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Der Auftakt der großen zweibändigen Familiengeschichte von Bestselleraturin Brigitte Riebe. Ein bewegender Roman über eine junge Frau, die ihr altes Leben hinter sich lässt, über die Kraft der Natur und das Glück, das in den einfachen Dingen liegt. Trier, 1920: Als die Fabrikantentochter Johanna Fuchs einen Bauernhof erbt, fällt sie aus allen Wolken. Warum hat ihr niemand aus der Familie von ihrer Tante Lisbeth erzählt, die offenbar bis zu ihrem Tod zurückgezogen im Eifeldorf Altenburg lebte? Und wieso hat sie ausgerechnet Johanna zu ihrer Alleinerbin gemacht? Als die junge Frau den Hof in Augenschein nimmt, ist sie überwältigt von dem idyllischen Fleckchen Land und beschließt gegen den Willen ihrer Eltern, dort zu bleiben. In den verwunschenen Wäldern der Umgebung fühlt sie sich geborgen, entwickelt ein Gespür für die Tiere, die hier leben. Doch dann beginnen die aufziehenden politischen Ereignisse, auch das kleine Eifeldorf zu verändern, das für sie zur Heimat geworden ist … Band 2, «Der Ruf der Nachitgall», erzählt die Geschichte von Johanna Fuchs und ihrer Familie weiter.
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Seitenzahl: 514
Brigitte Riebe
Roman
Vom einfachen Leben in bewegten Zeiten
Trier, 1920: Als die Fabrikantentochter Johanna Fuchs einen Bauernhof erbt, fällt sie aus allen Wolken. Warum hat ihr niemand aus der Familie von ihrer Tante Lisbeth erzählt, die offenbar bis zu ihrem Tod zurückgezogen im Eifeldorf Altenburg lebte? Und wieso hat sie ausgerechnet Johanna zu ihrer Alleinerbin gemacht? Als die junge Frau den Hof in Augenschein nimmt, ist sie überwältigt von dem idyllischen Fleckchen Land und beschließt gegen den Willen ihrer Eltern, dort zu bleiben. In den verwunschenen Wäldern der Umgebung fühlt sie sich geborgen, entwickelt ein Gespür für die Tiere, die hier leben. Doch dann beginnen die aufziehenden politischen Ereignisse auch das kleine Eifeldorf zu verändern, das für sie zur Heimat geworden ist …
Brigitte Riebe ist promovierte Historikerin und arbeitete zunächst als Verlagslektorin. Sie hat mit großem Erfolg zahlreiche Romane veröffentlicht, in denen sie die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte lebendig werden lässt. Ihre Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in München.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2023
Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Redaktion Susann Rehlein
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg
Coverabbildung Abigail Miles/Arcangel; Stefan Ziese/akg-images
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-00754-3
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
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Für Marie
Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern.
Giuseppe Tomasi di Lampedusa (1896–1957)
Familie Fuchs
Matthias Fuchs, Tabakfabrikant
Dorothea Fuchs, seine Frau
Martha, seine Schwester
Ottilie, seine Schwester
Gertrud, seine Schwester
Lisbeth, seine Schwester ✝
Severin, Sohn ✝
Heinrich oo Greta, Sohn, Nachfolger von Matthias Fuchs
Georg oo Meta, Sohn, Kriminaler
Christoph, Sohn, Georgs Zwillingsbruder, Journalist
Johanna, Tochter
Jupp Sünner, Braumeister, Gretas Onkel
Familie Nußbaum
Martha Nußbaum, geb. Fuchs
Paul Nußbaum, Arzt, ihr Ehemann
Sophie Nußbaum, Jura-Studentin, Tochter
Jakob Nußbaum, Arzt, Sohn
Kätt Schröder, Johannas Nachbarin
Gritt und Anton, ihre Kinder
Eva Berg, Hebamme, Kätts Schwester
Wellem Schröder, Bürgermeister und Wirt des «Eifelglücks», Kätts Schwiegervater
Angelika Schröder, genannt Lika, Tochter von Wellem Schröder
Marc Degré, Wildhüter
Bernhard Wimscheid, Lehrer
Karl Auler, Waldarbeiter
Peter Michael Streit, Schreiner
Familie Lanners
Ottilie Lanners, geb. Fuchs
Jean Lanners, ihr Ehemann, Weinhändler
Pit, Sohn
Léini, Tochter
Die Füchsin war zurückgekehrt.
Sie hörte ihr gutturales Locken vor dem Fenster. Wahrscheinlich war sie gekommen, um ihr die neuen Welpen zu zeigen, wie auch schon die Jahre zuvor. Eine berührende Vertrauensgeste, die sie sehr zu schätzen wusste, denn wie scheu Füchse eigentlich waren, wusste sie nur zu genau. Doch schon die Mutter der Fähe war zu ihr gekommen und zuvor deren Mutter, ein unsichtbares Band zwischen Tier und Frau, das sich von Generation zu Generation weiterspann und schließlich ihrem Haus den Namen eingebracht hatte.
In anderen Zeiten wäre sie nun aufgestanden und zu ihr hinausgegangen, um ihr etwas Futter für die Kleinen anzubieten, doch dazu war sie schon viel zu schwach. Das Fieber, das seit drei Tagen und drei Nächten in ihr wütete, hatte sie fast aufgezehrt. Sie hatte sich angesteckt, als die anderen im Dorf schon genesen waren. Oder gestorben. Es fühlte sich an, als würde die Krankheit in ihr einem letzten lodernden Höhepunkt entgegenstürmen, bevor sie daran verbrannte.
Auch sie würde sterben.
Ihr Hund wusste es, versteckte sich in der Scheune, als wollte er dem letzten Abschied trotzen.
Sie wusste es auch, seitdem heute die erste Morgendämmerung ins Zimmer gekrochen war und ihr Atem so rasselnd wurde, aber sie hatte keine Angst davor, denn sie war dem Tod schon oft begegnet.
Die Dinge waren geregelt.
Wie sie das Erbe aufnehmen würde?
Sie hatte dafür gesorgt, dass sie nicht alles auf einmal verstand. Langsam sollte die Erkenntnis reifen, ihr zeigen, was die nächsten Schritte sein könnten.
Der Laut der roten Fähe draußen hatte sich verändert, klang quarrend nun und rau, so wie sie als hilfloser Welpe vielleicht nach ihrer Mutter gerufen hatte. Auch sie spürte schon den Tod, nahm wahr, wie ihre alte Freundin sich mehr und mehr von ihr entfernte.
Das Haus der Füchsin würde nicht lange verlassen bleiben, darauf hatte sie gesetzt, eine starke Hoffnung, die ihr diese letzten Stunden leichter machte. Die Tiere würden sich schnell an die Veränderung gewöhnen, ebenso wie ihr Garten, in dem sie so viele glückliche Stunden verbracht hatte. Altes verging, Neues war am Sprießen – der ewige Kreislauf des Lebens, in wie vielen verschiedenen Facetten war sie ihm in dieser verwunschenen Landschaft schon begegnet …
Kein Hunger mehr, auch der entsetzliche Durst war verschwunden, doch dass die Freundin ihr die aufgesprungenen Lippen immer wieder mit einem Gemisch aus Honig und Butter benetzte, war tröstlich.
«Fahr und hol sie her», flüsterte sie schließlich mit letzter Kraft. «Zeig ihr, wer ich gewesen …»
Noch ein Atemzug, dann fiel ihr Kopf zur Seite.
Vor dem Haus begann die Füchsin laut zu keckern.
Trier, April 1920
Johannas Augen wurden groß, als sie die Herrlichkeiten erblickte, die auf ihrem Bett ausgebreitet waren.
«Für mich?», fragte sie überwältigt. «Das alles?»
Greta, ihre Schwägerin in spe, kicherte vergnügt.
«Mir wäre das Kleid doch viel zu eng. Und in den Girdle mit den Strapsen passt kaum meine Hand.»
«Aber das muss doch ein Vermögen gekostet haben – Greta, du hast eindeutig den Verstand verloren!»
«Papperlapapp! Onkel Jupp ist immer großzügig, weil er Mama und mich unterstützen will. Außerdem gab es in den letzten Kriegsjahren nichts Neues zum Anziehen, und du wirst schließlich nur einmal im Leben großjährig. Da sollst du deine Schönheit ruhig zeigen!»
«Und ich war schon unglücklich, dass Papa eure Verlobung und meine Geburtstagsfeier auf einen Abend zusammengelegt hat. Aber jetzt bin ich glücklich darüber, Greta, so, so glücklich!»
Johanna griff nach der hellen Stola, schlang sie sich um den Hals und tanzte ausgelassen durch ihr Zimmer.
«Da werden sie Augen machen, diese wohlhabenden Schnösel, die Papa eingeladen hat, damit sein Töchterchen bloß nicht als alte Jungfer endet.» Johanna wusste, dass einige der begehrtesten Junggesellen Triers unter den Gästen sein würden, dafür hatte ihr Vater Matthias Fuchs gesorgt: Justus Beck, der Apothekersohn, Olaf Feuerstein, dessen Vater die Maschinenfabrik gehörte, und Peter Resch, der Angeber mit der großen Ziegelei. Sie war stehen geblieben. «Staunen sollen sie, meinetwegen sogar geifern. Mir macht es nämlich Spaß, sie so richtig zappeln zu lassen. Denn soll ich dir ein Geheimnis verraten? Von denen will ich ohnehin keinen.»
«Weil du in einen anderen Mann verliebt bist?», fragte Greta schwärmerisch. «Oder vielleicht sogar schon heimlich versprochen?»
«Vergiss es. Das hieße doch nur, von der väterlichen Bevormundung in die eines Ehemanns überzugehen, und dazu habe ich wenig Lust …»
«Nicht alle Männer sind so, Johanna.» Gretas Gesicht hatte sich leicht gerötet.
