Eifelfrauen: Der Ruf der Nachtigall - Brigitte Riebe - E-Book

Eifelfrauen: Der Ruf der Nachtigall E-Book

Brigitte Riebe

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Beschreibung

Band 2 der großen Familiengeschichte um die «Eifelfrauen» von Bestsellerautorin Brigitte Riebe. Ein verwunschener Bauernhof, zwei ungleiche Schwestern zwischen Tradition und Aufbruch, verbunden durch die Liebe zum gleichen Mann. Altenburg, 1945: Wiesen voller Orchideen im Frühling, Heuernten in der Sommersonne, stille Landschaften im Herbstnebel. Klara und Mia Fuchs wachsen als Schwestern auf einem idyllischen Bauernhof in der Eifel auf. Die beiden sind unterschiedlich wie Tag und Nacht: Während Mia alle Blicke auf sich zieht und die Menschen mit ihrer ungezwungenen Art für sich einnimmt, ist Klara nachdenklich und in sich gekehrt. Nur wenn sie singt, fällt alle Schüchternheit von ihr ab. Ihre glockenhelle Stimme verzaubert jeden, der ihr zuhört. Als der tschechische Sänger Pavel auf dem Hof Schutz sucht, nimmt das Leben der Schwestern eine unerwartete Wendung … Nach «Eifelfrauen. Das Haus der Füchsin» der neue Roman der Autorin der erfolgreichen «Schwestern vom Ku'damm»-Reihe.

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Brigitte Riebe

Eifelfrauen: Der Ruf der Nachtigall

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Weit weg vom Lärm der Welt

 

Altenburg, 1945: Wiesen voller Orchideen im Frühling, Heuernten in der Sommersonne, stille Landschaften im Herbstnebel. Klara und Mia Fuchs wachsen als Schwestern auf einem idyllischen Bauernhof in der Eifel auf. Die beiden sind unterschiedlich wie Tag und Nacht: Während Mia alle Blicke auf sich zieht und die Menschen mit ihrer ungezwungenen Art für sich einnimmt, ist Klara nachdenklich und in sich gekehrt. Nur wenn sie singt, fällt alle Schüchternheit von ihr ab. Ihre glockenhelle Stimme verzaubert jeden, der ihr zuhört. Als der tschechische Sänger Pavel auf dem Hof Schutz sucht, nimmt das Leben der Schwestern eine unerwartete Wendung …

Vita

Brigitte Riebe ist promovierte Historikerin und arbeitete zunächst als Verlagslektorin. Sie hat mit großem Erfolg zahlreiche Romane veröffentlicht, in denen sie die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte lebendig werden lässt. Ihre Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in München.

Impressum

Liedtext auf S. 15, 173 f.: Sing, Nachtigall, sing, Text: Bruno Balz

Liedtext auf S. 25: Goodbye Johnny, Text: Hans Fritz Beckmann

Gedicht auf S. 42, 68, 294: Abends, wenn ich schlafen geh, Text: Adelheid Wette

Liedtext auf S. 217 f.: Dein ist mein ganzes Herz aus Franz Léhars Operette Das Land des Lächelns, Text: Ludwig Herzer & Fritz Löhner-Beda

Liedtext auf S. 359 f.: Die Nachtigall, Text: Theodor Storm

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg 

Redaktion Susann Rehlein

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung Nathalie Seiferth/Trevillion Images; Shutterstock

ISBN 978-3-644-01475-6

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Lea

Heimat ist nicht nur, woher man kommt, sondern auch, wohin man geht.

Jean Paul (1763–1825)

 

Heimat entdeckt man erst in der Fremde.

Siegfried Lenz (1926–2014)

Die wichtigsten Figuren

Trier

Familie Fuchs

Matthias Fuchs, Tabakfabrikant im Ruhestand

Dorothea Fuchs, seine Frau †

 

Martha, seine Schwester

Ottilie, seine Schwester

Gertrud, seine Schwester

Lisbeth, seine Schwester †

 

Söhne:

Severin †

Heinrich ⚭ Greta, Nachfolger von Matthias Fuchs

Georg ⚭ Meta, Kriminaler; Söhne: Axel und Arno (vermisst); Töchter: Astrid, Alma, Adelheid und Agnes

Christoph, Georgs Zwillingsbruder, Journalist

 

Simon Bermann, Leiter der Werbeabteilung der Fuchs-Tabakwerke

Altenburg

Johanna Fuchs, Künstlerin, als Tochter von Matthias Fuchs aufgewachsen

Cees van Halen, ihr Ehemann

Klara Fuchs, Johannas Tochter

Marc Degré †, Wildhüter, Klaras Vater

Kätt Schröder, Johannas Nachbarin; Gritt und Anton, ihre Kinder

Eva Berg †, Hebamme, Kätts Schwester und Mutter von Mia Fuchs

Mia Fuchs, Tochter von Christoph Fuchs und Eva Berg

 

Graf Theodor Ludwig Maria von Kunstätt, Klaras Großvater

Traben-Trarbach

Familie Lanners

Ottilie Lanners, geb. Fuchs

Jean Lanners, ihr Ehemann, Weinhändler

Pit, Sohn

Léini, Tochter ⚭ Emil, Kinder Fini und Tim

Sonstige Personen

Pavel Vévoda, tschechischer Tenor und Musiker

Leto Nóvak, sein Freund

Jupp Sünner, Braumeister, Gretas Onkel

Martha Nußbaum, geb. Fuchs, Johannas Tante

Sophie Nußbaum, Tochter, Juristin, emigriert in die USA

Jakob Nußbaum, Sohn, Arzt, emigriert nach Palästina

Olivier Laroche, Franzose

Prolog

Mitten in der Nacht wird sie wach. Etwas hat sich in ihren Traum gestohlen, eine vertraute Melodie, doch nun ist sie wieder verstummt, und sie hört neben sich nur noch die gleichmäßigen Atemzüge ihrer schlafenden Schwester. Das Fenster steht einen Spalt breit offen, frische Luft strömt herein, vermischt mit dem süßen Duft des Ginsterbuschs neben dem Haus, der in diesem Frühling früher blüht als in anderen Jahren.

Frieden …

Das heiß ersehnte Wort fühlt sich noch immer viel zu ungewohnt an. Doch Deutschland hat kapituliert, die Waffen schweigen, der Krieg ist seit einem Monat zu Ende. Im Schloss, unweit des Hauses Nummer achtzehn gelegen, ist nicht länger ein Lazarett untergebracht, in dem sie und ihre Schwester Sterbende und Verwundete gepflegt haben. Jetzt residieren dort amerikanische Soldaten, die in ihren Uniformen so breitbeinig und selbstbewusst über die Dorfstraße laufen, als gehörte ihnen die ganze Welt.

Krankenschwester hat sie gelernt, da stand der Krieg, der die Eifel zunächst länger als andere Regionen verschont hat, fast schon vor der Tür. Im Winter vierundvierzig ist er auch zu ihnen gekommen, mit schweren Bombardierungen, die im nahe gelegenen Wittlich viele Häuser zerstört und zahlreiche Todesopfer gefordert haben. Dazu die unzähligen Verwundeten vom Westwall, das Schreien und die Not der schwer verletzten Soldaten, von denen etliche für immer an den Folgen zu leiden haben werden, falls sie nicht bereits vor ihren Augen den letzten Atemzug getan haben …

Ja, sie hat viele Hände gehalten, hat fieberheiße Stirnen gekühlt und den letzten Worten Sterbender gelauscht, aber nun hat sie genug. Genug von Wunden, Blut, Gestank und Schmerzen. Nur die Freude an der Musik hat sie diese dunklen Jahre überstehen lassen, ihre täglichen Stimmübungen, dazu der beglückende Gesangsunterricht bei Madame Céline Grimm, von der sie nicht nur das Klavier geerbt hat, das nun bei ihnen in der Scheune steht, sondern zudem auch noch kostbare Noten und Partituren.

