Ein gewisser Robel - Joachim Nowotny - E-Book

Ein gewisser Robel E-Book

Joachim Nowotny

4,7

Beschreibung

Das ist ein Typ. Ein richtiger Typ. Es macht richtig Spaß, diesen Robel kennenzulernen: Robel ist Mensch und Kraftfahrer, Ehemann und Vater, Freizeitmaurer und Hausbesitzer, Stammgast bei Ria, stellvertretender Brigadier und Angehöriger der freiwilligen Feuerwehr. Aber jetzt hat Robel ein Problem, ein ziemlich männliches Problem. Und da tauscht er seine Schicht und nimmt sich einen Mittwoch frei, um ins Landambulatorium zu fahren und eine Ärztin zu konsultieren. Doch auf dem Fahrradwege dahin, durch die Natur, macht unser Robel eine ziemlich erschreckende Entdeckung - Absperrungen: „Aber die Pfähle reichen bis an das Dorf heran. Sie stehen auch bei Belands im Garten. Bei Tabors auf der Koppel. Mitten auf dem Dorfplatz. Hinter der Kegelbahn von Liebigs Schenke. Und wenn ihre roten Köpfe den Untergang des Dorfes signalisieren sollten, dann wird Robel keinen Raum mehr für seine Geschichten haben, dann werden sie in alle Winde verfliegen. Und niemand wird da sein, der sich ihrer annimmt. Robel kennt das ja. Sie haben da einen in der Brigade, der stammt aus dem Senftenberger Revier, dem haben sie das Dorf weggebaggert, der fängt manchmal an zu erzählen, aber niemand kann ihm länger als ein paar Minuten zuhören, jeder, auch Robel, winkt schon nach den ersten Sätzen ab. Das erträgt der Mensch nicht lange, dieses Hineintauchen in das nicht mehr Vorhandene, dieses Sotun, als sei es noch da! Da muss man einfach einen Strich ziehen, da muss man hart und grob sagen: Hör auf, Mann, hin ist hin und futsch ist futsch, da helfen keine Pillen!“ Anfangs tröstet sich Robel mit dem Gedanken, dass Erkundung noch kein Abbau sei. Aber wird ihm das helfen? Wird das der Lausitz helfen? Und was wird mit den Menschen, die dort wohnen? Jedenfalls bis jetzt noch … Auch wenn Robel kein Träumer ist und die Notwendigkeit einsieht. Die Notwendigkeit, der man die Landschaft in den Rachen wirft.

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Impressum

Joachim Nowotny

Ein gewisser Robel

Roman

ISBN 978-3-86394-141-3 (E-Book)

Das Buch erschien erstmals 1976 im Mitteldeutschen Verlag Halle.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Vorspann

Wenn nun einer lachen könnte. Nicht unbedingt krachledern und schon gar nicht hämisch oder hinter vorgehaltener Hand. Eher nach dem Motto: Jaja, so etwas gibt’s. Dann dürfte sich die Geschichte vielleicht erzählen lassen. Sie enthält nämlich, das ist nicht zu leugnen, einige delikate Vorgänge. Dem Mann aber, dem sie widerfahren, wäre mit sensationslüsterner Aufmerksamkeit nicht geholfen. Seine Geschichte benötigt das berühmte geneigte Ohr. Und die heiter wiederholte Versicherung, dass dies nun mal alles menschlich sei.

Aber genug der Andeutungen! Setzen wir voraus: Hier hat einer gelacht. In der rechten Art und zudem zur rechten Zeit. Das heißt, da wir nur einen Tag zur Verfügung haben, sehr früh am Morgen. Es ist auch schon etwas gesagt worden.

Kapitel 1

1

Da sitzen oder stehen oder gehen zwei, und der eine sagt zum andern: Ein gewisser Robel. Und es ist nicht sicher, wo es gesagt wird und wer die beiden sind. Es kann Abend oder früh sein, sogar mittags oder sonst irgendwann am Tage oder in der Nacht. Und derjenige, der es sagt, kann männlichen oder weiblichen Geschlechts sein, ebenso der, der es hört. Außer diesem Satz ist überhaupt alles ungewiss. Denn das ist ein Traum. Robel träumt diesen Satz. Und er wird schon dahinterkommen, wer hier so und wann und warum über ihn spricht.

Dann aber erreicht ihn ein Signal aus der anderen Welt, der wirklichen, wie man sagt. Nachbar Waurichs Hahn kräht. Eine Weile liegt Robel reglos auf der Seite und weiß nicht, dass er erwacht ist. Er weiß überhaupt nichts; es hat etwas in ihm aufgehört, aber noch nichts begonnen. Der Traum ist weg. Beim zweiten Hahnenschrei sind ein paar Überlegungen im Kopf, sie stehen vom Vortag an: Die Schuhe zum Schuster! Ein neues Kabel für die Radlampe! Danach breitet sich eine nicht ganz geheure Erwartung in Robel aus: Da war doch etwas fällig, da hatte man doch etwas vor an diesem Tag! Langsam kommt Spannung in die Wadenmuskeln. Robel zieht die Beine an, er will noch Bettwärme und den Rest der Schlafschwere genießen. Aber unmerklich wappnet sich sein Körper für diesen Tag. Er wird Ärger bringen. Und er hat gleich so komisch angefangen. Ein gewisser Robel. Wer hat das nun gesagt?

Man soll früh nicht immer an das Schlimmste denken. Es gibt einen Haufen Möglichkeiten, in dieser Art über Robel zu reden. Theoretisch ein paar Millionen Möglichkeiten. Jeder in diesem Land kann einen Menschen seines Namens kennen. Aber dieser eine Robel hat geträumt. Also wird es um ihn gehen. Praktisch gesehen kennen ihn vielleicht ein halbes Tausend. Unter ihnen wieder gibt es ein halbes Hundert, denen er ein Begriff ist. Die würden sich nicht so unbestimmt ausdrücken. Die würden sagen: Der Robel. Prima Kerl. Der Robel, der Arsch! Der Robel von der Forst. Der mit dem W 50. Der Kiesfahrer. So oder ähnlich. In dieser Preislage. Wer sich also unbestimmt ausdrückt, wer sagt: Ein (nicht der) gewisser (wieso das?) Robel!, der muss zu den anderen vierhundertfünfzig gehören. Sekundenlang beunruhigt ihn, dass es so viele sind. Jetzt sind auch seine Rückenmuskeln gespannt. Er wälzt sich auf den Bauch und atmet flach. Hinwiederum: viel Leute, große Auswahl. Zum Aussuchen. Robel denkt sich zwei Frauen, hübsche Frauen selbstredend, junge Frauen, solche aufregenden Wesen, wie sie neuerdings in der Kreisstadt herumlaufen. Wadenlange Röcke und Mäntel vorn geschlitzt. Da kannst du dir deins denken. Du begegnest ihnen überall. Sie kommen aus dem Neubauviertel, das sie für das Werk gebaut haben. Sie sind allein oder mit ihren Männern gekommen und arbeiten dort, oder die Männer arbeiten dort, und sie haben ihre Erwartungen mitgebracht, sie gehen so durch die Straßen und sehen verdammt neuartig aus. Und es kann sein, zwei von ihnen treffen sich an der Bahnhofsbrücke, vermutlich am Zeitungskiosk, und die eine sagt zu der anderen: Nicht viel los hier, ich bin wirklich enttäuscht. Entweder solche jungen Schnakse mit langen Deckhaaren oder die paar älteren Herren mit den berühmten grauen Schläfen, aber kein Mann von Welt dabei. Ich glaube, die trinken zu viel Bier in der Gegend, das vermanscht die Haltung. Und das Mittel-Alter, das eigentlich interessante Alter für unsereins, das sieht so furchtbar angespannt aus, so rackersüchtig, so fußballbesessen, es riecht nach Karnickelstall und guckt an uns vorbei, wo was zu holen ist.