Wie ein Sahnebaiser sah sie aus, alles an ihr war hell und blond und weich, nichts Hartes, Sperriges gab es an diesem jungen Frauenkörper, der wie geschaffen für die Mutterschaft schien. Ein üppiger Busen, den das lichtblaue Musselinkleid umspielte, runde Hüften, wohlgeformte Waden, dazu überraschend zarte Hände und Füße – etwas zum Kuscheln, zum Anlehnen, zum Liebhaben. Kein Wunder, dass Johannas Bruder Heinrich der Brauerstochter Greta auf Anhieb verfallen war. Nach seiner Rückkehr aus Köln vor über einem Jahr hatte es für ihn kein anderes Thema mehr gegeben. Eigentlich war er ja im Auftrag der väterlichen Tabakfabrik dorthin gereist, um den Kontakt mit den wichtigsten Gasthäusern und Bierstuben zu intensivieren, doch das trat für ihn rasch in den Hintergrund, so hoffnungslos verliebt war er. Wann immer es ihm möglich war, hatte Heinrich seitdem die quirlige Stadt am Rhein besucht, bei Familie Sünner Kaffee und Likör getrunken und schließlich bei Gretas Onkel Jupp formvollendet um Gretas Hand angehalten.
Das Ja von Jupp Sünner, seit dem frühen Tod seines Bruders Ersatzvater für Greta, war prompt erfolgt, gepaart mit der Zusage einer stattlichen Mitgift, die die Trierer Fabrikantenfamilie Fuchs ihrerseits erfreut zur Kenntnis genommen hatte. Eine gute Partie, die ihren Sohn zudem glücklich machte – so etwas hatten sich Matthias und Dorothea für ihren schüchternen Zweitältesten immer gewünscht, der so lange im Schatten seines großen Bruders Severin gestanden hatte. Dass Greta mehr als einverstanden war, hatte Heinrich längst gewusst. Seine starke Kurzsichtigkeit, mit der er als Heranwachsender gehadert hatte, weil sie ihn anderen gegenüber scheu und unsicher machte, war ihm im Großen Krieg zugutegekommen. Ausgemustert, da ungeeignet für den Dienst an der Waffe, waren Heinrich die zermürbenden Grabenkämpfe an der Westfront erspart geblieben. Severin, den strahlenden Erstgeborenen der fünf Geschwister, hatten sie das Leben gekostet und die jüngeren Zwillinge Georg und Christoph körperlich wie auch seelisch schwer versehrt. Immerhin hatten die beiden überlebt – zwei Söhne von vieren, zusammen mit Heinrich, der nicht gekämpft hatte, sogar drei, das war mehr, als die meisten Trierer Familien für sich verbuchen konnten.
Aber hatte das Haus Fuchs nicht seit jeher zu den Gewinnern gezählt? Schon vor dem Großen Krieg waren die Geschäfte gut gelaufen, weil Seniorchef Matthias Fuchs die Produktion von Zigarren und Pfeifentabak rechtzeitig auf die modernen Zigaretten umgestellt hatte. Dann wurden die jungen Männer reihenweise eingezogen, und es gab kaum einen deutschen Soldaten, der nicht die preiswerte Hausmarke Ponte geraucht hatte. Die Umsätze waren damit auch in den Kriegsjahren konstant geblieben, während andere Gebrauchsgüter schwere Einbußen verbuchen mussten. Rauchen beruhigte und entspannte und, was wohl am wichtigsten war, es vertrieb den Hunger, zumindest eine Zeit lang. Zigaretten waren damit als Tauschware ideal.
«Ich weiß, Greta», lenkte Johanna ein. «Du heiratest ja schließlich meinen sanften, gewissenhaften Bruder Heinrich, der dir sicherlich jeden Wunsch von den Augen ablesen wird – vorausgesetzt, er hat nicht wieder seine Brille verlegt, denn ohne die ist mein Bruder leider blind wie ein Maulwurf.»
«Habe ich schon selbst erlebt. Und dann finde ich meinen Henry immer ganz besonders süß.»
«So nennst du ihn – Henry?» Jetzt schmunzelte Johanna.
«Henry, so hieß ein schottischer Dudelsackspieler der britischen Besatzungssoldaten, der wohl ein Auge auf mich geworfen hatte. Heinrich hat mich vom ersten Moment an an ihn erinnert – aber das darfst du ihm natürlich niemals verraten.»
«Ich schweige wie ein Grab», versicherte Johanna. «Aber jetzt halte ich es kaum noch aus – darf ich endlich deine wunderbaren Mitbringsel anprobieren?»
«Kumm, loss mer fiere», sagte Greta. «Jetzt feiern wir – also nix wie runter mit deinen Plünnen!»
Johanna war prüde erzogen worden, Sittsamkeit sei wichtig für das einzige Mädchen unter einer stattlichen Brüderschar, wie ihre Mutter Dorothea stets betont hatte. Sich jetzt vor Heinrichs Zukünftiger auszuziehen, machte ihr jedoch nichts aus, denn bei deren freundlicher Natürlichkeit fühlte es sich ganz selbstverständlich an. Also legte Johanna zunächst ihr blaues Kleid mit dem weißen Matrosenkragen ab, dann die Baumwollstrümpfe, schließlich auch das Hemdhöschen, bis sie nackt vor ihr stand.
«Erst den Seidenslip», kommandierte Greta, und Johanna gehorchte. «Darüber kommt dann der Girdle – obwohl du den ja eigentlich gar nicht bräuchtest, so rank und schlank, wie du bist.»
«Und die Seidenstrümpfe halten wohl von selbst, ganz ohne Strapse?»
«Auch wieder wahr. Das edle Satin steht dir, ich muss schon sagen, oh, là, là! Richtig schade, dass es außer mir keiner zu sehen bekommt …»
«Du bist mir ja vielleicht eine!» Johanna drohte ihr spielerisch. «Bislang dachte ich, Heinrichs Braut sei züchtig und sittsam.»
«Von wegen!», sagte Greta bedeutungsvoll.
«Soll das heißen, ihr habt bereits …»
«Haben wir», flüsterte sie, und ihre Augen begannen zu funkeln.
Johanna hatte inzwischen auch den Büstenhalter angezogen, ein zartes Gebilde aus cremefarbener Spitze.
«Und – ist es wirklich so schön, wie sie in den Romanen schreiben?», fragte Johanna leise und wurde ein wenig rot dabei. «Mama ist mir die Antwort schuldig geblieben, als ich sie danach gefragt habe. Das hat Zeit bis zu meiner Hochzeit, hat sie gesagt – als ob wir noch im achtzehnten Jahrhundert leben würden!»
«Ja, wunderbar», erwiderte Greta mit Nachdruck. «Manchmal nahezu überwältigend. Aber es muss eben der Richtige sein. Achte darauf, wie ein Mann küsst, daran erkennst du schon eine ganze Menge. Es ist wie bei einer guten Bonbonniere: Du fängst ganz bescheiden mit einer Praline an, dann kommt die zweite, schließlich die dritte – und auf einmal würdest du am liebsten die ganze Schachtel leer essen.» Sie lächelte verschmitzt. «Pass bloß auf, Johanna: Liebe kann richtig süchtig machen …»
«Und jetzt das Kleid?» Johannas Stimme bebte.
«Unbedingt!»
Cremefarbene Seide glitt über ihre Haut, fühlte sich kühl und leicht an. Ihre Hände tasteten über die goldenen Pailletten, die unter der Brust zu einer Art Mandala zusammenliefen. An den Knien spürte sie die weichen Fransen, die bei jeder Bewegung mitschwangen.
Der mannshohe Ankleidespiegel warf ein Bild zurück, das Johanna vollkommen unbekannt vorkam. Der großzügige V-Ausschnitt ließ ihren Hals länger wirken, zartes Lamégespinst umhüllte die Oberarme. Creme und Gold harmonierten perfekt mit ihrer hellen Haut und den rotblonden Haaren, ließen sie feminin und elegant zugleich aussehen. Das war nicht mehr das dürre Mädchen, das vor Kurzem mit Ach und Krach die private Wirtschaftsschule absolviert hatte – mit leicht provokantem Lächeln starrte ihr eine schlanke junge Frau entgegen, attraktiv und selbstbewusst, bereit, ins Leben zu tanzen …
«Hinreißend!», kommentierte Greta, die lässig aus dem Sessel aufgestanden war, um alles aus der Nähe zu betrachten. «Und wie für dich gemacht. Onkel Jupp hat einfach Geschmack! Jetzt die hellen Mary-Jane-Schuhe, auf diesen Absätzen kannst du die ganze Nacht durchtanzen. Ich hätte da übrigens noch eine weitere Überraschung – sozusagen als Tüpfelchen auf dem i …»
Sie ließ ein nachtblaues Samtetui aufschnappen.
«Was ist das denn?» Johanna keuchte auf.
«Vergoldete Skarabäen, zu Ohrgehängen verarbeitet. Hat Onkel Jupp von seiner letzten Ägyptenreise mitgebracht.»
«Ägypten!», sagte Johanna verträumt. «Das ist ja wie im Märchen. Meine Eltern haben es nicht weiter als zum Comer See gebracht …»
«Mama wollte sie nicht tragen», fuhr Greta fort. «Zu auffällig für ihren Geschmack, da sind sie bei mir gelandet. Aber ich glaube, dir würden sie viel besser stehen. Ich darf doch mal?»
Greta löste die kleinen Perlen aus Johannas Ohrlöchern und fädelte stattdessen geschickt die Bügel durch. Dann trat sie einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten.
«Passt», sagte sie lächelnd. «Überzeug dich selbst, du aparte Schönheit! Der Skarabäus steht übrigens für Neubeginn, obwohl er ja eigentlich ein Mistkäfer ist. Aber die Alten Ägypter sahen in ihm den Ursprung allen Lebens und haben ihn sehr verehrt. Weiß ich alles von Onkel Jupp, dem wandelnden Lexikon, Professor hätte der werden sollen und nicht Bierbrauer! Ich könnte ihm stundenlang zuhören, wenn er von seinen Reisen erzählt.»
