Jesus´ Jüngerinnen - Daniel Meurois - E-Book

Jesus´ Jüngerinnen E-Book

Daniel Meurois

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Beschreibung

Jesus´ Lehre aus der Sicht seiner Jüngerinnen Christus hatte nicht nur männliche Begleiter, sondern auch weibliche, unter denen sich insbesondere die drei Marien hervortaten: Maria-Magdalena, Maria-Jakobea und Maria-Salome. Daniel Meurois berichtet, wie er auf seinen Reisen in die Akasha-Chronik an der Begegnung der drei Frauen teilhaben konnte. Durch ihn lassen uns die Jüngerinnen die Geheimnisse ihres Glaubens, den Mensch Jesus und dessen Lehren aus weiblicher Perspektive kennenlernen. Erstaunlich leicht lässt sich Jesus' Lehre auf die Gegenwart übertragen und kann zum Schlüssel einer geistigen Erhebung werden, die wir in den heutigen, bewegten Zeiten so dringend brauchen. "Als ich die Spuren von Maria-Jakobea, Maria-Salome und Maria-Magdalena im Süden Galliens im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung wiederfand, hätte ich nie gedacht, dass sie mich Christus so nahe bringen würden. Und diese Nähe ist, im Sinne einer intimen Kommunion, wohl auch das Besondere an diesem Buch." Daniel Meurois

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Seitenzahl: 512

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Copyright der Originalausgabe © by Daniel Meurois, 2011

Titel der Originalausgabe: »Le Testament des Trois Marie – Trois Femmes, Trois Initiations«

Veröffentlicht in Partnerschaft mit Maurice Baldensperger und Francis Hoffmann GbR

»Publish Vision«; [email protected], www.publishvision.de

Copyright der deutschen Ausgabe © 2015 Verlag »Die Silberschnur« GmbH

ISBN: 978-3-89845-521-3 (Print)

ISBN: 978-3-89845-905-1 (E-Book)

1. Auflage 2016

Übersetzung: Dr. Gerhild Schulz

Gestaltung & Satz: XPresentation, Güllesheim

Umschlaggestaltung: XPresentation, Güllesheim; unter Verwendung eines Motivs

von © annareichel, www.fotolia.de

Druck: Finidr, s.r.o. Cesky Tesin

Verlag »Die Silberschnur« GmbH · Steinstraße 1 · D-56593 Güllesheim

www.silberschnur.de · E-Mail: [email protected]

Für Marie Johanne, in Liebe und Dankbarkeit

Für Salomes durchlässige Seele, die es verstand, sich dem gegenwärtigen Augenblick zu öffnen, um dieses Werk zu begründen.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Das Buch Jakobea

Kapitel   1   Erste Anfänge des Erinnerns

Kapitel   2   Fortgehen ...

Kapitel   3   Einweihungen in Galiläa

Kapitel   4   Um Golgatha

Das Buch Salome

Kapitel   5   Die Geometrie des Erwachens

Kapitel   6   Der Anfang der Welt

Kapitel   7   Das Brautgemach

Kapitel   8   Das Unsichtbare berühren

Das Buch Miriam

Kapitel   9   Zwischen Migdel und Kana

Kapitel 10   Die sieben Dämonen

Kapitel 11   Die Anforderungen des Erwachens

Kapitel 12   Der Engel des Ewigen

Nachwort

Anhang       Das Gebet von Shlomit

Hinweise

Über den Autor

Vorwort

Ich werde euch eine Geschichte erzählen ... eine wahre Geschichte wieder einmal ... auch wenn sie erfunden zu sein scheint und kein Geschichtsschreiber oder Wissenschaftler der Welt ihre Wahrhaftigkeit bezeugen kann.

Ich möchte sie nicht um der Schönheit oder Annehmlichkeit der Erinnerung willen erzählen, sondern als ein Versprechen für die Zukunft.

Die Geschichte hat sich vor knapp zweitausend Jahren ereignet. Ihr Echo aber setzte sich fort bis an einen wilden Sandstrand am Mittelmeer nicht weit von Nemesus.1

Diese Geschichte gleicht einem Gefäß, das sich aus dem Gedächtnis dreier Frauen gebildet hat. Sie sind sich wieder begegnet, nachdem sie den unmittelbarsten und unglaublichsten, aber auch sanftesten und sonnigsten Seelenweg geteilt hatten, den es gibt – den Weg Jesu, des Meisters Jeshua.

Die drei Frauen hießen damals Jakobea, Salome und Miriam. Ihr Andenken hat unter dem gemeinsamen Namen “die drei Marien”2 Jahrhunderte, ja Jahrtausende überdauert.

Das Buch, das ihr in Händen haltet, ist Spur und Duft dieser Erinnerung. Ich hatte das Glück, sie durch den Schleier der Zeit aufzuspüren.

Warum ließ sie sich nicht schon früher finden? Vermutlich, weil wir heutigen Menschen als Lehrlinge des Lebens für ihren Inhalt in so mancher Hinsicht noch nicht feinfühlig genug waren.

Aus Salomes Blickwinkel ist es meinen Seelenaugen nun gelungen, in ihr Wesen einzudringen, Tag für Tag, Monat für Monat, bis ins kleinste Detail ... Sie erschloss sich mir in all ihrer intensiven Kraft und feinen Genauigkeit.

Es ist der Blick einer Frau, gewiss, vor allem jedoch das Spiegelbild des subtilen Lichtes einer Zeit, die unser kollektives Gedächtnis auf immer geprägt hat.

So ist es nicht nur der Blick einer Jüngerin Christi, sondern auch das Herannahen der wahren Größe der Liebe – einer Liebe die frei, umfassend und unendlich ist.

Und schließlich ist es auch der Blick eines Wesens, das die Schlichtheit und Offenheit des Herzens liebt. Salome bezeugt für uns den Weg ihrer Gefährtinnen, der sich in ihrem Inneren bewahrt hat.

Jakobea, Salome, Miriam – drei Wege, die zu einer einzigen Erinnerung verschmelzen – dem Gedächtnis der drei Marien ...

Hier also ein weiteres Zeugnis über diese lichtvollen Jahre, die stets in mir lebendig sind: ein Zeugnis des christlichen Impulses.

Ja, noch eines ... denn gewisse Stunden haben unsere Menschheit so geprägt, dass ihr Reichtum und ihre Intensität unerschöpflich sind.

Als ich die Spuren von Maria-Jakobea, Maria-Salome und Maria-Magdalena im Süden Galliens im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung wiederfand, hätte ich nie gedacht, dass sie mich Christus so nahe bringen würden. Und diese Nähe ist, im Sinne einer intimen Kommunion, wohl auch das Besondere an diesem Buch.

Die drei ersten und engsten Schülerinnen Jesu befreien sich darin, eine nach der anderen, von ihren tiefsten und bedeutsamsten Erinnerungen an den täglichen Umgang mit dem Meister, die den Charakter von Einweihungen hatten.

Wer Sensationelles in diesem Buche sucht, wird wohl enttäuscht werden.

Meine Absicht war es lediglich, diese Erinnerungen so getreu wie möglich zu erzählen, um die Gegenwart Christi wiederzugeben, wie sie sich Tag für Tag in aller Demut, Spontaneität und Größe seinen Jüngern offenbarte.

Von den ersten Bildern an, welche die Akasha-Chronik in mir aufsteigen ließ, von den ersten Worten an, die ich vernahm, erkannte ich die Aufgabe, so ungeschminkt wie möglich, den Einfluss deutlich zu machen, den das Licht seiner Anwesenheit hatte, und das subtile Siegel zu erweisen, mit dem sie unser kollektives Gedächtnis geprägt hat.

Das Buch ist aus drei unterschiedlichen Perspektiven geformt, die jedoch auf erstaunliche Weise zusammenspielen. Es soll gelesen werden, wie man einen Duft atmet, denn man wird die Essenzen, aus denen es gemacht ist, beim flüchtigen Lesen nicht entdecken. Es ist keine handlungsorientierte Geschichte und hat auch nichts von einer Informationssammlung mit abgezählten Lektionen.

Es ist dazu da, langsam gelesen zu werden, um die zartesten Saiten unseres Inneren zu liebkosen, zu beleben und sie an ihre Verwandlungskräfte zu erinnern.

Mancher wird das Buch wohl für einen Roman halten. Es ist keiner ... Ferner könnte man einwenden, dass die Personen nicht immer jenen entsprechen, die in den offiziellen Texten vorkommen ... Das ist mir bewusst, stellt aber kein Problem für mich dar. Es ging mir vor allem darum, dem gerecht zu werden, was ich Tag für Tag sehen, hören und erleben durfte. Davon wurde mein Schreiben geleitet.

In keinem Fall kann das Ziel der folgenden Seiten sein, irgendeine Art von Polemik entfachen zu wollen. Sie sollen vielmehr zu unserem Herzen sprechen, um es ein wenig weiter zu öffnen ... Denn Herz ist ja – wie wohl jeder zugestehen wird – das, was unserer Zeit am meisten fehlt. Ohne Zweifel steht es als Tempel unseres Wesens im Zentrum dieses ‘geistigen Erbes’, ist es doch die heilende Kraft in uns, – Punkt der Versöhnung und Ausdruck des Vermächtnisses, das Christus uns hinterlassen hat. Dies mag von den Erinnerungen der drei Frauen belebt werden.

