Das Geheimnis des Franz von Assisi - Daniel Meurois - E-Book

Das Geheimnis des Franz von Assisi E-Book

Daniel Meurois

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Beschreibung

Die Offenbarung der größten Geheimnisse des Christentums? Franz von Assisi ist wohl einer der bekanntesten und einflussreichsten Heiligen der katholischen Kirche. Aber wer war dieser Mann wirklich? Welche Gedanken, Erkenntnisse und Qualen prägten ihn? Daniel Meurois offenbart uns das alles durch die Augen der heiligen Klara von Assisi, eine Ordensschwester, die nicht nur Anhängerin, sondern auch gute Freundin des Franziskus war. Sie pflegte ihn auf seinem Sterbebett – und was er ihr dort verriet, könnte die Kirche als Institution zum Einstürzen bringen ... Franziskus selbst übersetzte in Ägypten während des 5. Kreuzzuges Papyrusrollen, deren Inhalt ihn erschütterte und in einen inneren Konflikt stürzte. Als ihn dann auch noch Manipulationen, Intrigen und sogar hinterhältiger Verrat aus höchster Stelle einholten, entschied er sich, sein Wissen zu verstecken ... bis er es kurz vor seinem Tod Klara von Assisi anvertraute ... Das Dilemma des heiligen Franziskus von Assisi wird Sie in ein Abenteuer voller Intrigen, Verrat, Enthüllungen, Freundschaft und Zweifel stürzen.

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Seitenzahl: 318

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Daniel Meurois

DAS GEHEIMNIS DES FRANZVONASSISI

Glaube, Zweifel und Erleuchtung

Aus dem Französischen von Dr. Gerhild Schulz

Alle Rechte vorbehalten.

Außer zum Zwecke kurzer Zitate für Buchrezensionen darf kein Teil dieses Buches ohne schriftliche Genehmigung durch den Verlag nachproduziert, als Daten gespeichert oder in irgendeiner Form oder durch irgendein anderes Medium verwendet bzw. in einer anderen Form der Bindung oder mit einem anderen Titelblatt als dem der Erstveröffentlichung in Umlauf gebracht werden. Auch Wiederverkäufern darf es nicht zu anderen Bedingungen als diesen weitergegeben werden.

Copyright der Originalausgabe © by Daniel Meurois, 1995. Titel der Originalausgabe: »François des Oiseaux … Claire et le Soleil. Le Secret d’Assise«

Veröffentlicht in Partnerschaft mit Maurice Baldensperger und Francis Hoffmann GbR »Publish Vision« · [email protected] · www.publishvision.de

Copyright der deutschen Ausgabe © 2022 Verlag »Die Silberschnur« GmbH

ISBN: 978-3-96933-054-8

eISBN: 978-3-96933-934-3

1. Auflage 2023

Übersetzung: Dr. Gerhild Schulz

Gestaltung & Satz: Beeg | graphics, Kirchheimbolanden

Umschlaggestaltung: XPresentation, Güllesheim

Verlag »Die Silberschnur« GmbH · Steinstr. 1 · 56593 Güllesheim

www.silberschnur.de · E-Mail: [email protected]

Dieses Buch sei insbesondereMarie Johanne gewidmet,für die Sonne, Mond und Sternegleichsam Löcherim Boden der Behausungen des Ewigen sind.

In Liebe und Dankbarkeitfür ihren Seelenduft …

INHALT

Vorwort Die Geschichte einer Einladung

Einleitung Es ist noch gar nicht so lange her …

1. Kapitel Erste Erinnerungen

2. Kapitel Die Berufungen

3. Kapitel Ein Seelenfenster

4. Kapitel Durch das Tor der Toten

5. Kapitel Die Offenbarung der Vögel

6. Kapitel Die Offenbarung von Damiette

7. Kapitel Enttäuschungen

8. Kapitel Die Pergamentrollen von San Damiano

9. Kapitel Blut und Öl

10. Kapitel Die Distelblüte

11. Kapitel Das letzte Lied

12. Kapitel Der Name der Liebe

Nachwort

Über den Autor

Vorwort

DIE GESCHICHTE EINER EINLADUNG

Dieses Buch hat eine recht seltsame Entstehungsgeschichte … Die Puzzlesteine wurden im Grunde schon fünf Jahre vor Niederschrift der ersten Zeile gelegt. Sie waren sehr unauffällig. Wären sie nicht immer wieder aufgetaucht und hätten dadurch meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, so hätte ich sie bestimmt wieder vergessen.

Die Steine, die den Weg für dieses Buch pflasterten, tauchten also immer wieder auf. Wie ein roter Faden zogen sich die Anregungen dafür durch Gespräche mit Freunden oder Bekannten …

Immer wieder bekam ich hier und da zu hören, das Thema sei in Träumen aufgetaucht … und ich solle ein Buch über Franz von Assisi schreiben. Die Träume waren alle unterschiedlich, reduzierten sich aber auf ein und dieselbe Botschaft.

Derlei Bemerkungen tauchten in einem Zeitraum von etwa sechs Monaten immer wieder auf … dann aber nicht mehr. Nun wurde es um das Thema still. In der Zwischenzeit kamen andere Bücher zustande, es ging um andere Themen. So geriet das ‘Projekt Francesco’ bei mir fast wieder in Vergessenheit.

Fast – aber nicht ganz … Denn der zugleich mystische und revolutionäre Lebensweg dieses ‘Poveretto’, der mit seiner schönen Seele das ganze Mittelalter erleuchtete, eignete sich doch wunderbar, um darüber zu schreiben!

Allerdings bedurfte ich, um mich in ein solches Projekt zu stürzen, eines ‘echtes Zeichens des Himmels’, wie ich das nenne. Das gilt ja für alle meine Werke.

Von Franz von Assisi zu erzählen, nur weil es ein schönes Thema ist, erschien mir völlig sinnlos. Sein Leben und Werk hat im Verlauf der letzten achthundert Jahre schon Tausende von Büchern hervorgebracht. Wieso sollte ich also noch eines hinzufügen?