Beim Singen ist sie ganz bei sich und kann die Welt um sich herum vergessen. Ach, wenn sie nur könnte, wie sie will, dann würde sie auf der Stelle …

Erneut setzt die zarte Melodie ein, eine Serie gedehnter Pfeiftöne, so klar und rein, wie es nur ein einziger Vogel vermag: die Nachtigall.

Ihre Augen werden feucht, denn sie muss dabei an ihren Stiefvater denken, der das Andersen-Märchen vom chinesischen Kaiser und seiner Nachtigall so wunderschön erzählen konnte, dass sie es als Kinder wieder und wieder hören wollten. Schon vor Jahren hat Bertram die letzte Ruhe gefunden, beigesetzt neben ihrem leiblichen Vater, den sie niemals kennenlernen durfte, weil er noch vor ihrer Geburt kaltblütig erschossen wurde. Nach beiden sehnt sie sich, denn der Mann, mit dem ihre Mutter nun glücklich zusammenlebt, ist ein guter Freund für sie, aber kein Vater.

Die Schwester neben ihr seufzt im Schlaf und regt sich, scheint ihre Unruhe zu spüren. Schon seit Monaten teilen sie sich wieder ein Zimmer, denn das kleine Haus ist voll bis unters Dach. Ob je, seit es vor mehr als hundert Jahren gebaut wurde, so viele Menschen darin Zuflucht gefunden haben? Ganz oben in der kleinen Dachkammer, in der früher Mia schlief, ist nun die Großtante untergebracht, die im niederländischen Exil ihren Mann auf tragische Weise verloren hat und wieder zu neuem Lebensmut finden soll, und hier im ersten Stock, nur durch eine Wand von ihnen getrennt, schlafen ihre Mutter und deren Mann Cees.

Im Nachthemd und mit bloßen Füßen schleicht sie sich hinaus, weicht gerade noch Kater Charlie aus, der auf der obersten Stufe eingekringelt schläft, und geht die arthritisch knarrende Treppe nach unten. Aus der Stube im Erdgeschoss dringt kräftiges Schnarchen. Das Klappbett für Mamas Cousin aus Berlin, das sie dort hineingezwängt haben, ist für seine langen Beine ein ganzes Stück zu kurz, auch wenn er behauptet, er käme prima damit zurecht.

Sie atmet auf, als sie draußen den sanften Nachtwind in ihren Haaren spürt. Blonder Engel, so haben die Soldaten sie genannt, doch das ist sie nicht, sondern eine junge Frau mit so übermächtiger Sehnsucht in der Brust, dass es sie manchmal schier zerreißt.

Nach Leben sehnt sie sich. Nach Liebe und nach Freiheit.

Vor allem aber nach Musik …

Im milchigen Schein der Mondsichel überquert sie die Dorfstraße und öffnet das Gatter zum Garten, in dem es derzeit kaum Blumen gibt, weil sie Kartoffeln und Gemüse weichen mussten. Aber Gelber Hahnenfuß, eine der Lieblingsblumen der Mutter, rankt sich am Zaun empor. Früher sind nachts immer wieder Füchse zu ihnen gekommen, doch seit den Bombennächten hat sich keine der scheuen Fähen mehr blicken lassen.

Aber was ist das?

Unter dem alten Kirschbaum liegt ein Mann auf dem Rücken. Im Dunkel kann sie sein Gesicht nicht sehen.

Ist er betrunken? Oder gar verletzt?

Ein Dieb? Droht Gefahr von ihm?

Soll sie zurück ins Haus laufen und Hilfe holen?

Sie entscheidet sich dagegen, nähert sich ihm zögernd, nimmt aber für alle Fälle die Harke mit, die an der Schuppenwand lehnt.

«Was machen Sie da?», fragt sie barsch. «Das hier ist Privatgrund.»

Hastig springt er auf, steht zitternd vor ihr. Er ist nicht viel größer als sie, sehr mager, mit dunklen Bartstoppeln im Gesicht und wildem schwarzem Haar.

«Verzeihen Sie», stößt er hervor. «Und haben Sie bitte keine Furcht. Ich bin harmlos.»

Sie lässt die Harke sinken.

Er ist nicht von hier, das hat sie sofort gehört. Sein Deutsch klingt kehlig, und was er am Leib trägt, ist kaum mehr als ein Haufen Lumpen.

«Was wollen Sie hier?», fragt sie noch einmal, nun ein wenig freundlicher.

«Ich konnte nicht schlafen, bin rumgelaufen, um müde zu werden, und als ich dann diesen wunderschönen Garten sah, da hat es mich einfach so überkommen. Unser Garten zu Hause ist so weit weg von hier – Sie verstehen? Plötzlich hatte ich ihn wieder vor mir, die Bäume, die Beete, die Blumen, einfach alles. Ich musste die Erde spüren. Ich musste einfach!»

Wieder setzt der Gesang der Nachtigall ein, und für eine kleine Weile lauschen sie ihm beide.

Sie will erneut etwas sagen, doch er kommt ihr zuvor und beginnt zu singen.

Sing, Nachtigall, sing

Ein Lied aus alten Zeiten

Sing, Nachtigall, sing

Rühr mein müdes Herz

 

Sing, Nachtigall, sing

Von tausend Seligkeiten

Sing, Nachtigall, sing

Sing vom Liebesschmerz …

Der Lieblingsschlager ihrer Schwester!

So oft haben sie zugehört, wenn er im Volksempfänger übertragen wurde, doch gesungen von diesem Fremden klingt er ganz anders, als wenn Evelyn Künneke ihn mit ihrem leicht scheppernden Sopran trällert.

Die Tenorstimme des Mannes ist samtig und klar; das Timbre rührt sie an. Stundenlang könnte sie ihm weiter zuhören, doch er bricht plötzlich ab.

«Verzeihen Sie bitte», sagt er und schüttelt den Kopf. «Was müssen Sie bloß von mir denken? Ein Bekloppter, der erst auf der Erde liegt und dann auch noch Schlager schmettert … Jetzt schäme ich mich.» Er tippt an eine unsichtbare Hutkrempe. «Gute Nacht, schönes Fräulein – und grüßen Sie mir bitte die hiesige Nachtigall. Sind übrigens immer Männchen, die für ihre Liebste singen, aber das wissen Sie ja sicherlich …»

Noch ehe sie in ihrer Verblüffung etwas sagen kann, geht er an ihr vorbei, setzt geschmeidig über den Zaun und wird schon bald von der Nacht verschluckt.

Zunächst ist sie noch wie in Trance, dann jedoch spürt sie eine seidige Berührung an der Wade.

Charlie, der ihr nachgelaufen ist, streicht ihr um die Beine. Sie nimmt ihn hoch, vergräbt die Nase in seinem weichen schwarzen Fell.

Er beginnt zu schnurren.

Und ganz plötzlich muss sie weinen.

1

Altenburg Juni 1945 Klara

«Auf keinen Fall gehe ich so mit! In diesen Fetzen sehe ich neben dir ja aus wie eine Vogelscheuche. Der Tanzabend im Eifelglück muss ohne mich stattfinden …»

«Was für ein Unsinn, Klara», unterbrach Mia sie lachend. «So hübsch, wie du bist, stellst du alle in den Schatten.» Übermütig drehte sie sich einmal um die eigene Achse und genoss dabei sichtlich, wie der weiche Stoff um ihre Waden floss. «In meinen Füßen kribbelt es schon wie verrückt. Endlich wieder tanzen – wie herrlich wird das sein!»

