte, durch die wir in der Morgendämmerung gekommen waren. Auch die Aussicht auf Theben war von hier aus fantastisch. Man konnte zugleich einen Abschnitt der Stadtmauern, einige große Wohnhäuser, ein paar offizielle Gebäude und einen Teil des Tempels überblicken.
Den restlichen Tag verbrachte ich mit einem einsamen Spaziergang durch die obere Stadt. Die Reichtümer, die hinter ihren Wällen verborgen waren, versetzten mich noch immer in Staunen. Einige Häuser der Honoratioren hatten eigene Anbauflächen und fast schon die Ausmaße kleiner Dörfer. Jedes von ihnen war von mehreren Höfen umgeben, welche die verschiedenen Wohnbereiche voneinander abgrenzten. Das fiel mir auf. Wenn man von der Küche in die Pferdeställe ging, von da in die Zwinger und dann in den Bereich der Dienstboten, durchquerte man also immer die Höfe. In diesem Labyrinth verlief ich mich oft. So fand ich mich auf einmal vor einer der großen Türen wieder, die aus dem Inneren der Stadt hinaus zu den Vorstädten führte. Zwar hatte man mir geraten, nicht in diese Richtung zu gehen, doch ich war viel zu unabhängig, um mich an einen solchen Rat zu halten. Also spazierte ich durch die Stadt des Volkes, mit ihren verwinkelten Gässchen, den an der Stadtmauer flüchtig aufgeschlagenen Läden und den lärmenden Menschenmassen. Es war ein Ort, an dem sich Staub und Schweiß mischten. Die Vielfalt der Lebensmittel auf den Ladentischen beeindruckte mich und auch der Fluss war noch immer allgegenwärtig. Außerdem war man ständig von ganzen Kolonien von Kamelen und Eseln umgeben. Sie trugen schwere Lasten, die aus dem ganzen Reich kamen. Als ich aus dem inneren Bereich herausgetreten war, hatte ich auf unbestimmte Weise gehofft, in den Gassen mit Menschen in Kontakt zu kommen und ein paar Zufallsbekanntschaften zu machen. Nun aber schien man mir aus dem Wege zu gehen, trotz der Atmosphäre großer Offenheit, die an sich überall herrschte. Es war fast, als hätte ich etwas Beunruhigendes an mir, was den Menschen Angst machte. Sicherlich, ich war ein Fremder, eine Vielzahl von Details, die mir gar nicht bewusst waren, musste wohl darauf hinweisen … Doch das schien nicht alles zu sein. So kehrte ich schweren Herzens und leicht beunruhigt in meine Wohnung zurück.
Ein Diener von Mayan wartete dort schon auf mich. Er brachte mir als Geschenk ein wunderschönes blaues Gewand aus einem leichten Stoff. Ich fasste es als Aufforderung auf, es gleich anzulegen und dem Gesandten des Wesirs zu folgen.
So stand ich Mayan-Hotep alsbald wieder gegenüber, noch ganz benommen von den Eindrücken des Tages.
“Ah, da bist du ja”, rief mein Gastgeber sogleich, als würden wir uns schon lange kennen.
Ich blieb reserviert, denn ich befürchtete, dass sich hinter seiner Leutseligkeit eine Falle verbarg und ich erneut geprüft werden sollte. Ich irrte mich nicht. Schon bald schlug er wieder einen viel offizielleren Ton an. Das Zimmer, in dem wir uns befanden, war, seiner majestätischen blauen Fresken ungeachtet, recht schlicht. Der mittlere Teil lag unter freiem Himmel mit Ausblick auf ein großes Wasserbecken, in dem frisch gerichtete Blumen schwammen.
“Nimm doch Platz, Meister Nagar”, sagte Mayan feierlich und wies auf einen langen, niedrigen Tisch, der reich gedeckt war.
“So, so, du bist also in die Unterstadt gegangen … Man hat mir berichtet, dass du heute Nachmittag dort recht lange herumflaniert bist. Kannst du mir sagen, was du an einem solchen Ort findest? Es stinkt doch dort nach Kamel und Fisch!”