Da hast du recht, könnte die andere sagen, aber es gibt schon Ausnahmen. Neulich habe ich da erst einen gesehen, so einen Schwarzen, um die Vierzig, vielleicht ein, zwei Jahre drunter, der kauft hier seinen Eulenspiegel und die neuesten Abenteuerhefte. Aber den Eulenspiegel liest er gleich hier im Stehn, und zwar von hinten nach vorn; er kann dir minutenlang auf diesen komischen Akt starren, den sie alle vier Wochen drauf haben, und es stört ihn überhaupt nicht, wenn die Leute gucken. Wenn er dann genug davon hat, dann funkeln seine Augen, meine Liebe, da würden dir die Knie weich werden, wenn du das sehen könntest. Kurz und gut: Das ist immerhin ein Mann. Und ich weiß sogar, wie er heißt. Er muss hier am Kiosk abonniert sein, er beugt sich immer runter, sagt seinen Namen. Daher weiß ich ihn. Ein gewisser Robel.

2

Na, wenn das nichts ist! Robel kann auf einmal nicht mehr auf dem Bauche liegen. Dafür gäbe es viele Gründe, schwerwiegende und welche leichterer Natur, im Augenblick gibt es nur einen, einen mittleren, also muss er sich auf die Seite drehen, auf die andere diesmal. Sein Blick fällt auf den Deckbettberg, unter dem Hanna liegt. Wie man bloß so schlafen kann! Völlig zusammengedreht, die Glieder verschlungen und verspannt. Mund und Augen kann er nicht sehen, er weiß aber, dass die Lippen zusammengepresst sind und die Lider zucken. Und er weiß noch ein bisschen mehr. Wenn er jetzt das täte, was er gern tun würde, wenn er jetzt hinüberrutschen wollte, wäre da nur eine leichte Berührung am Oberarm nötig. Hanna würde augenblicklich aus ihrer Verschlingung hochschnellen und wach sein, allerdings auf diese besondere Art wach, die Robel nicht mag. Die Kinder! würde sie sagen. Ist was? ... War das nicht der Kleine? Und Robel würde etwas Beruhigendes und Verneinendes brummen oder besser knurren und denken: Du fährst noch mal aus dem Sarg hoch, wenn du glaubst, es ist was mit den Kindern. Und dann könnte er sich getrost wieder auf den Bauch legen.

Aber dazu muss man es nicht unbedingt kommen lassen. Robel ist froh, dass er einen Grund hat, nicht auf dem Bauch liegen zu können.

Anderntags reißt einen der Wecker aus dem Schlaf, da taumelt man noch beim Schuheanziehen, und alle Frauen der Welt sind so aufregend wie ein Schock alter Scheuerlappen. Er schließt die Augen und freut sich über diesen Tag, der so voller Verheißung beginnt. Mal sehen, was sich wird machen lassen. Man ist schließlich noch da, ganz da, nicht bloß so als halber Hahn, wie Kalle das ausdrücken würde. Der bringt immer solche Schoten mit. Es bleibt kaum einer in seiner Umgebung ungeschoren, der guckt sich seine Leute eine Weile an, und schon hat er einen Namen für sie parat. Wie kürzlich, als dieser Mensch vom Forstwirtschaftsbetrieb in die Werkstatt kam, sie waren gerade beim Abschmieren. Kalle hatte ihn nur kurz gesehen, so ein ellenlanger Kerl mit ungeheurem Kehlkopfknorpel, da dreht er sich zu Robel um und sagt: Was will der Schluckspecht hier? Sie haben abends noch beim Bier drüber gelacht.

Nun also der Schluckspecht. Der könnte in seinem Büro auf und ab gehen. Und ein anderer, sicherlich Dickerer, säße am Tisch und würde sagen: Da können wir nicht jeden dafür nehmen, das muss einer sein, der beweglich ist und schon was hinter sich hat; andrerseits braucht er Stehvermögen und Beständigkeit. Aber wo findest du so einen!

Na, könnte der andere antworten, das gibt’s schon noch, wenn freilich auch nicht ganz lupenrein. Ich kenn da einen, hab ihn erst neulich in der Werkstatt gesehen, der Vater ist noch Bauer, und er hat auch Bauer werden sollen, aber in den Sack gehauen. Dafür ist er Maurer geworden, ein guter Maurer, er war auf Montage, wie man erzählt, aber er hat wieder in den Sack gehauen und wurde Kraftfahrer. Da hast du die Beweglichkeit. Nun fährt er bei uns einen W 50, da draußen in der siebenten Brigade, schon seit Jahren den gleichen W 50, jeden Tag, und er hat noch keine Generalreparatur. Da hast du die Beständigkeit.

Schön, könnte der andere sagen, und wo ist der Webfehler? Und darauf der Schluckspecht: Er macht hin und wieder Schwarzarbeit als Maurer. Ganz ist er diesen Beruf wohl nie losgeworden, die Landwirtschaft vermutlich auch nicht, man erzählt da solche Dinger! Genau aber weiß ich, dass er mindestens sechs Granitsockel gesetzt hat, fünf für Einfamilienhäuser und einen für eine Jagdhütte. Und da kannst du hingehen und dir ansehen: Das ist eine Pracht von solidem Grund und wilder Fuge, wie man’s selten zu Gesicht bekommt.

Meinetwegen, könnte der Dicke sagen, zwanzig Stunden sind wohl erlaubt. Und die Leute werden ihm vermutlich die Bude einrennen.

Ja, würde der Schluckspecht antworten, aber wenn du den Posten auf dem Halse hast, dann sind zwanzig Stunden genau zwanzig Stunden zu viel. Denn da musst du da sein, für deine Leute da sein, und was würde werden, wenn er die Kelle nähme und wieder in den Sack haut? Man muss es versuchen, würde der Dicke sagen. Wie heißt der Mann? Der Schluckspecht würde tief Luft holen und sagen: Ein gewisser Robel. Der andere würde sich das notieren und sagen: Aha! Aber das kann er sich sparen, Robel nimmt den Posten sowieso nicht an.

3

Robel ist Mensch und Kraftfahrer, Ehemann und Vater, Freizeitmaurer und Hausbesitzer, Stammgast bei Ria, stellvertretender Brigadier und Angehöriger der freiwilligen Feuerwehr. Das ist genug für einen. Das ist für Robel im Moment zu viel.

Man sieht es ihm hoffentlich nicht an. Er macht seine Arbeit, trinkt sein Bier, schimpft auf die Kinder, wenn es sein muss, redet ein bisschen mit der Frau - alles wie sonst. Und doch in einem Punkt anders. Die Frau müsste es zuerst merken. Wenn es sich freilich um eine Frau wie Hanna handelt, so merkt sie so schnell nichts. Sie wundert sich vielleicht etwas. Aber das ist immer noch zweierlei. Da gibt es einen langen Weg vom Wundern bis zum Begreifen. Und ehe Hanna begriffen haben wird, was eigentlich los ist, will Robel mit der Sache fertig sein. Er hat ja diesen Tag. Und er hat mit Nakonz getauscht. Nakonz hätte am vergangenen Sonnabend fahren müssen. Robel hat seine Schicht übernommen und etwas vom Zahnarzt gemurmelt. Nakonz war gleich einverstanden. Den Sonnabend gibt jeder gern her. Und außerdem: Zahnarzt! Robel ist nicht zu beneiden. Nakonz würde lieber zwei Schichten hintereinander fahren, und das wäre eine unverantwortliche Schinderei - aber Zahnarzt? Nee, Nakonz schüttelt sich. Er guckt Robel mitleidig an und sagt: Gemacht, Kollege!

So kam Robel zu einem freien Mittwoch. Zu dem heutigen Tag. Und eigentlich könnte er ausschlafen. Aber Waurichs Hahn hat ihn wach gekräht. Robel hat sich nicht ein einziges Mal darüber gefreut. Er hat keine Zeit gehabt, andere Dinge gehen ihm durch den Kopf. Beispielsweise die Tatsache, dass er diesen gutmütigen, mitleidenden Nakonz filmen musste. Ach, Mensch, denkt Robel, und Nakonz steht ihm jetzt für alle Welt, ach, Mensch, wenn du wüsstest!