Ja, wozu? Außer natürlich, ich hätte Zugang zu neuen Informationen … Ich selbst hatte nichts Besonderes dazu zu sagen, jedenfalls nichts, was nicht schon bekannt wäre. Im Grunde wusste ich recht wenig vom Leben des kleinen Armen von Assisi – wie die meisten von uns, wenn wir ehrlich sind.

Das war so, bis sich an einem Frühlingstag spät in der Nacht eine gut vernehmbare Stimme in der Mitte meines Kopfes bemerkbar machte. Sie war so gegenwärtig, dass ich nicht umhinkam, aufzustehen und meine Feder zur Hand zu nehmen. In einem Zug notierte ich, was sie mir diktierte.

Zugegeben, das klingt nach einem schweren Fall von Schizophrenie – den Normen unserer Gesellschaft zufolge … Doch für Menschen, die wissen, dass sich unser Leben nicht auf das Sichtbare reduzieren lässt, ist es durchaus plausibel. Zu diesen gehöre ich auch.

Ein Wesen sprach zu mir. Schließlich erahnte ich auch seine Anwesenheit. In einem zarten Licht stand es senkrecht vor meinem Schreibtisch. Fast zugleich mit den Zeilen, die es mich zu Papier bringen ließ, gab es auch seine Identität preis: Chiara … Klara von Assisi.

So sind die ersten Seiten des Berichts entstanden, den ihr in Händen haltet – also in völlig unerwarteten Umständen. Nur die ersten Seiten – denn ein ganzes Buch so zu schreiben, wäre zweifellos ‘zu leicht’ gewesen.

Doch nach diesem einschneidenden Ereignis – dem wahrhaftigen Zeichen, auf das ich gewartet hatte – war natürlich ich an der Reihe. Klaras ‘Bewusstsein’ lud mich ausdrücklich dazu ein, in ihr Gedächtnis einzudringen und aus dem Labyrinth ihrer Erinnerungen ein ganz neues Bild von Franz entstehen zu lassen.

Ich bekam also den Schlüssel, um über Monate fast täglich im Gedächtnis der Zeit den ‘Film’ zu erforschen, der mit der Seele Klaras von Assisi – und manchmal auch Franz’ – verbunden ist.

Dieses Buch mag wie ein Roman erscheinen, erzählt aber erlebte Wirklichkeit. Es ist wichtig, das zu verstehen.

Es versteht sich wohl von selbst, dass mich diese Bewusstseinsreise auf den Spuren Francescos und Klaras in der Raum-Zeit menschlich sehr berührte. Ich war geradezu erschüttert davon, zumal ich Informationen mitbrachte, die geeignet waren, die Sichtweise der Geschichte – und auch einer bestimmten Religion – völlig zu verändern.

Das allein rechtfertigte die Arbeit, vor die ich mich gestellt sah. Übrigens daher auch der Titel des Buches: ‘Das Geheimnis des Franz von von Assisi.’ Doch das kann jeder sehen, wie er möchte.

Tag für Tag habe ich daran gearbeitet – ohne festen Plan, sozusagen ‘im Blindflug’. Allerdings war ich in steter Verbindung mit den Wesen, die mit mir in Kontakt getreten waren und dem Erleben meiner Seele im Wandel der Zeit.

Das Ganze war von Liebe und Vertrauen geleitet, so viel ist sicher. Im Grunde merkte ich erst beim Schreiben, wie bedeutsam und dringlich das Ganze war.

Wäre die Enthüllung, von der Franz in seiner Lebensmitte erfuhr, verbreitet worden, hätte sie das Christentum völlig verändert.

Sie hätte uns mit den reinen Quellen der christlichen Botschaft verbinden können – fernab von Zensur und Manipulation. Das hätte gewiss erheblich dazu beigetragen, diesen fürchterlichen Dualismus zu überwinden.

In diesem Sinne zögere ich nicht, Folgendes zu bekennen: Im Hinblick auf das offizielle kirchliche Dogma, ist das Zeugnis, welches in diesem Buch niedergelegt ist – auf freudvolle Weise – häretisch …

Dennoch darf man es nicht als Manifest gegen dieses Dogma auffassen. Es ist nur ein friedfertiger Versuch, uns ein paar ganz einfache Wahrheiten in Erinnerung zu rufen. Sie sind so einfach, dass sie der Kirchenhierarchie über Jahrhunderte Angst eingejagt haben. Doch wie man es auch dreht und wendet – Licht bringt immer etwas ‘ans Licht’.

Eine lückenlose, chronologische Biografie Franz’ von Assisi wird man auf den folgenden Seiten nicht finden. Diesen Anspruch habe ich auch gar nicht. Dargestellt werden sollen vielmehr sein Seelenduft und sein brennendes Geheimnis, das letztlich auch Klaras Geheimnis war. Außerdem möchte ich die tiefe Liebe weitergeben, die beide verband, während sie auf den wahrhaftigen Spuren Christi wandelten – so, wie er wirklich auf Erden inkarniert war.

Der vorliegende Text weicht natürlich stark von anderen, sogenannten ‘authentischen Schriften’ ab, die als wissenschaftlich und historisch belegt gelten – und die ‘imprimatur’ erhalten haben. Man könnte ihn daher für ‘falsch’ halten.

Auch mit derlei Annahmen möchte ich nicht im Geringsten in Konflikt geraten. Polemik ist völlig uninteressant und sinnlos. Entgegen gängiger Annahme kann man dem Frieden nicht durch Krieg den Boden bereiten.

Dieses Buch mag irritieren, aber es ist vor allem ein Buch der Liebe. Wo Lügen aufdeckt werden, geschieht es ohne Dünkel, vielmehr mit Sanftmut und Mitgefühl.

Ich hoffe, dass es dem Andenken des sublimen Sonnenpaares Franz und Klara von Assisi gerecht wird. Als Autor und Zeitzeuge erscheint es mir aus tiefstem Herzen als große Einladung zu Glück und Vereinigung.