Wieder spürte ich, wie der Blick meines Gastgebers geschickt in mich eindrang. Ich zwang mich, zu lächeln, obwohl ich keine Lust dazu hatte und musste dann fast sogar lachen.
“Aber … das ist das Leben, Herr Mayan! Ich möchte das Leben deines Volkes kennenlernen. Wenn ich hier leben soll, möchte ich wissen, wer die Menschen im Lande des Pharaos sind!”
“Ja glaubst du denn, dass du ihnen etwas beibringen wirst? Für dich spielt sich alles innerhalb unserer Mauern ab. Alpu ist weit weg, dessen kannst du gewiss sein … Ist dir bewusst, dass ich hätte Anstoß daran nehmen können, dass du die Wohnung, die ich dir angeboten habe, so schnell verlässt?”
Ich war erst einmal sprachlos und suchte verzweifelt nach etwas anderem als einer banalen Ausrede. Doch dann, getrieben von einer gewissen respektlosen Kraft, warf ich eine Antwort hin, ohne an ihre möglichen Konsequenzen auch nur zu denken.
“Mein Herr, wenn dieser Palast für mich ein Gefängnis sein soll, und sei es ein goldenes, so bitte ich dich, mich von meinen Pflichten zu entbinden. Ich werde dann mit dem nächsten Schiff in mein Durchschnittsleben in Alpu zurückkehren.”
“Setzen wir uns Nagar …”
Entgegen meinen Befürchtungen schlug der Großwesir nun einen anderen Ton an. Er schob mich zum Ledersofa neben einem Tisch. Ich war beunruhigt … Es war das erste Mal, dass Mayan-Hotep mich einfach mit meinem Namen ansprach.
“Nagar”, fuhr er fort, “lass uns ernsthaft miteinander reden. Seit deiner Ankunft beobachte ich dich oder lasse dich beobachten. Das missfällt dir, ich weiß. Es missfällt mir auch … Aber ich brauche, wir brauchen ganz bestimmte Menschen.”
“Was für Menschen denn?”, fragte ich, noch immer abwehrend.
“Ich weiß nicht genau … Ich habe noch keinen Namen dafür gefunden!” Als er diese Worte aussprach, schenkte Mayan mir ein breites, verbindliches Lächeln.
Schließlich setzten wir uns einander gegenüber. Eine ganze Reihe von Bediensteten brachten uns Schalen zum Händewaschen und füllten unsere Gläser mit einem ganz hellen Wein.
“Ja, Nagar, wir brauchen Menschen, auf die wir bauen können … nicht bloße Höflinge oder Priester, die auf Ehre aus sind. Ich glaube, ich habe mich nicht getäuscht, als ich dich zu uns kommen ließ … Doch du sollst wissen, wenn ich mich doch in dir irren sollte, wirst du tatsächlich das nächste Boot nach Ugarit nehmen müssen. Enttäusche unsere Erwartungen also nicht!”
Zum Zeichen meiner Zustimmung dieser Sicht auf die Dinge, schüttelte ich den Kopf.
“Und welche Erwartungen? Darf ich erfahren, was ihr genau von mir wollt?”
“Wir wollen nichts von dir … Was heute im Lande des Pharaos geschieht, hat nichts mit Wollen zu tun. Wir haben eine Erwartung … Verstehst du den Unterschied? Es gibt Dinge, die man nicht aus dem Boden stampfen kann. Man kann sie niemandem auferlegen oder befehlen. Wir brauchen Menschen, die genau das verstehen.”
“Und … welche Dinge sind das?”
“Alle, die von hier kommen und wieder hierher zurückkehren!”, antwortete Mayan und legte mit einer sprechenden Geste die weit geöffnete Hand auf seine Brust.
