Ein seltener Fall von Liebe - Joachim Nowotny - E-Book

Ein seltener Fall von Liebe E-Book

Joachim Nowotny

4,8

Beschreibung

Insgesamt acht Erzählungen finden sich in diesem Buch. Geschichten, die von Liebe handeln. Liebesgeschichten – oder auch von ihrem Gegenteil. Aber wie nennt man dann solche Geschichten? Nicht-Liebesgeschichten? Oder Geschichten ohne Liebe? Jedenfalls geht es in diesen acht Erzählungen um die Liebe in sehr verschiedenen Varianten, darunter auch um einen seltenen Fall von Liebe. „Ein seltener Fall von Liebe“, welcher dem ganzen Buch den Titel gibt, ist die letzte der acht Geschichten. Ein Gastwirt erzählt von einem dramatischen Ereignis, das aber auch irgendwie mit Liebe zu tun hat. Ein seltener Fall von Liebe eben: „Von mir erfahren Sie nichts. Ich hab alles gesagt. Die Sache ist im Sande verlaufen, nun soll sie ruhen. Wolln Sie noch ein Bier? Ich sag bloß, und das hab ich schon damals gesagt: Es war ein Unfall. Jawoll. Wenn Sie, wie ich, dreißig Jahre eine Dorfschenke betreiben, dann kriegen Sie einen Blick dafür, was ernst ist und was Spaß. Das damals sollte Spaß sein, wenigstens Teil zwei der Vorstellung. Na gut, ein böser Spaß. Ernst wurde die Geschichte erst, als der Ast brach. Der Baum ist sonst gesund. Untersuchung muss natürlich sein. In solchen Fällen immer, das versteht sich. Hier, Ihr Bier. Ich trink auch eins mit, bloß meine Alte darfs nicht spitzkriegen. Wissen Sie, ich mach erst um fünf auf, dafür gehts jede Nacht bis um halb eins. Wenn Sie da schon am frühen Nachmittag anfangen, einen zu zwitschern, halten Sie nicht durch. Dann muss meine Alte hinter die Theke, und das hat sie nicht gern.“ Jemand ist zu Tode gekommen. Aber warum? War es ein Unfall? War es Selbstmord? Und da dieser Jemand keine Angehörigen hatte, wurden für ihn eine Annonce in der Zeitung gesammelt und die Worte: „Tragischer Unglücksfall“ eingerückt. Aber was steckt dahinter? Hat es vielleicht mit Frauen zu tun? Mit Liebe? Und beim letzten Versuch, da war die Frau, auf die er es abgesehen hatte, wohl nicht zu Hause. Und dann hört man noch eine ganz andere Erklärung und die ganze Geschichte nimmt eine überraschende Wendung: „Wie bitte? Sie sind wirklich nicht von der Kripo? Sie wollen die Geschichte aufschreiben? Das lassen Sie mal hübsch bleiben. Wer soll denn so was lesen? Trinken Sie lieber noch ein Bier mit mir, es ist nun wirklich das letzte. Ich muss aufschließen, Bruno hat schon die Hand auf der Klinke.“ Ja. Bruno war jetzt Rentner und legt viel Wert auf das Einhalten gesetzlicher Öffnungszeiten.

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Impressum

Joachim Nowotny

Ein seltener Fall von Liebe

Erzählungen

ISBN 978-3-86394-143-7 (E-Book)

Das Buch erschien erstmals 1978 im Mitteldeutschen Verlag Halle - Leipzig.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Kleine Fische

Gleich früh ist Stimmung in der Bude. Eine Zucht, schimpft Frieda. Kein Verlass auf die Mannsbilder. Bruno, auf den das gemünzt ist, tut nicht dergleichen. Er steht vor dem Spiegel, im Unterhemd, mit heruntergelassenen Hosenträgern, er rasiert die Stelle unterm Kinn. Die Stoppeln sind grau geworden in den Jahren. Weich geworden sind sie nicht. Und unterm Kinn hat er so einen Wirbel. Da muss er Ruhe bewahren. Außerdem: Wer wird gleich springen, wenn Weiber kaffern!