Ihr Gedächtnis beschwört im Grunde nicht den Christus der Vergangenheit herauf und auch nicht jenen, den man in Zukunft erwarten könnte. Der Christus von dem hier die Rede ist, ist der immerwährende Christus der Gegenwart. Es ist der ewige Christus, der uns aufrüttelt, indem er uns seine Zärtlichkeit schenkt und zugleich die Anforderungen seiner Lehre an uns heranträgt.

Ganz gleich, ob wir Mann oder Frau sind, ich bin sicher, dass in den Fragen, den Irrfahrten aber auch der Schönheit von Jakobea und Salome ein Teil von uns allen enthalten ist ... darüber hinaus aber auch die insgeheime Hoffnung auf die Erfüllung von Maria Magdalenas Auftrag. Im Verlauf der Erzählung wird deutlich, wie sehr die Schwierigkeiten der drei Frauen den unseren gleichen. Sie gehören der Ewigkeit des Lebens an, das sich in uns sucht und gestalten will. Und so rate ich meinen wahren Lesern, keine Seite umzublättern, bevor sie nicht ihren Sinn gleichsam eingeatmet haben.

Bevor ich “Drei Einweihungen” schrieb, war mir nie gegeben, auf so subtile und intime Weise in die Lehre Christi einzudringen.

Sollte es mir gelingen, das Glück, dass ich beim Versuch empfunden habe, diese Lehre weiterzugeben und auf jene Seelen zu übertragen, die sich ihr nähern möchten, kann ich nur sagen ... Mission erfüllt!

Daniel Meurois

 

Dieser Bericht beginnt etwa im Jahre 50 unserer Zeitrechnung ...

Getrieben von Verfolgung, aber auch der Notwendigkeit, die Lehren ihres Meisters weiterzugeben, brachen eine Anzahl von Männern und Frauen aus Palästina auf, ohne zu ahnen, dass sie die ersten Christen sein würden. Viele nahmen dabei den Seeweg und landeten schließlich an den Mittelmeerstränden Galliens in der Umgebung von Massilia, dem späteren Marseille.

Sie kamen auf verschiedenen Booten und verteilten sich nach und nach in ihrer neuen Heimat. So gelangten Maria-Salome und Maria-Jakobea – beides Jüngerinnen der ersten Stunde – in die heutige Camargue, während Maria-Magdalena einen längeren Weg im Süden des Landes zurücklegte.

Ihr Schicksal führte sie jedoch für ein paar Tage wieder ihren beiden Gefährtinnen zu. Erst dann zog sie weiter nach Sainte-Baume in der Provence, wo sie zuletzt lebte.

Die folgenden Seiten beschreiben das bewegende Wiedersehen der drei Frauen, die mehrere Nächte lang am Strand ihre gemeinsamen Erinnerungen austauschten ...

Es war an einem Ort, gemacht aus Sonne, Wasser und Sand, aus dem später das einzigartige Dorf “Saintes-Maries-de-la-Mer” entstand ...

Das Buch Jakobea

Kapitel 1

Erste Anfänge des Erinnerns

Es ist etwa zehn Jahre her, dass Jakobea und ich, Salome, sowie einige andere an dieser Küste angelegt haben und hier leben. Ich weiß es nicht mehr genau, wir haben aufgehört zu zählen. Es ist so unwichtig im Vergleich zur Ewigkeit, die sich in uns ausgebreitet hat.

Als die Seeleute uns auf unser Bitten hin irgendwo an diesem Strand abgesetzt hatten, wussten wir nicht, dass wir so lange bleiben würden, ja nicht einmal, ob wir hier überleben könnten.

Abgesehen von dem endlosen Streifen Sand, der sanft von den Wellen des Meeres umschmeichelt noch an die Ufer gemahnte, die wir auf immer verlassen hatten, war alles so völlig anders als gewohnt! An dieser Kulisse hat sich auch nichts geändert … oder doch sehr wenig.

Auch wenn wir uns vom Strand abwenden, ist das Wasser allgegenwärtig. Es breitet sich überall in der Ebene aus, schafft endlose Sumpfgebiete, aus denen hie und da hohes Gras und kleine Bäume wachsen.

Hier, in einem dichten Geflecht von Etwas, das wie winzige Inseln aussieht, haben wir gelernt, auf recht ungeschickte Weise Pfahlbauten zu errichten, in denen wir noch heute leben.

Manchmal werden wir gefragt, warum wir hier geblieben und nicht weitergezogen sind in Richtung der Berge, die nördlich am Horizont aufragen. Auch das weiß ich nicht so recht. Zunächst wohl, weil wir Angst hatten und dachten, wir würden an einem so unbestimmten Ort niemanden stören. Doch gewiss auch, weil die paar Fischerfamilien aus der Nachbarschaft sich uns gegenüber bald so angenehm und gastfreundlich erwiesen und uns mit Neugier begegneten.

Sie lehrten uns die Kunst, Hölzer und Wasserpflanzen zu flechten, so dass wir direkt über dem Salzwasser, mitten unter den vielen Vögeln, unsere eigenen Hütten errichten konnten. Sie zeigten uns auch, wie man jene Salbe herstellt, mit der wir uns noch immer gegen die unzähligen Mücken schützen, die uns in ganzen Trauben umschwirren.

Ja, zehn Jahre … Vielleicht etwas mehr, vielleicht etwas weniger. Zehn Jahre, in denen wir versuchten, das Wort Dessen weiterzugeben, Der unser Leben so tief greifend verändert hat und Der eines Tages zu uns sagte: “Geht fort, überquert das Meer … Es geht um euer Leben. Nicht nur um das körperliche, sondern vor allem um Jenes, das ich in euch erweckt habe. Es ist voller Licht – und das ist übertragbar … Nicht von mir sollt ihr zeugen, sondern von diesem neuen Leben in Euch, damit ihr es eurerseits in jedem anderen erwecken könnt.”

Jakobea und ein gutes Dutzend Männer und Frauen, darunter auch ich, haben unser Bestes getan, indem wir hier zwischen Sand und Wasser Wurzeln geschlagen und dann Seelen und Körper geheilt haben. Kann dies Beste jedoch genügen, nun, in einem Moment, da meine Seele das Bedürfnis verspürt, sich selbst ganz unverhüllt gegenüberzutreten, um sich zu prüfen?

Vielleicht, sage ich mir wieder einmal … es wird mir immer so vorkommen, als genüge das Beste niemals im Vergleich zur unendlichen Fülle dessen, was wir bekommen haben.

Kann man je genug dafür tun zu bewirken, dass jeder ein wenig mehr Liebe im Herzen trägt? Können wir jemals auch nur einen Bruchteil dessen auf andere übertragen, was der Meister uns geschenkt hat?

Wie auch immer, wir haben uns hier im Ungewissen eingerichtet, obgleich unsere eigene Sicherheit längst nicht mehr zu entwurzeln ist, die Gewissheit, innerlich am rechten Ort zu sein.

Diese Gewissheit ist noch einmal unermesslich gestiegen, als vor vier Tagen ein echtes kleines Wunder geschah. Wir waren gerade dabei, auf einem Stück Land, das etwas trockener ist als die Umgebung, Dinkel zu ernten, als wir die Silhouette einer Frau sahen, die sich auf uns zu bewegte. Sie trug ein langes, dunkelblaues Kleid, und ihr volles Haar flatterte im Wind. Als sie nur noch ein paar Schritte von uns entfernt war, blieb sie zögernd stehen. In dem Moment sahen wir ihr Gesicht, und uns stockte der Atem.

“Miriam!”, ... hörte ich mich im tiefsten Inneren murmeln. Miriam ... war sie es wirklich? Miriam aus dem Dorf Midgel3, die Gefährtin des Meisters, unsere Freundin, unsere Schwester auf allen Wegen ... Wie war das möglich? Es war doch so lange her!

“Ja”, ... erwiderte sie mit leicht gebrochener Stimme auf unsere entgeisterten Blicke. “Ja, ihr seid es – und auch ich bin es wirklich. Er hatte recht, es war mir also bestimmt, euch zu finden.” Wir waren völlig unfähig, irgendetwas zu sagen. Ich erinnere mich nur an eins: Im nächsten Moment lagen wir uns alle drei weinend in den Armen.

Die beiden Männer aus der Gegend, die bei uns standen, waren diskret genug, ein wenig beiseitezutreten. Sie wussten sofort, dass in diesem besonderen Moment niemand in unsere Welt eindringen konnte. Es war einfach zu stark ...

Erst vier Tage sind vergangen, doch weiß ich schon nicht mehr, was wir uns zuflüsterten, zueinander sagten, ja, uns am Ende fast zuschrien vor lauter Überraschung und Freude.

Jakobea und ich begriffen lediglich, dass Miriam unsere Spur im Traum wiedergefunden hatte, auf Weisung des Meisters Selbst.