“Die Seele unseres Landes erstickt”, fuhr er fort, “und zugleich ist auch die Seele der Welt in großer Gefahr. Wir atmen nicht mehr die Luft der Sonne, Nagar, hast du das bemerkt? Weißt du, ich bin vor allem Schreiber und ich kenne die Schreiber … Ich weiß, wovon ich rede. Wir können nichts anderes mehr als Zeichen eingravieren und das tun wir sogar mit Dingen, die sich gar nicht aufschreiben lassen.
Und wenn es keine Steine mehr zum Beschreiben gibt, machen wir eben neue. Ein Herz kann sich verhärten. Es erstarrt leicht, nicht wahr?”
“Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, Herr Mayan. Wenn du der Meinung bist, dass die Herzen der Menschen der Roten Erde sich verhärten, wie kann ich als Fremder euch da behilflich sein?”
“Du bist ein Fremder Nagar-Teth, ja. Aber weißt du, was wirklich ein Fremder ist? Für den Pharao und mich ist das nicht jemand, der aus einer anderen Gegend stammt. Es ist vielmehr jemand, der die Sprache der Menschheit nicht spricht. Und die Sprache der Menschheit … ist die Sprache des Herzensfriedens.” Es war das erste Mal, dass ich jemanden so reden hörte, in dieser einfachen und klaren Sprache. Sicher, mein Vater Sekhmet hatte auch von Liebe und Frieden gesprochen. Auch ich selbst war dazu angehalten worden, das im Tempel von Alpu zu unterrichten, aber Mayan hatte recht. Wir wiederholten immer dieselben, in die Schrifttafeln geritzten Worte.
“Aber wie kann ich mich nützlich machen?”, fragte ich noch einmal. “Du kennst mich doch kaum. Ja, ich verstehe die Sprache der Sterne, der Pflanzen und der Körper. Ich weiß aber noch nicht, woraus mein Herz gemacht ist und ich weiß nicht, ob es wirklich fähig ist, zu anderen zu sprechen und sie zu berühren …”
“Da habe ich etwas anderes gehört. Und außerdem … Der Pharao und ich wetten gerne. … Also, sagen wir mal, dass wir auf ein paar Menschen eine Wette abschließen, und es müssen noch mehr werden, wenn wir nicht vertrocknen wollen. Du sagst, dass du die Sprache der Sterne, Pflanzen und Körper verstehst, doch diese Sprache ist gerade Teil der Sprache der Menschheit. Wir erwarten von dir nicht nur, dass du lesen kannst, du musst auch in der Lage sein, das Gelesene zu übersetzen und weiterzugeben … auf alle möglichen Arten … mit deiner Seele, mit deinem Körper … wenn es sein muss, mit deiner ganzen Leiblichkeit. Verstehst du es jetzt?”
Tatsächlich begann ich zu begreifen. Mayan hätte sich nicht klarer ausdrücken können.
“Und was ich dir noch sagen will”, fuhr er fort, während er sich ein großes Stück getrockneten Fisch auf den Teller legte, “es hat mir gefallen, dass du den Bereich innerhalb der Stadtmauer verlassen hast. Ich mag deine manchmal noch recht ländlichen Manieren. Du sollst sie im Umgang mit uns nicht verlieren. Sie sind ein kostbares Gut. Manchmal fürchte ich selbst, diese eigentümliche Ausstrahlung zu vergessen. Du hast etwas Freiheitliches an dir, Nagar. Diese Kunst wird der Pharao dich bitten, zu unterrichten. Alles andere … ist ein bloßer Vorwand.
Es könnte sein, dass große Veränderungen auf uns zukommen. Wenn du im Himmel zu lesen verstehst, so weißt du, dass es untrügliche Anzeichen gibt und wir manchmal von Winden gelenkt werden, deren Richtung man akzeptieren muss, um sich nicht zu verlieren.
Wer aber aus ihnen und mit ihnen geboren ist, kann ihnen nicht widerstehen, weil die Verwandlungskraft seinem Blut unauslöschlich eingeschrieben ist. Als du die Grenzwälle von Iat überschritten hast, hast du genau das getan, was ich mir erhofft hatte und zwar schneller, als ich zu hoffen wagte.