«Du hast gut reden. Likas Tupfenkleid sitzt an dir, als wäre es für dich geschneidert. Aber was ist mit mir?» Nur mit Schlüpfer und Unterhemd bekleidet schielte Klara zum Bett, auf dem ein Häuflein ausrangierter Kleider lag. «Nichts als uraltes, verwaschenes Zeug. Mit diesen verdammten Kleidermarken war während des Kriegs an Neues doch gar nicht zu kommen. Du hast noch weibliche Rundungen, Glück gehabt. Aber ich bin inzwischen so mager, dass an mir alles wie ein Kartoffelsack hängt.»

«Papperlapapp», widersprach Mia energisch. «Rank und schlank wie eine junge Tanne bist du, und natürlich finden wir auch für dich etwas Schönes. Mama hat mir erlaubt, in Oma Lisbeths altem Schrank zu kramen, und schau doch nur, was ich dort für dich entdeckt habe.»

Sie zog ein lavendelfarbenes Kleid unter den anderen hervor und hielt es ihr an.

«Das hat schon Mama getragen, sie hat es für sich gekürzt, und weil du größer bist als sie, reicht es dir nur knapp bis über die Knie. Den einstigen Schmuckbesatz gibt es leider nicht mehr, doch wie gut die Farbe mit deinen blauen Augen harmoniert, Schwesterchen! Und deine Haare trägst du heute mal ausnahmsweise offen. Ich habe nämlich genug von diesem stockbiederen Zopf.»

Der große Standspiegel, in einem Wittlicher Ruinengrundstück entdeckt und nach viel Überredungskunst von einem Nachbarn per Fuhrwerk nach Altenburg transportiert, warf Klaras Bild zurück, und sie musste zugeben, dass Mia recht hatte.

Ja, die Farbe schmeichelte ihrem hellen Teint, ließ sie sanft und fast ein wenig geheimnisvoll wirken. Aber war die einstige Abendrobe nicht viel zu elegant für ein Dorffest?

«Aufgedonnert möchte ich aber auch nicht aussehen», sagte sie nachdenklich. «Nicht dass die anderen denken, ich sei …»

«Was denn nun?», unterbrach Mia sie. «Kartoffelsack oder Dame? Würde sagen, dann doch eindeutig lieber Dame, oder?»

Klara musste grinsen.

Niemand konnte sie rascher aufmuntern als die vier Jahre Jüngere, die genau genommen nicht ihre leibliche Schwester war, sondern die Tochter von Mamas Cousin Christoph. Mias Mutter Eva, die Landhebamme, war kurz nach der Geburt verblutet und hatte Johanna ihr Neugeborenes anvertraut, die die Kleine als zweite Tochter angenommen und schließlich adoptiert hatte, weil der Journalistenvater im quirligen Berlin überfordert gewesen wäre.

Vom Charakter her so unterschiedlich wie Tag und Nacht, hingen sie beide von Anfang an in zärtlicher Zuneigung aneinander – wenngleich zwischen ihnen manchmal auch ordentlich die Fetzen fliegen konnten. Langbeinig, schmal und rotblond war Klara, sensibel und hochmusikalisch, begabt mit der Fähigkeit, auch Ungesagtes wahrzunehmen. Meistens hielt sie sich eher im Hintergrund, doch sobald sie zu singen begann, legte sie alle Schüchternheit ab. Dann füllte ihre Präsenz den Raum und riss die Zuhörer zu Beifallsstürmen hin. Mia war rundlicher und etwas kleiner, hatte braune Locken, eine wache, zupackende Art und ging auf Menschen beherzt zu. Mit jedem kam sie rasch ins Gespräch, hatte stets die passende Entgegnung parat und ging unbeirrt ihren Weg, alle Hindernisse beherzt meisternd.

Wehe, wenn jemand ihrer großen Schwester dumm kam! Dann war Mia zur Stelle, entweder mit einer Bemerkung, die den Angreifer verstummen ließ, in jüngeren Jahren gelegentlich auch schon mal mit ihren Fäusten, die einige der allzu dreisten Dorfbengel unsanft zu spüren bekommen hatten. Inzwischen waren die beiden Mädchen zu jungen Frauen herangereift, und Mias Fäuste traten schon lange nicht mehr in Aktion. Ihr schlagfertiges Mundwerk jedoch setzte sie oft und gerne ein.

Klara hatte inzwischen das Kleid angezogen. Es saß locker, aber stand ihr ausgezeichnet. Sie wiegte sich darin vor dem Spiegel leicht hin und her und ließ den seidigen Stoff um ihre Hüften schwingen.

«Siehst du, deine Füße wollen auch schon tanzen.» Mia löste Klaras Zopf und fuhr ihr mit beiden Händen durch die Haare. «Jetzt nur noch einmal kräftig schütteln.»

Klara gehorchte.

«Wunderbar.» Mia lächelte befriedigt. «An deiner Stelle würde ich mich gar nicht mehr groß kämmen, sondern es einfach so lassen. Wie eine wilde Elfe siehst du aus.»

«Wo soll eigentlich die Musik herkommen?», fragte Klara und strich sich, geschmeichelt von dem Kompliment, behutsam übers Haar.

«Kätt hat da wohl ein paar Musiker aufgetrieben, die vor Kurzem noch als Zwangsarbeiter malochen mussten. Mehr hat sie allerdings nicht verraten. Du weißt doch, sie liebt es, die Leute zu überraschen. Genaueres werden wir erst erfahren, wenn es losgeht. Wird sicherlich alles ziemlich improvisiert sein, aber macht uns das etwas aus? Hauptsache, die Tanzerei findet überhaupt statt – und zwar mit uns beiden. Ich ziehe mir jetzt die alte Schürze über und melke noch geschwind unsere Ziegen. Mama hat angeboten, das heute zu übernehmen, aber sie hat sowieso schon genug damit zu tun, uns alle satt zu kriegen und das Haus in Ordnung zu halten. Und in ihrer Werkstatt ist sie jetzt auch wieder öfter. Hast du gesehen, womit sie seit Neuestem experimentiert? Dein Klavier steht doch gleich nebendran.»

Klara schüttelte den Kopf. «Nur aus den Augenwinkeln. Ich bin beim Spielen immer vollkommen konzentriert», erwiderte sie.

«Mit echten Pigmenten, die hat Cees ihr in verbeulten Milchkannen aus Köln mitgebracht: ein Blau, das dich geradezu umhaut. Und das schwärzeste Schwarz, das ich jemals gesehen habe, entstanden aus verbranntem Elfenbein, das muss man sich einmal vorstellen! Dazu Schwefelgelb, Magenta, kräftiges Purpur – alles Farben, die die Welt zum Leuchten bringen. Wenn das Material nicht so kostbar wäre, ich könnte glatt anfangen mitzumalen. Geh mal rüber und schau dir das an.»

An der Tür drehte Mia sich noch einmal zu Klara um.

«Und das Kleid bleibt an», sagte sie. «Verstanden? Einen Rückzieher gibt es heute nicht!»

«Aye, aye, captain», erwiderte Klara und nahm spielerisch Haltung an. «Dann auf zum Tanz!»