Verzückt starrte Johanna in den Spiegel.
«Ein Traum! Absolut einzigartig. Aber leider kommen sie mit diesen kindischen Flechtschnecken gar nicht richtig zur Geltung …» Sie schaute zu Greta. «Du hast es gut mit deinem kurzen Bubikopf …»
«Der ist auch ungeheuer praktisch. Nie mehr stundenlang warten, bis die Haare endlich trocken sind.»
«Das will ich auch», verkündete Johanna entschlossen. «Und zwar sofort!»
Sie löste die Haarklammern. Zwei dicke rotblonde Zöpfe fielen bis über die Brust.
«Jetzt noch zum Friseur?» Greta zog die Stupsnase kraus. «Das könnte knapp werden. Das Personal klappert unten schon mit dem Geschirr, hörst du? Das Büfett dürfte inzwischen fertig sein. Und der Blumenschmuck ist auch bereits angeliefert. Schließlich beginnt das Fest in wenigen Stunden …»
«Wer redet denn vom Friseur?» Johanna ging zur Kommode, öffnete die oberste Schublade und holte eine Schere heraus. «Mamas Geschenk zum letzten Weihnachtsfest, weil sie die Hoffnung nicht aufgeben will, ich könnte irgendwann doch mit Handarbeiten anfangen. Wird wohl ein Traum bleiben. Abschneiden, Greta, runter mit der Wolle!»
«Aber ich bin doch gar nicht vom Fach …»
«Egal! So genau sieht man das bei meinen Locken ohnehin nicht. Also bis zum Kinn und keinen Zentimeter länger!»
Vor dem Großen Krieg waren die Feste in der Villa Fuchs legendär gewesen. Während Firmenchef Matthias zunächst darauf bestanden hatte, nach außen hin Bescheidenheit zu demonstrieren, lag seiner Frau Dorothea, die aus Baden-Baden eingeheiratet hatte, das Opulente deutlich mehr. Eine attraktive Erscheinung mit ihrer dunklen Haarfülle, der milchweißen Haut und hellblauen Augen, war sie mit gerade zwanzig zum ersten Mal Mutter geworden. Doch trotz einer rasch wachsenden Kinderschar wollte Dorothea nicht nur weiterhin aktiv am gesellschaftlichen Leben der Stadt teilhaben, sondern diesem auch ihren ganz persönlichen Stempel aufdrücken. Was wäre dazu geeigneter gewesen als opulente Feierlichkeiten, bei denen die Damen ihre prunkvollen Abendgarderoben präsentieren konnten, während sich die Herren elegant in Frack und Zylinder zeigten?
Nach anfänglicher Zurückhaltung hatte Matthias Fuchs seine Einwände nach und nach aufgegeben. Er ließ seine fünfzehn Jahre jüngere Frau ganz nach ihrem Gusto walten, begriff er doch, wie eng sich Nachbarn und Geschäftsfreunde durch solche Veranstaltungen an die Firma binden ließen. Mehr als zwei Jahrzehnte lang hatte es im Karneval aufwändige Kostümfeste gegeben, sommerliche Soireen und später im Jahr herbstliche Erntedank-Banketts sowie spektakuläre Silvesterfeiern mit Feuerwerk. Alle Welt riss sich geradezu um eine Einladung. Wer in der Fabrikantenvilla Fuchs ein und aus ging, der gehörte in Trier dazu.
Das große Anwesen am Ende der belebten Saarstraße bot die besten Voraussetzungen. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts von einem namhaften Architekten erbaut und von Matthias Fuchs bald nach der Eheschließung erworben, besaß das Haupthaus zwei Stockwerke mit hohen, lichten Räumen sowie eine Mansarde mit Kammern für Dienstboten. Neu hinzugekommen war der zweigeschossige Wintergarten, der an den Grünen Saal im Erdgeschoss grenzte und mit seinen Orangen- und Zitronenbäumchen mediterranes Flair verströmte. Im Parterre lagen auch Wohnraum, Esszimmer und Bibliothek sowie die große Küche mit der Speisekammer, ausreichend für den täglichen Bedarf der Familie. Wurde jedoch wie heute eine Vielzahl an Gästen erwartet, wich man für die Vorbereitungen in den lang gezogenen Wirtschaftsbau im Nutzgarten aus, der tief unterkellert war und gute Kühlmöglichkeiten für leicht Verderbliches bot. Unweit davon stand das ehemalige Kutscherhäuschen, in dem Köchin Hilde Weyrand mit ihrem Mann Gustav wohnte, der im Garten mit anpackte, wenn eine tüchtige Hand gebraucht wurde, vor allem jedoch als Chauffeur für die beiden Automobile zuständig war, den Vorkriegs-Dixi aus Thüringen und den Mercedes 500, der erst jüngst angeschafft worden war.
Die Eheleute schliefen im ersten Stock mit direkt angrenzendem Bad; hier lag auch das häusliche Büro des Fabrikanten, in dem sich manches besprechen ließ, was nicht für fremde Ohren gedacht war, sowie Dorotheas Boudoir, das die Kinder nur nach Anklopfen betreten durften, ein kleiner Raum mit Seidentapete, Sekretär und einer gemütlichen Récamiere. Im Stockwerk darüber befand sich neben zwei Gästezimmern und einem weiteren Bad das «Reich der Jugend», wie Matthias Fuchs zu sagen pflegte, zwei große, nebeneinander liegende Zimmer, oft in heilloser Unordnung, als noch alle vier Söhne unter dem elterlichen Dach gelebt und ihrer kleinen Schwester mit ihren Streichen bisweilen das Leben schwer gemacht hatten. Allerdings war Johanna nicht wesentlich ordentlicher und hätte, was das betraf, ebenfalls spielend als Junge durchgehen können. In männlicher Gesellschaft egal welchen Alters fühlte sie sich wohl, während sie gleichaltrigen Mädchen gegenüber stets ein wenig misstrauisch war. Greta war eine Ausnahme. Bei anderen gingen ihr die typisch weiblichen Eifersüchteleien auf die Nerven, ebenso wie Getratsche hinter dem Rücken, während ins Gesicht freundlich getan wurde. Trotzdem gab es sie – die Sehnsucht nach der besten Freundin, mit der man alles teilen konnte.
Nach Severins Tod war nur Christoph hier wohnen geblieben, der Sensiblere der Zwillinge, der für den Trierischen Volksfreund schrieb, während sein Bruder Georg, gerade frischgebackener Kriminalassistent, eine kleine Bleibe in der Brückenstraße angemietet hatte. Heinrich stand als Juniorchef eine Firmenwohnung auf dem Fabrikgelände in Moselnähe zu, in die er seine Greta jedoch nicht holen wollte, er spekulierte vielmehr auf das gemütliche Haus mit kleinem Garten nahe den ehemaligen Barbarathermen, das einer Kriegerwitwe gehörte, die er zum Verkauf allerdings erst noch überreden musste.
Der Krieg mit seinen immer strikteren Notverordnungen und den fürchterlichen Bombenangriffen, die Trier wie kaum eine andere Stadt im Deutschen Reich in Angst und Schrecken versetzt hatten, war ein jäher Einschnitt für die gesamte Stadt gewesen. Wer dachte noch an Feiern, wenn die jungen Männer reihenweise auf dem Schlachtfeld verbluteten oder als seelische Wracks aus den Schützengräben zurückkehrten und Brot mit Sägespänen versetzt werden musste? Dazu kam ab 1918 jene unheimliche Fieberseuche, die Jung wie Alt von heute auf morgen überfallen konnte und innerhalb weniger Tage dahinsiechen ließ. Spanische Grippe, so wurde sie genannt, und ob sie nach zwei großen Wellen und unzähligen Todesopfern für immer besiegt war, blieb weiterhin fraglich.
Entbehrungsreiche Zeiten lagen also hinter allen, und obwohl nun seit zwei Jahren endlich offiziell Frieden herrschte, wollte sich der ersehnte Aufschwung noch nicht einstellen. Schwer lasteten die Reparationsforderungen der Alliierten auf dem besiegten Deutschland; in vielen linksrheinischen Städten wie auch in Trier hatte man sich noch immer nicht an die Anwesenheit der verhassten französischen Besatzungsmacht gewöhnt. Umso wichtiger war es Johannas Mutter Dorothea Fuchs, mit dieser Doppelfeier, dem ersten Fest im Hause Fuchs seit dem Krieg, ein Zeichen zu setzen.
Im Vergleich zu früheren Festivitäten waren bedeutend weniger Gäste eingeladen worden, neben der Familie nur rund zwanzig der wichtigsten Honoratioren, selbstredend mit Gattin. Doch angesichts der umfangreichen Sippe, die aus Wittlich, Köln und Mainz angereist war, würde das Haus trotzdem voll werden. Zur Vorbereitung war es tagelang von den beiden Dienstmädchen Lina und Auguste von oben bis unten mit Soda und Natron geschrubbt worden. Jetzt glänzten die Parkettböden wie neu, und durch die gewienerten Fenster fiel die Frühlingssonne herein. In den makellos sauberen Scheiben würden sich schon bald auch die Lichter der zwei großen Kronleuchter spiegeln, die den Grünen Saal abends festlich illuminierten. Ein alter Geschäftspartner aus Holland, der sich nicht darum scherte, dass die Deutschen nach wie vor als Feinde von halb Europa galten, hatte für eine große Fuhre frischer Tulpen gesorgt, die nun alle verfügbaren Vasen und Pokale schmückten.