Friedas Atem ist kurz und stoßend. Sie kann nicht reden jetzt, nicht, bevor der Kaffee fertig gemahlen ist. Bruno streicht das Kinn, er hebt sich auf die Zehenspitzen, sieht Frieda im Spiegel, wie sie da sitzt auf dem Stuhl vor dem Küchentisch, die Mühle zwischen den Knien. Bei jeder Drehung stößt sie mit dem Ellenbogen gegen die Brust.

Muss ja nicht unbedingt sein, denkt Bruno. Das kann dumm ausgehen. Und froh, dass dies sein Entschluss ist, beschließt er, ein Ende zu machen.

Er zieht sich an, setzt sich an den Tisch, übersieht die braune Henkeltasse, aus der der frisch gebrühte dampft. Kaffee trinkt er nur aus Gesellschaft. Geschmack hat er nicht von so was. Und heute wird er seiner besseren Hälfte keinen Grund geben, noch einmal über ihn herzufallen. Er trinkt Wasser. Isst Brot und Stangenkäse. Wischt sich den Mund mit dem Handrücken, nutzt die Bewegung gleich, um auf den Schrank zu langen. Her mit dem elendigen Ding! Wäre ja gelacht.

Das Ding verschwindet in der Joppentasche. Es beutelt ganz schön. Und Frieda ruft was von Schlumpsack aus dem Fenster. Aber Bruno hört es nicht mehr. Er ist schon unterwegs. Unterwegs mit der elektrischen Kaffeemühle, die nun endlich repariert werden muss.

Früher, denkt Bruno, während er aufs Rad steigt und aus dem Hoftor kurvt, früher wäre das keine Begebenheit gewesen. Da wärst du zu Zapke-Alfred hintenrein gegangen. Und der Gehilfe hätte sich das Ding vornehmen müssen. Du hättest mit dem Alfred derweil einen Schnaps getrunken. Und einen Schlag geredet. Oder auch zwei, je nachdem, wie lange das dauert.

Früher hatte Bruno keine elektrische Kaffeemühle. Frieda hat mit der Hand gemahlen, und nie war die Brust im Wege. Tja, früher, denkt Bruno. Er blinzelt in die Morgensonne, um mit der Melancholie fertig zu werden. Fertig ist er sehr schnell damit, wenn er an heute denkt. Zapke-Alfred ist tot. Elektromeister gibt es keinen mehr im Ort. Dafür eine Annahmestelle für kaputtes Zeug. Bruno stellt die Mühle hart auf den Ladentisch.

Tja, dauert vier Wochen!

Was, vier Wochen?

Tja, es wird eingeschickt.

Bruno rafft die Mühle an sich. Die kriegen Sie nicht!

Vor Rias Gasthaus winkt Heider-Karl. Um zehn wird offiziell geöffnet. Nicht für Heider-Karl, der kann in die Küche. Er würde Bruno mitnehmen, würde sagen: Das ist mein Freund. Ria wäre machtlos. Seit wann gelten Öffnungszeiten, wenn Freunde sich treffen. Aber Bruno sieht über Heider-Karl in die Luft. Was braucht er einen Parlamentär. Er könnte Tag und Nacht zu Ria in die Küche, wenn er wollte. Jetzt will er nicht. Jetzt muss er das elendige Ding unterbringen.

Vor der Post überlegt er einen Moment. Straße oder Schiene? Der Bus fährt eher. Bei der Reichsbahn aber hat er früher mal auf der Strecke gearbeitet. Das entscheidet. Bruno stellt das Rad bei Boblitz ab, der hat hinten auf den Bahnhof zu einen Schuppen. Er wird gucken, der Adolf, wird denken: Nanu, ein Rad. Das denkt er immer, bei jedem Rad, das zu ihm gestellt wird. Wegen der Steuer. Viele zahlen fürs Unterstellen, wenige nicht. Solange sich Boblitz-Adolf wundert, kann der Fiskus nicht an ihn ran.