Robel liegt längst wieder auf dem Bauch. Er könnte gut und gern noch eine Stunde oder zwei schlafen. Aber es reißt ihn in den Gliedern, er krümmt sich zusammen, er liegt jetzt beinahe so wie Hanna. Er müsste aufstehen, müsste den Tag einfach beginnen, müsste losfahren können, einfache Dinge erledigen (ein neues Radkabel, die Schuhe zum Schuster, zwei, drei Bier bei Ria), müsste abends heimkommen können, der Frau ein bisschen an die Rundungen gehen, und alles wäre in Ordnung. Ich hab’s doch immer gekonnt, denkt Robel. Immer.

Und jetzt, denkt Robel, musst du den Zahnarzt vorschieben. Wen hättest du dem Nakonz sonst nennen sollen? Einen Spezialisten, ja. Aber, das sagt sich nicht so hin. Zahnarzt, da weiß jeder gleich Bescheid, da will er weiter nichts hören. Aber fang du mal von einem Spezialisten an. Da kann einer noch so zurückhaltend sein, da bricht allemal so eine Art Anteilnahme durch. Ach, wohl was mit dem Magen? Nein, nicht mit dem Magen. Das Übel steckt gewissermaßen tiefer. Es ist am Ende überhaupt nichts Organisches, obwohl, genau weiß man’s nie. Aus dem Handgelenk lässt sich gar kein Spezialist auftreiben. Als Mensch, bei dem das immer funktioniert hat wie das Luftholen, weiß man überhaupt nicht, wer für so etwas zuständig ist.

Deshalb wird Robel heute erst mal ganz einfach zu einem praktischen Arzt gehen. Ins Landambulatorium drüben in Strugau. Das ist freilich für die Sache nicht weit weg genug. Aber er vertraut auf das Arztgeheimnis. Außerdem dürfte das Ambulatorium für eine Überweisung zuständig sein. Er könnte natürlich auch in die Kreisstadt fahren und dort vorsprechen. Man würde ihn nicht wegschicken können. Aber den Blick, den er bekäme, diesen Blick gleich bei der Anmeldung, der da fragt: Was hat der Mensch zu verbergen, wenn er die Zuständigkeitsgrenze überschreiten will - diesen Blick fürchtet Robel. Nee, lieber nicht! Lieber geht er doch ins Ambulatorium zu dieser Doktor Fiebig. Dass sie eine Frau ist, wird die Sache nicht einfacher machen. Vermutlich versteht sie sich nicht auf sein Vokabular. Robel erinnert sich an jene denkwürdige Stunde mit Jeschke. Sie hatten miteinander eine Außenwand hochzuziehen, ein Stein, ein Kalk, die Eckpfeiler standen schon. Insgesamt kein Problem, mehr Knochenarbeit, mehr Routine und gerade deshalb langweilig. Bisschen Spaß war jedenfalls erwünscht. Maurerspaß, Jeschke verstand sich darauf. Die Frau vom Bauherrn machte Handlanger, die konnte das gut, die hatte was auf den Rippen und auch sonst im Umgang mit ihrem Mann Haare auf den Zähnen. Langjährig gedientes Eheweib jedenfalls. Und Jeschke wollte bloß mal sehn, ob sie noch rot werden konnte. Er begann bei der Arbeit mit Robel einen verzwickten Disput über die künftige Inneneinrichtung des Hauses, redete seltsamerweise in der Sprache der Holzwürmer. Die aber ist ziemlich beziehungsreich. Robel jedenfalls verstand sofort. Da war von Anreiben und Aufreißen die Rede, von Schublehre, vom Hobeln und Kantenbrechen und dergleichen mehr. Und während sich beide mit der stoischen Miene ausgebuffter Fachleute unterhielten, schielten sie zwischen Stein und Kalk immer mal zu der Frau. Die aber rührte den Mörtel und stapelte Ziegel, sie hörte zweifellos zu, denn schwerhörig war sie nicht und auch so nahe, dass sie einfach zuhören musste. Und zwischendurch konnte sie sogar den Rücken gerade machen und nur zuhören. Jeschke strengte sich immer mehr an, er fand sagenhaft zweideutige Begriffe, die absolute Spitze waren, wie „ein versetztes Loch stemmen“. Schließlich hatte er sein Pulver verschossen. Es fiel ihm nichts mehr ein. Und die Frau stand da und sagte: Ich dachte, ihr seid Maurer. Aber wart ihr wohl auch mal in der Tischlerei? Und Robel biss sich auf die Lippen, er hätte schwören mögen, er wollte es gern auch heute noch beschwören, dass die Frau kein Wort von dem, was Jeschke überhaupt sagen wollte, verstanden hatte.

Robel weiß, dass es ihm heut mit dieser Ärztin ganz ähnlich ergehen könnte. Er hat sich freilich nichts zurechtgelegt, er will das der Augenblickseingebung und der Situation überlassen, es wird auch viel davon abhängen, ob die Sprechstundenhilfe im Zimmer bleibt - auf jeden Fall wird er die Sache umschreiben müssen. Wenn auch nicht gerade mit Tischlerlatein. Aber womit sonst? Und Robel weiß auch, was er riskiert. Es kann sich so ergeben, dass diese Frau Doktor abends, vielleicht im Bett, vielleicht nach getaner Arbeit und getaner Liebe, in dieser Minute der Erschöpfung und der sonderbarsten Geständnisse zu ihrem Mann sagt: Du, heut hatte ich einen komischen Fall. Genaues weiß ich nicht. Vielleicht zeitweilige Impotenz. Knapp vierzigjähriger Mann. Sonst ganz in Ordnung, abgesehen davon: Er redet etwas seltsam. Nein, nicht aus Strugau. Aus der Wildei drüben an der Grenze. Na, du weißt schon, wie heißt das Nest bloß? Kennst du ihn vielleicht? Ein gewisser Robel ...

4

Robel ist ziemlich sicher, dass ihn dieser Fiebig nicht kennt. Und wenn, dann gäbe es immer noch das Arztgeheimnis. Daran wird so ein Mann hoffentlich denken. Alles andere wäre ohnehin Sache des Spezialisten. Der nun, falls es einen gibt, sitzt in der Großstadt. Da bleibt jeder sowieso anonym. Nein, denkt Robel, so ist es am besten. Der normale Weg ist immer der beste. Er macht am wenigsten Aufsehen. Und er bestätigt sich noch einmal den Verdacht, dass Aufsehen der Sache nur schaden könne. Er hat darüber gelesen. So ganz zufällig, ganz nebenbei bei Kalle. Der hat ja den Schrank voller Bücher. Ist unverheiratet, kinderlos, wohnt bei seinen Alten und hat solche Bücher. Aber viel steht nicht drin. Die gehen auch bloß vom Normalen aus. Die Störungen erledigen sie mit der linken Hand, wie Kuriositäten. Und aus jeder Zeile winkt amtsärztlicher Beruhigungsschmus. Bloß nicht den Kopf heißmachen lassen!

Na, Robel hat sich den Kopf heißgemacht. Er hat sogar am ganzen Körper das Gefühl unnormaler Hitze gehabt. Es war schon gut, dass ihn Kalle so von der Seite her ansah und fragte: Seit wann interessierst du dich für so etwas? Du Ehemuffel. Du altes Vatertier. Da musste sich Robel zusammennehmen, da musste er auf den Ton eingehen und einen lässigen Enddreißiger spielen, mit kaltem Blut und ironisch gekniffenen Mundwinkeln. Da musste er das Buch leider zuklappen, ehe er antworten konnte: Mensch, wusstest du das nicht? Ich find dir in jeder Schwarte die interessanten Stellen auf Anhieb.

Da war Kalle beruhigt. Such mal ruhig weiter, sagte er, außer Technik hab ich bloß Bücher mit interessanten Stellen.