Das Büfett war längst nicht so üppig wie in Vorkriegszeiten, sündteure Raffinessen wie Austern, Kaviar oder Gänseleberpastete fehlten ganz, doch angesichts der reichlichen Auswahl an Fleisch, Fisch, Salaten und Käse würde trotzdem keiner hungrig bleiben. Da die Hausherrin sich Tanz gewünscht hatte, war das Trio Rösner engagiert worden, das mit Gitarre, Akkordeon und Kontrabass aufspielen sollte. Es hieß, sogar Oberbürgermeister Albert von Bruchhausen würde heute nebst Gattin der Einladung folgen, ein großer Moment für die Fabrikantenfamilie Fuchs.
Und dann war es endlich so weit …
Aufgeregt hielt Johanna noch einmal kurz vor dem Ankleidespiegel inne, nachdem die Mutter sie von unten gerufen hatte, und zupfte die helle Stola zurecht. Den Nachmittag über hatte sie ihr Zimmer nicht verlassen, starkes Kopfweh vortäuschend, damit keiner ihre Verwandlung zu früh entdeckte. Nur Greta, die für den kessen Bubikopf verantwortlich war, und Köchin Hilde, die es sich nicht nehmen ließ, ihrem Liebling wenigstens ein Süppchen nach oben zu bringen, waren eingeweiht.
Hatte sie nicht doch einen Fehler gemacht? Ihre rotblonde Mähne, selbst mit Haarnadeln und Reifen kaum zu bändigen, war stets von allen bewundert worden. Sah sie mit den kurzen Locken nicht wie ein kecker Junge aus? Nein, alles war gut so, wie es war!
Und konnte sogar noch besser werden …
Als Johanna den Kopf zurückwarf, klimperten die goldenen Skarabäen an ihren Ohren.
«Ein Neuanfang», flüsterte sie. «Der Mistkäfer, der Leben erschaffen kann. Also, nichts wie los, du aparte Schönheit …»
Auf dem Weg zur Treppe überholte sie Christoph.
Seit dem Schulterdurchschuss vor Verdun hielt er sich immer ein wenig schief, was ihm etwas Verletzliches gab, dabei kannte er keine Wehleidigkeit und war in ihren Augen der Mutigste und Tapferste der Brüder. Johanna liebte an ihm, dass ihm Ungerechtigkeit von Herzen zuwider war, ganz egal, wem sie widerfuhr. Schon auf dem Schulhof war er für jene eingetreten, die schikaniert worden waren, auch wenn er dafür bisweilen von den Lehrern harte Strafen kassiert hatte.
«Schwesterchen?», sagte Christoph verblüfft, und in seiner Stimme schwangen gleichermaßen Verwunderung wie Anerkennung. «Du bist ja kaum wiederzuerkennen – wie frisch aus Berlin importiert!»
«Ich gefalle dir also?», fragte Johanna. «Die Sachen habe ich alle von Greta.»
«Und wie!» Er grinste spitzbübisch, sah trotz dunklem Abendanzug, weißem Hemd und Fliege plötzlich wieder aus wie früher, wenn er verbotenerweise vom Most genascht hatte. «Die werden vielleicht Augen machen …»
«… oder gemeinschaftlich über mich herfallen.»
Er bot ihr seinen Arm. «Das wird niemand wagen, und falls doch, dann bekommt er es mit mir zu tun, dem heiligen Christopherus, der seine kleine Schwester sicher durch die Fluten trägt!»
Seite an Seite stiegen sie hinunter, und Johanna genoss jede Stufe auf dem Weg ins Erdgeschoss – wie die Seide ihre Haut streichelte, wie leicht der Kopf sich ohne das viele schwere Haar anfühlte, das sanfte Schwingen der Ohrgehänge. Der Grüne Saal musste schon gut gefüllt sein; Reden und Lachen vermischten sich mit Musikfetzen, die bis zu ihnen drangen.
«Bereit?», fragte Christoph, als sie schließlich vor dem Festsaal standen.
«Bereit!», bestätigte Johanna nach einem letzten tiefen Atemzug.
Wie erwartet starrten alle sie an, kaum dass Johanna den Saal betreten hatte – inmitten der Gäste die Eltern in festlicher Abendgarderobe, Georg, dessen neuer Smoking um die Schultern spannte, weil er seit einiger Zeit im Boxverein war. Heinrich und Greta, Ersterer mit vor Aufregung beschlagenen Brillengläsern, Letztere zum Anbeißen niedlich in himbeerfarbener Seide, ihre dünne, leicht verkniffene Mutter Ursula und Gretas berühmter Onkel Jupp, ganz entspannt im Cut, mit dicker Zigarre in der Hand.
«Du traust dich vielleicht was.» Georg fand als Erster die Sprache wieder. «Jetzt siehst du aus wie eine dieser verruchten Halbweltdamen …»
«Finde ich gar nicht», widersprach ihm Onkel Jupp, und Johannas Herz flog ihm auf der Stelle zu. «Das ist modern und absolut hinreißend. Steht Ihnen ebenso gut wie Greta, liebes Fräulein Fuchs.» Seine Zigarre landete im Aschenbecher. «Wenn ich um den ersten Tanz bitten dürfte?» Er verneigte sich vor ihr. «Ein Foxtrott, bitte sehr!» Das galt der Kapelle, die seinem Wunsch sofort nachkam.
Jupp Sünner tanzte gut, ein bisschen steif vielleicht, aber sehr taktsicher. Ein paar andere Paare schlossen sich ihnen an, und Johanna sah zwei ihrer Verehrer vorbeitanzen, die notgedrungen auf andere Partnerinnen hatten zurückgreifen müssen.
«Johanna bitte, nicht Fräulein Fuchs», bat sie ihn. «Schließlich haben Sie mich gerade gerettet. Danke noch einmal dafür!»
«Mit dem allergrößten Vergnügen, dann bin ich aber auch der Onkel Jupp.» Er grinste. «Steht dir wirklich gut, die neue Frisur.»
«Jetzt machst du mich ganz verlegen …»
«Ein alter Kerl wie ich?» Jupp lachte herzhaft. «Schön, wenn das noch immer funktioniert! Jetzt bist du also großjährig, Johanna.»
Sein Blick glitt zu den Skarabäen, die an ihren Ohren baumelten. Ärgerte er sich, dass nun sie sein Geschenk trug?
«Greta hat darauf bestanden», sagte Johanna rasch. «Sie meinte …»
«Meine Nichte kann mit den Ohrringen machen, was sie mag», unterbrach er sie. «Apropos, was willst du denn nun mit deinem Leben anstellen – auch ganz schnell heiraten wie Greta und ihr Heinrich?»
«Bloß nicht», sagte sie.
«Was spricht dagegen?», fragte er.
«Dass ich danach zwar nicht mehr machen muss, was Papa mir aufträgt, aber sehr wohl, was mein Mann möchte. Dabei weiß ich doch noch gar nicht, was ich will. Ich glaube, ich brauche ein bisschen Zeit, um das herauszufinden.» Johanna wunderte sich selbst, dass sie so vertrauensselig war, aber Jupp zeigte ehrliches Interesse an dem, was sie bewegte, während ihre Eltern nur zu gerne jede Gefühlsregung unter den Teppich kehrten.
«Kommt auf den Partner an, den du dir aussuchst», erwiderte Jupp. «Aber im Großen und Ganzen muss ich dir wohl leider recht geben: Wir Männer beanspruchen die größere Hälfte vom Kuchen. Und weshalb? Weil es immer so war. Jedenfalls behaupten wir das. Ganz schön frech eigentlich, wenn man es sich richtig überlegt.» Seine große Hand auf ihrem Rücken, vollführte er mit Johanna eine schwungvolle Drehung. «Aber vielleicht ändert sich das ja. Ändert sich gerade ja so einiges …»
«Wenn ich Ihnen die Dame kurz entführen dürfte?» Justus Beck klatschte ab, während Peter Resch, der zu langsam gewesen war, unverrichteter Dinge wieder abziehen musste.
«Ausgesprochen ungern, junger Mann», erwiderte Jupp. «Aber wenn Sie ausdrücklich darauf bestehen …»
«Muss ich leider», kam als Antwort.
Johanna zuckte bedauernd die Achseln.
Justus, den sie aus Schulzeiten kannte, auch wenn er drei Klassen über ihr gewesen war, galt als Angeber. Voller Stolz darauf, dass sein vermögender Apothekervater neuerdings auch noch Mitglied des Magistrats war, plusterte er sich auf, als sei das sein persönliches Verdienst. Natürlich war er auch im Krieg ein Held gewesen. Schade nur, dass sich kaum jemand so recht für seine Münchhausen-Geschichten interessierte, Johanna am allerwenigsten …
«Endlich mal wieder ein Weib im Arm», sagte Justus und presste Johanna viel zu eng an sich. «Du glaubst ja gar nicht, wie sehr wir armen Soldaten in dieser Hinsicht darben mussten!»
Johanna allerdings brachte ihn mit ihren spitzen Nägeln schnell wieder auf Abstand.
«Welches Weib?», fragte sie. «Falls du mich damit meinen solltest – ich bin eine Frau.»
«Und was für eine!» Seine Augen glänzten. «Soll ich dir beweisen, was ich für ein Mann bin?»
«Keinerlei Bedarf, Justus. Was ich von dir weiß, genügt mir.»
«Was soll das heißen?» Er wirkte irritiert.
«Dass du regelmäßig bei einer gewissen Madame Florence in der Luxemburger Straße verkehrst.»
«Wer behauptet das?»
Justus’ längliches Gesicht färbte sich rot. Er hätte als gut aussehend durchgehen können, wegen seines blasierten Ausdrucks jedoch wirkte er meist wie seine eigene Karikatur.
«Wenn man beste Beziehungen zur Presse hat …»
«Also dein Bruder, dieser Schmierfink, hätte ich mir ja gleich denken können! Frag ihn doch mal, weshalb er als einfacher Gefreiter aus dem Feld zurückgekommen ist, während ich immerhin zum Unteroffizier befördert wurde …»
Sie waren gerade an Christoph vorbeigetanzt.