Der Zug fährt erst um neun. Neun Uhr sieben. Bruno rechnet um: also acht Minuten vor viertel zehn.

Einmal Rentner, sagt Bruno am Schalter. Die Stimme klingt poltrig in der leeren Halle. Das Mädchen hinter der Scheibe sagt nicht muh noch mäh. Es schiebt ihm eine Fahrkarte in die Kreisstadt hin. Schlechte Nacht gehabt, das Ding, denkt Bruno. Er überlegt, ob er das anbringen könnte. Sieht sich das Mädchen an, verzichtet darauf. Sie ist ihm zu grün für so was.

Die Bahnhofsuhr zeigt acht Uhr dreiundvierzig. Bruno zieht seine Taschenuhr und vergleicht. Missmutig stellt er sie drei Minuten vor. Lieber würde er die Bahnhofsuhr zurückstellen. Aber er kommt da nicht ran.

Bei Franz ist schon auf. Franz hat es nicht gern, wenn einer Kneipe zu einem Bahnhofslokal sagt. Er wischt die chromblitzende Theke genau an der Stelle, auf die Bruno mit dem Fingerknöchel geklopft hat. Wischt und wischt.

Heil, Kneipe! hat Bruno gesagt.

Bist du aktiv, murmelt Franz. Bleib lieber liegen mit dem Arsch im Bette.

Er zapft ein Glas Bier.

Bruno stößt das Kinn nach vorn.

Was verstehst du schon. Unsereins hat egalweg zu tun.

Das will Bruno eigentlich sagen. Aber er sagt: Bin schon halb fünf raus, heute.

Er trinkt sein Bier in einem Zug. Franz wackelt anerkennend mit den Ohren. Die Augen verschwimmen in Wasser. Das Gesicht besteht nur noch aus Nase. Aus einer roten Knollennase. Bruno setzt sich. Ist ja noch Zeit. Und am Tisch sitzt so was wie ein verständiger Mensch. Da hat man Gesellschaft. Prost, sagt Bruno.

Der verständige Mensch nickt. Noch eine Cola bitte.

Cola ist nicht gut, sagt Bruno. Macht Mücken im Bauch, Bier müssen Sie trinken, junger Mann.

Doch nicht jetzt, am frühen Morgen.

Der Morgen ist nicht früh. Es ist gleich neun Uhr. Vier Minuten vor neun, sagt Bruno, die Taschenuhr gezückt.

Zwei Minuten bis neun, sagt der verständige Mensch.

Vier, sagt Bruno, ich hab gestellt.

Franz mischt sich nicht ein. Wenn er Mittag zumacht, wird er die genaue Zeit wissen. Er bringt Cola und Bier. Der verständige Mensch zahlt gleich. Er will keinen Streit. Und muss sich doch anhören, wieso Brunos Uhr immer richtig geht. Eine lange Geschichte von einem gewissen Antek, der nichts weiter benötigte als eine Lupe und ein spitzes Taschenmesser.

Alles hat er gemacht, sagt Bruno, alles mit dem Messer. Sogar das Kirchturmwerk. Und das geht heute noch.

Der verständige Mensch ist Brunos Argumenten nicht gewachsen.

Er flieht in die Bahnhofshalle zum Uhrenvergleich. Cola, sagt Bruno verächtlich. Und trinkt einen guten Schluck. Der wird mir was erzählen!

Franz sagt überhaupt nichts mehr. Er wischt auf der Theke rum, trinkt seinerseits einen Schluck, auf der Knollennase bleibt ein Schaumreif zurück.

Kein Schneid, so was, sagt Bruno. Muss eben recht haben. Und nun traut er sich nicht mehr rein.

Der ist mit dem Zug weg, sagt Franz unschuldig. Bruno springt auf. Was, Mensch, welcher Zug? Franzens Augen verschwimmen. Neun Uhr sieben, zwölf Uhr zweiundzwanzig in Königs Wusterhausen an.