*

Als sie gemeinsam im Wirtshaus Eifelglück ankamen, direkt neben ihrem Bauernhaus gelegen, war die Gaststube bereits gut gefüllt. Nicht nur zahlreiche Einwohner von Altenburg waren erschienen; Klara entdeckte unter den Gästen auch einige bekannte Gesichter aus Heckenmünster, Gladbach und Heidweiler. Sogar aus dem sechs Kilometer entfernt gelegenen Töpferdorf Niersbach stammten ein paar Besucher, darunter auch der langjährige Familienfreund Peter Michael Streit mit seiner Frau Ida. Alle hatten sich fein gemacht, so gut es eben ging, hatten die besten Kleider herausgekramt, wenngleich das meiste trotzdem altbacken und eher ärmlich wirkte. Die Anzüge der Männer glänzten abgetragen, und auch bei den Frauen sah es kaum besser aus. Kittelschürzen waren die übliche Alltagskleidung der Eifelbäuerinnen, darin hatte sich in den kargen Kriegsjahren erst recht nichts geändert. In allem anderen bewegten sie sich eher steif, weil es ungewohnt für sie war.

«Was für ein übler Weiberüberschuss», flüsterte Mia Klara zu. «Siehst du das? Mannsbilder sind Mangelware und junge Mannsbilder natürlich erst recht. So viele sind totgeschossen, vermisst oder kriegsversehrt, welch ein Jammer! Ganze Jahrgänge wurden ausgelöscht. Da werden heute wohl einige Frauen sitzen bleiben – aber gewiss nicht wir …»

Kätt, Wirtin des Eifelglücks, Mias leibliche Tante und Klaras Taufpatin, empfing sie lächelnd, an ihrer Seite ihre stets freundliche Schwägerin Lika, die das Dorflädchen sowie die örtliche Poststation betrieb. Ein Stück hinter ihnen stand, noch immer ganz in Schwarz, Kätts Tochter Gritt, deren Ehemann Rob in den letzten Kriegsmonaten gefallen war. Als die Bomben über Wittlich an Weihnachten 1944 nicht nur ihre Wohnung, sondern auch das einstmals jüdisch geführte Bekleidungshaus zerstört hatten, in dem sie seit Jahren gearbeitet hatte, war die junge Witwe schließlich zu ihrer Mutter nach Altenburg zurückgekehrt.

Dies war das erste Mal seit Langem, dass Gritt sich wieder unter Leute wagte. Klara nickte ihr aufmunternd zu, weil sie ahnte, welche Überwindung sie das kosten musste. Die blonde Gritt hatte Mia und Klara gehütet, als sie noch Kinder waren, und auch wenn sie ein Altersunterschied von neun Jahren trennte, war sie für Klara ebenso eine Cousine wie für Mia.

«Da seid ihr ja endlich», sagte Kätt resolut. «Und beide so hübsch herausgeputzt. Entdecke ich da etwa Johannas altes Staatskleid? Steht auch der Tochter, muss schon sagen! Aber wo steckt Johanna eigentlich? Sie wollte doch auch …»

«Mama und Cees kommen nach», erwiderte Mia. «Gemeinsam mit Christoph muntern sie noch Großtante Martha auf, weil die wieder einmal keinen Fuß vor die Tür setzen möchte. Aber sie muss doch raus! Sonst verrottet sie uns noch unter dem Dach.»

«Ihr Paul ist tot, natürlich geht es ihr nicht gut. Aber wie es ist, seinen Mann zu verlieren, kann wohl nur eine Frau nachempfinden, die dasselbe durchmachen musste.» Kätt zog sie ein wenig zur Seite. «Ich habe damals nach dem Tod von meinem Hans Monate gebraucht, um wieder halbwegs zur Besinnung zu kommen», fuhr sie halblaut fort. «Bringt meine Gritt heute bitte auf andere Gedanken. Sie vermisst ihren Rob.»

Klara und Mia nickten einhellig.

Was Kätt sagte, hatte Gewicht, so war es, seit sie denken konnten. Von deren erstem Tag in Altenburg an hatte Kätt ihrer Mutter mit Rat und Tat zur Seite gestanden, hatte alles getan, damit Johanna, aufgewachsen in Trier als verwöhntes Nesthäkchen eines Tabakfabrikanten, sich einleben und schließlich sogar ihr künstlerisches Talent entfalten konnte. Auch Kätt hatte ein einfaches blaues Kleid an, dem man ansah, dass es abgetragen war, doch die Zeit war gnädig mit Kätt Schröder umgegangen, hatte ihr nur ein paar mehr silberne Strähnen ins dunkle Haar gezaubert und ihre Lachfältchen vertieft. Wie eh und je stand sie stolz und aufrecht in ihrer Gaststube, obwohl die Sorgen um ihren Sohn sie kaum noch schlafen ließen.

«Noch immer nichts Neues von Toni?», erkundigte sich Klara leise.

Ein knappes Kopfschütteln. «Der Lukas Schmitt aus Heckenmünster will ihn angeblich in einem dieser fürchterlichen Rheinwiesenlager gesehen haben, wo die Gefangenen unter freiem Himmel schlafen mussten und kaum etwas zu essen bekamen», erwiderte Kätt. «Aber ganz sicher war er sich dann doch nicht.»

«Und wieso haben die Alliierten den Lukas schon gehen lassen und Toni halten sie noch immer fest?» In Mias Stimme lag ein winziges Zittern. «Er ist doch ein ganz normaler junger Soldat!»

«Das musst du schon die Amis fragen», sagte Kätt matt. «Die regieren diese Lager. Ich habe jemand sagen hören, dass sie am liebsten alle Deutschen bestraft sehen wollen. Weil ja alle diesen Hitler gewählt haben.»

«Hitler hat Selbstmord begangen», antwortete Klara ungewohnt fest. «Und wir sind nicht alle schuld an dem Schrecklichen, das passiert ist. Wir waren noch Kinder, und unsere Eltern haben niemals mitgebrüllt. Gab einige Deutsche wie sie, die dagegen waren, auch wenn sie nicht viel gegen den Naziterror ausrichten konnten. Ich bin sicher, das wissen auch die Amis. Die Schuldigen sollen ihre Strafe bekommen, und das nicht zu knapp, dafür bin ich auch. Aber wir anderen – wir wollen doch endlich wieder leben.» Ihr Lächeln wirkte bemüht. «Und jetzt lasst uns zusammen fröhlich sein. Eine halbe Ewigkeit haben wir darauf warten müssen …»

Die einsetzende Melodie ließ sie verstummen.

Zwei Männer hatten Seite an Seite den voll besetzten Gastraum betreten und gingen zwischen den Tischen hindurch, ein Blonder, der Geige spielte, neben ihm ein Schwarzhaariger, der ein Akkordeon bediente und dazu sang:

Goodbye Johnny, goodbye Johnny.

Warst mein bester Freund.

Eines Tages, eines Tages –

Mag’s im Himmel sein?

Mag’s beim Teufel sein? –

Sind wir wieder vereint …

«Aber das ist ja von Hans Albers», flüsterte Mia hingerissen, die ein großes Faible für den Hamburger Schauspieler mit den frechen Sprüchen hatte.

Klaras Gedanken überschlugen sich.

Das war der geheimnisvolle Mann, der vor zwei Wochen nachts in ihrem Garten gelegen hatte! Diese Stimme hatte Klara nicht vergessen, auch wenn er sich jetzt bemühte, den flotten Song schräg zu interpretieren.

Er hatte sie ebenfalls wiedererkannt, das sah sie an dem kurzen Lächeln, das bei ihrem Anblick sein Gesicht erhellte.

Doch nicht allen Anwesenden schien die Musik zu gefallen.