Bald werden wir die Schranken unseres Geistes überwinden müssen. Sie sind viel höher und wuchtiger, das nimmst du sicher wahr. Von dem riesigen Fluss, der hinter ihnen fließt, ist fast nichts bekannt. Es kann auch ein Wasserfall sein, der auf seinem Wege alles mit sich reißt. Wenn du das, was ich vorausahne, verstehst, kannst du eine begründete Angst haben, Nagar. Du bist hier alles andere als eingesperrt … Wenn es ein Gefängnis für dich gibt, so jedenfalls nur das, welches du dir selbst baust.”
Mayans Worte stießen in meinem Inneren zwar auf einen gewissen Widerhall, blieben mir aber noch immer recht rätselhaft. Ich spürte, dass mein Gast noch nicht viel mehr sagen wollte. Meine Neugier war jedoch geweckt.
“Angst wovor?”, fragte ich.
“Angst vor dir – vor den Anforderungen, die in unseren Herzen entstehen werden …”
“Also vor dem Wasserfall, der alles verwüsten kann?”
“Oder dem Fluss, der breiter wird … Das weiß niemand. Auch darüber haben der Pharao und ich Wetten abgeschlossen.”
Diese Bemerkung Mayans ließ uns beide in lautes Gelächter ausbrechen. Und von diesem Moment an hörten wir auf, uns gegenseitig zu beargwöhnen. Wir setzten die Mahlzeit in einem viel leichteren und lockereren Ton fort und lernten einander einfach ein wenig besser kennen. Ich erzählte ihm mein Leben, er gab mir umgekehrt ein paar Einblicke in seines.
Bereits in frühester Jugend war er dem allmächtigen Amenophis III., einem auf der Roten Erde inkarnierten Gott, unter den königlichen Schreibern aufgefallen. Schon bald hatte dieser ihn lieb gewonnen, ihn die größten Aufträge im ganzen Reich gravieren lassen und damit alle hierarchischen Vorschriften außer Kraft gesetzt. Das hatte natürlich zu Feindseligkeiten geführt. Mayan war sich dessen bewusst und nahm sich sehr in Acht. Mir wurde bald klar, dass mein Gastgeber kein Machtmensch war, obwohl er viel Macht besaß. Mir schien, dass seine Seele mit diesen Dingen und ihren Fallen schon sehr lange abgeschlossen hatte. So war er ein Mensch, der seine natürliche Autorität zwar einsetzte, sie aber gewiss nicht missbrauchte … Autorität aber hatte Mayan-Hotep! Die Worte, die aus seinem Munde kamen, waren von einer Intensität und Farbigkeit, die einen nicht kalt lassen konnte.
Mehrmals im Laufe des Abends hatte Mayan verkündet: “Der Pharao legt die Grundlagen und ich habe beschlossen, ihm zu helfen, was auch immer geschieht.” Er hatte das mit fast beängstigender Entschlossenheit und Feierlichkeit verkündet, die in Kontrast zu der entspannten, zuweilen gar familiären Atmosphäre standen, die er diesem gemeinsamen Essen hatte geben wollen. Diese beiden Seiten der Persönlichkeit des Großwesirs entgingen mir nicht und mahnten mich, bei aller Achtung, die ich ihm schon bald entgegenbrachte, zur Vorsicht.
Aufgrund meines eher reservierten und wohl auch sehr ernsten Wesens, fiel mir dieser Entschluss nicht schwer.
Mayan-Hotep schien mich bald zu mögen, trotz oder vielleicht auch gerade wegen meiner Reserviertheit. Meine bodenständige Art, die ‘etwas ländlichen Manieren’, wie er es ausgedrückt hatte, waren wohl nach seinem Geschmack. Vielleicht kamen sie dem großen ‘Plan’, den er mehrmals erwähnte, sogar entgegen. Was mich betraf, bestärkte mich das undeutliche Gefühl, ihm nützlich zu sein, nur noch weiter in meiner Vorsicht und ließ mich in Laufe der folgenden Wochen sogar etwas misstrauisch werden.