Dann geht er in die Küche. Er hat seine Rache gehabt. Von wegen Kneipe.

Bruno schüttelt den Kopf. Und der Mensch sah so verständig aus.

Das Rad bleibt bei Boblitz. Bruno schmeißt die Fahrkarte über das Brückengeländer in den Delinkagraben und marschiert ortsauswärts auf der Landstraße I. Ordnung auf Schnapprode zu. Also nicht in Richtung Kreisstadt. Die Kaffeemühle schlägt bei jedem Schritt an die Hüftknochen. Halt die Klappe, sagt Bruno. Er weiß selber, was nötig ist. Am Sägewerk überholt ihn ein Lastzug. Maschinenwagen und Hänger, beides Kipper, beide leer. Die Bremsen quietschen, der Hänger schlingert zur Seite, Röbel guckt aus dem Kabinenfenster. In die Pilze? fragt er.

Bruno spuckt Straßenstaub aus. Pilze! Es hat drei Wochen nicht geregnet, das weiß jedes Kind. Nicht mal das Unkraut kommt hoch. Er würdigt Robel keiner Antwort, steigt wortlos auf den Beifahrersitz.

Ich muss erst laden, sagt Robel. Hoffentlich hast du so viel Zeit.

Auch dazu kann Bruno mit Fug und Recht schweigen. Was denkt sich der Mensch, weshalb er in Richtung Schnapprode läuft, wenn er in die Kreisstadt will. Schließlich ist alles einkalkuliert.

Das Laden dauert nicht lange. Bruno steigt nicht mal aus. Er nimmt sich eine Zigarette aus Robels Schachtel, sucht nach Hölzern. Hölzer sind nicht da. Eine Zucht, schimpft Bruno. Robel ist hinten und gibt Obacht auf den Greifer. Da muss Bruno vorderhand kalt rauchen. Als der Greifer den Kies auf die Ladefläche des Maschinenwagens schüttet, geht der W50 kurz in die Knie, Bruno verfolgt eine Reifenspur zum rötlichen Grund der Grube. Die nächste Ladung rutscht weiter nach hinten. Die Kabine taucht wieder auf, und Bruno sieht jetzt die Kiefern über dem Rand.

Robel steigt ein, gibt Feuer.

Dann wollen wir mal, sagt er.

Bruno schweigt immer noch. Er raucht und hängt seinen Gedanken nach. Das Auf und Ab in der Fahrerkabine hat ihn an den Arbeiterturnverein erinnert. Zeiten waren das, Mann! Und heute hacken sie solche Löcher in den Wald.

Unterwegs staucht der Hänger den Maschinenwagen. Robel ist das Gestoße gewöhnt, er schaltet und kuppelt, als wäre nichts. Bruno schluckt an vom Magen her aufsteigender Übelkeit. Aber er beißt die Zähne zusammen. Es muss nicht jeder wissen, dass er sich in so einer Karre nicht zu Hause fühlt. Kurz vor dem Boxberg wischt sich Robel den Schweiß von der Stirn. Jetzt eine saure Gurke, Mensch! So eine von der ersten Ernte. Ganz oben aus der Kruke. Bruno merkt auf.

In der Mitte muss sie noch weiß sein.

Weißlich, sagt Bruno, und ganz fest. Knackrig.

Tja, sagt Robel, ist eben nicht alles beieinander.

Da ist Bruno bereit, ihm recht zu geben. Überhaupt scheint dieser Robel ein verständiger Mensch zu sein. Es gibt nur wenige, die Gurken auf diese Art mögen. Aber die sind fast alle verständige Menschen.

Die grauen Schornsteine vom Kraftwerk tauchen rechter Hand auf.

Halbes Jahr, sagt Robel, und sie haben dir so einen Apparat hoch.

Bruno sieht zur anderen Seite. So was imponiert ihm nicht. Für die Kaffeemühle brauchen sie vier Wochen.

Die Kabine neigt sich zur Seite, Robel biegt von der Straße ab, der Wagen schlingert durch tiefe Sandgleise.