«Sind eben nicht alle Männer zum Töten geschaffen, Beck», sagte Johannas Bruder leise und zog sie von ihm weg. «Genug getanzt für den Moment, Schwesterchen. Siehst du denn nicht? Alle halten schon ihr Glas in der Hand. Vater will endlich seine Rede halten, damit das Büfett eröffnet werden kann.»
Matthias Fuchs schlug mit einem Dessertlöffel an sein Sektglas.
«Was für ein wunderbarer Abend», begann er schließlich. «Sie alle wieder bei uns versammelt zu sehen, liebe Familie, verehrte Gäste, sehr verehrter Herr Bürgermeister von Bruchhausen und Gattin, welch besondere Ehre» – eine leichte Verbeugung – «erfüllt mein Herz mit großer Freude. Gleich zwei glückliche Anlässe haben uns heute hier zusammengeführt: zum einen die Verlobung unseres Sohns Heinrichs mit der bezaubernden Greta Sünner aus Köln, die in Begleitung ihrer geschätzten Familie nach Trier gekommen ist. Ich gratuliere euch herzlichst, meine lieben Kinder, werdet glücklich!»
Unter dem Beifall der Anwesenden traten Greta und Heinrich vor. Greta strahlte über das ganze Gesicht, als Heinrich ihr den funkelnden Ring ansteckte, ein stattlicher Brillant, in Platin gefasst, gekauft beim Juwelier Lürenbaum in der Brotstraße, der heute ebenfalls unter den Gästen gewesen wäre, hätte ihn nicht eine böse Magenverstimmung daran gehindert.
«Ich liebe dich, mein Henry», sagte Greta mit klarer, lauter Stimme. «Und ja, ich werde dir eine gute Frau sein – das verspreche ich!»
Heinrich, zu gerührt, um antworten zu können, nahm sie in die Arme und küsste sie so ausgiebig, dass seine Mutter dezent zu hüsteln begann.
Die beiden lösten sich voneinander, blieben jedoch weiterhin ganz nah beisammen stehen.
Matthias Fuchs wandte sich wieder den Gästen zu und fuhr fort: «Der zweite Anlass für dieses Fest ist ebenfalls erfreulich. Johanna, unsere Jüngste, ist einundzwanzig Jahre alt geworden – und wird, wie meine Frau und ich inständig hoffen, nun endlich erwachsen. Nach all den Jungen ein Mädchen in unserem Haus aufwachsen zu sehen, war für uns beide etwas ganz Besonderes. Wir haben versucht, ihr Schutz und Geborgenheit zu schenken, ohne sie allzu sehr einzuschränken. Denn Temperament, das besitzt unsere einzige Tochter unbestritten.»
Ein paar Lacher.
«So ist nun aus einem stürmischen, manchmal auch launischen Raupenkind ein schöner, liebenswürdiger Schmetterling geworden», fuhr er sichtlich gerührt fort. «Wir, deine Eltern, sind sehr stolz auf dich, Johanna – auch wenn du uns mit deiner Eigenwilligkeit nach wie vor zu überraschen weißt.»
«Aber mein Bubikopf ist doch einsame Spitze, Papa, oder?», rief Johanna übermütig und brachte damit die Gäste zum Schmunzeln. «Das musst du zugeben!»
«Wo die Haare nun einmal ab sind», sagte er leicht resigniert, «ja, die neue Frisur steht dir. Jedoch bitte keine weiteren Experimente, versprochen?»
«Versprochen!» Johanna hob ihr Glas und prostete ihm zu.
Alle anderen taten es ihr nach.
«Lassen Sie uns also anstoßen auf einen Abend der leiblichen, geistigen und akustischen Genüsse», sagte der Gastgeber jovial. «Herzlich willkommen in der Villa Fuchs.»
Binnen Kurzem war das große Büfett belagert. Unter den Gästen war keiner, der am Hungertuch nagen musste. Aber man hätte beinahe auf diese Idee kommen können, so eifrig beluden sie ihre Teller, um sich dann zum Essen an einen der kleinen Tische zurückzuziehen, die man eigens im Saal aufgestellt hatte.
Johanna hatte sich den Platz neben Christoph gesichert, in dessen Nähe sie sich am wohlsten fühlte, und ließ sich Waldorfsalat, Käsestangen und pochierte Lachshäppchen schmecken. Ihr Teller war im Nu leer; als sie aufstand, um ihn nochmals zu füllen, vernahm sie die tadelnde mütterliche Stimme hinter sich.
«Neben deinem Bruder kannst du doch jeden Tag sitzen. Warum zerstreust du dich nicht mit den jungen Männern, die wir eigens deinetwegen eingeladen haben?»
«Weil ich sie nicht leiden kann», erwiderte Johanna leise, aber in spitzem Tonfall. «Keinen von ihnen!»
«Aber ihre Väter …»
«Die soll ich ja schließlich nicht heiraten, oder? Die Söhne jedenfalls taugen in meinen Augen nicht viel. Justus Beck ist ein Angeber, Olaf Feuerstein ein ungehobelter Klotz und Peter Resch ein ausgemachter Langweiler. In mir sehen sie doch lediglich die gute Partie. Wer ich wirklich bin, interessiert sie nicht die Bohne. Soll ich es ihnen ins Gesicht sagen, möchtest du das?»
«Das wirst du schön bleiben lassen, Johanna! Man könnte fast glauben, wir hätten dir keinerlei Benehmen beigebracht …» Ein tiefer Seufzer. «Als Gastgeber bedient man sich selbst übrigens niemals unmäßig vom Büfett, erst recht nicht, wenn man eine junge Dame ist.»
«Aber ich habe doch den ganzen Tag kaum etwas gegessen …»
«Das kommt davon, wenn man solche Sperenzchen macht wie du und sich dann im Zimmer verstecken muss. Mich kannst du nicht so einfach um den Finger wickeln wie deinen Vater. Dein Haar war dein schönstes Attribut, liebes Kind. Äußerst unklug, dich dessen zu entledigen – zumal in einem Alter, wo es nun gilt, die richtige Wahl für deine Zukunft zu treffen!»
«Ach, mit kurzen Haaren bin ich deiner Ansicht nach auf dem Heiratsmarkt also weniger wert?», fauchte Johanna zurück. «Weißt du was, liebe Mutter? Wer mich so nicht will, der soll es eben bleiben lassen!»
Sie lud sich extra viel auf den Teller und kehrte zu Christoph zurück, zu dem sich in der Zwischenzeit Tante Gertrud gesetzt hatte, die älteste Schwester von Matthias Fuchs. Sechs Personen fanden an den extra aufgestellten Tischen Platz, die ideale Anzahl von Gästen, um sich trotz der Musik noch angeregt unterhalten zu können.
«Tut mir ja so leid mit deiner Schulter», sagte Gertrud gerade anteilnehmend. «Schmerzt es denn immer noch sehr?»
«Ach was.» Christoph zuckte die Achseln.
Nur Johanna wusste von den Nächten, in denen ihr Bruder trotz seiner Morphintabletten keinen Schlaf fand. Natürlich würde sie darüber kein Wort verlieren, erst recht nicht an diesem geselligen Abend.
«Lästige Angelegenheit, aber ich habe mich daran gewöhnt», erwiderte er und schaffte es, beiläufig zu klingen. «Nur an der Schreibmaschine wäre ich vermutlicher fixer …»
«Als Polizist wäre er nicht zu gebrauchen», schaltete sich ungefragt Georg vom Nebentisch ein, der kaum eine Gelegenheit ausließ, seinen Bruder schlechtzumachen. Er setzte sich zu ihnen an den Tisch und stellte ein Bierglas neben Johannas Teller. «Bei uns in der Truppe muss jeder Mann über volle Körperkraft verfügen!», sagte er großspurig, und Tante Gertrud klopfte ihm tadelnd auf den Arm, was ihm aber entging.
Bestimmt hatten die Zwillinge schon im Mutterleib erste Kämpfe ausgetragen. Georg, der Zweitgeborene, mehr als ein Kilo leichter als sein Bruder, war zunächst ein schwächlicher Säugling gewesen, um den die Eltern bangen mussten. Doch sein Lebenshunger war so enorm, dass schon bald eine zweite Amme angestellt werden musste, um beide Brüder satt zu bekommen. Inzwischen war Georg größer und schwerer als sein Bruder, was ihn mit Genugtuung erfüllte. Denn von klein auf waren die Zwillinge als Konkurrenten aufgetreten, verstrickt in Dauerwettkämpfe, vom lässigen Christoph eher verbal ausgetragen, wogegen der aufbrausende Georg oft und gern die Fäuste eingesetzt hatte.
«Aber Köpfchen braucht man schon auch», fügte Christoph hinzu. «Gilt das bei euch Kriminalern nicht als besonders wichtig?»
«Soll das heißen, dass ich nicht gut denken kann?», fuhr Georg auf. Die bläuliche Ader an seiner rechten Schläfe schwoll an.
«Das soll heißen, dass ihr Kraft und Verstand braucht, Brüderchen, nichts anderes hab ich gerade geäußert.»
«Ich mag es eben, wenn Männer echte Männer sind», wandte Georg sich nun direkt an Tante Gertrud, und sie lächelte ihn ein wenig amüsiert an. «Und wäre gern Berufssoldat geworden, doch das hat dieser schändliche Friedensvertrag von Versailles mit seiner lächerlichen Truppenbegrenzung verhindert.» Er verzog das Gesicht. «Eine Regierung mit einem Proleten an der Spitze, die sich etwas Derartiges aufdrücken lässt, hat für mich von vornherein verloren!»
«Ich dagegen finde, Reichskanzler Ebert macht seine Sache ganz gut, auch wenn so manch einer noch nicht wahrhaben möchte, dass der Kaiser für alle Zeiten ausgedient hat und wir nun in einer Demokratie leben», erwiderte Christoph mit süffisantem Lächeln. «Stell dir vor, liebe Tante, die Freikorps im Ruhrgebiet mussten den Märzaufstand der roten Arbeiter ganz ohne meinen übereifrigen Bruder niederschlagen. Dabei findet Georg die weißen Hakenkreuze auf deren Helmen so überaus anziehend. Aber als Beamtenanwärter muss er sich in diesem von ihm verhassten Staat trotzdem an gewisse Regeln halten – so schwer ihm das auch manchmal fallen mag.»