«Geht es nicht ganz auf Deutsch?», drang ein mürrischer Ruf durch den Gastraum. «Reicht schon, wie die Amis uns schinden …»

«Peter Kreuder hat das Lied komponiert», rief der Sänger zurück. «Und der Text stammt von einem gewissen Hans Fritz Beckmann. Deutscher geht es wohl kaum. Ich hab das Lied als Zwangsarbeiter im Straflager von einem Mitgefangenen gelernt. Warum ich dort war? Weil ich nämlich versehentlich in Brünn zur Welt gekommen bin.» Er deutete eine Verneigung an und sagte mit einem weichen, kehligen Akzent: «Pavel Vévoda, Tenor meines Zeichens und einst gar nicht unerfolgreich auf den Bühnen von Brünn, Prag und Wien – bis euer Hitler etwas dagegen hatte, für den wir Tschechen ja bloße Arbeitssklaven waren. Der an der Geige ist übrigens mein Freund Leto Nóvak. Manche nennen ihn auch den Teufelsgeiger. Aber überzeugen Sie sich am besten selbst.»

Leto begann so wild zu fiedeln, dass ein paar Münder offen standen, unterbrach sein Spiel dann aber jäh und hielt sein Instrument hoch.

«Leto heißt auf Deutsch Sommer, ist also ziemlich einfach zu merken», sagte er grinsend. «Muss mich entschuldigen, wenn ein paar Töne vielleicht schief klingen, denn meine Schöne hat jede Menge durchgemacht und braucht eigentlich dringend einen Geigendoktor. Doch für heute Abend nehmen wir beide uns schwer zusammen.»

Er nickte dem Dunklen zu, und sie begannen erneut zu spielen, eine lockere, heitere Melodie, die viele zu kennen schienen.

«Ein Freund, ein guter Freund – das stammt doch aus dem Film Die Drei von der Tankstelle mit Willy Fritsch und Lilian Harvey.» Sogar Gritt hatte plötzlich ein vergnügtes Lächeln im Gesicht. «Ganze drei Mal hintereinander haben wir uns den damals im Wittlicher Kinopalast angeschaut, weil er uns so gut gefallen hat.»

Peter Michael Streit zog seine zunächst widerstrebende Frau auf die provisorische Tanzfläche in der Mitte der Gaststube, die durch das Verrücken von Tischen und Stühlen entstanden war. Doch als er sie dann erst einmal in den Armen hielt und die beiden sich zur Musik wiegten, begann auch die strenge Ida zu lächeln.

Andere folgten ihnen nach, und weil es zu wenige Männer gab, tanzten eben auch Frauen miteinander.

«Polka!», wurde als nächster Wunsch geäußert, und die beiden Musiker ließen eine flotte Polka folgen, die begeisterten Anklang fand. Sie spielten Volksweisen, Kinderlieder, zwischendrin einen langsamen Walzer, und die Stimmung im Eifelglück wurde immer ausgelassener. Kätt und Lika servierten hausgemachten Apfelwein; für besonders Hungrige gab es dünn bestrichene Schmalzbrote.

Mia war mittendrin im Getümmel, während Klara nach den ersten beiden Tänzen lieber am Tisch sitzen blieb, weil sie so die Musikanten besser beobachten konnte.

Die Musikanten?

Eigentlich galt ihre Aufmerksamkeit einzig und allein dem Schwarzhaarigen.

Pavel Vévoda – was für ein klingender Name!

Seine geschulte Stimme war viel zu schade für diese einfachen Gassenhauer, die er hier vortrug, doch er tat es mit Hingabe, nicht anders, als ob er auf einer großen Bühne stünde. Weich, warm und gleichzeitig hell klang sie – und ging Klara mitten ins Herz. Dazu kam, dass er ein geflicktes weißes Hemd trug und eine vorwitzige schwarze Locke ihm immer wieder in die Stirn fiel. Samtbraune Augen unter dichten Brauen hatte er, das war ihr gleich aufgefallen, und eine markante Nase. Geschwungene Lippen, die gleichzeitig etwas Energisches hatten. Ein bisschen verwegen sah er aus, besonders, wenn er ernst dreinschaute, doch sobald er lächelte, wirkte er ungemein sympathisch.

«Schön, oder?», sagte sie zu Gritt, die neben ihr stand. «Alles klingt so … selbstverständlich!»

«Sehr schön sogar. Warum singst du eigentlich nicht mit?», erwiderte Gritt. «Die Leute hier würden es lieben! Bei deinen Kirchensoli sind alle immer mucksmäuschenstill. Und ich weiß, dass auch deine kleinen Wittlicher Privatkonzerte während des Krieges heiß begehrt waren.»

«Ich? Du bist ja verrückt! Der Mann ist Künstler mit jahrelanger Bühnenerfahrung, während ich noch ganz am Anfang …» Klara brach ab.

«Du wünschst dir doch nichts anderes, als vor Publikum zu singen, oder?» Gritt ließ nicht locker. «Dann trau dich, Klara! Jetzt hast du die beste Gelegenheit dazu!»

Klara schüttelte den Kopf, obwohl alles in ihr genau danach schrie. «Ich mach mich doch nicht lächerlich», sagte sie. «Seit Monaten kein Gesangsunterricht, weil meine geliebte Madame Grimm nicht mehr am Leben ist. Ich übe zwar jeden Tag, aber dabei sind unsere Ziegen mein einziges Publikum. Nein, das lass ich lieber schön bleiben …»

Sie ging zur Tür, um ihre Mutter und Cees zu begrüßen, die gerade hereingekommen waren, und sie an ihren Tisch zu holen.

Johanna zeigte auf die Musiker. «Die beiden sind ja richtig gut», sagte sie überrascht. «Erstaunlich, was eine Geige und ein Akkordeon alles zustande bringen können.»

«Zwei Tschechen», erklärte Klara. «Pavel und Leto. Waren als Zwangsarbeiter in Wittlich …»

«Kennst du die beiden denn näher?», fragte Johanna.

«Nein», erwiderte Klara rasch und hoffte, dass sie dabei nicht errötete. Die Mondnacht im Garten mit ihm gehörte ihr ganz allein. Nicht einmal Mia hatte sie ein Sterbenswörtchen davon erzählt. «Sie haben sich anfangs kurz vorgestellt. Und seitdem musizieren sie.»

«Dann wollen wir beide die Gunst der Stunde nutzen, komm, meine Schöne!» Cees bat Klara, seinen Mantel und Johannas Jacke aufzuhängen, und zog Johanna auf die Tanzfläche.

Was für ein ansehnliches Paar!

Klara dachte es jedes Mal, wenn sie die beiden zusammen sah: der stattliche Niederländer, dessen blonde Haare inzwischen reichlich Grau aufwiesen, und ihre schlanke Mutter mit den kinnlangen Locken, die sich immer noch so geschmeidig bewegte wie ein junges Mädchen. Sie hatten lange aufeinander warten und einiges durchstehen müssen, bis sie sich 1938 endlich das Jawort geben konnten. Kurz darauf kam der Krieg und mit ihm schließlich die verheerenden Bombardierungen Kölns, bei denen auch Cees’ Galerie im Belgischen Viertel zu Schutt und Asche zerfallen war. Zum Glück hatte er die kostbarsten Werke noch kurz zuvor in Sicherheit bringen können: Vermittelt durch die Fürsprache Konrad Adenauers, der dort selbst einige Zeit Zuflucht vor den Nationalsozialisten suchen musste, hatte Abt Ildefons Herwegen die Werke in einem Seitenkeller des Klosters Maria Laach versteckt. Ein kluger Schachzug von Cees, sich ausgerechnet Adenauer als Fürsprecher zu suchen, denn die Amerikaner hatten den streitbaren Juristen nach Kriegsende erneut als Oberbürgermeister von Köln eingesetzt.

Nun galt es, den Schatz wieder nach Köln zurückzuführen.

Doch womit transportieren?

Und woher geeignete Räume nehmen in einer zerbombten Stadt, in der kaum ein Stein auf dem anderen geblieben war? Wer würde sich zudem in diesen schweren Zeiten überhaupt für Kunst begeistern lassen?