Sie hatte gebetet und gebeten, hatte zugehört und war gegangen, weit gegangen von jenem sehr hohen Gebirge her, das sich, wie sie sagte, weit im Westen am Ufer des Meeres erhob.4 Eine Gruppe von sieben oder acht Menschen hat sie auf dem gesamten, ihr aufgegebenen Weg begleitet.

Jakobea und ich waren voller Fragen, unfähig wahrzunehmen, glaube ich, dass auch Miriam selbst so vieles über uns wissen wollte. Würde ihre Reise hier ein Ende haben? Würde sie mit uns leben?

Ich spüre noch heute die Erschütterung, die ihre Antwort in meiner Seele ausgelöst hat. “Nein, ... ich glaube nicht. Er schickt mich weiter. Er weiß, wohin ... ich weiß es nicht.”

Mehr sagte Miriam dazu nicht, doch als wir uns wohl zum dritten Mal an diesem Abend irgendwo am Strand über den Weg laufen, spüre ich, dass sie es auch nicht weiß. Sie wird ihre Lebensbahn fortsetzen, so wie sie es immer getan hat, wie wir es ebenfalls versuchen.

Das Feuer prasselt sanft, und es ist gut, noch einmal hier zusammen zu kommen. Wir hatten uns nicht einmal verabredet; es hatte sich ganz von selbst ergeben, genau wie an den Abenden zuvor. Wir spüren sehr wohl, dass all jene, die hier mit uns leben, sich gerne zu uns gesellt hätten. Einige haben uns sogar gefragt, doch wir haben nein gesagt ... ein wenig egoistisch vielleicht ... Aber wir brauchen es einfach, in dieser Nacht noch ganz für uns zu sein. Mir scheint, dass wir einander noch gar nichts gesagt haben, dass Miriam viel zu wenig geredet hat und Jakobea und ich ihr unser Leben hier nur furchtbar ungeschickt erzählt haben.

Mir scheint ... es ist immer so, wenn die Erinnerung des Herzens allzu voll ist. So, als könne es sich nicht gleich öffnen. Ich stelle mir das vor wie eine zum Platzen gefüllte Fruchtblase und denke, es braucht etwas von außen, gleichsam ein künstliches Eingreifen, um sie aufzustechen und uns Erleichterung zu verschaffen.

Und wenn wir die Nacht so verbringen würden, eingerollt in unsere Decken, ganz still, um die stetigen Flammen des Feuers herum ... Das wäre vielleicht genauso gut.

Der, an den wir gerade alle drei denken, das weiß ich einfach, hatte uns zuweilen etwas nahe gebracht, das er Gespräch der Stille nannte. Im Übrigen haben wir genug Holz und Äste gesammelt, um es ziemlich lange auszuhalten und uns gegenseitig beim Schweigen zuzuhören.

Über dem Meer herrscht schon fast stockfinstere Nacht. Nur der Schaum der Brandung, der sich auf den Sand ergießt, ist noch wahrnehmbar.

Doch da durchdringen ein Blick und eine Stimme den Schleier der Dämmerung. Miriam sagt: “Bringt mir etwas bei, lehrt mich bitte etwas ... denn es gibt Dinge, die ich nicht erlebt habe, es gibt Momente, die ich nie kennengelernt habe ... oder nicht genug ...”

Ich ahne, wie Jakobea an meiner Seite mich anschaut und spüre ihr Staunen, das ebenso groß ist wie meins. So vergeht ein Moment ... dann kommen fast dieselben Worte gleichzeitig über unsere Lippen. “So bring auch du uns etwas bei ... denn wir meinen, dass wir oft blind und taub waren ...”

Trotz der Schüchternheit, die mich von jeher verfolgt hat, kann ich es seltsamerweise nicht bei diesen Worten belassen. Eine Kraft aus dem Inneren meines Busens drängt mich, weiterzugehen, fegt meine stille Akzeptanz des Schweigens hinweg, das sich eben zwischen uns ausbreiten wollte.

“Und wenn wir in dieser Nacht unsere Erinnerungen austauschen würden ... Und wenn wir in weiteren Nächten, an weiteren Tagen vielleicht, so oft es eben nötig ist, weitermachen würden, bis unsere Erinnerungen miteinander verschmelzen? Brauchen wir nicht im Grunde alle diese Verbundenheit der Seelen? Sie wäre wie ein Baum, der die Früchte unseres Lebens trägt ...”

Durch einen feinen Rauchschleier hindurch, mir genau gegenüber, sehe ich Miriams zusammengekniffene Augen mir zulächeln.

“Ja ... das erscheint mir gut und richtig, und vor allem würde es zweifellos Seinem Wunsch entsprechen. Warum hätte ich euch denn sonst wiederfinden sollen? Was wissen wir schon wirklich voneinander? Dort, damals, ... sobald Er begonnen hatte, unser Leben ganz auszufüllen, sind wir uns doch oft nur schweigend begegnet, um Ihn sprechen zu lassen und Sein Licht nicht zu verschwenden. Ich weiß heute, es war nicht exakt, was Er von uns erwartete. Er wollte Austausch und Gemeinsamkeit. Er hoffte auf das, was Er “die Mischung der Aromen unserer Leben” nannte ... Ist nun der richtige Moment dafür gekommen? Ich glaube, ja.”

Zum ersten Mal an diesem Abend taucht eine zögernde Stimme aus der Finsternis. Sie gehört Jakobea, der sehr dunklen Frau aus Bethsaida, deren Haar nun weiß geworden ist, wie vom Staub aller Wege.

“Nun gut ... so mögen die Erinnerungen wieder aufsteigen und sich entfalten, wie alte, lose gewordene Rollen von Palmblättern, ihrem eigenen Rhythmus folgend, ohne, dass wir uns Mühe geben, sie zu ordnen; mögen sie uns lediglich nähren und bis dorthin begleiten, wohin wir gelangen müssen. Ich habe so vieles erlebt ... doch meine Seele dürstet noch immer, leidet einen unstillbaren Durst ... und ich kann noch immer nicht einfach in Frieden sprechen ...”

“Sprich, wie du kannst ...”, antwortet ihr Miriam. “Bleib in der Wahrheit ... das ist alles, was Er wollte, oder eher ... das ist alles, was Er will. Wasser aus der Quelle ... selbst in einer einfachen, irdenen Schale.”

Ich spüre, wie ein Hauch von Fiebrigkeit uns alle drei erfasst. Schon allein unsere funkelnden Blicke zeugen von der Gewissheit, die uns mit einem Mal ergriffen hat. Es ist die Gegenwart des Meisters selbst, der diese Begegnung bestimmt gewollt hat. Sie musste stattfinden, damit wir die Geheimnisse unserer Seelen dem Licht dieser Umgebung einprägen.

Ich weiß ... kein menschliches Ohr wird aufnehmen, was wir uns anvertrauen wollen ... Selbst wenn jemand hier in der Gegend schreiben könnte, würden wir ihn nicht rufen, um die Spuren unserer Erinnerung zu bewahren. Das würde alles zerstören ... Wir wollen nur eine gemeinsame Kraft schaffen und sie dann dem Unsichtbaren übergeben, der Weisheit der Zeit.

Jakobea möchte als erste sprechen, weil sie Angst hat, es nicht zu schaffen.

“Aber warum solltest du es denn nicht schaffen, Jakobea?”

“Wenn ich noch länger warte, – bis zum Morgen – oder es bis morgen früh aufschiebe, fange ich an, nachzudenken, nach den rechten Worten zu suchen, dann wird es viel weniger von Herzen kommen – wirklich aus meinem tiefsten Herzen. Versteht ihr das?”

Natürlich verstehen wir sie ... Ehrlich gesagt, glaube ich, dass wir heute Abend alle ähnlich denken. Selbst wenn mir Miriam strahlender erscheint denn je und auch wenn meine eigene Vergangenheit mir unglaublich gegenwärtig ist, bereit, sich in den Augenblick zu verströmen, so ist da doch diese gemeinsame Furcht, nicht zu wissen, wie – oder es nicht genug zu können ...

Nun gut ... Die Verschmelzung unserer Seelen wird hier stattfinden. Es ist entschieden. Miriam zitiert mit leiser Stimme ein paar vertraute, rituelle Worte und wirft eine Handvoll Kräuter in die Glut, die sie in einem Beutel neben sich bereithielt. Die feine Mischung erfüllt sogleich die Luft mit ihrem Duft, und mit unsicherer Stimme beginnt Jakobea zu erzählen ...

“Ich bin die Älteste von uns dreien ... vielleicht fünfzehn Jahre trennen meine Geburt von deiner, Salome, und vermutlich auch von deiner, Miriam. Das ist gewiss nicht viel, doch es genügt, um den Erkenntnisweg, der mich zum Meister geführt hat, von eurem zu unterscheiden ...