Einleitung

ES IST NOCH GAR NICHT SO LANGE HER …

Mir kommt es vor, als sei es noch gar nicht so lange her … und doch war unsere Welt eine andere, das kann ich euch sagen.

Wir schreiben das Jahr 1226! Eine entsetzliche, von Unwissen geprägte Zeit, wie es heißt … Vielleicht. Doch in erster Linie war sie von Inbrunst bestimmt, das kann ich euch versichern. Es war ein Zeitalter, in dem es als schön und edel galt, jeden Morgen dem Herrn für das Licht der aufgehenden Sonne zu danken.

Dem Herrn? Wir glaubten an ihn wie Kinder! Natürlich war das naiv, … gewiss. Doch unser kindlicher Glaube verlieh uns die Fähigkeit zu lächeln. Oh ja! Das konnten wir, trotz Krieg und Hungersnöten – auch ungeachtet des Todes, der immer irgendwo in der Nähe war. Ja wirklich, wir verstanden es zu lächeln … und ich glaube, gerade das ließ uns Flügel wachsen und große Dinge vollbringen.

Wir liefen oft barfuß … blickten aber stets nach oben, zum Himmel empor und zur Ewigkeit. Wir wussten, dass wir aus ihr geschaffen waren und hatten eine eingefleischte Erinnerung daran.

Damals hatte meine Seele den Namen Chiara gewählt, das heißt Klara. Sie wollte in eine Familie in Assisi hineingeboren werden und zwischen den duftigen Hügeln eines Landes aufwachsen, das damals noch nicht ‘Italien’ hieß.

Sie wollte es wirklich! Beharrlich und eigensinnig wie sie war, hatte sie wahrgenommen, dass sie sich hierher begeben musste. Sie hatte den Weg, auf dem sie erwartet wurde, so klar und deutlich gesehen, dass sie sofort aufbrechen wollte …

Oh Franz! Mein kleiner, großer, mein ach so sanfter Franz! Ich wusste wohl, dass dieser Weg deinen Namen tragen würde – einen Namen, den du wahrscheinlich gar nicht ausgesucht hast, der aber Gott dem Herrn gefiel. Vielleicht hat dieser Name dich so stark und kämpferisch gemacht, vielleicht brauste er in dir … in uns.

Franz, ich weiß noch, du hast mir doch einmal erzählt, dass du der Frau, die dich in einem schönen Haus zwischen Olivenhügeln zur Welt brachte, den Namen Johannes1 ins Ohr flüstertest. Er erschien dir sanfter, weil es der Name jenes fernen Bruders und Apostels war, den Meister Jesus so liebte.

Dieser Name entsprach deinem Herzensgesang eher.

Francesco, Franz … das ging eher auf deinen Vater zurück. Es war sein Siegel, seine Signatur. Es gemahnte an Kampf oder Geschäft. Die Narbe einer Kriegsverletzung … So viel hast du mir anvertraut. Der Rest einer alten Rüstung, die du für immer hinter dir lassen wolltest.

Wenn es das ist, mein Freund, mein Seelenbruder, so sollst du niemals daran zweifeln, dass es dir gelungen ist.

Bist du auf deinen Wegen, im Galiläa deines Herzens, Johannes – den Er so liebte – nicht völlig ähnlich geworden? Hast du ihn nicht in dir wiederauferstehen lassen?

Ja, ich weiß, sie kam dir lang vor, diese Reise auf Erden, die du antratst, um uns Sonne, Mond und Sterne zu zeigen. Du wolltest bewirken, dass wir sie besser wahrnehmen können.

Jeder Schritt fiel dir schwer. Hat es deswegen ein so frühes Ende genommen? Musste es deshalb so sein? Und doch sahst du den Himmel darin … und der Himmel liebte dich!

1 Franz hatte bei seiner Geburt in der Tat den Namen Johannes erhalten. Sein Vater beharrte jedoch, als er aus dem Krieg zurückkam, auf dem Namen Francesco, als Erinnerung an seine Kämpfe mit den Franken.

1. Kapitel

ERSTE ERINNERUNGEN

An jenem Morgen erwachte ich ganz plötzlich, als kaum das erste Morgenlicht durch die Luke meiner Klosterzelle drang. Sogleich setzte ich mich auf meiner Strohmatratze auf und hüllte mich in den alten Mantel, der mir als Decke diente. Mein Kopf schien von einem kalten Fieber erfasst … Ein seltsamer Traum verfolgte mich.

Aber war es wirklich ein Traum? Nein, das konnte nicht sein. Es war er, Franz … Er wollte mir etwas mitteilen. Ich hatte ihn gesehen, hier, direkt neben mir. Er hatte auf dem Gras gestanden und den Saum seiner Kutte leicht angehoben, gerade so weit, dass ich seine Füße sehen konnte. Sie lösten sich auf. Es war schrecklich – und doch hatte ich keine Angst gehabt.

“Komm, Klara, komm”, … hörte ich ihn rufen. Diese Worte hatten mich geweckt und fürchterliches Herzklopfen ausgelöst. Ich zögerte keinen Moment. Sogleich zog ich meine Sandalen an. Sie waren ganz kalt vom Boden. Dann nahm ich den Mantel und stieß die niedrige Türe meines Gemachs auf.

War ich verrückt geworden? Was war nur in mich gefahren? Wie oft hatte ich mir nicht schon untersagt, meinen Seelenbruder dort unten im Tal aufzusuchen? Es war noch recht dunkel … Was sollte ich nur den anderen sagen, von denen ich so viel Zurückhaltung verlangte? Doch es half alles nichts … Eine Kraft drängte mich – ich versuchte nicht einmal, ihr zu widerstehen.

Während ich mich durch den Gang tastete, der die meisten Zellen unserer Gemeinschaft miteinander verband, erspähte ich durch eine halb offene Türe die Gestalt meiner Schwester Agnes und zwei anderer Ordensschwestern.

Hie und da wurde gehustet. Mein Fortgehen sollte unbemerkt bleiben. Ich wollte keine Erklärungen abgeben müssen. Ich ging ins Tal, um Franz zu besuchen, da er mich darum bat. Das war alles.