Vor Brunos Augen steigen Betonmassen auf. Sie versinken gleich wieder hinter Sandbergen. Nur die Schlote ragen über alles hinaus.

Robel hält.

Am besten, du steigst hier aus, sagt er, die Tür schon halb offen. Du gehst da an der Baracke vorbei, da kommt ein Betonweg. Den gehst du bis zum Kohlebunker. Den Bunker lässt du links liegen und machst in Richtung Schranke. Keine Angst, der Pförtner kontrolliert bloß reinzu. Draußen auf der Straße kommt alle naselang irgendein Pkw. Nimm dir einen Wolga, da kannst du die Beine strecken. Bruno steigt ab. Er legt die Hand lässig an die Mütze und nickt Robel zu. Weil er daran denkt, dass ihn sowieso kein Pförtner aufhalten könne und dass er selbstredend einen Wolga genommen hätte, gerät ihm kein freundliches Gesicht. Robel kümmert’s nicht, er kennt seinen Bruno. Er fährt weiter in die Sandkrater hinein und bedauert, nicht noch wenigstens Zeit für eine Zigarette mit Bruno zu haben. Beim Kohlebunker also links. Da muss sich der Robel getäuscht haben. Bruno geht geradeaus weiter. Der muss erst noch geboren werden, der ihn ohne Not in einen Umweg schickt. Geradeaus, denkt Bruno. Die schwarzen Schnürschuhe knallen auf den Beton. Das Kinn ist vorgestreckt. Die Lippen pfeifen die Marseillaise, die mit dem deutschen Text.

Es kommt keine Schranke, Ein Dumper kommt, kommt plötzlich aus der Schlucht zwischen zwei Stapeln aus Fertigteilen. Bruno macht einen Satz zur Seite. Er spuckt in den Sand. Pui pui pui! Das hätte ins Auge gehen können.

Der Dumperfahrer zeigt einen Vogel. Er ruft was. Bruno liest ihm ein Wort von den Lippen. Opa!

Na und? denkt er. Was denn sonst? Er verschweigt sich, dass er keine Kinder hat, keine Enkel. Dieser Rotzlöffel von Fahrer muss nicht alles wissen. Immerhin guckt er sich um. Gebäude rechts, Gebäude links. Fahrzeuge, Kräne, Kabelrollen, Betonteile, Baracken, dazwischen Sand, dahinter Heide.

Die Baracken interessieren Bruno, Er öffnet eine Giebeltür, sieht auf den Gang. Türen rechts und links, wie angetreten. Aus einem Zimmer riecht es nach Kaffee.

Ja doch! sagt Bruno und boxt die Mühle in der Tasche. Er wendet sich zum Gehen. Um sich etwas abzulenken schimpft Bruno auf den Läufer, den er im Gang gesehen hat. Läufer auf dem Bau! Da wundert man sich über gar nichts mehr.

Wo war nun geradeaus, wo die Straße? Bruno blinzelt in die Sonne, als wisse sie weiter. Als er vor einer Konsumverkaufsstelle eine Gruppe Leute entdeckt, fällt ihm ein, dass er einen Mund hat und dass er Deutsch kann. Zur Not auch Sorbisch. Wird aber nicht nötig sein. Hilft auch gar nicht. Die jungen Leute, alles Männer mit dunklem Langhaar, überfallen ihn, kaum dass er seine Frage raus hat, mit einer Kaskade von gestauchten und gedehnten Silben, in denen das große und das kleine E eine vorherrschende Rolle spielen.

Bruno fasst sich unwillkürlich an den Hinterkopf. Was soll das nun sein. Man denkt nichts Schlechtes, und plötzlich ist man, wie’s den Anschein hat, in einem anderen Land.

Straße, sagt Bruno, Straße, verstehn? Himmelkreuzdonnerwetter, es wird doch einen Ausgang aus diesem Steinhaufen hier geben.