Wie ihr wisst, bin ich mit Ihm über unsere Eltern verwandt. Seine Mutter Meryem5 und ich sind Cousinen. Ich rufe euch das in Erinnerung, weil ich glaube, dass es wichtig ist. Als Kind haben seine Eltern oft auf mich aufgepasst. Meine Mutter litt unter einer schwachen Gesundheit, und mein Vater war viel unterwegs. Darum dachten viele, dass Meryem und ich Schwestern seien. Es wäre gelogen zu sagen, dass wir uns perfekt verstanden. Wir waren sehr verschieden. Im Grunde haben wir uns erst nach ihrem zwölften Lebensjahr richtig kennengelernt. Wie ihr ebenfalls wisst, hat sie ja zuvor beim Gottesdienst im Großen Tempel der Bruderschaft6 mitgewirkt. Als sie ins Dorf zurückkehrte und wir wieder mehr zusammen waren, löste das bei mir, wie ich heute einsehe, eine Abwehrreaktion aus: Eifersucht ...

Meryem war ... Meryem. Die reinste der Reinen, wie man sagte. Jahrelang hatte ich nichts anderes gehört. Ich verstand nicht, warum das mit so großer Bestimmtheit erklärt wurde und auch nicht, warum manche sich sogar vor ihr verneigten. Da sie selbst jedoch diesen Huldigungen gegenüber ganz gleichgültig war, beruhigte ich mich schließlich und gewöhnte mich daran. Dennoch hatte ich immer im Hinterkopf, nur Jakobea zu sein, die Cousine. So nistete sich auch weiterhin die Eifersucht in aller Stille in mir ein.

Als man sie mit Joseph vermählte, gab mir das einen Stich ins Herz. Nicht, dass ich mit ihr tauschen wollte, bei so einem alten Ehemann. Das war es nicht ... Ich sah nur das Prestige, das ihr diese Verbindung wieder einbrachte. War Joseph nicht der meistgeachtete Priester unserer ganzen Gemeinschaft? Das war doch zu viel für eine einzige Frau!

Ich erinnere mich, dass ich mich monatelang gleichsam ohne Familie und von allen abgewiesen fühlte. In Wahrheit kapselte ich mich wohl eher selbst von der Außenwelt ab. Noch immer war ich nur Jakobea, versteht ihr ... und spielte bestenfalls die zweite Geige in der Familie. Bestenfalls – denn natürlich schwirrten noch viele andere Brüder, Schwestern, Cousins und Cousinen in der Gegend herum. Sie schienen jedoch nicht sonderlich neidisch auf Meryem zu sein. Ich war also das Problem ...

So kam es, dass ich mich nach und nach selbst nicht mehr mochte. Ich hatte ein schlechtes Bild von mir, fand mich wohl hässlich und war wütend, dann wieder schämte ich mich ... und wurde wieder wütend, ein Teufelskreis.

Schließlich wurde auf einer endlosen Familienkonferenz in meiner Abwesenheit beschlossen, mich mit einem Mann namens Chalphi7 zu verheiraten. Den kannte ich schon vom Sehen, es war ein Cousin von Joseph. Mein Vater teilte mir sogleich mit, er sei ein guter Bauer aus unserer Gegend, baue viel Flachs und Kichererbsen an und ich könne zufrieden sein. Damit war mein Leben binnen eines einzigen Tages vorgezeichnet. Ich wusste schon immer, dass es genauso ablaufen würde und ich nicht das Geringste dazu zu sagen hätte. So etwas ist euch ja nicht neu ...

Die Hochzeit fand also wie geplant statt. Bald merkte ich, das Chalphi ein guter Mann war. Seine Anwesenheit an meiner Seite machte mich gewiss ausgeglichener. Meine so unzufriedene Natur, diese Art, ständig auf etwas zu warten, das ich selbst kaum fassen konnte, trat etwas in den Hintergrund. Doch war die Beruhigung von recht kurzer Dauer, denn wie ihr leicht erraten könnt, richtete sich die Aufmerksamkeit unserer gesamten Gemeinschaft und selbst die der umliegenden Dörfer nun noch mehr auf Meryem oder vielmehr auf ihren Sohn. Er war kaum älter als vier oder fünf Jahre, als man schon von ihm erzählte, dass er laut mit den Engeln oder den Seelen der Propheten sprach, wenn er in den Hügeln unterwegs war. Das fanden manche Leute beunruhigend, die Mehrheit aber erfüllte es mit Erstaunen und Bewunderung ... so sehr, dass er sogar regelmäßig von etwas merkwürdigen Reisenden aufgesucht wurde.

So kam es, ich muss euch das einfach sagen, ... dass ich ihn kein bisschen mochte, diesen Sohn von Meryem. Er würde es genauso machen wie seine Mutter und alles an sich reißen. Das war das Einzige, was ich wahrnahm und ich war unglücklich darüber. Als wir erfuhren, dass er an die Hochschule unserer Bruderschaft8 gehen würde, um dort jahrelang zu studieren, war ich richtig erleichtert. Jetzt, so machte ich mir weis, würden meine eigenen Kinder, die kaum jünger waren als er, endlich aufatmen und ihren rechten Platz einnehmen können.

Ihr lächelt, nicht wahr? Ihr habt recht, denn in Wahrheit ging es ihnen zuvor sehr gut. Als meine beiden Söhne Meryems Sohn begegneten, war er sofort ihr Freund. Ich war es, die fast erstickte und seine unleugbare Ausstrahlung nicht ertrug. Das war alles ...

Ein Jahr nachdem er fort war, haben auch wir unser Haus und unsere Flachsfelder verlassen. Chalphi hatte nicht weit vom See, in Bethsaida, einen schöneren Besitz geerbt. Dort habe ich ja dann, wie ihr wisst, viele Jahre gelebt. Wir waren wohlhabend und vor allem ... gab es niemanden mehr, auf den ich neidisch sein musste. Meine Söhne waren gesund, sie arbeiteten mit ihrem Vater auf den Feldern und ich dachte, ich sei glücklich ...”

“Wieso sagst du, du dachtest ... warst du es denn nicht?”

“Ich dachte es ... weil ich mich im Grunde selbst betrog. In meinem tiefsten Herzen lebte eine Wut, die fast unablässig an mir nagte und deren Ursache ich nicht ergründen konnte. Ich war ständig damit beschäftigt, sie zu verdrängen und daraus folgte, dass ich mich ebenso wenig leiden konnte wie früher.

Ich war bestimmt viel zu oft boshaft. Oft ist es ja der Schmerz, der einen böse macht, vor allem dann, wenn man ihn nicht festmachen kann und doch ständig spürt, wie eine unsichtbare Wunde, an der man unaufhörlich kratzt, bis sie sich entzündet ...

Wenn ich euch all das so genau erzähle, dann nicht, um mich in den Vordergrund zu spielen. Deswegen sind wir nicht hier. Es geht mir nur darum, euch den Weg meiner Seele vor Augen zu führen, einen Weg, den gewiss viele gehen. Und ich möchte euch mitteilen, wie ich mich langsam aus meinen eingefahrenen Bahnen herausgearbeitet habe. Diese Spur anzuschauen, ist vielleicht lehrreich.

Man denkt immer, es sei die Betrachtung des Himmels und der Sonne, die den Menschen wachsen lässt. Doch mit den Jahren, die vergehen und die der Meister im Stillen nährt, habe ich nach und nach verstanden, dass es zunächst darauf ankommt, zu sehen, wie sehr man mit den Füßen im Dreck steckt und auch diesen Dreck zu fressen, bevor man anfangen kann, den Kopf zu erheben. Nicht vorher. Was ich sagen will, zunächst musste etwas in mir verfaulen, ich musste bis zum Ende meiner eigenen Enge und meines Egoismus gehen, bis an den Punkt, an dem mein Leben zusammenbrach.

Du siehst also, Miriam, du kennst mich ja nicht so gut wie Salome, ich hatte alles, was man braucht, um glücklich zu sein, und doch ständig eine blinde Wut in mir. Eine Wut, die scheinbar namenlos und ziellos war, mich aber direkt ansprang, als ich nach zwanzig Jahren zum ersten Mal wieder von Meryems Sohn sprechen hörte. Man hatte mir gesagt, er sei weit weggegangen, man wisse nicht einmal, ob er noch lebe und so hatte ich ihn schließlich völlig vergessen ... doch plötzlich war er wieder da!

Es war Chalphi, der an jenem Tag seinen Namen aussprach. Ich werde das nie vergessen ... Am Ende eines heißen, mühsamen Tages saßen wir in der Nähe unseres Brunnens unter den Orangenbäumen. “Erinnerst du dich an den kleinen Joseph9, den Sohn von Meryem? Man sagt, dass er wieder zurück ist in unserem Land. Inzwischen ist er Rabbi. Er soll sich nun Jeshua nennen. Angeblich versammeln sich seltsame Leute um ihn. Das wundert mich nicht ...”

“Mich auch nicht ...”, gab ich mit gespielter Gleichgültigkeit zurück, doch innerlich schreckte ich hoch. Mehr sagte ich nicht dazu, doch Chalphi wurde seinerseits nicht müde, Anekdoten zum Besten zu geben. Offensichtlich hatte man ihm am selben Morgen eine ganze Reihe davon erzählt, als er am Seeufer gewesen war, um Früchte gegen Fische zu tauschen. Die Fischer schienen sich köstlich darüber zu amüsieren ... Ich tat, als würde ich diese Geschichten bloß zerstreut anhören, doch in Wahrheit entging mir kein Wort. Ich erinnere mich sogar, dass ich sie mir später, in der Stille der Nacht, als ich schlaflos da lag, unablässig vorbetete, während ich mir paradoxerweise zugleich einredete, dass sie mich ja gar nichts angingen.