«Ich geb dir gleich Anwärter …» Georg erhob sich leicht vom Stuhl, wie um sich über den Tisch und auf seinen Bruder zu stürzen, aber eine zarte Hand hielt ihn zurück.
«Kriegt ihr euch etwa schon wieder in die Wolle, ihr ollen Raufbolde?», fragte Sophie, die nun hinter Georgs Stuhl stand, lächelnd. «Dabei dachte ich, meine großen Cousins würden heute ausnahmsweise den Kavalier für mich spielen.»
Seit sie denken konnte, hatte Johanna die zwei Jahre jüngere Cousine um ihr Aussehen beneidet. Schwarze Locken, das Gesicht ein makelloses Oval, die grauen Augen groß und geheimnisvoll, dazu die edle Nase, die ihr einen Schuss Kühnheit verlieh – so und nicht anders hatte sie sich immer Schneewittchen vorgestellt. Jetzt, unmittelbar vor dem Abitur, war Sophie Nußbaum anziehender denn je, wobei keiner in ihrer Familie viel Aufhebens davon machte. Alle Nußbaums traten bescheiden auf und waren stets schlicht und praktisch gekleidet. Mutter und Tochter trugen wie so oft auch heute einen Zweiteiler mit Plisseerock, die Mutter in Dunkelblau, Sophie in Cremeweiß. Großer Wert dagegen wurde auf Kunst, Literatur und Musik gelegt, alle Familienmitglieder spielten zwei Instrumente, das ganze Haus war bis unters Dach vollgestopft mit Büchern, und ihre Musikabende waren in Wittlich eine Institution.
«Dann tanz doch jetzt mit mir, meine Schöne!» Georg packte die Gelegenheit beim Schopf. Er wirbelte mit Sophie davon.
«Sie will ab Herbst in Bonn Jura studieren», kommentierte Sophies Bruder Jakob und ließ sich bei ihnen nieder. «Dabei hätte ich jede Wette abgeschlossen, dass auch sie einmal in Vaters Fußstapfen tritt. Aber zwei Ärzte in einer Familie sind mehr als genug, findet Sophie. Und wahrscheinlich hat sie damit auch recht.»
Dass die beiden eng verwandt waren, war unübersehbar, auch wenn bei Jakob alles kantiger ausgefallen war als bei seiner anmutigen Schwester. Wie Heinrich trug er neuerdings eine Brille, die ihn älter aussehen ließ als seine siebenundzwanzig Jahre, was die beginnenden Geheimratsecken verstärkten.
Jakob stand auf. «Und jetzt lasst uns tanzen! Darf ich bitten, liebste Tante?»
«Ich? Eine so alte Fregatte …» Gertruds Verlegenheit war nicht gespielt. Es musste ewig her sein, dass sie zuletzt getanzt hatte.
«Das will ich jetzt aber überhört haben», sagte Jakob streng. «Also? Gibst du deinem Neffen die Ehre?»
«Wie glücklich sie aussieht», sagte Johanna zu ihrer Mutter, die neben sie getreten war und zusah, wie sich die beiden Tanzenden im Walzertakt wiegten. «Mit uns zusammen zu sein, macht sie gleich viel jünger. Ich glaube, in ihrem hochgeschätzten Mainz fühlt sich Tante Gertrud manchmal ganz schön einsam …»
«Das kommt davon, wenn man allzu wählerisch ist und alle Bewerber abblitzen lässt, bis man dann schließlich zu alt zum Heiraten und Kinderkriegen geworden ist», entgegnete ihre Mutter. «In jungen Jahren muss Gertrud bildhübsch gewesen sein, das weiß ich von eurem Vater, aber eben sehr eigen, und jetzt will sie natürlich keiner mehr. Mach bloß nicht den gleichen Fehler, Johanna, sonst wirst du es später einmal bitter bereuen.»
«Diese eigenwilligen Frauen der Familie Fuchs», spöttelte Johanna. «Scheint ja fast so etwas wie eine Tradition zu sein.»
Ihre Mutter lächelte gequält. «Ich muss mich jetzt um das Servieren der siebenstöckigen Eistorte kümmern», sagte sie. «Auguste hat sich die Finger verbrannt, die fällt aus. Und unser Linchen kann manchmal zwei linke Hände haben. Nicht, dass das kostbare Gebilde noch auf dem Parkett landet …»
Dorothea Fuchs verließ den Saal in Richtung Küche.
«Amüsierst du dich?», fragte Onkel Jupp, der an Johannas Tisch gekommen war, wo gerade das Geschirr abgetragen wurde. Er ließ sich schwer auf einen Stuhl sinken und tätschelte Johannas Hand.
«Jetzt – ja», erwiderte sie wahrheitsgemäß. «Du könntest mich in den Wintergarten entführen, um mir dort zu erzählen, warum du so gern reist und dann auch noch so weit, was hältst du davon?»
«Und dir so die unreifen jungen Gecken vom Hals halten?»
Johanna lachte schallend.
«Ich hätte es nicht besser formulieren können», sagte sie und wedelte mit ihrer Stola. «Lass uns gehen.»
Zartes Orangen- und Zitronenaroma drang in ihre Nase, nachdem sie den Saal durchquert hatten und im Glashaus angelangt waren, wie Johanna den Wintergarten genannt hatte, als sie noch klein gewesen war. Voller Faszination darüber, dass am gleichen Baum Blüten stehen und Früchte wachsen konnten, war sie oft mit ihren Stofftieren hierher geflitzt, um Dschungel zu spielen. Auch ein Zufluchtsort war ihr der Wintergarten gewesen, wenn die Neckereien der großen Brüder allzu unerträglich geworden waren. Ein Ort der Ruhe, den sie noch heute liebte.
«Wo soll ich anfangen?», sagte Jupp, der sich auf einem der hölzernen Deckchairs niedergelassen hatte.
«Ägypten!», sagte Johanna mit leuchtenden Augen.
«Du wolltest wissen, was mich antreibt. Ich muss einfach immer wieder mal raus aus Köln, um nicht nur Tag für Tag Malzgeschmack auf der Zunge zu haben. Und Ägypten war seit jeher das Land meiner Träume. Denk nur an den Nil, die Wiege des Lebens! Wie ein grünes Band durchschneidet er die Wüste. Am schönsten kannst du ihn in Assuan erleben, wenn die Sonne sinkt und seine Wasser erst golden, dann silbern und schließlich platingrau färbt, ein unvergesslicher Moment, in dem die Natur den Atem anzuhalten scheint …»
Er hielt inne, lauschte nach nebenan.
«Was schreien sie denn dort drüben auf einmal so?»
«Das ist bestimmt die Eistorte», sagte Johanna. «Mama lässt sie immer mit großem Tamtam servieren …»
«Nein, da ruft jemand etwas», widersprach er. «Deinen Namen!»
Jetzt hörte sie es auch. «Tatsächlich. Jemand ruft nach mir», sagte sie. Aber wer ihren Namen rief, konnte sie auf die Entfernung nicht ausmachen.
Sie sprang auf und eilte, gefolgt von Jupp, der sich allerdings deutlich mehr Zeit ließ, hatte er sich doch auf eine kleine Auszeit von der Feierei gefreut, zurück in den Saal.
Inmitten der verdutzten Festgesellschaft stand eine Frau. In ihrer einfachen schwarzen Tracht wirkte sie neben den festlich gekleideten Gästen fehl am Platz. «Sie sind Johanna?», fragte die Frau mit dem sonnengegerbten Gesicht und den Lachfalten. In den dunklen, nachlässig hochgesteckten Haaren blitzten erste Silberfäden.
«Ja, die bin ich», erwiderte Johanna. «Und wer sind Sie?»
«Die Kätt», sagte sie und reckte das Kinn. «Ich bin den ganzen Weg von Altenburg nach Trier gekommen. Lisbeth ist tot. Das Haus Nummer achtzehn wartet auf Sie, soll ich ausrichten. Alles Weitere bei Notar Kern hier in Trier.»
Lisbeth? Diesen Namen hatte Johanna noch nie in ihrem Leben gehört.
«Wer soll das sein?», fragte sie. «Und von welchem Haus reden Sie?»
Plötzlich stand ihr Vater neben ihr.
«Meine jüngste Schwester Elisabeth», sagte er und musterte Kätt, die sich ihrerseits mäßig beeindruckt in dem prächtigen Saal umsah, angewidert. «Das schwarze Schaf der Familie Fuchs. Diese vermaledeite Person! Schon zu Lebzeiten hat sie uns nichts als Ärger bereitet. Und wie es aussieht, hört sie nicht einmal nach ihrem Tod damit auf.»
Altenburg/Trier, April 1920
Die lederne Rückbank der neuen Mercedeslimousine war so bequem, dass Johanna während der Fahrt immer wieder die Augen zufielen. Kein Wunder – hatte sie doch in den vergangenen Nächten kaum geschlafen. Zu aufregend war, was der Auftritt der Landfrau in ihr ausgelöst hatte, die nach ihrer geheimnisvollen Verkündung ebenso schnell wieder verschwunden war, wie sie aufgetaucht war. Natürlich hatte Johanna ihre Eltern anschließend gelöchert, um mehr über diese ihr gänzlich unbekannte Tante zu erfahren. Bei ihrer Mutter jedoch war sie auf eine Mauer des Schweigens gestoßen, und auch ihr Vater gab sich schmallippig.
«Lisbeth war das letzte Kind unserer Mutter», hatte er gesagt. «Verhätschelt, verwöhnt, ohne feste Regeln großgezogen – mit den entsprechenden Ergebnissen.»