Andere mochten verzweifeln und hadern, doch Klara gefiel an Cees van Halen, dass er seinen ansteckenden Optimismus niemals verlor.

«Kommt Zeit, kommt Kunst», sagte er. «Sobald der leibliche Hunger gestillt ist, erwacht auch wieder der Hunger nach Schönem, das war bislang nach jedem Krieg so. Und dann schlägt meine Stunde …»

Ihr Blick glitt erneut zu Pavel, dessen schlanke Finger bravourös auf den Tasten des Instruments tanzten. Als er zu ihr aufblickte, schaute sie schnell zur Seite und sah Gritt leicht verloren am Rand der Tanzfläche stehen.

Sie ging zu ihr, damit sie sich nicht so allein fühlte, während Mia lachend mit Tedi Breuer vorbeiwirbelte. Der zaundürre Sohn von Ex-Bürgermeister Schäng Breuer war niemals ein strammer Nationalsozialist wie sein Vater gewesen, der noch in den letzten Kriegstagen die alten Männer und die halbwüchsigen Jungen des Dorfs in den Volkssturm gezwungen hatte. Alle hatten aufgeatmet, als Schäng endlich getürmt war, kurz bevor die Amerikaner Altenburg erreicht hatten. Seitdem war er wie vom Erdboden verschluckt, aber keiner weinte ihm eine Träne nach, offenbar nicht einmal seine Familie. Tedi war nach schweren Verletzungen im Russlandfeldzug als wehruntauglich ausgemustert worden und noch nicht wieder ganz im zivilen Leben angekommen. Schüchtern und ein wenig linkisch, schmachtete er Mia schon seit einiger Zeit heimlich an, hatte bislang jedoch nicht gewagt, sich ihr zu nähern. Heute war definitiv sein Glückstag, das verriet sein strahlendes Gesicht.

«May I ask for this dance, young lady?»

Zwei GIs hatten die Gaststube betreten. Nicht nur, dass sie größer waren als die wenigen anwesenden Männer; sie waren auch deutlich besser genährt, hatten breite Schultern und muskulöse Arme und Beine. Der Jüngere von beiden war erwartungsvoll vor Gritt stehen geblieben, ein Rotschopf mit einer Armada von Sommersprossen auf der Nase.

«Ich tanze nicht.» Ihr Gesicht hatte sich vor Verlegenheit rosig gefärbt.

«Meine Tochter ist in Trauer. Sie sehen doch …», sprang ihr Kätt bei, die gerade mit einem Tablett in der Nähe war.

Hatte er nicht verstanden oder wollte er nicht verstehen? Aufgeben schien für den Amerikaner in der olivgrünen Uniform jedenfalls keine Option zu sein. Das Verbot einer Fraternisierung zwischen Besatzern und Besiegten existierte offenbar nicht für ihn.

«Come on – only one dance», insistierte er.

«Leave her alone.» Sein dunkelhaariger Begleiter klang leicht indigniert. «She’s a widow. Don’t you see, Pat?»

«Yes, she’s a widow, but I love dancing!»

Das Stück war gerade zu Ende. Mia ließ den verdatterten Tedi stehen und wandte sich dem Amerikaner zu.

«Wochenend und Sonnenschein», stimmten die beiden Musikanten an, und Mia lächelte dazu einladend.

«I’m Patrick», sagte der GI. «Pleased to meet you …»

«Mia.» Die Antwort kam ohne Zögern. «Let’s dance!»

Er legte den Arm um sie und führte sie auf die Tanzfläche.

Sein Kamerad stand noch immer bei Klara und Gritt.

«Please forgive him», sagte er. «Patrick is always a little bit – fresh. Irisches Blut eben! Nicht bös gemeint, nur sein Temperament. Sagt man dazu nicht hitzig?»

«Hitzig – ja. Sie sprechen Deutsch?», sagte Klara verblüfft. «Und fließend dazu!»

«Nicht fließend, nein.» Er schüttelte lächelnd den Kopf. «Hab einiges verlernt. Sehr viel sogar. Aber bei uns in Philadelphia leben viele mit deutschen Vorfahren. Dutch, so heißt unser Spezial-Dialekt. Nicht ganz leicht zu verstehen, aber definitiv not English.» Er deutete eine kleine Verneigung zu ihr und Gritt an. «Corporal James Wilson, ladies.»

«Dann sind Sie im Schloss untergebracht?» Inzwischen hatte auch Gritt ihre Sprache wiedergefunden.

«That’s right. Wir hatten noch nie ein nobleres Quartier. Graf Kunstätt ist ein großzügiger Gastgeber.»

«Jetzt ist Tanzpause», rief Kätt resolut in den Raum und winkte die Musiker heran. «Ihr beide setzt euch an den Tisch und stärkt euch. Danach geht’s dann mit frischen Kräften weiter.»

Pavel und Leto ließen sich nicht lange bitten, legten ihre Instrumente beiseite und griffen beherzt nach den Käse- und Schmalzbroten.

Die Menge jedoch begann zu murren, weil alle weitertanzen wollten, bis sich der Rothaarige vor Pavel aufbaute.

«Please lend me your accordion», bat er. «I would like to play some Irish songs.»

Pavel zögerte kurz, dann nickte er. «Go ahead», sagte er. «Musik ist international.»

I’ve been a wild rover for many’s the year

And I’ve spent all me money on whiskey and beer

But now I’m returning with gold in great store

And I never will play the wild rover no more

 

And it’s no, nay, never

No, nay never no more

Will I play the wild rover

No never no more …

Patrick spielte souverän, und seine Stimme klang fest. Und obwohl garantiert kaum einer der Anwesenden auch nur ein Wort verstand, fuhr der Rhythmus allen sofort in die Beine. Auch Pavel blieb nicht länger auf seinem Stuhl sitzen, sondern schluckte den letzten Bissen herunter und stand auf.

Er wird doch nicht etwa mich fragen, dachte Klara am Rand der Tanzfläche in einer verrückten Mischung aus Hoffnung und Furcht. So lange habe ich nicht mehr getanzt und garantiert alles verlernt. Und dann auch noch ausgerechnet er! Wenn er mich tatsächlich auffordert, werde ich vermutlich auf der Stelle ohnmächtig …

«Darf ich bitten?»

Da war er, jener Satz, den sie voller Bangnis erhofft hatte.

Samtbraune Augen ruhten freundlich auf ihr, sie jedoch brachte kein einziges Wort heraus, sondern stand stumm vor ihm.

«Meine Schwester Klara ist manchmal ein bisschen schüchtern», hörte sie Mia fröhlich neben sich sagen. «Ist nichts gegen Sie persönlich, sondern einfach ihre Art. Nehmen Sie mich. Ich bin Mia und tanze zu gern!»

Fassungslos starrte Klara ihnen hinterher, während sie sich zur Musik bewegten, und die beiden tanzten auch noch weiter, als Patrick als nächsten Song My Bonnie is over the Ocean anstimmte, der den versammelten Gästen noch besser zu gefallen schien, denn nun war die Tanzfläche plötzlich gedrängt voll.

«Jetzt ist Patrick ganz in seinem Element», sagte der Corporal zu Klara, während er sich eine Zigarette anzündete und genussvoll zu rauchen begann. Viele neidische Blicke flogen zu ihm; so manch einer im Raum begann sehnsüchtig zu schnuppern. Auch in der Wittlicher Tabakregion, in der wie im gesamten Deutschen Reich seit Kriegsbeginn alle Rauchwaren mit Bezugskarten streng rationiert waren, galten Amizigaretten als etwas Besonderes. Manche behaupteten sogar, sie würden über kurz oder lang die wertlos gewordene Reichsmark als heimliche Währung ablösen. «Musik ist sein Leben. Tanzen kann er sogar noch besser als schießen! Aber Sie müssen doch keine Angst haben, young lady. Der Krieg ist schließlich vorbei.»