Unser Haus lag direkt hinter der Kirche San Damiano. Zum Glück quietschte die Türe nicht – und vom Stadttor hatten soeben zwei vor Kälte starre Wachtposten den Balken gehoben. Noch ganz verschlafen sagten sie kein Wort. Sie blickten nur benommen drein und grüßten mich mit einer Ehrerbietung, die mir geradezu peinlich war.

Ab da erinnere ich mich nur noch, wie ich den Weg hinunterrannte, der sich durch Olivenbäume und kleine Eichen schlängelte. Wie leicht hätte ich mir die Knöchel verstauchen können – doch das geschah keineswegs. Noch immer wurde ich von einer Kraft getragen, die mich über alle Hindernisse hinweghob.

Nur einmal verfing sich ein Zipfel meines Kleides in einem großen Büschel Disteln. Das zwang mich zu einer kurzen Atempause.

Als ich im Weiterlaufen den Kopf hob, tauchte hinter einer Kurve eine menschliche Gestalt vor mir auf. Es war ein Mann, der ebenfalls lief, so schnell er konnte. Wenig später standen wir voreinander und ich erkannte Bruder Leone. Er hatte sein großes Gewand, das von der Feldarbeit an den Knien zerrissen war, nur rasch übergeworfen. Völlig außer Atem, brachte er kaum die Kraft auf, ein paar Worte zu stammeln.

“Gott sei gelobt! Du bist es, Schwester Klara. Komm schnell, Franz verlangt nach dir … Ich glaube, er verlässt uns.”

Die letzten Worte gingen in seiner Kehle in unterdrücktem Schluchzen unter.

Er fragte gar nicht, was ich da machte, ganz allein zu einer Stunde, die unseren Sitten völlig widersprach. Vermutlich ahnte er es … Wir hatten so viel erlebt … Vertrautheit mit dem Unsichtbaren hatte für unsere Seelen nichts Überraschendes mehr.

Ich wollte Bruder Leone nicht ausfragen. Wie, warum … das war so unwichtig!

Es ging nur darum, so schnell wie möglich zur kleinen Klause ins Tal zu gelangen. Sie lag direkt neben der Kapelle, die Franz mit eigenen Händen so schön wiederaufgebaut hatte2.

So lief ich hinter dem Bruder her so schnell ich konnte. Bei jedem Schritt dachte ich an den Namen des Herren, in der Hoffnung, Stärke und Willenskraft daraus zu ziehen.

Stärke und Willenskraft … hatte er stets von uns verlangt – er, der nun gehen würde …

Der Himmel wurde langsam heller. Endlich tauchten hinter einer Wegbiegung zwischen hohem Gras, Sträuchern und einer Baumgruppe das Dach der Kapelle und die Mauern des kleinen Häuschens auf.

“Sie haben ihn in die Scheune hinter der Kapelle gelegt, die als Hospiz dient. Er wollte es nicht … wir mussten ihn fast zwingen.”

Als er mir die Türe zum kleinen Gebäude aus Stein öffnete, war Bruder Leone – Frate Leone, wie wir ihn nannten – völlig erschöpft. Plötzlich überkam mich eine seltsame Freude, ohne dass ich wusste, warum. Als sie mein Herz umfing, wäre ich fast in Tränen ausgebrochen. Ich senkte den Kopf und trat durch den Torbogen …

Da lagen die Räder eines Wagens und Strohballen. Der Raum war recht groß. Mit alten Laken, die über den Balken hingen, war er in kleinere Bereiche unterteilt worden, um wenigstens eine gewisse Intimität zu schaffen. Ich hörte, wie lateinische Gebete gesprochen wurden. Mein Herz begann immer schneller zu schlagen. Doch die unerklärliche Freude wich nicht von meiner Seite.

“Francesco,” murmelte ich zu meiner eigenen Überraschung mitten in mein Gebet hinein – “Francesco.”

Bruder Leone ging voraus. Er führte mich in den hinteren Teil des Raumes. Durch ein schmales Fenster drang helles Morgenlicht herein.

Franz lag auf einer einfachen Liege, umringt von drei Brüdern, die auf dem Boden saßen und Litaneien beteten.

Ich musste mich sehr beherrschen, um auch nicht den kleinsten Laut von mir zu geben. Wie hatte er sich doch verändert! Gut ein Vierteljahr hatte ich ihn nicht gesehen. Er hatte es nicht gewollt – überhaupt wollte er niemanden mehr sehen.

Er war völlig entkräftet, unablässig ins Gebet vertieft. So hatten wir uns nur ein paar Minuten unter dem Mandelbaum neben der Kapelle ausgetauscht. Er war fast blind. Ich hatte volles Verständnis dafür, dass es ihm unangenehm war, sich so zu zeigen.

Er hatte mir Hinweise zur ordnungsgemäßen Leitung des Hauses ‘der Armen Damen’ gegeben, mit der ich betraut war. Als ich ihn besorgt ansah, hatte er zum Abschied gesagt: “Mach dir keine Gedanken, Chiarina … Da ist nur etwas sehr müde …”

Chiarina – so nannte er mich, wenn er sicher war, dass niemand es hörte.

Als ich mich nun seiner Strohmatratze näherte, rückte ein ins Gebet versunkener Bruder zur Seite, damit ich mich auf den Boden setzen konnte. Achtlos ließ ich mich fallen, denn ich konnte meine Augen einfach nicht von Franz’ Gesicht abwenden. Ich erkannte ihn kaum wieder. Er war schon vorher so mager gewesen, nun aber sah er aus wie ein vergilbtes, zerfurchtes Pergamentblatt – oder ein zu intensiv beackertes Feld.

Warst du es überhaupt, Francesco? Wie konnte es mit dir so weit kommen, da der hochheilige Gott dir doch so viel gegeben und dich so sehr geliebt hatte? Weißt du, auf welche Weise ich mir diese Frage stellte? Sie trieb mich nicht etwa um. Nein … ich versuchte nur, ein Geheimnis zu verstehen. Ich lächelte … und genau in diesem Moment öffnetest du leicht die Augen. Das weiß ich noch.