Das wollte Robel gern glauben. Aber er hatte doch nicht mehr gesucht und war bald verschwunden. Und auf dem Heimweg hatte er den faden Geschmack im Munde gehabt wie jetzt. Dagegen hilft kein Zahnwasser. Dieser Geschmack kam eindeutig von der Lüge. Robel fühlt sich nicht als Wahrheitsapostel, weiß Gott nicht! Es muss gelogen werden auf dieser Welt. Aber dass man einen Kumpel wie Kalle anlügen muss, dass man ihm nicht einfach sagen kann, seit wann und weshalb man sich für so etwas interessiert, davon konnte einem schon übel werden.

Wiederum: Was hätte Robel eigentlich antworten können? In dürren, ein wenig abkühlenden Worten, in einem Satz möglichst, den Fakt. Das schon. Aber doch nicht auf eine derartig komplizierte Frage, seit wann einem der ganze Vorgang zum Problem geworden sei. Darauf gab es keine eindeutige Antwort. Das blieb im Dunkeln, das gerade machte die Sache so heikel. Robel hätte allenfalls von Stunden erzählen können, in denen die Geschichte zwar eine Rolle spielte, aber in einer Art, die ihn ganz gewiss nicht berührte.

Wie seinerzeit bei einem Frühschoppen in Rias Kneipe. Da war er an den Tisch geraten, an dem die saßen, die immer dort sitzen. Die etwas älteren Herren. Sie hatten schon einen Vorsprung im Trinken. Sie redeten schon wild durcheinander, ihre Stimmen wurden lauter, bei manchen auch kehliger, und jeder hatte was zu sagen, und keiner ließ es sich nehmen, etwas zu sagen, und wehe dem, der hier dagegen aufmucken wollte, man war schließlich wer, man hatte dieses Leben bis hierher gelebt und seine Erfahrungen gemacht, und wenn es auch ein bisschen durcheinander und alles zugleich herauskam, das lag wohl am Bier, bloß am Bier, auch das würde man sich schließlich nicht nehmen lassen - also Bier her, Ria, noch eine Lage!

Die Lage kam. Wie immer bei Ria kam sie prompt. Der Unterschied zu sonst lag nur darin, dass sie nicht von Ria selbst oder von Carlo gebracht wurde, sondern von Rias Tochter. Das war der Unterschied, und was für einer! Dieses blutjunge Blut! Wo kam das plötzlich her? Welcher Zauberer hatte in wenigen Monaten städtischer Lehrzeit aus einem knicksenden, Händchen gebenden Gör ein rundum fertiges Mädchen gemacht? Die Stammgäste verharrten in andächtiger Stille. Einer sagte mit seltsam junger Stimme: Mein lieber Mann! Die anderen sahen augenblicklich voller Neid in sich hinein. Jeder von ihnen hätte der erste sein wollen, der angesichts dieser Überraschung die Sprache wiederfand. Aber Rias Tochter mochte diesen Satz wohl nicht mehr gehört haben. Sie war gekommen und gegangen, fremd und immun gegenüber jeder noch so unschuldigen Vertraulichkeit. Es kann freilich sein, dass sie die Bewunderung dennoch gespürt hatte. Den Respekt. Den Effekt ihres Auftritts. Das kann immerhin sein. Schließlich war sie Rias Tochter. Und sie wird nicht nur die Figur von ihr haben.

Robel jedoch fand keine Gelegenheit, länger darüber nachzudenken. Denn neben ihm saß Mortak, der legendäre Mortak, der freiberufliche Seitenspringer, den nie jemand erwischt hat, seine Frau ebenso wenig wie die Alimentenjustiz, der, hätte er eine Fahne gehabt (nicht nur eine Bierfahne), seine Siege über das schöne Geschlecht hätte dran knüpfen können, Mortak, von dem man sich erzählte, er habe seinerzeit unter Zeugen und im Verlauf einer Wette um zehn Flaschen Krimsekt ein Mädchen allein kraft seiner Willensanstrengung auf seine Knie gezogen, ein wildfremdes, bildschönes, blutjunges Mädchen, aus einem wildfremden Wolga, der vor der Tankstelle stand, auf seine Knie und weg von der Seite eines ebenso wildfremden, gleichwohl jüngeren und sogar gut aussehenden Mannes, auf seine Knie, und er habe nichts weiter dazu getan, als seinen Willen in den Blick zu legen, diesen Willen in diesen Blick, vor dem jede kapitulierte. Mortak also. Den Robel nur so kannte, wie er auch jetzt noch aussah, schlank, beinahe drahtig, grau meliert, buschige Augenbrauen, einen Goldzahn, den er selten zeigte, und wenn, dann als gäbe er eine Exklusivvorstellung, dieser Mortak also saß an dem fraglichen Frühschoppensonntag neben Robel, dieser Mortak hatte also wie die anderen sein Bier getrunken, er hatte schwadroniert, wenn auch mit mehr Würde als die anderen, er hatte den Auftritt von Rias Tochter miterlebt und diesen Satz: Mein lieber Mann! gehört, dieser Mortak also ließ das alles an sich heran. Aber dann schwadronierte er nicht wie die anderen weiter, er saß still und in sich gekehrt, er trank in kleinen Schlucken, und nur wer ihm so nahe saß wie Robel, konnte hören, was beinahe nicht zu hören war: Mortak seufzte. Robel rückte näher, er war neugierig: Was hatte der Mann schon zu besorgen! Und Mortak seufzte noch einmal, er rückte deutlich von seinen Stammgastfreunden ab, beugte sich betont zu Robels Ohr, sagte, den Seufzer in der Stimme: Es ist aus, weißt du, es ist aus.

Robel wusste sofort, was gemeint war. Es konnte nur eins gemeint sein. Er erinnerte sich heute, die Sache war ihm komisch vorgekommen, ja, er hätte wohl in dieser Runde sogar lachen wollen. Aber davon hatte ihn die Eitelkeit dann abgehalten. Schließlich hatte dieser Mortak ihm das Geständnis gemacht, ihm, dem weit Jüngeren. Robel hätte sogar daran denken können, dass er überhaupt so einer war, dem man solche Geständnisse machte, immer mal und immer wieder. Und darauf bildete er sich etwas ein. So ein Mensch lacht nicht. Der bewahrt Würde, der nickt gemessen, der zeigt Verständnis. Robel krümmt sich im Bett, er möchte diese Minute ungeschehen machen. Heut weiß er, dass man ein solches Geständnis nur einem Jüngeren machen kann, einem, der davon noch gar keinen Begriff hat, der erstaunt aufguckt und ungläubig sagt: Du? Das erzähl deiner Großmutter!

Das wäre seine Menschenpflicht gewesen. Das und nicht die verständnislose Feierlichkeit. Aber Robel hatte nur an sich gedacht, hatte bald gezahlt, war losgefahren, am Sonntag über die Dörfer gefahren, er hatte in die Höfe und Gärten gesehen, einer unmäßigen Lebenslust gefrönt, und wäre irgendwo auch nur mit dem Rand einer Gardine gewinkt worden, Robel hätte einen sicherlich legendären Sprung vom Rad direkt in ein fremdes Bett gemacht. So wunderte sich bloß Hanna, Hanna, die sich immer wundert, aber nicht denkt, sie wunderte sich damals, dass er so zeitig dran war und dass er nach dem Essen so viel jugendliche Ungeduld an den Tag legte und nicht einmal das Rollo im Schlafzimmer herunterließ.

5

Damals, denkt Robel, damals hatte ich jedenfalls noch keine Ahnung. Und es ist noch gar nicht so lange her. Aber seit wann habe ich eine Ahnung?