Nach diesem ersten Tag und der Begegnung mit Mayan-Hotep nahm mein Leben in Theben nach und nach Gestalt an. Ich machte es mir in meiner Wohnung bequem und wurde in meine Aufgaben als Lehrer an der Schule der Priester-Therapeuten des großen Tempels der Stadt eingeführt. Die intensive Arbeit, die auf mich wartete, half mir, schneller als gedacht, an meinem neuen Lebensort Wurzeln zu schlagen. Und doch schwankte ich oft zwischen Euphorie und einer gewissen Niedergeschlagenheit, denn ich konnte nicht verhindern, dass die Bilder aus meiner Vergangenheit in Alpu in Wellen in meinem Bewusstsein aufstiegen.
Je besser ich Theben kennenlernte, umso prächtiger kam es mir vor. Es war wirklich die ‘Stadt der hundert Türen’, die allem und jedem offen standen und zwar in einem Maße, dass Mayans doch recht bittere Worte mir bald übertrieben vorkamen.
Der Großwesir empfing mich auch weiter regelmäßig, um mir Ziele und Pflichten meines Amtes nahezubringen. Es waren mir etwa zweitausend Studenten anvertraut. Sie waren alle bereits vorgebildet. Die meisten wollten sich nun der medizinischen Praxis zuwenden. Von mir wurde erwartet, sie zu unterrichten, auf sehr rigorose Weise zu prüfen und auszuwählen. Man ließ mich diese Arbeit einige Wochen nach meinem Gutdünken ausführen, dann veranlasste Mayan auf sehr geschickte Weise eine Begegnung unter vier Augen im Garten, ohne dass es nach einem arrangierten Treffen aussah.
“Nagar”, sagte er zu mir, in überaus freundschaftlichem Ton, “du unterrichtest nun schon fast zwei Monate hier und ich muss zugeben, dass alles, was ich von deinem Unterricht höre, dir zur Ehre gereicht. Anscheinend lobt man nicht nur dein Wissen, sondern auch deine Geduld und die Art es zu vermitteln sehr. Du bist ganz offensichtlich ein ausgesprochen guter Lehrer. Allerdings … Allerdings ist das nicht, was wir von dir erwarten.” Der Satz krachte auf mich herab wie ein Fallbeil und traf mich bis ins Mark.
“Wie soll ich das verstehen?”, gab ich recht pikiert zurück und richtete mich auf.
Mayan brachte in aller Ruhe seinen weißen Stoffturban in Ordnung, den er so oft trug. Dann nahm er mich im Weitergehen beim Arm.
“Nagar, was ich dir zu sagen habe ist von höchster Wichtigkeit für mich. In einiger Zeit wirst du den Sinn all dessen besser verstehen. In der Tat brauchen wir hier nicht einfach nur Lehrer, sondern echte Ausbilder.
Ich finde, lehren, also etwas Gelerntes beibringen, ist nicht dasselbe, wie die Schüler dazu anzuregen, ihr eigenes kreatives Potenzial zu entfalten und selbst etwas aufzubauen.
Deine Aufgabe, Nagar, ist es, beim Aufbau der Menschen mitzuhelfen … Ich meine, bei der Entwicklung und Verfeinerung der Seelen, die in menschlichen Körpern wohnen. Entschuldige bitte, dass ich so direkt und unverblümt mit dir spreche, aber bisher hast du nichts anderes getan, als zu lehren, das heißt, du hast nur weitergegeben, was du selbst schon verarbeitet zu haben glaubst. Kannst du den Unterschied wahrnehmen?”
Ich erinnere mich, dass ich in meinem Stolz tief getroffen war. Dennoch berührten Mayans Worte mich in gewisser Hinsicht. Etwas daran war stimmig. Darum wollte ich seine Gedanken auch wirklich verstehen.