Die Jungen schlagen sich in die Seiten. Himmelkreuzdonnerwättääär! versucht sich einer. Er lacht, fällt dabei um. Ein anderer, kleiner, nimmt Bruno bei den Schultern, dreht ihn in die entgegengesetzte Richtung.

Wachää! sagt er und zeigt geradeaus. Die anderen rufen: Wachää! Bruno steht wie ein Klotz. Verwirrt nimmt er die fremde Zigarette aus der dargebotenen Schachtel, er macht einen Lungenzug und fängt augenblicklich an zu husten. Teufel! Teufel! Was für ein Kraut.

Der junge Mensch, der ihm Feuer gegeben hat, hört als erster zu lachen auf. Er tippt sich an die blaue Montur und sagt: Ich Szekesfehervär. Und du. Bruno wischt den Zeigefinger von seinem Körper und antwortet: Ich trink Bier. Landskron-Bier, das schmeckt.

In die Gesichter der jungen Leute kommt Ratlosigkeit. Bruno hat gewonnen. Er tippt mit dem Finger an die Mütze und sagt zum Abschied: Ihr werdet’s schon noch lernen.

Am Ende sind verständige Leute drunter, denkt er im Gehen. Man findet sie nicht raus, weil man die Sprache nicht kennt. Warum tut keiner was dagegen? Aber dicke Läufer in den Baracken, dafür reicht’s.

Tief befriedigt, genießt Bruno seinen Ärger. Der hilft ihm weiter die Betonstraße hinunter, bis zu einem niedrigen Steinbau, an der Schranke und der Wache vorbei, die er keines Blickes würdigt.

Halt, ruft der blau bemützte aus seinem Guckloch. Bruno dreht sich nicht um. Er antwortet laut: Wer heißt hier Halt? Er heißt Ladusch.

Der Wachmann stürzt aus der Tür auf Bruno zu. Die Jacke. Was hast du da drin?

Bruno zerrt mit der Kaffeemühle das Futter aus der Jacketttasche. Er streckt sie dem Blauen hin.

Mach ihr Beine, dem Luder, wenn du kannst. Ich kann sie morgen holen. Zeit musst du ja haben.

Der Wachmann starrt verdutzt auf das Gerät. Sein Gesicht verliert die Spannung, es fällt zusammen.

O jeh! sagt er, mit dem Ding wirst du deinen Ärger haben.

Wem sagst du das, kräht Bruno vergnügt.

Aber da ist schon die Straße.

Betrieb jede Menge. Lkws, Motorräder, Wartburgs, Mopeds, ein Moskwitsch, Radfahrer, ein Tatra. Kein Wolga. Dann doch ein Wolga. Aber die Farbe sagt Bruno nicht zu. Wie Braunbier und Spucke, denkt er voller Verachtung. Man käme sich vor wie in einem Kackstuhl.

Andere Wagen würden ihm eher gefallen. Der mausgraue da, aber der fährt in die falsche Richtung. Nein, er hält vor der Pförtnerbude.

Bruno sieht den Fahrer aussteigen. Er bückt sich in das Guckloch des Wachmannes, schiebt einen Umschlag durch.

Zilius, denkt Bruno, Sieh mal an.

Der Fahrer heißt eigentlich Zilias, aber Bruno kannte mal einen Zilius, einen verständigen Menschen. Der Name ist ihm geläufig, und so schnell lässt er sich keinen neuen einreden. Zilius also ist im Anglerverband. Sogar im Vorstand oder wie das heißt. Das macht aber Bruno nichts aus. Er ist nicht im Verband, angelt also schwarz. Und hat schon gefangen, da lag dieser Zilius noch als Quark im Schaufenster der Molkerei. Bruno will nicht einsehen, dass man mit dem Verband mehr fangen könne. Hinwiederum kann Zilius Schach spielen. Bruno kann bloß Doppelkopf, zur Not Skat. Er fühlt sich für einen Augenblick unterlegen. Aber dann fällt ihm ein: Schach ist was für Spinner. Zwei Stunden über einem Brett und nicht mal Bier dazu. In welcher Kneipe kannst du das machen!