“Tritt näher, meine Schwester, er kann dich nicht sehen”, murmelte Bruder Leone, indem er sich mir zuwandte.

“Hör auf, Unsinn zu reden, Leone … Ich sehe vielleicht nicht mehr viel, aber ich verstehe noch so einiges …”

Wir schreckten fast hoch, als wir Franz’ Stimme hörten, so wenig hatten wir mit ihr gerechnet. Sie war sanft doch auch rau vor Erschöpfung.

“Hast du mich gerufen, Franz?”

Er nickte. Dann versuchte er sich aufzurichten und auf die Ellenbogen zu stützen, während Bruder Elia versuchte, ihn davon abzuhalten.

Im selben Moment wurde mir klar, dass ich ihn unserer Ordensregeln ungeachtet einfach beim Vornamen genannt hatte. Sofort bekam ich vorwurfsvolle Blicke zu spüren, doch das war mir gleichgültig.

Ich war zu Franz’ Seele gekommen, nicht zum ‘Gründer unseres Ordens’. Sie hatte mir meinen Weg offenbart.

“Na und … Was habt ihr denn?”

Erneut erschütterte uns Franz mit seiner Reaktion. Dann schloss er wieder die Augen.

“Lasst mich mit Schwester Klara allein”, murmelte er schließlich hustend. “Macht schon …”

Es war auf einmal ganz still. Vermutlich sahen die vier Männer sich fassungslos an.

“Aber das ist doch gegen unsere Regeln”, brummelte schließlich einer von ihnen. “Frauen …”

“Na und? Die Regeln sind für Menschen gemacht, mein Bruder. Menschen sind vergänglich. Bald wird es auch mit mir zu Ende gehen …”

Franz’ Stimme klang auf einmal kraftvoller. Ich aber spürte, wie ich rot wurde, weil ich so viel Anstoß erregte.

Einen endlosen Augenblick lang waren alle wie erstarrt. Da stieß Franz einen tiefen, ungeduldigen Seufzer aus. Erst jetzt standen die vier Mönche auf. Ich hörte, wie sie sich wortlos entfernten und ans andere Ende des Raumes setzten, hinter ein knappes Dutzend aufgespannter Laken. Dann waren die Türangeln des Hospizes zu hören. Einer der Mönche hatte es offensichtlich vorgezogen hinauszugehen.

“Lösch bitte die Kerze, Sorella3. Wir wollen sie nicht verschwenden. Sie haben heute Nacht schon zwei vergeudet … Ich konnte es nicht verhindern.”

Ich strich mit der Hand über eine kleine Flamme, die in einer Mauerecke knisterte. Da veränderte sich Franz Gesicht sogleich. Ein sanftes, inniges Lächeln lag auf seinen Lippen. Ich betrachtete dieses Lächeln lange, glaube ich. Es veränderte sich nicht – als würde es auf etwas warten. In gewisser Weise schien es eine alte Schüchternheit auszukosten … Franz war wirklich schüchtern. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er sein Leben lang dagegen angekämpft hatte. Was er geleistet hatte, verdankte er allein Mut, Stärke und Willenskraft …

Ich war noch keine sechzehn Jahre alt, als ich ihn zum ersten Mal sah … ich meine, als mir bewusst wurde, dass es ihn gab. Meine Familie hatte damals gerade beschlossen, wieder nach Assisi zurückzukehren. Wir besaßen hier ein schönes Anwesen, doch mein Vater hatte beschlossen, es zu verlassen, bis bestimmte Kampfeshandlungen vorüber waren. Von solchen Dingen verstand ich nichts. Ich merkte nur, dass die Grafen und Prinzen ständig Krieg führten. Als ich Franz zum allerersten Mal sah, kam er mir allerdings vor wie einer von ihnen, obwohl er der Sohn ‘eines einfachen Bürgers’ war, wie wir das nannten. Ich war gerade auf dem Platz beim Brunnen, als er plötzlich mit drei oder vier Begleitern stolz auf einem Apfelschimmel daherkam. Ich fand ihn schön in seiner goldbraun schimmernden Tunika. Durchaus hätte ich mir gewünscht, dass er mich anschaut, das muss ich schon zugeben. Doch warum hätte er das tun sollen? War ich nicht zu jung und vor allem viel zu unbedeutend … Wie konnte ich ahnen, dass dieser Tag die Morgenröte eines neuen Lebens war und sein Blick mein Herz nie mehr verlassen würde?

“Woran denkst du, Chiarina … Du bist so still …”

Franz hatte die Augen wieder halb geöffnet.

“Ich habe gebetet …”

“Bist du sicher?”

Darin erkannte ich wieder seine Art, in die Seelen seiner Mitmenschen einzudringen.

“Es war mein eigenes Gebet …”

“Eine Erinnerung?”

Zum zweiten Mal seit ich hier war, errötete ich. Ich konnte nicht umhin, den Schleier auf meinem Kopf zurechtzurücken.

“Eine unserer Erinnerungen? Schämst du dich dafür?”

Seine Stimme war fast erloschen.

“Ich nicht … Jedenfalls jetzt nicht mehr. Ich habe unsern Herrn um Frieden gebeten … Er sagte, Er habe ihn mir stets angeboten, nur ich konnte meine Hand nicht weit genug öffnen. Seit ein paar Monaten gelingt es mir etwas besser … glaube ich. Erzähl’ es mir … erzähl, damit ich weiß, ob es wahr ist, ob ich mich wirklich nicht mehr schäme …”

“Ich soll es dir erzählen …?”

“Francesco …”

Ich wusste nicht, worauf Franz hinauswollte. Hatte er vielleicht Fieber? Nie zuvor hatte er so mit mir gesprochen. Und die drei anderen, die im hinteren Teil des Raumes saßen? Sie versuchten doch bestimmt, mitzuhören! Ich hörte sie beten, aber … wir sind doch alle so schwach!