Robel wälzt sich auf die andere Seite. Er spannt einen Moment seine Sinne, hört nach dem Hahn. Der aber kräht nicht mehr. Robel sollte wirklich aufstehen. Er wird gleich aufstehen. Erst aber will er noch wissen, seit wann er eine Ahnung hat. Es ist schon seltsam, dass ihm diese Story aus der Sturm- und Drangzeit einfällt, die Story, die er in diesem Zusammenhang überhaupt nicht erklären kann, aber was will man machen, in diesem Punkte ist man seiner Gedanken nicht Herr. Das war also neunundvierzig oder fünfzig, Robel war siebzehn, und auch Hottel war siebzehn, und beide lebten auf dem Dorf, und beide waren Stifte, und beide hatten nur eins im Kopf: die Mädchen. Wie das so ist. Robel liebte zwar mehr theoretisch, soll heißen in seinen Träumen. Wenn ein realer Rock in seiner Nähe auftauchte, wurde Robel rot und guckte weg. Aber Hottel! Für den waren die Mädchen nicht grundsätzlich andere Wesen, sie waren ihm einfach Menschen, sie waren ansprechbar und anfällig, und jener Punkt, der sie von den Jungen unterschied, machte sie gerade interessant. Robel wusste selbst nicht - er denkt auch heute noch erfolglos darüber nach -, wieso er in den Mädchen immer zunächst das prinzipiell andere, das absolut Verschiedene gesehen hatte, wieso er deutlicher Zeichen bedurfte, ehe er überhaupt mit einem Mädchen ein normales Gespräch führen konnte, Zeichen und Ermunterungen, die die Mädchen freilich ungern gaben oder erwiesen. Vermutlich hatte er zu viel gelesen.

Hottel kannte solche Skrupel nicht, der ging ran, turnte sich von Bett zu Bett, auch der Chausseegraben kam ihm zupass, wenn sich nichts Besseres bot. Er suchte alle Tanzveranstaltungen in dreißig Kilometer Umkreis heim, hatte in der Pause eine an der Mauer, brachte zum Schluss eine andere heim, kein Weg war ihm zu weit. Seine Erschöpfung kam vom sportlichen Einsatz. Man musste sich ein bisschen ausruhen, gut, durfte aber nicht aus dem Training kommen. Um also im Training zu bleiben, erzählte Hottel von seinen Abenteuern, und zum Zuhören war keiner besser geeignet als Robel. Der sagte nämlich nicht viel dazu, der machte höchstens eine kleine, anerkennende, von Sachkenntnis zeugende Bemerkung. Aber Maßstab und Sachverstand stammten von Hottel selbst, aus eigener Erfahrung konnte Robel nichts beisteuern. Deshalb war es beinahe so, als würde sich Hottel mit sich selbst unterhalten, also ohne Schmus und Rücksicht. Und es muss an einem Montag gewesen sein, in der Frühstückspause, da gingen die beiden immer abseits, da suchten sie sich einen umgestülpten Kalkkasten in sicherer Entfernung von Polier, Altgesellen und übrigem Verein, da streckten sie ihre Beine von sich, lehnten sich an einen Stapel Rüstbretter oder an eine nach frischem Mörtel riechende Mauer, da begann Hottel zu erzählen. Und wenn er von einem guten Mädchen (gut nur in diesem einen Punkte) erzählte, kam es vor, dass er seine Mütze abnahm und die lange blonde Tolle mehrmals mit einem kurzen Schwung aus dem Gesicht auf den Kopf schleuderte, wo sie freilich nicht lange blieb. Robel erinnerte sich, dass sich Hottel damals sogar gekämmt hatte, bevor er anfing. Er erinnert sich auch, dass ihm plötzlich ein erheblicher Unterschied in der Beinlänge aufgefallen war. Seine, Robels Beine, waren viel länger und gerader gewachsen als die von Hottel. Aber er hätte sie in diesem Moment gern eingetauscht, wäre ihm das andere damit auch übereignet worden: eben jene tatsächlich geschehenen Vorgänge, von denen Hottel nun erzählte.

6

Er begann immer mit einem Namen. Ulla, sagte er. Und Robel musste hier nicken, denn er kannte diese Ulla natürlich, er kannte sie aus Hottels Erzählungen, nur daher. Auch wenn er sie noch nicht kannte, musste er nicken. Ulla, sagte Hottel, und Robel nickte dazu, gestern in Cosel, sagte Hottel, hunderttausend Mann in dem kleinen Saal, du kamst kaum auf die Tanzfläche, so ein Betrieb. Ich drück mich natürlich durch und guck in die Ecke und guck in jene Ecke, ich such an der Theke und im Gastzimmer, ich such draußen und frag ihre Freundin: Ulla ist nicht da.

Robel spuckte an der Stelle kundig in den Sand: Diese Weiber! Vorige Woche, fährt Hottel fort, vorige Woche bei der Saalpost in Jämlau schick ich ihr eine Tafel Westschokolade, und ich denk, es ist alles klar, aber sie ist nicht da.

An dieser Stelle fällt Robel Verschiedenes ein. So, dass Hottel diese Ulla schon mehrmals erwähnt hat, als Arabeske zu den sonstigen Eroberungen, immer mal Ulla. Also ist er schon lange hinter ihr her, also muss es sich um ein verdammt fixes Ding handeln, wenn sich Hottel bisher ihrer nicht anders erinnern kann als in diesen Arabesken, also muss sie eine Art Traum sein, der bisher jenseits von Hottels persönlicher Bestzeit liegt.

Alles klar, denk ich, sagt Hottel, hab da in Jämlau ein paar Mal mit ihr getanzt. Mensch, mir war, als hätte ich einen Sack voll junger Katzen im Arm, jedenfalls wusste ich gleich, wem ich die Schokolade schick. Eigentlich hatte ich sie ja der Edith versprochen, aber die fraß mir ja sowieso aus der Hand.

Hier spuckt Robel erneut aus. Sein Kommentar ist eindeutig und männlich hart: Bloß keine unnötigen Ausgaben. Wer war überhaupt diese Edith? Das Mädchen von der vorigen Woche. Nichts ist uninteressanter als das Mädchen von der vorigen Woche.

Tja, sagt Hottel, tja. Und ich hatte auf die Umhüllung geschrieben: „Sonntag in Cosel, klar?" Und nun war sie nicht da.

An dieser Stelle hätte Robel gern zum dritten Mal zwischen seine Füße gespuckt, aber er lässt es sein. Seine Entrüstung ist zu groß. Wie denn? Diese Ulla! Was erlaubt sie sich! Ist einfach nicht da. Nimmt Hottels Westschokolade und ist nicht da, wo sie sein soll.

Ich also rüber nach Zobeltitz, fährt Hottel gleichmütig fort. Irgendwo musste sie ja sein. So ein Sack voller Katzen und zu Hause hocken, das gab’s doch gar nicht. In Zobeltitz war Bauernball. Sie wollten mich nicht reinlassen, aber dann kam Kubein, bei dem wir voriges Jahr die Scheune gebaut haben. Der lotste mich durch. Der trinkt mit mir ein paar Schnäpse und will unbedingt die Zusage, dass ich ihm nach Feierabend ein paar Zaunsäulen setze. Ich sag aber nichts zu und muss immer noch einen trinken. Dann erwisch ich Eva, du weißt schon, die Rotblonde, mit der hatte ich mal was, gleich nach der Schule. Die frag ich also: Wo ist Ulla?

War da, sagt sie, ist aber wieder weg.

Wohin?

Was weiß ich, vielleicht nach Strugau.

Ich reiß mich von Kubein los und fahr rüber nach Strugau. Unterwegs kommt mir die Hose in die Kette. Mensch, ich hätt das Rad in den Straßengraben feuern können, aber mach das mal, wenn du dranhängst! War ja stockfinster, und die Hände wollte ich mir auch nicht gerade übermäßig einsauen, also riss ich so lange, bis der Stoff nachgab. Die Hose ist hin. Meine Mutter heult jetzt noch. Jedenfalls kam ich nach Strugau. Kaum Betrieb dort, müde Truppe von Kapelle, alles alte Herrn und nicht mal eine Samba. Und Ulla auch nicht. Dafür aber Lilo.