Zilius kommt zurück. Bruno weiß nicht, ob er soll. Zum Glück fällt ihm ein, dass dieser Mensch den Kreissekretär fährt. Mithin muss er auf Überraschungen gefasst sein. Er tippt mit zwei Fingern an die Mütze und sagt: Ich hätte mit dir zu reden.

Zilius glaubt, endlich ein neues Mitglied für den Anglerverband gewinnen zu können. Er öffnet die Wagentür. Immer los. Hab aber wenig Zeit. Muss ins Sekretariat. Du müsstest ein Stück mitkommen. Kann ich ja, sagt Bruno gnädig.

Die Straße führt in den Wald hinein. Auf Brunos Seite springen die Räder alle Augenblicke über Asphaltfladen, mit denen man die Randlöcher ausgeflickt hat. Am Anfang hebt Bruno jedes Mal den Steiß. Dann lehnt er sich zurück. Die Stöße sind nicht der Rede wert. Guter Wagen.

Hast dir angeguckt? Zilius stößt den Kopf nach schräg hinten auf den Bau zu. Bruno mustert ihn von der Seite. Auch schon graue Haare, denkt er. Aber braun ist der. Wie kann man in der Kiste hier so braun werden.

Zilius überholt einen Lastzug mit rot gestreifter Überbreite. Die listigen Augenfalten werden für die Dauer des Manövers einen Grad tiefer. Bruno krallt die Finger in das Polster. Er hätte nicht gedacht, wie schmal die Straße sein kann.

Dann neigt sich die Tachonadel wieder der Neunzig zu. Zilius sagt nichts mehr. Er hats eilig. Wer wollte hier mit wem reden? Wenn sich der Mensch nicht bequemt, wird er ihn eben bis zur Kreisleitung mitnehmen. Soll er sehen, wie er zurückkommt. Aber Bruno fängt schon an.

Läufer in den Baracken, sagt er. Hat man so was schon erlebt! Zilius staunt. Haben sie dich reingelassen?

Ich komme überall rein.

Tja, sagt Zilius, ein gewisser Komfort heutzutage ...

Und wie sie reden. Scheckesferremtemtem. Du könntest denken, die Zunge ist ihnen oben am Gaumen festgewachsen. Zilius lacht.

Ach, die jungen Leute. Sind neu. Ungarische Freunde.

Ungarn also. Und Bruno hatte schon werweißwas gedacht.

Polnische Genossen arbeiten auch dort. Und welche aus Leningrad.

Bruno schnauft durch die Nase. Können wir das nicht allein machen?

Könnten wir schon. Aber es geht besser so und schneller. Du verstehst.

Bruno sagt gar nichts dazu. Heutzutage muss alles schneller und besser gehen. Würde Zapke-Alfred noch leben, sollten die mal sehen, wie schnell es mit seiner Kaffeemühle gegangen wäre. Und der ist aus dem Kreis nie rausgekommen. Bruno hat ihm mal von Hinterpommern erzählt, wo er im Krieg auf so einem Militärflughafen beim Bodenpersonal war, und dem Alfred ist prompt das Maul offenstehen geblieben, die ganze Zeit.

Er sieht Zilius von der Seite an. Ist sich nicht sicher, ob er diesem Menschen von seiner Soldatenzeit erzählen soll. Am Ende denkt er sonst was. Dabei hat Bruno seinerzeit extra ein chronisches Ohrensausen simuliert, um sich das richtige Mitmachen zu ersparen.

Zilius hat wohl auch keine Zeit jetzt. Er wird von einem Kradfahrer mit gelber Flagge rechts rangewinkt, er trommelt ungeduldig mit den Fingern auf das Lenkrad, bis der Sattelschlepper mit dem gelben Behälter vom Ausmaß eines mittleren Fabrikschornsteins vorbei ist. Dann gibt er dem Wolga die Sporen. Brunos Kopf ruckt nach hinten über den Rand des Polsters.