“Ist es wirklich der richtige Zeitpunkt, uns in die Vergangenheit zu vertiefen, mein Bruder? Ich bin doch gekommen, um die Hand deiner Seele zu halten, weil du mich darum gebeten hast.”

“Du kannst einfach meine Hand halten …”

Ich tat, als hätte ich das nicht gehört. Franz setzte sich über Lebensregeln hinweg, die er uns selbst auferlegt hatte. Wieder wurde sein Gesicht von einem großen, sanften Lächeln erhellt, das vielleicht noch zärtlicher war als zuvor.

“Der Herr ist überall. Er ist auf allen Wegen unterwegs und spricht alle Sprachen, kleine Schwester. Erzähl es mir im Stillen, wenn dir das lieber ist …”

Da hatte ich auf einmal den Mut und die Kraft, Franz’ Hand zu ergreifen. Sie trug einen Verband und ragte nur knapp unter der armseligen Decke hervor, die ihn dürftig wärmte. Ich achtete allerdings darauf, sie unter dem Rand meines Ärmels zu verstecken.

Im Stillen … ja, so war es besser. War die Stille nicht das Schönste, das er uns gelehrt hatte. Es war immer eine goldene Stille – in der so vieles geschah!

Einen Augenblick fragte ich mich, warum Franz wollte, dass ich mich in ‘unsere gemeinsamen Erinnerungen’ versenke. Er meinte bestimmt unsere erste Begegnung vor fünfzehn oder sechzehn Jahren. Schließlich ließ ich alle Vorbehalte sausen und hinter meinen geschlossenen Augenlidern Erinnerungsbilder aufsteigen. Wie oft hatte ich sie verdrängt! Es war, als gehörten sie zu einer alten Welt, die schmutzig war und die man sich nicht eingestehen konnte! Franz war damals etwa 25 Jahre alt, genau weiß ich es nicht mehr. Wir hatten uns im Tal verabredet, nicht weit von den Ruinen der Kapelle entfernt.

Als Einzelgängerin hatte ich mir angewöhnt, stundenlang von zu Hause wegzubleiben. Meine Eltern machten sich keine Sorgen. Meist wusste nur meine Schwester Agnes, wo ich war. Oh, meine jugendlichen Streifzüge waren völlig unschuldig. Im Grunde war ich nur gerne allein, um zu Gott zu beten. Ich war mir sicher, Ihn eher draußen im leisen Singen der Natur zu finden, als in den Kirchen. Das war so selbstverständlich für mich. Darüber musste ich kein Wort verlieren. Doch diesmal war es etwas anders.

Nun traf ich mich mit jemandem. Es war zwar kein ‘Rendezvous’, das gewiss nicht … Doch bei unseren zufälligen Begegnungen auf dem Platz oder in den Straßen, war etwas Seltsames zwischen unseren Blicken geschehen. Seiner war so rein und klar, zugleich aber so traurig, obwohl er fröhlich wirken wollte. Darüber machte ich mir oft Gedanken.

Warum Franz mir schließlich sagte, dass er jeden Morgen ins Tal ging, weiß ich nicht mehr. Es war gar nicht seine Art, sonst war er doch meist von lauten Jungen umringt. Ich weiß auch nicht mehr, was mich bewog, ihm zu antworten, dass auch ich mich gerne dort aufhielt und ihn ab morgen immer dort begrüßen würde.

Als wir uns beim großen Lorbeerbusch am Ende des Weges trafen, war mir, als seien wir alte Freunde. Da wir beide nicht wussten, was wir sagen sollten, begann ich ihm von unserem Herrn zu erzählen, der so lebendig in mir war. Im Wesentlichen sagte ich ihm, dass ich Ihn überall sehe und Er mein ganzes Leben ist.

“Ich weiß nicht …”, antwortete Franz ein wenig überrascht. “Ich weiß nicht, ob man wirklich in einer Kapelle beten kann, deren Dach am Boden liegt …”

“Möchtest du gerne jetzt mit mir beten?”

“Ich weiß nicht … Es heißt, ich müsse mich den Truppen des Herren von Brienne anschließen und wieder mit dem Schwert losziehen, nächsten Monat vielleicht.”

“Du wirst also Menschen töten?”

“Nein, nein … aber ich werde kämpfen, das ist sicher.”

“Das meine ich ja.”

“Du verstehst das nicht …”

“Das stimmt”, gab ich selbstbewusst zurück. Es überraschte mich selbst. “Was ich jedoch verstehe ist: Dein Herz ist hin und hergerissen … sonst würdest du nicht hierherkommen. Es gibt so viele angenehmere Orte, als dieses verfallene Gemäuer.”

Darauf gab Franz keine Antwort. Ich hatte ihm wohl Kummer bereitet. Sogleich machte ich mir Vorwürfe.

“Kommst du morgen wieder hierher?”, fragte er und wandte sich ab, als habe er Tränen in den Augen. “Ich muss wieder hinaufgehen. Es ist später als ich dachte.”

Am nächsten Tag fand ich mich natürlich zur selben Stunde wieder dort ein. Offensichtlich war ich als Erste da. Also beschloss ich, im Schatten hinter den Lorbeerbüschen zu warten. Ich weiß noch, dass ich mir gerade mit dem Ärmel meines Kleides die Stirn abwischte, als plötzlich jemand mit einem großen Schrei aus den Blättern sprang. Es war Franz! Er hatte mein Blut in den Adern gefrieren lassen … Mit offenem Mund stand ich vor ihm, während er sich kaputtlachte …

Nun, ich weiß wirklich nicht, was da passiert ist. Im nächsten Moment warf ich mich ihm entgegen, unsere Hände trafen sich … und es berührten sich unsere Lippen. Dann begann ich zu weinen, als hätte ich die allergrößte Sünde begangen. Er aber strich mir sanft durchs Haar. “Chiarina”, murmelte er, “verzeih’ mir …”

Es war das erste Mal, dass er mich so nannte. Ansonsten konnte er nichts sagen, als immer wieder: “verzeih’ mir …”

So trafen Franz und ich uns vier Mal, immer ganz keusch, doch glühend von einem Fieber, das wir vorher nicht gekannt hatten.