Nun spuckt Robel doch das dritte Mal. Natürlich Lilo. Dass die Röcke sich nicht daran gewöhnen können, abgemeldet zu sein. Kaum taucht man auf, hat man sie schon wieder am Hals.

Hatte ein bisschen Mühe, sagt Hottel gleichmütig. Musste schnell mal mit Lilo raus, sonst hätte sie auf dem Saal geheult. Das fällt auf bei wenig Betrieb. Ich gehe also raus und fummle ein bisschen an Lilo rum, aber sie heult tatsächlich und quatscht konfuses Zeug von Liebe und Treue. Ich denke, mich beißt der Affe. Ich höre mir das eine Weile an, dann platzt mir der Kragen, und ich frag: Wo ist Ulla? War sie hier? Sagt Lilo: Und ich dachte, du kommst meinetwegen.

Ich: Hast du eben falsch gedacht.

Wird sie frech: Ulla, bei der kannst du sowieso nicht landen. Bild dir da nichts ein. Die war da, mit einem Schwarzen aus Horka, die sind beide weg. Zusammen weg.

Schönen Dank für die Auskunft, sage ich. Und schwing mich wieder aufs Rad. Es war Idar. Ulla konnte nur in Cosel sein. Überhaupt wurde mir jetzt verschiedenes klar. Das ganze Theater von wegen Jämlau und Strugau und diesem Schwarzen aus Horka, das war doch bloß, um mich anzuheizen, das war doch bloß, um mich scharf zu machen. Wer geht denn freiwillig nach Jämlau zum Bauernball oder nach Strugau zu den alten Herrn? Wer macht denn so was? Wer lässt sich mit einem aus Horka ein? Dass die dort alle einen Schlag weghaben, weiß doch jedes Kind, die heiraten doch nur im Dorf und sind alle versippt und bescheuert. Da ist doch für so eine wie Ulla überhaupt nichts zu holen.

Hier ist wieder ein Nicken Robels fällig. Es kommt ohne Verzögerung. Ich zurück nach Cosel, sagt Hottel. Ich denk, ich mache es richtig, ich fahr gleich über die Felder. Und da ist doch zwischen Zielenzig und dem Schwarzen Strumpf der Graben. Und eine Brücke musste auch da sein. War aber nicht da. Hat vielleicht das Hochwasser mitgenommen oder was. Jedenfalls ich fahr und fahr und stürz dir beinahe kopfüber in die Brühe. Du siehst ja nichts in der Finsternis, du fährst ja wie blind, und ich hatte natürlich ganz schön Zunder drauf, es war doch schon halb zehn. Irgendwie hab ich’s aber doch mitgekriegt, dass da was fehlt. Jedenfalls konnte ich grad noch bremsen. Aber wie nun weiter ohne Brücke? Ich, mein Rad auf die Schulter und immer am Grabenrand lang. Irgendwo musste ja eine Brücke sein. Aber es war keine. Ich bin gelaufen und gelaufen, ich hab alle Weiber zum Teufel gewünscht.

Da lag ein Baum querüber, das war meine Rettung. Ich behalt also das Rad auf der Schulter und balanciere los. Na, weiter keine Kunst, wir sind das gewöhnt. Bloß auf der anderen Seite, da hatte sich der Baum auf einen starken Ast gestemmt, da musste ich springen. Und spring ich dir nicht mit beiden Füßen hinein in die Brühe, richtig hinein bis zu den Knöcheln! Stand also Wasser auf der Wiese. Mit meinen Schuhen hättest du heute früh Holz hacken können, so hart sind sie geworden. Die Mutter hat sie noch nicht mal entdeckt.

Hier hat Robel die Schultern zu heben und somit anzudeuten, wie genau er das Theater der Mütter bei dererlei Gelegenheit kennt und wie wenig es ihn von der Hauptsache abzuhalten imstande ist.

Ich bin also gelaufen, sagt Hottel, bis nach Cosel gelaufen. Die Kette war sowieso ziemlich locker, sie konnte alle Augenblicke runterspringen. Und ich wollte ja einigermaßen trockne Strümpfe haben, wo doch der Hosensaum schon in Fetzen hing. Kurz vor halb elf war ich dann endlich da. Immer noch unheimlicher Betrieb, und die Kapelle flott wie sonst nirgendwo, und Ulla natürlich da, sie guckte mich aber nicht an, tanzte bloß mit dem langen Schwarzen aus Horka. Ich blieb an der Theke stehen und überdachte die Lage. Sie war nicht schlecht. Gut, die Schuhe drückten erbärmlich, sie zogen sich zusammen, die Hose war zerrissen, ich hatte Kreuzschmerzen vom Radschleppen, in meinem Kopf rumorte der Schnaps von diesem Kubein, aber trotzdem: Ich war voll da.

Du kennst mich ja, ich vermeide die harte Tour, wenn’s möglich ist. Aber ich hatte nicht mehr viel Zeit, um zwölf machten die hier Schluss, bis dahin musste ich Ulla so weit haben. Und die beste Art, den langen Schwarzen abzuservieren, war eine Schlägerei. Ich musste mir bloß eins von den jungen Dingern hier schnappen, musste tanzen, mich an das verliebte Pärchen heranpirschen, dem Langen einen Stoß mit dem Ellenbogen in den Rücken versetzen und dann gleich ohne weitere Warnung zuschlagen. Von unten ans Kinn, das langte für einen Dauerschlaf von drei Stunden. Aber ich kniff die Augen zusammen und stellte fest, dass der Lange erstens doch ganz schön lang war und dass zweitens ungefähr zehn andere Horkaer Rabauken im Saal waren - das hätte am Ende für mich schiefgehen können. Also blieb bloß die umständliche Tour. Dabei ging’s freilich um Minuten. Ich schaltete also auf Aktion, hing mich freundschaftlich in der nächsten Tanzpause an den Langen, stieß ihn in die Rippen und leierte meine Platte ab: Mensch, wie kommst du hierher, das freut mich aber, wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen, das muss begossen werden, auf diese Freude geb ich einen aus.

Der Lulatsch guckt mich erst von der Seite an, aber sei es, dass er tatsächlich Durst hatte, dass es ihn freute, so billig zu einem Bier zu kommen oder dass er mich wirklich schon mal gesehen hatte. Dazu kam, dass er den Kanal voll hatte und wie alle aus Horka ein bisschen bescheuert war. Jedenfalls, nachdem ich eine Weile so geredet hatte, ließ er sich von mir zur Theke schleppen und vollfüllen. Ich bestellte nur doppelte Verschnitt, das hält keiner auf die Dauer aus. Kurz und gut, um viertel zwölf hatte ich ihn so weit. Er fiel mir um den Hals und nannte mich seinen besten Kumpel überhaupt. Bald darauf bekam er eine weiße Nase. Ich brachte ihn noch vor die Tür und wusste hundertprozentig, dass ihm die Wand, an die er sich stützen konnte, in den nächsten zwei Stunden wichtiger war als Ulla, sogar als alle Mädchen zwischen Ostsee und Schmilka. Der war also geschafft. Aber auch ich hatte natürlich ein paar Doppelte zur Brust nehmen müssen. Und als ich aus der Nachtkühle in den Saal zurückging, drehten sich die Lichter vor den Augen. Beim Tanzen wurde das nicht gleich besser, ich musste nun ja jede Tour tanzen, jede bis zum Schluss und nicht eine einzige mit Ulla. Anders war das nicht zu machen. Ich tanzte also mal mit der, mal mit jener, Not hatte ich keine, ich brauchte nur die Augen in einer Richtung zu verdrehen, schon zerrte mich eine aufs Parkett. Manchmal schielte ich zu Ulla, auch sie tanzte, aber sie sah viel zu angestrengt an mir vorbei. Ich dachte: Immerzu! Sie soll hübsch zappeln. Die soll weich werden. Butterweich. Sonst war am Ende alles umsonst, das ganze Hin und Her zwischen den Dörfern, die zerrissene Hose, die nassen Füße, die Kumpelwirtschaft mit dem bescheuerten Horkaer, dieses Herumspringen mit Mädchen, die mir ganz schnuppe waren, das musste sich doch wenigstens lohnen.