Tschuldige, sagt Zilius. Aber ich hab’s eilig. Willy wartet. Wir wollen noch zum Bezirk.

Willy, Willy ... Bruno recherchiert. Vermutlich handelt es sich um den Kreissekretär.

Ist das dem Kaubisch-Lope seiner?

Nee, sagt Zilius. Den musst du doch kennen. Er heißt Heider. Aus Kublank.

Bruno überlegt. Er kennt einen Heider-Karl, aber der stammt aus Neusorge und ist neuerdings mehr in Rias Gasthof zu Hause. Dann ist ihm noch ein gewisser Heider im Glaswerk bekannt, mit dem hat Bruno mal vier Wochen lang auf einer Werkstelle gearbeitet und Stamper geblasen. Aber der ist zu jung. Die Kinder gehen noch in die Schule. Aus Kublank soll er sein. Bruno geht die Häuser aus Kublank durch. Beim siebenten kommt ihm die Erleuchtung. Schnurpusch! Schnurpusch-Adolf, mit amtlichem Namen Heider. Trug einen Vollbart, als es noch nicht Mode war. Ging immer in Holzpantoffeln von Kublank in die Reichwalder Ziegelei. Schmiss die Pantinen nach den Kindern, die ihm den Spitznamen nachriefen. Konnte nicht mal Rad fahren. Von dem der Junge also! - und wegen so einem riskierst du Kopf und Kragen?

Die ersten Häuser der Kreisstadt stehen rechts und links im Wald. Große, lang gestreckte Kisten mit regelmäßigen Fensterreihen. Zilius schaltet einen Gang runter, drosselt die Geschwindigkeit auf neunundfünfzig.

Glatte Arbeitsteilung, sagt er. Ich spar nicht gerade mit den Nerven, um ihn pünktlich hinzubringen, wohin er muss. Und er macht denen Dampf, die zu spät kommen.

Kann er Schach spielen? erkundigt sich Bruno.

Er kann, aber nicht gut. Gewöhnlich hab ich ihn nach zwölf Zügen so weit, dass er aufgibt und hinschmeißt. Wir haben aber lange nicht gespielt.

In der Stadt ist schwer was los. Autos über Autos, Radfahrer, Fußgänger die Masse, vor der Bahnhofsbrücke staut der Verkehr, den Ampeln an der Kreuzung scheint man nicht zu trauen.

Ein Polizist mit Schutzhelm und herabhängendem Kinnriemen lockt die Fahrzeugströme erst auf sich zu und scheucht sie im letzten Augenblick an sich vorbei.

Bruno sieht sich das alles an. Er beherrscht das Kunststück, an zweierlei Sachen gleichzeitig denken zu können. Einesteils denkt er: ganz schöner Betrieb hier. Zum anderen geht ihm dieser Heider-Willy nicht aus dem Kopf. Kann nicht mal ordentlich Schach spielen und verschafft sich einen derartigen Respekt vor seinen Leuten. Also muss er ärgere Qualitäten haben. Vielleicht hat er den Betrieb hier angekurbelt.

Bruno kann sich noch an die Zeit erinnern, wo hierorts Hunde und Ziegen die Straßen beherrschten. Jetzt links rum, sagt Bruno.

Zilius tritt unwillkürlich auf die Bremse.

Wo rum?

In die Bahnhofstraße, sagt Bruno, als wäre es selbstverständlich.

Zilius zerrt am Blinkerhebel, als wär’s ein Hundehalsband.

Mensch! zischt er. Ich hab’s eilig.

So viel Zeit ist immer, antwortet Bruno ungerührt.

Und der Wagen biegt tatsächlich ein, von Brunos Willen dirigiert. Hier kannst du mich raussetzen.

Der Verband, ruft ihm Zilius, der nun langsam wieder Zilias wird, durch das Seitenfenster zu. Ich denk, du willst in den Verband. Bruno winkt lässig ab. Was habt ihr anzubieten? Kleine Fische. Dafür zahl ich keinen Sechser,