Waren sie wahr? Sie waren verstörend ... aber auch ungewöhnlich schön. Warum taten sie mir nur so weh? Eigentlich sollte ich sie längst vergessen haben ... Es war absurd! Und dann ... verstand ich auch nicht, warum sie die Fischer so amüsierten. Sie waren überhaupt nicht lustig, im Gegenteil.

Schließlich schlief ich mit dem beruhigenden Gedanken ein, dass der Sohn von Meryem gewiss nichts weiter war, als ein Rabbi, der bloß ein wenig angeberischer war als die anderen und nun mal seine eigene Welt erschaffen wollte. Ohnehin gab es überhaupt keinen Grund dafür, dass ich ihm aufs Neue begegnen müsste oder dass Er uns hier, wo wir lebten, aufstöbern würde. Wie dumm von mir! Ich war noch sehr weit davon entfernt zu begreifen, dass man den Lauf der großen Dinge, die uns erwarten, nicht ändern kann und dass unsere Freiheit auch gar nicht darin besteht. Sie liegt anderswo, und zwar darin, den Strom unserer Seele zurückzuverfolgen.

Unser Schicksal holt uns immer wieder ein, auch wenn wir alles tun, um vor ihm zu fliehen. Auf mich kam es in Gestalt eines meiner Söhne zu. Jakob war gerade am Anlegeplatz als der, den ich herablassend noch immer Joseph nannte, mit einigen Leuten aus einem großen Boot ausstieg. Selbst nach so vielen Jahren erkannten sich die beiden. Ich denke, es sind die Augen ... Sie betrügen einen nicht.

Joseph war gebeten worden, zu einem Weber zu gehen, um dessen kranke Tochter zu behandeln und Jakob hatte sogleich beschlossen, ihn dorthin zu begleiten, wohl auch ein wenig aus Neugier. Er war ja sein Freund von früher ... Den Rest könnt ihr euch denken ...

Bei Einbruch der Dunkelheit sah ich, wie mein Sohn atemlos und mit vor Aufregung glänzenden Augen heimkam. Er rang nach Worten und sprach von nichts anderem als von Meryems Sohn. Der hatte die Tochter des Webers anscheinend geheilt, indem er ihr einfach ein wenig Speichel auf die Stirn gerieben und ihr auf den Mund gepustet hatte. Er hatte nicht einmal etwas sagen müssen. Danach war Er einfach wieder über die Türschwelle hinaus, und durch die Gassen zurückgegangen.

Jakob war bei der ganzen Szene dabei gewesen. Der Weber aber war hinter Joseph hergelaufen und hatte ihn gefragt: “Warum sagst du denn nichts, Rabbi? Wie viel soll ich dir dafür geben?” Daraufhin hätte Joseph ihm geantwortet: “Was möchtest du gern hören – und welchen Preis bist du bereit zu zahlen?” Ohne die Antwort abzuwarten hätte er hinzugefügt: “Halbe Dinge wirst du von mir nicht hören, aber auch von dir werde ich alles verlangen.”

Der Weber blieb wie angewurzelt stehen. Mein Sohn erzählte weiter, dass Joseph sich dann zu ihm gewandt und gefragt hätte: “Wie geht es deiner Mutter, Jakob? Sag ihr, dass ich sie morgen besuche.”

Also diese Geschichte machte mich einfach verrückt. Nach all den Jahren weiß ich noch genau, in welch einen Zustand sie mich versetzte. Auf tragische Weise kamen meine alten Gefühle der Verbitterung alle wieder zum Vorschein. Es war, als ob das Leben mir, um mich am Atmen zu hindern, eine Falle gestellt hätte und sie nun plötzlich zuklappte.

Am nächsten Tag war mir natürlich die erstbeste Ausrede recht, um von unserem Anwesen zu flüchten. Es kam überhaupt nicht infrage, dass Meryems Sohn mit seinen Zaubertricks mich in meinem eigenen Haus verhöhnte. Warum wollte er mich überhaupt sehen?

Und am nächsten Tag – ob ihr es glaubt oder nicht – erschien er tatsächlich oben am Weg, der zu unserem Haus führte. Chalphi nahm ihn dort in Empfang, entschuldigte sich, dass er alleine sei und sagte, ich habe überraschend zu meiner Schwester Esther gehen müssen. Was da alles besprochen wurde, weiß ich nicht. Mein Mann konnte es mir später nie berichten, doch eins ist sicher, der Rabbi hatte ihn unglaublich aufgewühlt.

Dies traurige Spiel von mir wiederholte sich noch einige Male. Mehrere Monate verbrachte ich damit, vor einer Begegnung zu flüchten. Man hätte fast denken können, Meryems Sohn halte sich absichtlich an den Steilufern des Sees oder in den umliegenden Ortschaften auf. Er war immer mit der Gruppe von Männern und Frauen zusammen, von denen sogar Jakob, der ja von ihm hingerissen war, ohne zu zögern sagte, dass er sie ein wenig beängstigend fand.

Warum verfolgte mich dieser Jeshua bloß?

“Er verfolgt dich doch nicht ...”, sagte Chalphi eines Tages gereizt zu mir. “Du machst selbst eine Obsession daraus! Was glaubst du, was er dir wohl zu sagen hat? Grüße von seiner Mutter?”

Diese Bemerkung regte mich schrecklich auf. Die Ironie durchbohrte mich. Sie brachte den ganzen Eiter meiner Eifersucht zum Vorschein, einer Eifersucht, die ihm in all den Jahren nicht entgangen war.

Ich muss aschfahl gewesen sein, als ich mich mit unserer kleinen Dienerin und dem Esel auf den Weg ins Dorf machte. Als Ausrede hatte ich gesagt, dass wir kaum noch Mehl für die Fladen hätten und sie mir in der Gasse hinter dem Markt helfen würde, unsere Tragetaschen damit zu füllen. Meryems Sohn würde ohnehin nicht da sein. Man sagte, dass er Probleme in Kapernaum habe. “Sieh mal einer an ... sogar er hatte Probleme! Na umso besser ...”

Jakobea unterbricht sich plötzlich und sucht unsere Blicke, einen nach dem anderen, als wolle sie sich entschuldigen, dass sie mit ihren Erinnerungen nicht schnell genug vorankommt. Das zumindest glaube ich in ihren Augen zu lesen, aber auch Spuren von Scham ... über diese alte Wut, die sie sich nicht recht erklären kann.

Vom Meer her ist ein leichter Wind aufgekommen und wirbelt einen Moment lang den Rauch des Feuers um uns herum.

“Noch eine kleine Gabe”, murmelt Miriam und wirft noch einige getrocknete Kräuter in die Glut. Jakobea hat sich anscheinend ein wenig beruhigt. Sie seufzt tief, zwingt sich zu einem Lächeln und setzt ihre Erzählung fort ...

“Nun gut ... Ich ging also in der Hoffnung auf den Markt, dass all die Verkaufsstände und Düfte nach Gewürzen meine Stimmung aufhellen würden.

“Und dann ist auch noch Chalphi von dem da beeindruckt, von diesem Sohn!”, murmelte ich vor mich hin. Nicht einmal unterwegs hatte die Wut also von mir abgelassen.

Doch anders als erwartet, war Bethsaida an diesem Tag nicht so ruhig wie sonst. Es gab da einen kleinen Platz mit ein paar verstreuten Häusern an der Straße nach Tiberias. Niemand hielt sich gerne in dieser Gegend auf. Es war bekannt, dass sich hier oft zwielichtige Gestalten herumtrieben, Diebe, aber auch Bettler, die alle möglichen Leiden vortäuschten.

So trieben wir unseren Esel an. Doch als wir an der besagten Stelle vorbeikamen, hörten ich und die junge Dienerin, die mich begleitete, Schreie aus dieser Richtung. Das war nicht gerade vertrauenserweckend, doch war es unmöglich auszuweichen. Von da, wo wir waren, führte nur eine Gasse zum Markt. Also mussten wir weiter. Und da sahen wir an der Ecke eines halb verfallenen Gebäudes aus schwerem Lehm einen Menschenauflauf. Manche schrien, andere weinten. Recht zögerlich und beunruhigt konnten wir doch nicht anders, als uns der Szene zu nähern, die im Zentrum dieses ganzen Aufruhrs stand. Direkt neben mir war eine kleine Mauer. Ich stützte mich auf meinen Esel und kletterte hinauf, um besser zu sehen ... Hinter der Menge, die dort versammelt war, lag auf dem Boden eine Frau. Offensichtlich war sie gerade mit Steinen beworfen worden und auch Beschimpfungen prasselten auf sie herab ... Ein Kind gab ihr sogar einen Fußtritt. Die Frau lag völlig zerschlagen da, das Gesicht am Boden, den Körper zusammengekrümmt. Nach kurzer Zeit merkte ich jedoch, dass die Beschimpfungen und Steine nicht nur in ihre Richtung geschleudert wurden. Ein großer, weiß gekleideter Mann stand zwei Schritt von ihr entfernt. Er schien die Menge ebenso aufzuregen. Auf einmal sah ich ihn einen Arm zum Himmel erheben ...