Klar, sagte Robel. Will es sagen. Aber schon bei den ersten Anstalten dazu wehrte Hottel ab. Er ist jetzt beim Schluss, er wünscht jetzt keine Störung. Etwas unduldsam fährt er fort: Dann kam die letzte Tour, du weiß ja, ich spüre das, wenn die letzte Tour kommt. Mag sein, dass die Leute von der Kapelle noch mal alles reinlegen, was sie haben, mag sein, sie freun sich auf den Feierabend, oder sie wollen die Tänzer durch besonderen Schmiss trösten, jedenfalls, ich spür das bei den ersten Takten. Und ich schieß also los, ich pack mir diesmal diesen Sack voller Jungkatzen, und schon nach dem ersten Schlenkern merk ich, dass alles richtig war, alle meine Vermutungen stimmten. Meine Taktik hatte ihr Ziel nicht verfehlt. Denn aus den Katzen wurden auf einmal Tiger. Diese Ulla umklammerte mich, sie fraß mich auf offenem Saale beinahe in sich hinein. Ich hatte überhaupt keine Mühe mehr, sie vom Parkett zu bekommen, sie griff ihre Tasche und lief vor mir her, dazu ließ sie mich nicht los. Und eh ich mich versah, lag ich mit ihr hinterm Dorf auf dem Stroh einer Feldscheune. Besser hätte die Geschichte gar nicht gehen können ...

Aber, je nun (Hottel greift überraschend zu dieser alten Wendung, die sonst der Altgeselle gebraucht, wenn er etwas sagen will, aber nichts zu sagen hat), je nun, sagt Hottel, was soll ich dir weiter erzählen, es wurde nichts. Verstehst du? Nichts. Es ging nicht. Ich hatte noch nie so viel in ein Mädchen investiert, nun ging es nicht. Ich war kaputt. Ganz und gar erledigt. Verstehst du! Ich war nahe daran einzuschlafen.

Robel verstand nicht ganz. Aber soviel war ihm freilich klar: Hier hatte ihnen (dem Hottel und ihm) das Schicksal einen ganz gemeinen Streich gespielt.

Hier war etwas Ungeheuerliches geschehen, etwas von der Art, das einem Haupt und Glieder zu lähmen imstande ist. Wie stand man vor dem Mädchen da? Konnte man ihm angesichts einer solchen Niederlage jemals wieder unter die Augen treten?

Menschenskind, denkt Robel, was mach ich mir den Kopf heiß? Wieso fällt mir das heute überhaupt noch ein, wieso weiß ich das alles noch, ich riech den frischen Mörtel, fühl den Kalkkastenrand unter mir, hör diesen Hottel sogar das vermutlich einmalige „je nun!“ sagen. Der hat das alles hundertprozentig vergessen. Der dachte schon am nächsten Sonntag nicht mehr dran, der war in dem Punkte so ausgekocht, dass er sein Versagen dieser Ulla gegenüber als Höhepunkt seiner Rache hinstellte und sie dadurch nur noch schärfer machte. Und spätestens am Sonntag darauf nahm er ihr auch den geringsten Verdacht, dass es sich anders verhalten hätte. Aber ich denk dran, murrt Robel. Mir geht so was im Kopf herum. Mich macht die Niederlage eines anderen heut noch heiß, heut, nach Jahren, in denen so viel geschehen ist, was sich hundertmal mehr zu merken gelohnt hätte. Warum vergisst man so einen Quatsch nicht wie einen verlorenen Knopf?

Unwillig wirft er sich herum. Jedenfalls soviel ist sicher: Seine augenblicklichen Schwierigkeiten haben mit der Geschichte nichts zu tun. Er wird nun doch aufstehn. Es hat keinen Sinn, hier zu liegen und zu grübeln, er kommt sowieso nicht drauf. Eines Tages - noch gar nicht lange her - war es einfach da. Es, das Unbegreifliche. Und man muss sehen, wie man damit zurande kommt. Man muss aufstehn, muss den Tag beginnen. Vom Grübeln wird nichts.

Robel wirft sich noch einmal herum und erstarrt. Denn nun kommt das befürchtete Echo, kommt jener geheimnisvolle Widerhall seiner ungebärdigen Bewegung, der ihn jedes Mal lähmt. Wenn Hanna nicht mehr fest schläft, antwortet sie auf seine Unruhe mit einem krampfartigen Zucken der Beine, fährt sie mit den Händen auf der Bettdecke umher, als wolle sie etwas wegstreichen, wegdrängen, als wehre sie sich gegen das Erwachen. Sie erwacht aber nicht. Sie hat es gelernt, verzweifelt auch die letzte Chance zum Weiterschlafen zu verteidigen, ohne wach zu werden. Aber ihre Unruhe überträgt sich sofort auf das Kinderzimmer. Da helfen keine Mauern, Robel kann darauf warten, und er wartet tatsächlich wie auf einen Schlag. Rumms, da kommt er. Der Große hat sich gegen die Wand geworfen. Gleich wird der Kleine loskrähen, wird die anderthalb Meter zwischen Bett und Bett mit patschenden Schritten überwinden und den Großen am Ohr ziehen oder an den Haaren oder am Bein, falls es übers Bett hängt, jedenfalls wird er mit der Rücksichtslosigkeit der Unschuld diese Nacht beenden, jedenfalls hängt alles an dieser Sekunde, ob der Tag mit Geschrei oder Gezeter oder Gelächter beginnt. Laut beginnt er immer. Und er beginnt auf diese Weise für Hanna immer zu früh. Sie braucht acht Stunden Schlaf, neun wären besser, zehn auf jeden Fall gut, aber es kommt nie dazu, es kommt immer zu dieser barbarischen Unterbrechung, auch sonntags, und immer steht Hanna taumelnd und vorwurfsvoll, manchmal verzweifelt auf, immer geht sie hinüber ins Kinderzimmer, immer kämpft sie diesen aussichtslosen Kampf um wenigstens noch eine Viertelstunde Ruhe. Und wäre Robel der Bewunderung in diesen Minuten fähig, er würde ihre Hartnäckigkeit bewundern, mit der sie sich in das von vornherein verlorene Duell zwischen händeringendem Mutterwillen und kindlicher Unvernunft begibt. Aber Robel bewundert nicht. Er klagt an, er beklagt sich, in diesen peinigenden Minuten hadert er mit seinem Schicksal, denkt er daran, wie schön es andere haben, Kalle beispielsweise, Kalle, der heimkommen kann, wann er will, der schlafen kann, solange es ihm passt. Den allenfalls der Wecker ordentlich und ohne Aufregung weckt, Kalle, der es überhaupt gut hat, wie kaum sonst einer auf der Welt. Warum ist man bloß so versessen auf Familie? Robel wundert sich, dass er diesen Gedanken bis hierher verfolgen kann. Kein Geschrei, kein Gezeter, kein Lachen nebenan. Nur Hanna hat sich bewegt, der Große hat seinen Körper gegen die Wand geworfen - dann aber muss der Faden gerissen sein. Der Kleine schläft jedenfalls weiter. Noch! Robel dreht leise den Wecker zu sich. Zehn vor fünf. Das ist wohl doch zu zeitig. Eine halbe Stunde später freilich wäre der zerrissene Faden ein denkwürdiges Familienereignis. Stell dir vor, würde Hanna noch nach Tagen zu ihrer Kollegin in der Schule sagen, stell dir vor, am Mittwoch hat der Kleine bis um drei viertel sechs geschlafen. Ich guck auf die Uhr, und es ist drei viertel sechs!

Ja, denkt Robel, stell dir vor!