«Aber wieso soll ausgerechnet ich sie beerben und nicht einer meiner Brüder?», hatte Johanna gefragt. «Sie kennt mich doch gar nicht.»
«Sicherlich nur eine weitere List, um erneut Zwist innerhalb der Familie zu säen, darauf verstand sich Lisbeth nämlich von jeher am allerbesten. Was solltest du schon mit einem heruntergekommenen Haus im Nirgendwo anfangen? Du siehst ja, mit welchen Leuten sie sich umgeben hat – mit primitivem Volk! Wenn du klug bist, Johanna, dann lässt du die Sache auf sich beruhen und kümmerst dich lieber um wichtigere Dinge …»
Natürlich hatte sie diesen Rat nach einer durchgrübelten Nacht des schlaflosen Herumwälzens in den Wind geschlagen. Woher wollte ihr Vater eigentlich wissen, dass Lisbeths Haus heruntergekommen war? Und diese Kätt, über die er sich abfällig geäußert hatte, war Johanna kein bisschen primitiv vorgekommen. Speziell, das ja, aber trotz ihrer einfachen Aufmachung stolz und selbstbewusst.
Kannte er sie besser, als er zugab?
Viele Fragen, auf die sie keine Antwort hatte.
«Ich gehe auf jeden Fall zu diesem Notar Kern», hatte sie am Morgen nach dem Fest am Frühstückstisch verkündet. «Mal sehen, was der mir zu sagen hat.»
Christoph hatte ihr angeboten, sie zu begleiten; dass die Eltern ebenfalls mitkamen, lehnte sie kategorisch ab, obwohl beide versuchten, sie vom Gegenteil zu überzeugen.
«Ich bin großjährig. Und damit durchaus in der Lage, meine eigenen Entscheidungen zu treffen.»
«Das allerdings sehe ich anders, liebes Kind. Du bindest dir möglicherweise Verantwortlichkeiten ans Bein, die du jetzt noch gar nicht überblicken kannst. Was, wenn sie dir einen Berg Schulden aufhalst?» Ein letzter Versuch ihres Vaters. «Deine Mutter und ich wollen doch nur das Beste für dich.»
«Das weiß ich, Papa, aber mein Entschluss steht fest: Christoph und ich gehen zu diesem Notar.»
Was der hagere Herr im grauen Anzug ihnen dann in gemessenem Tonfall vorgetragen hatte, war in der Tat erstaunlich.
All mein Hab und Gut, insbesondere das Haus in Altenburg mit Garten, Scheune, Ställen und meinen Tieren geht an Johanna Fuchs. Das gilt auch für das Gelddepot bei der Volksbank Trier, angelegt auf ihren Namen, über das sie ab ihrer Volljährigkeit verfügen kann. Allerdings ist dieses Erbe mit der Auflage verbunden, dass Johanna nach meinem Ableben sechs Monate lang das Haus in Altenburg bewohnt und dort für meine Tiere sorgt. Ist diese Frist vorüber, steht es ihr frei, damit nach ihrem Gutdünken zu verfahren …
«Du – als Landei?», hatte Christoph auf ihrem Nachhauseweg durch die Altstadt gesagt. «Das kann ich mir irgendwie nicht vorstellen.»
«Ich ehrlich gesagt auch nicht», erwiderte Johanna nachdenklich. «Was sie sich wohl dabei gedacht hat? Irgendwie hört sich das alles ziemlich geheimnisvoll an. Ansehen werde ich mir den Hof auf jeden Fall.»
Am liebsten wäre sie allein nach Altenburg aufgebrochen, obwohl das Dorf, wie sie inzwischen herausgefunden hatte, zwar nur zwei Stunden entfernt von der elterlichen Villa war, aber recht abgelegen lag.Von der Bahnstation Sehlem aus war noch ein stattlicher Fußmarsch erforderlich, um es zu erreichen.
Dagegen jedoch legte ihr Vater dann doch sein Veto ein. «Wozu bezahle ich einen Chauffeur? Außerdem muss der neue Wagen eingefahren werden. Ich gehe ohnehin davon aus, dass du dieses Erbe ausschlagen wirst und wir gleich wieder zurückfahren können. Sonst müsste ich mich doch sehr über meine kluge Tochter wundern.»
Sie hatte das Fenster ein Stück heruntergekurbelt, und laue Frühlingsluft flutete in das Automobil. Gerade waren sie an einer gelben Wiese vorbeigekommen, auf der in verschwenderischer Fülle wilde Märzenbecher blühten. Am liebsten wäre Johanna ausgestiegen und hätte sich auf diesem Märchenteppich ausgestreckt. Sie war entsetzlich müde von der ganzen Aufregung der letzten Tage.
«Jetzt wäre ein Cabrio ganz angenehm, nicht wahr, Herr Direktor?», sagte Gustav, der den großen Wagen ruhig und sicher lenkte. «So ein bisschen Wind um die Nase könnte nicht schaden.»
«Richtig, Gustav. Meine Frau hat diesbezüglich schon bei mir vorgefühlt. Aber wir müssen erst einmal abwarten, wie sich die Konjunktur entwickelt. Läuft es gut, dann lässt sich darüber durchaus reden …»
«Die Leute werden garantiert nicht aufhören zu rauchen, Herr Direktor. Im Krieg nicht, im Frieden nicht und auch nicht, wenn sie traurig sind oder feiern, bei Taufen, Begräbnissen und Hochzeiten. Inzwischen sind auch immer mehr Damen im Spiel mit diesen dünnen, langen Zigaretten. Hilde hat mir neulich eine Anzeige in der Zeitung gezeigt. Von Reemtsma war die, glaube ich.»
«Ja, darin sind die uns ein Stück voraus. Und in manch anderem leider auch. Was nicht heißt, dass wir uns auf Dauer abhängen lassen. Auch das Haus Fuchs wird eine spezielle Damenzigarette produzieren, mit Menthol, damit der Atem schön frisch bleibt. Was halten Sie vom Namen Donna, Gustav? Das ist italienisch und bedeutet ‹Frau›. Also ich finde, Ponte und Donna, das hat durchaus etwas, und Heinrich ist ebenfalls meiner Ansicht.»
«Da fragen Sie den Richtigen!» Gustav lachte. «Ich bin doch Abstinenzler, wie Sie wissen. Kein Tabak, kein Alkohol.»
Johannas Vater wandte sich seiner Tochter zu. «Und du, Johanna? Wie findest du den Namen?»
«Affig, ehrlich gesagt. Wer kann denn hierzulande schon Italienisch?»
Matthias Fuchs schwieg gekränkt.
Jetzt tat es ihr leid, dass sie so heftig reagiert hatte. «Donna, Donna, Donna …», wiederholte sie halblaut, um einzulenken. «Wenn man es öfter hintereinander sagt, hört es sich doch nicht übel an. Es ist kurz, prägnant, und vielleicht trägt gerade die leicht fremdländische Note dazu bei, dass die Damen es sich gut merken können.»
«Siehst du», sagte er erfreut. «Der Name ist gut. Ich prophezeie dir – das wird ein großer Erfolg, Johanna!» Er wandte sich an seinen Fahrer. «Das muss dieses Heckenmünster sein, Gustav.»
«Ist es, Herr Direktor. Winzige Ortschaft. Sehen Sie dort vorn die Ortstafel? Wenn man die durchgelesen hat, ist man fast schon wieder raus.»
«Aber die Kirche ist erstaunlich stattlich und, wie es aussieht, in recht gutem Zustand.»
«Ist vielleicht für mehrere Dörfer zuständig, Herr Direktor. Nicht jede Gemeinde hier auf dem Land besitzt ein eigenes Gotteshaus. Die kleinen Ortschaften haben oft nicht einmal eine Schule. Hier führt die Straße allerdings nicht weiter, wie ich gerade feststellen muss. Ich werde wenden und die andere Route nehmen, aber keine Angst, es handelt sich nur um einen kleinen Umweg. Wir werden Altenburg sehr bald erreichen. Geht es danach gleich weiter nach Wittlich?»
«Recht zügig auf jeden Fall. Ich habe noch etwas zu besorgen und möchte anschließend ein paar Takte mit meiner Schwester Martha reden. Tanken werden wir dort auf jeden Fall müssen. Wird Zeit, dass es unterwegs endlich mehr Benzinzapfstellen gibt.»
Altenburg.
Unwillkürlich bekam Johanna Gänsehaut, als schließlich die ersten Häuser auftauchten.
Was würde sie hier erwarten?
Auf der schmalen Dorfstraße spielte ein Grüppchen zerzauster Kinder in ärmlicher Kleidung, die begeistert zu kreischen anfingen, als sie den großen, schweren Wagen erblickten. Für die allermeisten war dies sicherlich das erste Automobil ihres Lebens. Gustav fuhr nur noch Schritttempo, und die Schar rannte ihnen hinterher.
Ein paar Hunde kläfften. Eine Glückskatze stolzierte mit hocherhobenem Schwanz am Straßenrand entlang.
«Wohnhaus, Stall und Scheune in einer Linie», sagte Johannas Vater missbilligend. «Wie vor hundert Jahren. Und alles so primitiv. Man wohnt hier Wand an Wand mit den Tieren. Besonders hygienisch ist das in meinen Augen nicht.»
«Aber vielleicht warm, Herr Direktor», wandte Gustav ein. «Kann hier ja im Winter ziemlich frostig werden.»
Links versperrte eine hohe Mauer die Sicht, doch dann erkannte Johanna, was sich dahinter verbarg.
«Ein Schloss», sagte sie überrascht. «Die haben hier ein richtiges Schloss!»
«Mit einem großen Park», erwiderte der Chauffeur. «Und ausgedehnten Wäldern sowie Weinbergen an der Mosel. Soll früher eine Wasserburg gewesen sein, die irgendwann zum Jagdschloss umgebaut wurde. Gehört einem vermögenden Adelsgeschlecht, dem auch Reichsgrafen entstammen.»