War ihm etwa aufgefallen, dass ihr das Herz überlaut gegen die Rippen schlug und die Augen überzulaufen drohten, weil Pavel Mia zu den nachfolgenden Klängen von When Irish Eyes are Smiling noch näher zu sich herangezogen hatte?

Sie hatte sich rasch von dem Amerikaner abgewandt, damit er bloß nichts bemerkte, doch vielleicht nicht rasch genug.

Wie peinlich ihr das war! Keiner sollte sehen, wie viel es ihr ausmachte. Sie kannte diesen Pavel doch gar nicht, aber offenbar hatte er mit seinem Gesang ihr Herz betört. Und jetzt betörte er Mia.

Klara drehte sich um und lief aus der Gaststätte, hinaus in die Nacht.

Die frische Luft draußen tat ihr gut, der Herzschlag verlangsamte sich, und ihr Atem wurde wieder ruhiger. Nach ein paar Schritten blieb sie auf der Dorfstraße stehen, an der rechts und links alle Häuser dunkel waren, nur aus der Gaststube drang Licht nach außen.

Einfach weglaufen – wie ein launischer Backfisch hatte sie sich gerade aufgeführt. Dabei war sie es doch gewesen, die nicht auf Pavels Aufforderung reagiert hatte, obwohl sie nichts lieber getan hätte. Warum konnte sie nicht ein bisschen mehr sein wie Mia, die niemals lange grübelte, sondern jede Gelegenheit beim Schopf packte? So oft hatte sie die Jüngere schon um diese Gabe beneidet, doch so inständig wie heute noch nie.

Andererseits: Was durfte sie von dem tschechischen Tenor erwarten? Seine Leidenszeit als Zwangsarbeiter war vorbei. Über kurz oder lang würde er in seine Heimat zurückkehren, um sich dort wieder als Sänger feiern zu lassen. Das winzige Eifeldorf Altenburg war lediglich eine Zwischenetappe für ihn. Klüger also, sich ihn und alles, was mit ihm zu tun hatte, schnellstens aus dem Kopf zu schlagen.

Sollte er ruhig mit Mia weitertanzen, wenn es ihn denn glücklich machte …

Sie hatte kehrtgemacht und ging langsam wieder zum Eifelglück zurück, aus dessen offen stehenden Fenstern Musik drang. Pavel und Leto hatten erneut das Musizieren übernommen, spielten deutsche Schlager, und die Stimmung schien prächtig. Als sie von draußen in den Gastraum spähte, entdeckte sie auf einigen Tischen Schnapsgläser.

Kätt hatte ihren Obstbrand herausgerückt, ein Glück für die Gäste, da niemand anderer weit und breit sich so gut wie sie auf diese feine Mischung von Apfel- und Birnenaromen verstand.

Oder war das nicht ganz freiwillig gewesen?

Noch am Vortag hatte die Wirtin Klara anvertraut, dass sie dies auf jeden Fall vermeiden wollte. Die ausgehungerten Mägen der Dörfler vertrugen nach den Jahren des Mangels den hochprozentigen Alkohol nicht mehr gut; war Schnaps im Spiel, hatte schon in Friedenszeiten oft ein Wort das andere gegeben, und es hatte in einer Rauferei geendet. Und tatsächlich waren im hinteren Teil des Gastraums zwei Männer dabei, heftig aufeinander einzudreschen. Die GIs gingen dazwischen und trennten die beiden Streithähne. Michel Zunker aus Altenburg ließ sich widerstandslos zur Tür geleiten. Sein Gegner dagegen wehrte sich mit Händen und Füßen. Dieser Jonas Brusche aus Heckenmünster war schon vor dem Krieg auf diversen Kirmesfesten als Raufbold aufgefallen; seine Erlebnisse an der Front hatten ihn offenbar nicht ruhiger werden lassen – ganz im Gegenteil.

«Scheißamis!», krakeelte Brusche, während der amerikanische Rotschopf ihm die Hände auf dem Rücken festhielt. «Haut endlich ab und lasst uns in Ruhe. Wenn ihr glaubt, ihr hättet uns Eifler ein für alle Mal erledigt, dann habt ihr euch geschnitten …»

«Abführen!», kommandierte Corporal Wilson ungerührt. «A night in the castle cellar will quickly bring him back to his senses.»

Sie zerrten den Widerspenstigen an Klara vorbei in Richtung Schloss.

Klara atmete tief ein, dann betrat sie erneut die Gaststätte.

Lächeln, befahl sie sich, obwohl ihr Herz bei Pavels Anblick erneut ins Stolpern geriet. Du willst nichts von ihm, gar nichts …

*

Endlich war Mias aufgeregter Redefluss im Doppelbett der Schwestern verstummt. Wie sehr sie von dem schwarzhaarigen Tschechen geschwärmt hatte!

«Eine richtige Berühmtheit hat sich da zu uns verirrt, weißt du das eigentlich, Klara? Tanzen kann er, singen wie ein junger Gott, und wie gut er gerochen hat, so männlich und frisch! Ich bin sicher, er hat jede Menge über sein aufregendes Leben zu erzählen – ich kann es kaum erwarten, alles darüber zu erfahren.»

Pavel, Pavel und noch einmal Pavel!

Mias Geplapper hatte einfach kein Ende nehmen wollen.

Wie sollte Klara sich da diesen Kerl aus dem Kopf schlagen? Sie wälzte sich von einer Seite auf die andere, todmüde und gleichzeitig noch immer hellwach. Irgendwann war sie doch kurz davor, einzuschlafen, als sie vom Nachbargrundstück her plötzlich gedämpfte Frauenstimmen hörte, dazu ein seltsames Schleifgeräusch, das sie nicht einordnen konnte.

Sie stand auf, ging zum Fenster, schaute hinaus.

Nebenan zerrten Kätt, Lika und Gritt mit vereinten Kräften ein großes Fass in Richtung Jauchegrube. Dann griff Kätt zur Axt, holte aus und hackte ein Loch in das Fass.

Sie schütteten Kätts kostbaren Obstbrand weg. Wieso das denn?

Kopfschüttelnd ging Klara schließlich ins Bett zurück. Sie würde Kätt am nächsten Tag danach fragen.

 

Noch vor Sonnenaufgang wurde unsanft an die Haustür geschlagen. Zwei GIs begehrten Einlass und durchforsteten das Haus Nummer achtzehn vom Keller bis unters Dach. Anschließend gingen sie über die Straße und setzten ihre Aktion im Stall und der Scheune fort; nicht einmal das Hühnerhaus blieb verschont.

Cees, der von allen Hausinsassen am besten Englisch sprach, fragte höflich nach dem Grund für die Durchsuchung, erhielt jedoch nur eine knappe Antwort.

«Schnaps. Everything must be delivered, Captain’s order.»

Schließlich zogen die amerikanischen Soldaten unverrichteter Dinge wieder ab. Nebenan bei Kätt gingen sie noch gründlicher vor und unterzogen dabei jede der Frauen einzeln einem eingehenden Verhör. Sie wollten sich einfach nicht davon überzeugen lassen, dass es kein heimliches Lager für Hochprozentiges gab. In ihrem Ton war nichts mehr von der leutseligen Fröhlichkeit des Vorabends gewesen, wie Gritt anschließend aufgeregt Klara und Mia berichtete.

«Dem Rotschopf war es wenigstens noch peinlich, dass er uns so ausquetschen musste, dieser Wilson aber ist ein ganz Scharfer, das kann ich euch vielleicht sagen. Seine Freundlichkeit war nur gespielt. Sie sind die Sieger, und wir müssen gefälligst tun, was sie uns anschaffen.»