“Wer unter euch”, rief er, alle anderen Stimmen übertönend, “wer unter euch hat nicht schon einmal eine Verfehlung begangen, etwas getan, das wir ablehnen, oder Lust gehabt, es zu tun? Wer? Das frage ich euch! Du Joshe, der du dich da hinter deinem Bruder versteckst? Und du, Levi? Du erhebst die Faust, aber was hast du gestern Abend in der Taverne hinter verschlossenen Türen gemacht, in der Dunkelheit der Nacht ... und auch du, Rachel ... Schau nicht weg! Glaubst du, dein Vater kennt nicht den wahren Grund für die Eile mit der du jeden Morgen so früh Wäsche waschen gehst? Ich sage euch, kein Einziger von euch ist rein genug, um dergestalt zuzuschlagen und zu richten.”

Es folgte ein langes Schweigen. Ich erwog, wegzugehen. Das konnte ja nur übel ausgehen. Doch da zeigte ein Mann mit dem Finger auf den Beschützer der Frau. “Und was machst du mit dem Gesetz, Rabbi? Das Gesetz ist dazu da, uns zu schützen und uns das Leben leichter zu machen. Es gibt uns das Recht, den zu bestrafen, der es verdient hat. Stehst du etwa über ihm?”

“Der Ewige ist das Gesetz ... und der Ewige lehrt uns zunächst einmal zu lieben. Das ist alles, was ich dir sage – weil es die einzige Antwort ist. Lass mich dir jetzt nur eine Frage stellen. Erinnerst du dich an eine junge Frau namens Batseba ... Wenn irgendwo ein Mensch eine Sünde begeht, so oft nur, weil sein Gegenüber ihm hilft, zu sündigen ... Du weißt das ...”

Der Mann, der den Finger ausgestreckt hatte, stand rechts, nicht weit von mir weg. Ich sehe noch, wie er bleich wurde, als er diese Worte hörte, obwohl sie in moderatem Tonfall gesprochen worden waren.

Auch ich muss im Übrigen genau in diesem Moment ganz blass geworden sein. Nun begriff ich endlich, dass dieser Rabbi, der die Frau verteidigte, niemand anders war als Meryems Sohn. Ich hatte gerade noch Zeit zu sehen, wie Er seiner Schutzbefohlenen half, aufzustehen ...

Dann kletterte ich von meiner Mauer und mein Esel begann zu brüllen, als wäre es seine Aufgabe, das drückende Schweigen zu brechen, das über der Menge lag.

Seinetwegen hat der Rabbi mich wohl auch bemerkt. Ich wollte so schnell wie möglich verschwinden. Aber die Füße meines Tiers waren wie blockiert ... Es blieb störrisch stehen. Was dann geschah, weiß ich nicht mehr genau. Mein Blick war wie vernebelt. Die Menge begann sich unter Gemurmel aufzulösen. Ich rief wohl nach Deborah, meiner jungen Dienstmagd, doch sie schien nicht mehr da zu sein. “Deborah!”, rief ich noch einmal etwas lauter. “Wir gehen!”

In diesem Moment sah ich Meryems Sohn, den Rabbi Jeshua, in seinem langen, weißen Gewand direkt vor mir stehen ... Ich lächelte. Ja, meine Freundinnen, meine Schwestern, ich habe gelächelt. Ich lächelte ihn heuchlerisch an! Weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte tun sollen. Weil ich von Angst erfüllt war, wütend und zugleich gebannt. Und er lächelte zurück. Ich werde diesen Moment nie vergessen. Da stand er, mit gesenkten Armen, mit seinem üppigen Haar, seinem Bart – doch vor allem war da sein Blick.

“Oh ... Jakobea ... Da bist du ja”, sagte er sehr sanft. “Ich habe mir schon gedacht, dass du schließlich zu mir kommen würdest.”

Es war unglaublich. Er sprach mit mir, als sei überhaupt nichts Schlimmes passiert, als sei er nie von der Menge beschimpft worden und als sei er ihr nie entgegengetreten. Er sprach zu mir, als sei er einfach von Sonnenlicht erfüllt. Ich weiß nicht warum, aber ich brach in Tränen aus und er nahm mich in seine Arme.

Zwischen zwei Schluchzern hörte ich einige Leute vor sich hin schimpfen. Ich weiß ... Das tat man als Frau nicht, einfach so in die Arme eines Rabbis zu sinken.

All das dauerte nicht lange. Ich richtete mich wieder auf und nachdem ich mich verneigt hatte, wie es sich gehört, wollte ich zurück zu meinem Esel. Was hätte ich dem Rabbi schon sagen können? Ich hätte auf jeden Fall gelogen ... Es tat mir bereits leid, dass ich einfach so grundlos in Tränen ausgebrochen war.

Ich schaute auf den Boden, auf die Hufe meines Esels, doch für den Bruchteil einer Sekunde fing ich wieder den strahlenden Blick von Meryems Sohn auf. Dieses Leuchten ... es war so beunruhigend! Zum Glück tauchte in diesem Moment die kleine Deborah wieder auf. Der Esel schien in besserer Verfassung zu sein. Sie hielt ihn ganz ruhig am Zügel. Ich fasste ihn auch. Ohne ein weiteres Wort rettete ich mich geradezu zurück zum Weg, der uns nach Hause führte. Es ging nicht mehr um Mehl für Fladen und auch um sonst nichts. Ich stammelte die erstbeste Entschuldigung, die mir einfiel, wohlwissend, dass Deborah sie nicht glauben würde. Dann hüllte ich mich in Schweigen.

Chalphi hatte mit Jakob und meinem anderen Sohn auf den Feldern gearbeitet. Sie bekamen nicht einmal eine Erklärung. Im Augenwinkel glaubte ich zu sehen, wie unsere Magd ihnen Zeichen machte. Sie sollten einsehen, dass es besser war, nicht in mich zu dringen. Den ganzen restlichen Tag richtete niemand auch nur eine Frage an mich.

Ich aber war völlig verwirrt. Schließlich kam der Abend. Ich hatte seit dem Morgen nichts gegessen und noch immer keinen Hunger. Schlafen konnte ich auch nicht. So ging das zwei oder drei Tage und Nächte, ich weiß es nicht mehr genau. Ich war stumm geworden, gerade noch in der Lage, kleine Arbeiten im Haus zu erledigen. Am Ende regte Chalphi sich auf. So schmerzhaft das auch war, ich war unfähig ihm zu erklären, was los war. Ich verstand es ja selbst nicht.

Ich sehe meinen Mann noch vor mir stehen, mit seinem breiten Stirnband aus braunem Leinen, schweißgebadet, das Gewand von Erde befleckt ... Er sah mich verzweifelt an.

“Was hat Er dir gesagt”, stieß er plötzlich hervor. “Du hast Ihn gesehen, nicht wahr? Leugne es nicht ... Ist es der Rabbi, der dich in diesen Zustand versetzt?”

Es waren meine ersten Tränen seit dem Ereignis von Bethsaida. Ich höre mich Chalphi noch antworten, ich wisse nicht, was mit mir los sei ... Und so war es auch.

So vergingen zwei weitere Tage. Wenn ich zuweilen versuchte, mir Klarheit zu verschaffen, endete das zwangsläufig mit dem Gefühl, meine Seele sei irgendwie verkleistert. Es stiegen die unterschiedlichsten und wirrsten Gefühle in mir auf. Doch zwischen allem, was mir durch den Kopf ging, drängte sich mir vor allem die Szene auf, in der Meryems Sohn die Frau beschützt hatte. Es war wie eine Obsession.

Wer war dieser Mensch, der so etwas wagen konnte? Kein anderer Rabbi hätte sich so verhalten. Wir wussten alle, wie es ausgehen musste, wenn eine Frau untreu war. Das war normal ...

Folglich sagte ich mir zu meiner Beruhigung, dass dieser Joseph, Sohn des Joseph, der sich nun Jeshua nennen ließ, eindeutig kein Rabbi sein konnte. Er war nur ein eingebildeter Betrüger. Also genau das, was ich immer gedacht hatte.

Und dann ... kam ein Morgen ... Es kam Der Morgen!

Ich hatte einen Korb in der Hand, um rund ums Haus Orangen zu sammeln. Chalphi und unsere beiden Söhne waren drüben auf dem Weg und versuchten, das Rad eines Karrens zu reparieren. Doch als ich um die Ecke des Anbaus bog, wo wir Werkzeug lagerten, sah ich zu meinem Erstaunen, dass sie sich in Wahrheit mit einer Gruppe von etwa zwanzig Männern unterhielten. Diese hatten Taschen dabei, wie Reisende oder gar Vagabunden. Was war da los?

Doch kaum hatte ich die Ansammlung bemerkt, als schon zwei Silhouetten daraus hervorstachen. Es waren Chalphi und Meryems Sohn ...