«Woher wissen Sie das alles, Gustav?», wollte Johanna wissen.
«Das weiß doch ganz Trier», erwiderte an seiner statt ihr Vater leicht gereizt. «Die von Kunstätts haben große Besitzungen in der Stadt. Hättest du in der Schule besser aufgepasst, Johanna, wüsstest du das auch.»
Gustav räusperte sich. «Das dort vorn muss übrigens das Haus sein. Jedenfalls sehe ich eine große aufgemalte blaue Achtzehn neben der Haustür.»
Sie passierten eine Wirtschaft. Eifelglück stand auf dem Schild über der Tür. Doch bevor sie ihr Ziel erreicht hatten, trat ihnen eine in ein buntes Tuch gehüllte Frauengestalt in den Weg.
Gustav musste scharf bremsen, um sie nicht umzufahren.
«Da sind Sie ja endlich», sagte Kätt, die die beiden Männer im Wagen gar nicht zur Kenntnis zu nehmen schien. «Bitte aussteigen.»
Sie öffnete die hintere Autotür. Johanna folgte ihrer Aufforderung.
«Moment mal, Frau …» Ihr Vater, der ebenfalls den Wagen verlassen hatte, zögerte.
«Schröder Kätt», soufflierte sie. «Noch immer, obwohl mein Mann im Großen Krieg gefallen ist. Aber hier im Dorf genügt Kätt.»
«Ich werde meine Tochter natürlich begleiten.» Er wandte sich an den Chauffeur. «Bitte warten Sie hier, Gustav. Schätze, wir sind recht schnell mit allem durch.»
Johanna blieb einen Moment vor dem zweistöckigen Haus stehen. Es war weiß getüncht, mit breiten Sandsteinrahmen um die Fenster und einer blauen Haustür. Schmuck sah es aus, um einiges gepflegter als die anderen Bauernhäuser im Dorf, die sie soeben passiert hatten. Links davon schlossen sich Stall und Scheune an, ebenfalls mit blauen Türen.
Kätt stieg die fünf Stufen bis zur Haustür hinauf, zog einen großen Schlüssel aus ihrer Rocktasche und sperrte auf. Wie der Blitz schoss ein brauner, kniehoher Hund die Treppe hoch und neben Kätt hinein.
Johanna und ihr Vater waren Kätt gefolgt.
Nach der Helligkeit des sonnigen Frühlingstages war es drinnen finster, was vermutlich auch an der niedrigen Decke im Eingangsbereich lag, an der sich der hochgewachsene Fabrikant sofort den Kopf anstieß, was ihn leise fluchen ließ.
«Rechts ist die Küche, dahinter die Speisekammer. So ein schönes Haus! Lisbeth hat einiges umbauen lassen, damit es ganz so wurde, wie sie es haben wollte», sagte Kätt. «Sonst wohnt so keiner in Altenburg.»
Alles war einfach, aber blitzsauber, schwarz-weißer Fliesenboden, Spüle aus Stein, eine bemalte Kredenz, ein altmodischer Herd, auf den Borden an der Wand rauchblaues Geschirr.
Johanna nahm eine der Tassen herunter. Glatt fühlte sich der Ton an, war erstaunlich dünnwandig für Töpferware.
«Hat sie alles selbst getöpfert.» Kätt lächelte. «Mir hat sie auch beigebracht, wie man die Scheibe dreht. Erst dachte ich, ich lern das nie, aber Lisbeth meinte nur: ‹Deine Hände wissen es bereits. Du musst sie nur wieder daran erinnern.› Jetzt verkaufe ich mein Geschirr manchmal auf dem Wittlicher Wochenmarkt.»
«Meine Schwester als Töpferin? Einfach lächerlich! Lisbeth hatte zwei linke Hände …», murmelte Johannas Vater.
«Ja, sie hat mit links geschrieben und auch gemalt», sagte Kätt. «Lisbeth konnte es auch mit rechts, aber ihre linke Hand war klüger. Das hat sie immer gesagt.»
Der Hund mit dem lockigen, braunen Fell begann zu bellen, als wollte er zustimmen.
«Brav, Flitz.» Kätt tätschelte liebevoll seinen Kopf. «Alles in Ordnung.»
Er verstummte und setzte sich, schaute ergeben zu ihr hoch. Mit Tieren konnte Kätt umgehen, das gefiel Johanna. Ihr Kleid unter dem großen Tuch war alles andere als neu, aus blauem, schon verblichenem Leinen und vermutlich selbst genäht, aber hier, wohin sie ganz deutlich gehörte, wirkte sie jünger und frischer als bei ihrem Hereinplatzen in die Trierer Festgesellschaft.
«Gebrannt wird der Ton übrigens in den großen Öfen der Niersbacher Töpfer», erklärte Kätt weiter. «Das ist ein Dorf in der Nähe. Um die anzufachen und für das Brennen in Gang zu halten, braucht man viel Holz – und starke Männer.»
«Lass uns weitergehen, Johanna.» Ihr Vater klang ungehalten. «Ich will schließlich nicht den ganzen Tag hier vertrödeln.»
«Links ist die Stube», setzte Kätt, die ihn gar nicht gehört zu haben schien, seelenruhig ihre Führung fort. «Den Kachelofen gibt es erst seit Kriegsende. Lisbeth hatte keine Lust mehr, winters zu frieren.»
«Und die Tür geradeaus?», wollte Johanna wissen. «Wohin führt die?»
«Zum Abort. Früher musste man über die Straße, zu einem schiefen Holzschuppen neben dem Misthaufen. Jetzt gibt es hier Wasserspülung, hat ein Heidengeld gekostet, aber ein wenig Moderne muss bei aller Sparsamkeit sein. Das sagt auch mein Schwiegervater, besonders, wenn man eine Wirtschaft hat.»
«Das Gasthaus Eifelglück gehört Ihrem Schwiegervater?» Für einen Moment blitzte eine Spur von Interesse in den Augen von Johannas Vater auf.
«Schröder Wellem. Unser Bürgermeister. Mein Mann war sein einziger Sohn. Jetzt helfe ich manchmal beim Bedienen.» Kätt suchte Johannas Blick. «Nach oben?», fragte sie.
Johanna nickte.
Die Treppe war schmal und steil. Der Geruch, den sie schon beim Eintreten wahrgenommen hatte, verstärkte sich, je höher sie kamen. Es roch süßlich und leicht holzig. Sie kannte den Geruch, konnte ihn nur nicht einordnen. Das war der Geruch von …
«Tabak», fiel es Johanna schließlich ein.
«Lisbeth hat über Jahre die Blätter auf dem Dachboden getrocknet, wie viele hier in der Gegend. Zum Verkauf in kleinen Mengen, aber auch zum Eigenverbrauch. Sie wusste einfach alles über diese Pflanze. Kein Wunder, wenn man bedenkt, woher sie stammt …»
Kätt verstummte.
«Ja, daran hätte Lisbeth sich besser zur rechten Zeit erinnern sollen», polterte Johannas Vater los.
Johanna hatte unterdes die nur angelehnte Tür weiter geöffnet.
Was für ein Zimmer!
Mittig im Raum und auf Hüfthöhe die Liegefläche mit Blickrichtung zum Fenster, das nach Osten ging. Wenn man hier aufwachte, sah man jeden Morgen die Sonne aufgehen. Das Bettgestell bildeten eine Vielzahl von Schubladen und Fächern aus dunklem Holz, mit schlichten Metallgriffen versehen. An der linken Wand hing die gerahmte Rötelzeichnung eines Kinderkopfes. Daneben eine Reihe von Fotografien, wie ein Band von oben nach unten laufend. Rechts standen ein Holzschrank, an dem außen eine graue Jacke hing, als hätte Lisbeth nur eben mal schnell den Raum verlassen, und ein Regal, prall gefüllt mit Büchern.
«Eine Frage.» Johanna zögerte, sprach dann aber doch weiter. «Ist sie hier gestorben? In diesem Raum?»
Kätt nickte.
«Und woran?», fragte Johanna weiter. «Ich meine, woran ist sie gestorben, besonders alt war sie ja noch nicht.»
«Am Spanischen Fieber. Zwei aus dem Dorf haben es aus Bitburg eingeschleppt, wo es in den ersten Frühlingstagen nochmals ausgebrochen war. Lisbeth hat eine der Kranken gepflegt, eine junge Bäuerin mit drei Kindern. Die hat überlebt – sie leider nicht.»
Johanna schluckte. «Die Ärmste», sagte sie und hörte selbst, wie dünn ihre Stimme war.
«Lisbeth musste nicht lange leiden, es ging sehr schnell. Ich habe danach alles sauber gemacht», sagte Kätt, «und das Zimmer mit Beifuß und Mariengras ausgeräuchert. Die Matratze stammt von meinem Schwiegervater, der hatte vor dem Krieg ein paar Fremdenzimmer. Damals kamen häufiger Sommerfrischler vorbei. Jetzt haben die Leute anderes zu tun, als durch die Eifel zu wandern …»
«Was ist nebenan?», fragte Johanna.
«Schauen Sie es sich selbst an.»
Ein weiteres Zimmer mit einem Bett, bedeckt von einer farbenfrohen gewebten Decke, sonst war es leer bis auf drei große alte Holzkisten.
An der Wand lehnte eine Zinkwanne.
«Wo ist eigentlich das Badezimmer?», erkundigte sich Johanna.
«Da.» Kätt deutete auf die Wanne. «Gegenüber ist ein kleiner Abstellraum, in dem hat Lisbeth sie zum Baden immer aufgestellt.»
«Ich glaube, das reicht jetzt», sagte Johannas Vater. «Du hast alles gesehen …»
«Moment!», sagte Kätt. «Hier drinnen ja. Aber da sind ja noch der Stall, die Scheune und der Garten. Gehört alles dazu.»
… für meine Tiere sorgen … stimmt, das verlangte ja Lisbeths Testament.