Streicheln mit Blicken, streichelnde Hände, die sich scheuen … Streicheln der Herzen, die keine Worte finden. Ich schwebte über dem Boden und klagte mich an, den Herren Jesus zu verraten, indem ich die größte Sünde beging, die ich mir vorstellen konnte. Es war die Pforte des Paradieses und der Hölle zugleich.

Letztlich war es fast eine Erleichterung, als Franz schließlich mit der kleinen Armee in den Kampf zog. Früh am Morgen sah ich ihn in einer funkelnden Ärmeltunika auf einem Streitross. Er ritt gerade mit einem knappen Dutzend Begleiter durch das Stadttor. Unsere Blicke taten, als würden sie sich nicht kennen, oder doch kaum … Es war so traurig!

Erinnerst du dich noch daran, Francesco? Es war im Jahre des Herrn 1204, im Spätsommer.

“Es war schön und schrecklich damals, nicht wahr, kleine Schwester?”

Franz’ erstaunlich klangvolle Stimme, zwang mich, die Augen aufzuschlagen. Mein Gott … konnte er so genau in meinen Erinnerungen lesen – in unseren Erinnerungen? War er dem Herrn Jesus wirklich so überaus ähnlich geworden?

“Erinnerst du dich an die Zeit, als ich Ritter werden und Perugia angreifen wollte? Welch ein Wahnsinn! Ich hatte zu viel Feuer in mir und wusste nicht, wohin damit! Unser Herr war mir so fern … mit seinen strengen Ansprüchen, die niemand hören wollte! Jetzt kann ich es dir ja sagen: Ich habe mich oft darüber lustig gemacht, wenn ich mit Giovanni und den anderen an der Küche des Bischofs vorbei durch die Gasse zog. Oh, wie gut es da roch!”

Franz rang nach Luft. Seine Augen waren glasig vom Fieber. Er hatte Schüttelfrost.

“Warum sagst du mir das alles, mein Bruder? Ruh’ dich aus …”

“Mich ausruhen? Hat unser Herr sich auch nur einen einzigen Moment ausgeruht, als Er bei uns war? Oh, hör mir zu … Ich sage dir all das, weil ich mir Wahrheit wünsche, weil bestimmte Seiten meines Herzens noch nie aufgeschlagen wurden und man nicht zur Sonne aufsteigen kann, wenn man noch einen Schattenwinkel in sich trägt … zumindest nicht vollständig … Das hat Er mir gesagt.”

“Hat er dir gesagt, dass du sterben wirst?”

“Er sagte, dass ich ein anderes Leben führen werde … Ich ersticke an der Lebenslüge, die wir in dieser Welt erfunden haben, Chiara … Auch ich habe dem Bösen gedient, indem ich es zu ernst genommen und mich daran festgeklammert habe, genau wie die anderen.”

“Aber du hast dich doch von allem losgesagt …”

“Vom Kämpfen konnte ich mich nicht lossagen.”

Franz verkroch sich unter seiner Decke und unterdrückte ein tiefes Schluchzen. Ich dachte wieder, er fantasiere und wollte ihm etwas Wasser geben. Er aber lehnte es ab und drückte nur noch kräftiger drei meiner Finger.

“Sieh mal”, sagte er mit nun fast erstickter Stimme, “die Lüge … das sind diese Hände, die sich verstecken. Auch sie kämpfen.”

Ich wusste nicht mehr, was ich sagen sollte. Doch schließlich wagte ich es: Eine Frage kam über meine Lippen.

“Hast du ein Geheimnis, Francesco?”

Als Antwort erhielt ich nur ein Lächeln – und das Bild eines Augenpaars, das sich im scheuen Morgenlicht schloss.

Erneut senkte sich langes Schweigen auf uns herab. Allmählich stiegen wieder Szenen aus der Vergangenheit empor – obwohl ich so gerne einfach nur den Augenblick festgehalten hätte. Warum hast du die Vergangenheit heraufbeschworen, Francesco? Wozu? Du wolltest die Welt doch stets weiterbringen und neu erfinden – für die Ewigkeit, die uns bevorsteht!

Ich weiß … du hast mir einmal gesagt, dass wir alle ein Geheimnis haben, selbst wenn wir nichts davon wissen oder es strikt leugnen. Du sagtest, dieses Geheimnis sei die Türe, hinter welcher der Herr sich in uns verbirgt. Er allein weiß, wann und wie wir ihre Schwelle erreichen. Niemand kann über einen anderen urteilen, fügtest du hinzu, weil niemand weiß, welcher Weg uns jeweils an die Türe des Erwachens führt.

Es war so schön, als du mir das anvertraut hast! Zwei oder drei Wochen zuvor, warst du aus Spoletto zurückgekehrt. Alle sagten, du seiest krank und hättest deswegen aufgehört zu kämpfen. Das war dir nur recht … Doch ich wusste gleich, dass es nicht wahr ist. Dein Blick hatte etwas Durchsichtiges. Ich war damals noch sehr jung. Doch ich habe schnell begriffen, dass du von einem Schwert durchbohrt worden warst, das nichts Menschliches an sich hatte.

An jenem Tage war im Tal keine Rede mehr davon, dass unsere Hände sich berühren. Es war klar, dass du es nicht wolltest. Du hast all deine Kraft darauf konzentriert, dass es nicht geschieht. Ich weiß nicht mehr, ob ich froh darüber war … Ich glaube nicht, doch immerhin war es beruhigend. Ich hatte Angst, dem Ruf, den ich in meiner Seele spürte, nicht Folge leisten zu können und dachte, die Gefahr ginge von dir aus. So hielt ich lieber ein paar Schritte Abstand, als ich es wagte, dir von diesem seltsamen Schwert zu erzählen, das ich in deinem Körper stecken spürte. Was ich sagte, machte dich so glücklich!