Als dieser sich mir näherte, verschlug es mir die Sprache ... doch ich konnte nicht umhin, mich vor ihm zu verneigen, trotz allem, was ich mir vorgebetet hatte. Was geschah da bloß? Ja, was geschah? Ich erwiderte sogar sein Lächeln. Chalphi war offenkundig eingeschüchtert von der Ankunft des Rabbis. Er wusste nicht genau, was er tun sollte. Als wir uns der Haustür genähert hatten, sah ich sogar, wie er sich auf den Boden warf, um ihm die Sandalen zu lösen und ihm anzubieten, aus einem Krug Wasser über seine Füße zu gießen. So war es Brauch, wenn ein Ehrengast eintraf.

Ich erinnere mich genau, dass ich zu zittern begann, als ich diese Szene beobachtete ... Vor allem, als der Sohn von Meryem seine Hand lange und sanft auf Chalphis kahle Stirn legte. Segnete er ihn etwa? Wie kam Chalphi zu dieser Ehre?

In diesem Moment bemerkte ich auch, dass der Rabbi ausschließlich Augen für ihn hatte. Er sah mich nicht einmal an, sprach nicht mit mir ... Ich existierte nicht!

Die beiden gingen ins Haus und unterhielten sich ziemlich lange. Ich folgte ihnen natürlich nicht. Es war klar, dass ich nicht erwünscht war und zu meinen Orangen zurückkehren sollte. Worüber wollte ich mich denn auch beklagen? Ihre beiden Väter hatten sich gekannt. Sie mussten sich einiges zu erzählen haben. Und außerdem mochte ich diesen Jeshua ja gar nicht ...

Weißt du, Miriam ... als ich, während ich zu meinen Bäumen ging, darüber nachdachte, spürte ich, dass diese Gedanken einen bitteren Nachgeschmack in mir hinterließen. Warum tat es mir fast weh, mir immer wieder einzureden, dass ich diesen Menschen nicht mochte? Als ich durch die Blätter hindurch meine Hand nach der ersten Orange ausstreckte, spürte ich einen heftigen Stich im Herzen. Was war nur mit mir los? Ich wäre so gerne auch drüben im Haus dabei gewesen ... Warum interessierte sich Meryems Sohn so sehr für Chalphi? So unerklärlich das auch war, ich durchlebte eine dieser Wellen grausamster Eifersucht ... Sie füllte mich völlig aus. Ich musste die vier Sprossen meiner kleinen Leiter heruntersteigen. Zu heftig war der Sturm in meinem Kopf und mein Herz war nur noch ein Abgrund.

“Warum bloß Chalphi und nicht ich?”, fragte ich mich hunderte Male pro Minute. Bin ich so unwichtig ... oder so hässlich?

Als ich Stimmen hörte, ließ ich meinen Korb zurück und näherte mich dem Haus. Die beiden Männer kamen gerade heraus. Chalphi, offensichtlich sehr bewegt, hatte die Arme rituell vor der Brust gekreuzt und hörte nicht auf, sich zu verneigen, als sei ihm soeben die größte Offenbarung zuteil geworden.

So ... jetzt würde der Rabbi endlich gehen und ich ... würde mit meiner komischen Krankheit und dem Haufen Widersprüchlichkeiten in mir zurückbleiben. So wäre die Begegnung wohl ausgegangen, wenn nicht ein kleines Ereignis dazwischengekommen wäre.

Ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, ging Meryems Sohn ums Haus herum und verletzte sich dabei plötzlich am Fuß mit der krummen Klinge eines alten Werkzeugs, das auf dem Boden lag.

Ich eilte sofort zu ihm. Sein Knöchel blutete ... Chalphi überhäufte ihn mit Entschuldigungen und warf mir einen fürchterlichen Blick zu, als sei ich dafür verantwortlich, dass er sich nun schämen musste. Die Worte, die der Rabbi zu ihm sagte, habe ich nie vergessen ... Und dabei schaute er endlich auch mich an.

“Lass doch, es ist nicht schlimm ... Mein Vater hat mich gelehrt, dass alles seinen Grund hat. Deine Frau wird es mit ein wenig Wasser säubern, wenn du erlaubst ...”

Im nächsten Augenblick saß der Rabbi auf unserer kleinen Gartenmauer und ich hatte schon seine Sandale geöffnet. Wenn ihr wüsstet, was ich dabei empfand, liebe Freundinnen ... Aber ihr wisst es natürlich. Jegliches Geräusch um mich herum war verstummt. Nicht einmal das Blöken unserer Schafe hörte ich mehr, obwohl es fast ein Dutzend waren ... Meine Seele entdeckte jene Art von Stille, die nur auf dem Grund eines tiefen Sees herrschen kann.

Doch all das war nichts, das kann ich euch sagen, nichts im Vergleich zu dem, was noch auf mich wartete ...

Noch heute bin ich überzeugt, dass nicht ich meine Hände führte. Sie gehorchten nicht mehr meinem Willen. Ich sah ihnen zu, wie sie einen kleinen irdenen Krug ergriffen und das Wasser sehr, sehr langsam auf den Fuß von Meryems Sohn gossen. Dann sah ich, wie sie in aller Ruhe das Gefäß auf den Boden stellten und den verletzten Knöchel zwischen ihre Handflächen nahmen. Ich sah, wie sie die Wunde streichelten, lange, sehr lange, als könne meine Haut das Blut aufsaugen, das noch immer floss.

Anscheinend riet Chalphi mir, meinen Schal zu benützen. Ich hörte es nicht ... Ich war völlig in meiner inneren Welt, der Fuß des Meisters zwischen meinen Händen war das einzig Wirkliche.

Ja, ich sage bewusst ... der Meister, weil dieser Name sich mir exakt in diesem Moment, ohne dass ich darüber nachdachte, mit einer Selbstverständlichkeit aufdrängte, die ich nicht mehr umgehen oder von mir weisen konnte.

Ich glaube, Tränen begannen sanft über meine Wangen zu rollen und meine Hände nahmen wieder den Krug, um noch etwas Wasser über den verletzen Knöchel zu gießen. Das Blut hatte schließlich aufgehört zu fließen, doch ich konnte noch immer nichts anderes tun, als den Fuß des Meisters weiter zwischen meinen Händen zu halten, als sollten sie ausdrücken, was meine versiegelten Lippen nicht sagen konnten.

Oh! Meine Schwestern ... Miriam, Salome ... Ich hätte in diesem Moment alles dafür gegeben, um diesen Fuß nicht mehr loslassen zu müssen. Ich hatte das Gefühl, ihn so gut zu kennen, ja, ihn wiederzuerkennen, als hätte ich die Erinnerung an ihn seit Ewigkeiten in den Tiefen meiner Seele getragen. Was war sein Geheimnis?

Die Rauheit seiner von den Steinen der Wege aufgeriebenen Ferse, seine geschwungene Form, seine Kraft, aber auch die unglaubliche Zartheit, fast Luftigkeit, die er ausstrahlte – all das ist noch in mir.

Während des endlosen Augenblicks, den all das dauerte, breitete meine Seele zum ersten Mal ihre Flügel völlig aus. Sie schien die ganze Szene von oben zu betrachten. Da war ich, kniend auf dem Boden, hielt mit beiden Händen den Fuß des Meisters fest und neigte meinen Kopf so weit zu Ihm, bis ich schließlich an Ihm lehnte.

Nach einer Weile bemerkte ich Chalphi ... Ich sah, dass er einige Schritte zurückgetreten war. Seine verstörte Art zeigte, dass er nichts von dem begriff, was geschah.

Ich hingegen war nicht in einem Zustand des Begreifens, wisst ihr. Ich schwebte einfach in einem Ozean aus Frieden, völlig erfüllt von einer Welle der Verehrung, von der ich bisher nicht einmal wusste, dass es sie gab.

Langsam glitt ich in meinen Körper zurück und da wagte es eine meiner Hände, die gesamte Fußsohle des Meisters zu umfassen. Und sie spürte darin, sie sah darin ... sein Land, mein Land, die Landschaft meiner Seele ... mit einer solchen Intensität!

Es war, als ob Tausende und Abertausende von Landschaften in mir dahinzogen und zwar ausschließlich sonnige Ebenen, weiße Vögel und Olivenbäume ... Welch eine Berührung mit der Schlichtheit!

Nur die Hand des Meisters selbst konnte mich aus diesem Zustand herausreißen. Ich spürte ihre Wärme auf meinem Nacken und richtete mich auf, geblendet von Licht. Meine Augen flossen über, ganz von selbst, ich konnte überhaupt nichts dagegen tun ... Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und da ich den höchst erstaunten Blick meines Mannes auf mir spürte, flüchtete ich sofort, ein paar Worte der Entschuldigung murmelnd, ins Innere des Hauses.

Was dann geschah, wie der Tag zu Ende ging, das weiß ich nicht mehr so recht. Ich war gleichsam abwesend ... Ein unbekannter Teil von mir war soeben in meiner Mitte zerrissen – unter Schmerzen und Ekstase erlebte ich eine Art Geburt.

Dieser Zustand der Gnade dauerte bis zum Morgen an. In Wellen bin ich wohl immer wieder daraus aufgetaucht, etwa so wie man aufwacht ... Oder sank ich umgekehrt immer wieder in den Schlaf, den wir Leben nennen? ...”