«Und ihr habt tatsächlich alles weggeschüttet?», vergewisserte sich Klara.

Ein winziges Lächeln zuckte um Gritts Mundwinkel. «Zumindest haben wir ihnen das gesagt und sie zur Jauchegrube geführt», sagte sie spitzbübisch. «Sie hat gesagt, sie hat genug von den Prügeleien besoffener Mannsbilder. Aber du kennst doch meine Mutter, oder?»

Klara nickte.

«Eine Kätt Schröder findet immer einen Ausweg.»

*

Klara war diesem Pavel aus dem Weg gegangen, so gut sie es in einem Hundertseelendorf eben konnte. Aber man traf unweigerlich aufeinander, jetzt, wo die Tage so lang waren und ein warmer, regenarmer Sommer die Menschen auf die Felder trieb. Die günstige Wetterlage hatte das Korn schneller reifen lassen als in anderen Jahren, und auf den Wiesen stand die erste Heumahd an. Leto und Pavel packten bei einigen Höfen tatkräftig mit an, wo Söhne gefallen waren oder sich noch immer in Kriegsgefangenschaft befanden.

«Ich werde auch diese tüchtigen Tschechen nehmen», verkündete Johanna eines Abends, als sie unten in der Küche mit ihren Töchtern und Tante Martha beim Abendbrot zusammensaß. Cees war mit einem der Fuhrwerke nach Wittlich mitgefahren, um an eine funktionierende Telefonleitung zu kommen. «Christoph laboriert noch immer an seiner uralten Kriegsverletzung herum, der fällt aus, mein Mann hat sich im letzten Jahr beim Heuen nicht gerade als sonderlich geschickt erwiesen, und für euch junge Frauen allein sind die dicken Ballen einfach zu schwer. Ihr leitet die beiden Tschechen an, helft mit, so gut ihr könnt, und ich sorge für das leibliche Wohl. Gemeinsam schaffen wir das ohne Probleme.»

Mia lächelte erwartungsfroh, während Klara Bangigkeit überfiel. Ihm den ganzen Tag so nah zu sein, leicht bekleidet, schwitzend, die Mahlzeiten teilend, die an den Erntetagen stets reichhaltiger ausfielen – welchen Auftrieb würde das ihren sehnsüchtigen Fantasien geben!

Doch Pavel zeigte sich während der Arbeit unerwartet zurückhaltend, auch Mia gegenüber, die bei jeder Gelegenheit mit ihm zu flirten versuchte. Er war freundlich zu allen und packte beherzt mit an, gab aber kaum etwas Persönliches preis. Dankbar nahm er das Essen an, labte sich an frisch gebackenem Brot, an Dauerwurst, Döppekooche, einem gehaltvollen Auflauf, an Käse und Erpelschloot, wie man bei ihnen den Kartoffelsalat mit Schinkenspeck nannte, und zeigte sich besonders begeistert über den täglich frisch gebackenen Birrebunnes, zu dem sich Großtante Martha endlich wieder hatte aufraffen können. Nach dem Essen jedoch blieb er nicht bei Leto und den anderen sitzen, sondern legte sich ein Stück entfernt zur kurzen Ruhepause ins Gras. Mia äugte sehnsüchtig nach ihm, was Klara sehr wohl bemerkte, wagte aber nicht, sich ihm zu nähern. Selbst nachdem das Heu eingebracht war, entzog Pavel sich dem üblichen Umtrunk, an dem alle anderen teilnahmen, und war plötzlich irgendwohin verschwunden.

Klara setzte sich im Atelier der Mutter ans Klavier, als alle die Scheune verlassen hatten, nach vielen Tagen endlich wieder einmal. Es würde noch dauern, bis es dunkel war, doch schon jetzt war zu spüren, wie dem warmen Tag allmählich der Atem ausging. Drinnen wirkte die Luft fast golden, war erfüllt von winzigen Heuteilchen, die scheinbar schwerelos um sie herumflirrten. Ihre Hände fanden die Tasten wie von selbst, und erst nach ein paar Augenblicken wurde ihr bewusst, dass sie das Abendgebet spielten, das sie gemeinsam mit Madame Grimm einstudiert hatte.

Klara begann zu singen.

Abends, will ich schlafen gehn

vierzehn Engel um mich stehn

Zwei zu meinen Häupten

Zwei zu meinen Füßen

Zwei zu meiner Rechten

Zwei zu meiner Linken …

Sie sang nicht mehr allein. Eine Männerstimme hatte sich dazugesellt, die das Gebet voller und noch lebendiger machte, genau so, wie das Duett eben klingen sollte, auch wenn es eigentlich für Sopran und Mezzosopran komponiert war.

Zweie, die mich decken

Zweie, die mich wecken

Zweie, die mich weisen

Zu Himmels Paradeisen …

Jetzt schwiegen beide Stimmen. Klara und Pavel sahen sich an, und sein Blick war voller Wärme.

«Sie singen ganz wunderbar», sagte er nach einer Weile. «Ein Mezzosopran voller Weichheit und Gefühl – und dann auch noch eines meiner absoluten Lieblingsduette! Ich habe Humperdincks Hänsel und Gretel zum ersten Mal in der Prager Oper erlebt, da war ich gerade acht Jahre alt. Seitdem liebe ich diese Oper.»

«Ich kenne sie bisher leider nur als Libretto», erwiderte Klara. «Altenburg ist ja nicht gerade der Nabel der Opernwelt. Aber meiner Gesangslehrerin lag sie sehr am Herzen. Kein Wunder, denn Madame Grimm ist zwanzig Jahre lang in diversen Inszenierungen als Hänsel aufgetreten.»

«Doch nicht etwa die Céline Grimm?», fragte er nach.

«Genau die.»

«Dann hat sie das Fach gewechselt, denn ich habe sie 1938 in Wien als Marschallin im Rosenkavalier erlebt – welch fantastische Mischung aus leiser Melancholie und kluger Weiblichkeit sie dieser Rolle verliehen hat! Aber wie kam sie hierher? Ich meine, wie hat es eine Céline Grimm ausgerechnet nach Altenburg verschlagen …» Er sah sie aus großen braunen Augen an und wartete gespannt auf eine Antwort.

«Sie meinen in unser rückständiges Dorf?», fragte Klara amüsiert. «Da hat sie nie einen Fuß hineingesetzt. Sie hatte sich nach einer Kehlkopfentzündung nach Wittlich zurückgezogen, weil sie dort von ihrer Tante ein Haus geerbt hatte. Wenig später kam eine Wucherung an der Schilddrüse dazu, die operativ entfernt werden musste. Über ein Jahr hatte sie keine Stimme, aber auch danach ist sie nicht mehr öffentlich aufgetreten. Ein Glück für uns, ihre Schülerinnen und Schüler – sonst wären wir wohl nicht in den Genuss ihres wunderbaren Unterrichts gekommen …»

Mit Erstaunen hörte Klara sich erzählen.

Was war los mit ihr?

Jegliche Schüchternheit war verschwunden, sie unterhielt sich mit Pavel wie mit einem alten Bekannten. Ihm schien zu gefallen, was sie sagte, denn seine Fragen hörten nicht auf. Sie musste ihm berichten, wie lange sie bei Madame Grimm Unterricht gehabt hatte und wie so eine Stunde abgelaufen war.

«Haben Sie denn schon Konzerte gegeben?», wollte er nach einer Weile wissen.

«In unserer Kirche ab und zu. Und während des Kriegs kleine Liederabende und Konzerte mit Opernarien in privatem Rahmen. Ein paar Leute haben mich singen hören. Aber so richtig öffentlich bin ich eigentlich noch nie aufgetreten.»