“Im Gegenteil”, gabst du mir zur Antwort, “dieses Schwert ist durch und durch menschlich! Es besitzt eine Menschlichkeit, der wir uns alle öffnen sollten – eine göttliche Menschlichkeit, Klara … Wir sind hier alle nicht mehr menschlich. Wir haben vergessen, was dieses Wort bedeutet. Wirst du mir glauben, wenn ich dir sage, dass ich die Erinnerung wiedergefunden habe?”

Ich nickte. Es war wirklich nicht schwer, dir zu glauben, Francesco. Deine Augen leuchteten wie die beiden großen Kerzen, die zu Ostern im Chor von San Damiano angezündet werden. Ich wusste, dass du mir gerne mehr gesagt hättest, es aber nicht konntest. In deinem Kopf prallten ganz unterschiedliche Gedanken aufeinander. Du hast es versucht … es war zu früh.

Der Klang von Schritten riss mich aus der Vergangenheit, die gerade wieder in mir auflebte. Ich drehte mich um und löste meine Finger von Franz. Bruder Elia näherte sich uns, die Hände um seinen Rosenkranz aus Kürbiskernen geschlungen.

“Sorella … Es ist schon eine Stunde vergangen … Vielleicht wäre es weiser …”

“Elia …” Franz Stimme schien aus einer anderen Welt zu kommen. Matt und bestimmt zugleich, hinderte sie Bruder Elia daran, seinen Satz zu beenden …

“Elia, hilf mir lieber, mich aufzurichten und an die Mauer zu lehnen, anstatt Unsinn zu reden. Bedenke … Es gibt Momente, in denen die menschliche Zeitrechnung nicht mehr zählt. Es sind jene, in denen die Zeit Gottes beginnt. Habe ich euch nicht gelehrt, zu spüren, wann diese Momente kommen – und sie aufzunehmen. Heute lehre ich unsere Schwester. Grins nicht so … Lass meine Seele sprechen. Wenn die Zeit Gottes da ist, sind menschliche Regeln nur noch wie eine Handvoll Sand im Wind.”

Bruder Elia erwiderte nichts. Ich hörte, wie er unterdrückt seufzte. Dann half er Franz, der bereits versuchte, sich an die Steinmauer zu lehnen. Schließlich suchte er, noch immer schweigend, unter der Decke nach den Füßen seines Bruders. Zum Zeichen des Respekts wollte er einen Moment lang seine Hände darauflegen.

“Es ist schwer für sie”, murmelte Franz, während der Mönch sich entfernte, um wieder seinen Platz am anderen Ende des Raumes einzunehmen. “Ich war oft zu hart zu ihnen. Mein Leben lang habe ich ihnen einen sehr engen Weg vorgegeben. In meiner Seele lag er vor mir wie ein dornengesäumter Lichtschweif – und nun, da ich langsam ein wenig verrückt werde, wird der Weg breiter. Nun hätte ihr Bruder ihnen fast gesagt, dass am Dornenstrauch, den sie doch meiden sollten, echte Rosen wachsen.

Das ist schwer zu verstehen … Es ist schwer, einzusehen, dass aus einem Pfad ein Weg werden kann – und zwar einer, der nicht so gerade verläuft, wie man dachte. Womöglich schlängelt er sich sogar durch ungeahnte Landschaften …”

“So hast du noch nie zu mir gesprochen, Francesco.”

“Weil ich noch nie so war … Weil ich die Pforte noch nie aus so großer Nähe gesehen habe!”

“Dein Geheimnis?”

“Ja, hör’ mir zu … Solange man vorwärts geht, ohne sich umzudrehen oder stehen zu bleiben, glaubt man an endgültige Wahrheiten. Man will, dass es sie gibt. Man hält sich daran fest und neigt dazu, sie möglichst auch anderen aufzuerlegen, weil man weiß, dass es Angst macht, sich davon zu entfernen. Hör mir zu …

Ich weiß, du wirst den Eindruck haben, dass ich mich verleugne oder meine Verpflichtungen aufgebe. Doch indem ich diese Angst verdrängt habe, vor ihr geflohen bin und schnurgerade meinen Weg gegangen bin – habe ich vielleicht eine andere entdeckt: Die Angst, mit dem Kämpfen aufzuhören und kein Ritter mehr zu sein. Verstehst du?”

Ich versuchte es … doch der Mann, der nun vor mir lag und sich offensichtlich mehr denn je das Herz zermartern wollte, hatte so wenig Ähnlichkeit mit dem Menschen, den ich zu kennen glaubte …

“Aber, Francesco, du träumst doch schon lange nicht mehr davon, Ritter zu sein? Außerdem habe ich dich nie mit dem Schwert in der Hand gesehen. Dein Weg – der Pfad, den du in uns wieder lebendig gemacht hast, ist es denn nicht ein Pfad des Friedens?”

“Ich habe nie aufgehört, das Schwert zu schwingen … Ich war mehr, als nur ein Ritter Gottes – ich war der Gottesritter. Und ein Ritter ist und bleibt nun einmal ein Krieger, Chiarina.

Selbst wenn er schwört, für den Frieden zu kämpfen, so trennt er doch durch klare Schnitte … es fehlt ihm der Frieden unseres Herrn. Weißt du, ich habe die Dornen an meinem Weg vielleicht zu viel beschnitten. Meine Hand wollte stets zärtlich sein, doch sie drückte damit eher ihren eigenen Frieden aus – mehr als Seinen. Jenen zumindest weniger als ich dachte.

Nun aber sind meine Augen nicht mehr meine Augen … Ich glaube, Meister Jesus hat mir vor Kurzem andere gegeben. Sanfter, sanfter, sanfter …”

Instinktiv näherte sich meine Hand der Hand von Franz. Wie gerne wäre ich fähig gewesen, richtig zu weinen. Das hätte mein Herz erleichtert, angesichts so viel Wahrheit, die meine Seele öffnete und weiter machte. Was ich empfing, war jedoch zu kraftvoll, zu feurig, als dass ich die Spannung hätte lösen können, die von meinem Blick spürbar Besitz ergriff.