Im Schein des Feuers suche ich Jakobeas Blick. Vergeblich, denn sie hat sich während ihrer Erzählung nach und nach in ihren Schleier gehüllt. Nun leben wir schon etwa zehn Jahre hier zusammen und teilen alles. Doch es ist das erste Mal, dass ich sie so vom Anfang ihrer Erweckung erzählen höre.

Sie hat ihre Erinnerungen immer gern für sich behalten, sie eingeengt, verstümmelt, ja, manchmal sogar zerstört, durch eine Bemerkung die sie zu Boden warfen und unter einem Berg von Entschuldigungen und unverständlicher Scham begruben.

“Befreist du dich, meine Schwester?”, fragt Miriam sie. “Spürst du, wie unsere Seele sich erhebt, wenn es gelingt, ihr Inneres zu offenbaren?”

Unter ihrem braunen Schleier nickt Jakobea zustimmend. Mir fällt ihre Hand auf. Während sie mit den Fingern Linien in den Sand zieht, weiß ich mit einmal nicht mehr, ob es die Hand einer bereits vom Alter gezeichneten Frau ist, oder die eines ganz jungen Mädchens, das gerade Sinn und Richtung ihres Lebens skizziert.

Ja, so ist es ... Heute Abend, heute Nacht ist die Zeit aufgehoben. Wir sind darüber hinausgewachsen. Wir haben uns alle drei in ihrem Gold aufgelöst ...

Kapitel 2

Fortgehen ...

“So lernte ich den Meister also kennen, seht ihr ... oder eher, so erkannte ich ihn wieder, nach all der Verweigerung, Eifersucht, Auflehnung und Qual ...”

Jakobea wirft den Kopf zurück und seufzt tief. Ich spüre, wie erleichtert sie ist. Sie hat wohl eine harte Schale in ihrem Inneren aufgebrochen, vielleicht sogar ein schweres Schutzschild. Das ist ja auch, was der Meister in uns bewirken wollte ... unsere inneren Festungen einreißen, eine nach der anderen. Er wollte, dass wir ablegen, was nicht wirklich wir selbst sind, vor allem aber uns die letzten Widerstände nehmen, hinter denen sich unser Wesen versteckt.

Miriam scheint meine Gedanken gelesen zu haben, denn sie murmelt: “Wie jung, wie unreif ist doch jemand, der das Göttliche zu erreichen hofft, ohne durch das Menschliche gegangen zu sein ... Das muss man manchmal bis zu einem Punkt, an dem man fast darin versinkt.”

“Ja ... nun habe ich verstanden, dass sich hinter bestimmten Arten zu Schweigen häufig ein alter Stolz versteckt und zwar im Gewand von Demut oder Diskretion.”

Während Jakobea das sagt, schenkt sie uns ein breites, leicht wehmütiges Lächeln. Ihr Gesicht mit den regelmäßigen, doch strengen Zügen entspannt sich endlich. Nun kann ich im Schein der Flammen meinen Blick drauf ruhen lassen. Die Zweige, die Miriam ins Feuer geworfen hat, werden knisternd verschlungen. Ich finde Jakobea schön, schöner denn je. Nicht weil ihre Gesichtszüge perfekt wären, sondern weil heute, wie mir scheint, ein feiner Schleier aus Friede über ihnen liegt, der ihre Falten glättet und ihren Blick erleuchtet ... unendlich viel mehr als sonst.

Vielleicht ist es der Blick einer Reisenden, der eben erst klar wurde, dass sie sich hinsetzen und ihr Gepäck ablegen darf, um endlich auf den hinter ihr liegenden Weg zurückzublicken.

“Soll ich weitererzählen? Ich warne euch, am Ende werde ich noch Gefallen daran finden, von mir zu reden!”

Als einzige Antwort wirft Miriam ihr verspielt eine Muschel zu.

“Nach dem denkwürdigen Besuch des Meisters bei uns, wusste ich gleich, dass meine Tage, ja mein ganzes Leben – vielleicht gar unser Leben – nicht mehr dasselbe sein würde. Ich war tief erschüttert. Es war unfassbar. Mein Körper und meine Seele bebten und ich konnte nichts dagegen tun!

Chalphi war klug und gutartig genug, mich nicht nach meinem Verhalten zu fragen. Er hatte den Meister lange vor mir erkannt. Er wusste ... Er wusste aus innerer Erfahrung, in welche Verwirrung ein menschliches Herz stürzt, wenn ihm etwas gegenübertritt, das es völlig überragt, aber verspricht, es von seinem schmerzhaften Vergessen zu heilen.

Oh ... vom Vergessen geheilt werden! Während der Wochen und Monate, die auf meine Begegnung mit dem Meister folgten, dachte ich, aufgrund der Wirkung, die sein verletzter Knöchel auf mich hatte, dass diese Heilung schon vollzogen sei. Ich hatte das Licht gesehen, dessen war ich mir sicher. Ich empfand mich gesegnet unter allen Menschen. Es verging keine Woche, in der ich nicht danach trachtete, die Orte aufzusuchen, an denen Er sprechen sollte, um Ihn zu hören – manchmal umsonst, von den Gerüchten betrogen, dann wieder mit Erfolg, – doch nach stundenlangen Fußmärschen.

Ich muss sagen, dass Chalphi und meine beiden Söhne sich langsam um mein inneres Gleichgewicht sorgten. Sie hatten zwar schon vor mir gelernt, den Meister zu respektieren. Er hatte sie in seinen Bann gezogen, aber ihr Leben war dadurch nicht so infrage gestellt worden wie meines. Sie lebten im Angesicht der neuen Stimmung, die gerade an den Ufern des Sees aufkam, dennoch lebten sie nicht eigentlich darin.

“Ja, ... wir hören dem Rabbi gerne zu”, beteuerten sie bereitwillig. “Er tut uns gut, Er hilft uns.” Sie diskutierten auch über manches, was Er gesagt hatte, vor allem, wenn es provokant war ... aber nichts darüber hinaus.

Für mich hingegen war es keine Kopfsache ... Es ging mir nicht ums Argumentieren. So sehr ich die Ablehnung kultiviert hatte, so sehr verfiel ich jetzt der völligen Faszination. Ich erinnere mich, wie Jakob sich eines Morgens über mich und “meinen Rabbi”, wie er ihn nannte, lustig machte. Das stürzte mich in eine blinde Wut, eine Wut, die im Vergleich zu diesem harmlosen Spaß völlig übertrieben war.

Wir waren gerade dabei, auf einer Matte, die ich vors Haus gelegt hatte, zu essen, als Jakob rief, seiner Ansicht nach würde ich wohl bald mit der Gruppe dieser leicht suspekten Frauen um den See ziehen, die dem Rabbi auf Schritt und Tritt folgten ... Mit “leicht suspekt” war eine Frau mit schlechtem Ruf gemeint, das begriff ich sofort, denn das war es ja, was ihnen bekanntlich immer wieder nachgesagt wurde.

Ich stand abrupt auf. Mein Sohn entschuldigte sich auf der Stelle. Er habe mich nicht beleidigen wollen. Doch da mischte Chalphi sich höchst ungeschickt ein. Er meinte, nach seinem Dafürhalten sei ich in eine blinde Abhängigkeit geraten, eine Frömmelei, die sich niemand erklären könne und die dazu führte, dass ich meine wichtigen familiären Aufgaben vernachlässigte. Die Mahlzeiten waren nicht mehr zur rechten Zeit fertig, der Garten war ungepflegt und ich fehlte sogar bei manchen unserer rituellen Gebete, ein Versäumnis, das er äußerst gravierend fand.

Mir fehlten die Worte, um auf all das zu antworten, denn es gab keine Worte in mir, die den Zustand erklären konnten, in dem ich mich befand. Heute wird mir klar, dass mein gesamtes Wesen in eine permanente Erregung geraten war, gegen die ich machtlos war.

Ich betete meinen Rabbi mit demselben Feuereifer an, mit dem ich einst neidisch und krankhaft eifersüchtig gewesen war. Seht ihr, meine Freundinnen, das große Problem war, dass ich noch immer keine stichhaltigen Gründe hatte. Von dem, was ich als Nacht meiner Seele bezeichnen würde, war ich schlagartig zum hellen Tag übergegangen, ohne die geringste Dämmerung.

Ich hatte einen Fuß berührt, einen einzigen Fuß ... und das Licht der Sonne hatte mich eingehüllt und mitgenommen. Das war alles, was ich sagen konnte. Und ich war überzeugt davon, dass der Meister mich auserwählt und die Macht hatte, mich von all meinen Qualen zu heilen ... und auch, dass Er seine Verletzung deshalb selbst herbeigeführt hatte.”

“Denkst du denn nicht, dass genau das passiert ist, Jakobea?”

Diese Frage kommt ganz spontan über meine Lippen.

“Ich erinnere mich, dass der Meister uns mehrfach gesagt hat, dass kein einziges Ereignis in seinem Umkreis geschieht, ohne dass Er es aus einem bestimmten Grund so wollte. Ich glaube, dass manche, sogar aus seinem Kreis, Ihn eingebildet fanden, weil Er etwas derartiges behauptete. Unterschwellig suggerierte es ja fast, dass Er die Weltordnung lenkte.