Aber bis um viertel sechs hat er vielleicht noch Ruhe. Er nimmt sich zusammen jetzt, er wird diese Frist mit ein paar freundlichen Gedanken verbringen, solchen, die vorsichtige und leise Bewegungen zulassen! Und dann wird er aufstehen, gleich beim ersten Laut von drüben, noch bevor Hanna sich entschließen kann, er wird den Kleinen mit in die Küche nehmen und mit ihm frühstücken, vielleicht kann er so alles gut beginnen.

Robel möchte sich gern auf die andere Seite drehen. Es ist ihm unangenehm, in Hannas Gesicht sehen zu müssen, wenn er die Augen öffnet. Nicht ihr Gesicht ist ihm unangenehm. Es trägt die Spuren der Mühe eines normalen Lebens. Kinder, Arbeit, Haus und Wohnung, Angst vor Krankheit, Trauer um Verstorbene - das tägliche Abnutzungsprogramm. Robel kann sich ausrechnen, dass auch er seinen Teil zu diesen Mühen beigetragen hat. Viel zu oft kommt er spät heim. Manchmal gerät er außer Kontrolle, schlägt er die Türen hinter sich zu und reinigt verbissen den Karnickelstall. Vermutlich fehlt er meistens, wenn er gebraucht wird. Aber auch das, denkt Robel, ist irgendwie normal. So viel Dreck haben andere allemal am Stecken. Ich bin absolut normal. Und auch Hanna ist normal. Naja, die paar Fältchen in den Augenwinkeln. Gut, die Verkrampfung um die Lippen. Es zwickt ihr hier, und es zwickt ihr da, und immerfort ist sie erschöpft und verspannt, sie nimmt zu viel Tabletten - das mag alles sein. Das sind die Kinder. Wenn andere nur so aussehen würden nach zwei Kindern und zwei schweren Geburten! Manch eine wirft sich zweimal im Bett herum, und schon ist sie Mutter. Aber dann bläht sie sich vor Stolz und geht auf wie ein durchgetretener Filzpantoffel. Hanna hat nur die obligatorischen blauen Adern in der Kniekehle. Und diese weiche Stelle auf dem Bauch. Zugegeben, es sind auch ein paar Pölsterchen an den Hüften, die vorher nicht waren. Na und? Robel ist da ganz ehrlich: Das stört nicht. Die Polster sind ihm sogar sympathisch. Man hat wenigstens was in der Hand.

Wenn Robel also seiner Frau nicht gern ins Gesicht sehen möchte, dann liegt das an etwas anderem. Er schämt sich, dass er sie so anstarrt und nach Gründen sucht. Er muss die Gründe bei sich suchen. Die Dinge verknüpfen sich auf seltsame Weise. Wie er es auch anstellt, wen er auch verantwortlich machen will, er landet letzten Endes immer bei sich. Eine Zeit lang hat er wirklich geglaubt, es läge bei Hanna. Früher hat sie ihn immer ermuntert, geradezu angehalten. Mein lieber Mann, denkt Robel, was haben wir dabei gelacht. Einmal hat die Alte vom Waurich einen Stallbesen ans Fenster geschmissen, weil wir so laut gelacht haben. Es war uns egal, um so mehr haben wir gelacht. Und heute? Robel versucht sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal dabei gelacht haben. Es fällt ihm nicht ein. Es ist zu lange her. Spätestens seitdem der Kleine da war, muss er sich sein Recht erkämpfen. Muss er Hanna mehr oder weniger zwingen. Sie fühlt freilich, dass sie im Unrecht ist, dass sie keine Chance hat. Und dann macht sie recht und schlecht mit. Lässt es mehr oder weniger über sich ergehen. Robel hat wirklich eine Zeit lang geglaubt, es läge daran. Hätte er bei diesem Glauben bleiben können, wäre ihm der heutige Tag erspart geblieben. Man muss nur einen Schuldigen haben. Und nicht selbst der Schuldige sein. Dann geht alles seinen Gang. Robel kennt das ja. Nichts ist einfacher, als einen Schuldigen zu finden. Manche entwickeln da eine geradezu erstaunliche Fertigkeit. Schippank beispielsweise. Bei dem sind es grundsätzlich die anderen. Kommt er in die Werkstatt, hat natürlich der Spannemann die Hydraulik zuschanden gemacht. Er, Schippank, nie im Leben! Er hat die Winde behandelt wie sein eigenes Kind. Aber der Spanner, das ist so ein Würger. Der klotzt ran ohne Rücksicht auf Verluste.

Kommt er zum Kegeln, der Schippank, bleibt er mit dreißig unterm Durchschnitt, sind’s die Schuhe. Die drücken unverschämt. Oder sie rutschen. Oder sie sind zu glatt. Oder er hat nicht die richtigen Unterhosen an. Robel lacht kurz in sich hinein: Das kennt man! Ein richtiger Speckjäger, dieser Schippank. Ein Knilch. Seinerzeit waren sie auf dieser Ausstellung. Da saßen sie dann im Freien bei Bier und Schaschlyk, und wenn die Blaskapelle Pause machte, da spielte Schippank seine Platte ab.

Habt ihr den W 50 gesehen? Da hinten bei der Landtechnik? Es soll der erste vom Band überhaupt gewesen sein. Wer’s glaubt! Knapp dreihundertfünfzigtausend Kilometer. Einmal Motorwechsel, sonst außer Reifen, Buchsen und Kolben alles noch original. Das erzähl meiner Großmutter! Das kannst du nicht mal der erzählen, Holzplanken und Lampen und Rücklichter, alles noch original. Bloß frisch aufgeputzt. Naja, die Farbe hält manches zusammen. Der Erklärer stand dabei, er hat's erzählt. War auch der Fahrer. Von so einer LPG im Norden.

Stellt sich der Mann vor die Leute und will uns so einen Bären aufbinden! Dass sie den überhaupt auf so eine Ausstellung lassen! Ob dem das nicht komisch vorkommt, die Leute übers Ohr zu hauen wie ein Jahrmarktsschreier? Na, mir soll's egal sein. Ich glaub’s sowieso nicht! Hundertfünfzigtausend könnt ich auch schaffen. Die trau ich mir zu. Aber ohne den Spanner. Da musst du den Wagen allein fahren, ganz allein, nur du, und du allein musst ihn auch pflegen, da weißt du wenigstens, dass es ordentlich gemacht wird. Unter den Umständen vielleicht. Aber sonst, wie das bei uns läuft, von früh um sechs bis abends um zehn immer feste Kattun, immer zwei Schichten, das ist nicht mit der Landwirtschaft zu vergleichen. Die Leute da sitzen doch sowieso das halbe Jahr lang hinterm Ofen. Und haben Zeit, an der Karre rumzufummeln. Und Geld haben sie auch und Beziehungen, verstehst du, für ein Läuferschwein tausch ich dir noch allemal eine neues Getriebe oder was du willst - jedenfalls lässt sich das überhaupt nicht vergleichen. Bei uns ist alles anders, da mag einer reden, was er will, wenn bei uns ein Schlitten eher auf den Schrott muss, dann hat das seine Gründe. Objektive Gründe. Sie sollen uns doch nichts einreden...!

So also Schippank. Und er hatte außer dem halben Liter noch nichts weiter getrunken. Zum Glück spielte die Blaskapelle einen Marsch. Schippank musste wohl oder übel sein ungewaschenes Maul halten. Aber es war ihm anzusehen, dass er bloß auf die nächste Pause spannte.

Robel wollte ihm zuvorkommen, er hatte sich ein paar ziemlich direkte Fragen zurechtgelegt, es ging ihm gründlich gegen den Strich, wie sich hier einer auf objektive Gründe berief. Er hatte nichts gegen objektive Gründe, es gab genug davon, und manchmal musste man auch einen erfinden. Aber dass hier zu ihnen auch ein Mensch gezählt wurde, dieser Spanner von Schippank, ein junger Mensch, der seine Sache nicht schlechter machte als andere, der hier bloß herhalten sollte, weil er nicht dabei war, das ging ihm über die Hutschnur.

Aber es war dann zu keiner Auseinandersetzung gekommen.