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Aus heutiger Sicht ist es ziemlich ungewöhnlich, dass sich im Jahre 1969 ein DDR-Schriftsteller auf für damalige Verhältnisse ungewöhnlich kritisch mit dem Thema der Zerstörung der Natur durch den Braunkohlenabbau in der Lausitz auseinandersetzt. Erzählt wird diese Geschichte eines Erwachsenwerdens und dem Übernehmen von Verantwortung aus der Sicht des 13-jährigen Klaus Kambor, auch Kurbel genannt, der auf einem See nahe seines Dorfes ein kleines Paradies erbaut hat, wo er vor allem von Daniele träumt, der hübschen Försterstochter, die er auch schon einmal geküsst hat. Doch dann passieren aufregende und auch verstörende Dinge. Am verstörendsten ist die zunächst nur als Gerücht auftauchende Information, dass das sorbische Dorf der Braunkohle weichen soll – und die dort noch wohnenden Menschen gleich mit. Werden sie diese Absicht verhindern können? Und was bedeutet das alles für Kurbel, der sich aus allerbester Absicht eine Dummheit leistet und fortan fast nur noch als derjenige gilt, der einen Waldbrand verursacht hat. Vier Jahre nach dessen Erscheinen verfilmte DEFA-Regisseur Rolf Losansky das spannende Buch unter dem Titel „ … verdammt, ich bin erwachsen“ zu einem bis in die Nebenrollen hinein mit sehr bekannten und beliebten DDR-Schauspielern besetzten Jugendfilm, der heute leider zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist. So gehörten zu den Mitwirkenden unter anderen Herbert Köfer als Schuster Jubke, Jutta Wachowiak als Kindergärtnerin Kandidel sowie Dieter Franke als Lehrer Konzak, Jürgen Reuter als Kraftwerksbauarbeiter Jule Bucht und der später nicht zuletzt vor allem als Polizeiruf-110-Kommissar aus Halle bekannte Wolfgang Winkler als Leo Javernki. Als Musikinterpreten des nicht zuletzt mit wunderschönen Aufnahmen der – noch unzerstörten Landschaft – überzeugenden Streifens sind die „Pudhys“ in ihrer Erstbesetzung und die „Gruppe Express“ zu hören. Die Musik für „ … verdammt, ich bin erwachsen“, der gelegentlich im MDR-Fernsehen zu sehen und auch auf DVD zu haben ist, schrieb der Leipziger Filmkomponist Peter Gotthard, zu dessen größten Erfolgen unter seinen mehr als 500 Titeln die ebenfalls von den Puhdys gespielten Stücke „Wenn ein Mensch lebt“ und „Geh zu ihr“ aus dem DEFA-Spielfilm von 1973 „Die Legende von Paul und Paula“ (Regie: Heiner Carow) gehören. Bleibt die Frage, was eigentlich heute zum Erwachsenwerden gehört? Und wird im Smartphone-Zeitalter eigentlich überhaupt noch irgendwo Wert auf Schönschreiben gelegt?
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Seitenzahl: 485
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Joachim Nowotny
Der Riese im Paradies
ISBN 978-3-86394-139-0 (E-Book)
Das Buch erschien erstmals 1969 in Der Kinderbuchverlag Berlin.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Hier fehlt Kurbel. Denn: Paul Honko ist da, er steht schwarz und mit gefährlich funkelnden Augen vor der Durchfahrt, hat links neben sich ein altes Mühlrad, rechts eine Holzfeie, vor sich die Hundehütte mit Prinz an der Kette - dieser Paul Honko also zieht ein Scheit aus der Feie, so ein knorriges Kiefernscheit, an dem noch Aststumpen stehn, das schmeißt er jetzt zu Prinz hin. Der kann zwar ausweichen, jault aber trotzdem, springt auf die Hinterbeine, prügelt in seiner Angst die Luft mit den Vorderpfoten, das hilft ihm nichts, schon das nächste Scheit trifft ihn am Kopf.
Na gut, Prinz ist eigentlich kein ordentlicher Hund, mehr so eine Promenadenmischung aus Fox und Spitz, krumme Beine, bärtige Schnauze, ein Ohr hoch, eins lappig herabhängend und Haare wie ein schwarzes Lamm - aber Hund ist Hund, jedenfalls ein lebendes Wesen, dem so etwas weh tut. Man müsste eigentlich eingreifen, müsste der armen Kreatur helfen.
Wo ist denn bloß Kurbel? Ja doch, hier in der Buschmühle wohnen noch andere Leute, aber die sind alle unterwegs. Der Meister Jubke zum Beispiel, der Flickschuster, trägt die reparierten Schuhe aus. Herr Rodewagen steht vor dem breiten Backstubenfenster, träumt ein bisschen in die Sonne und knetet dabei langsam den Semmelteig durch.
Seine dicke Frau trinkt indessen die zweite Tasse Kaffee, denn der Konsum ist von eins bis drei geschlossen, da hat sie Pause.
Paul Honkos Frau Melanie dagegen hockt nichts ahnend zusammen mit Frau Kambor, Kurbels Mutter, in einem Erdloch vor dem Dorf Kattuhn. Beide lesen Saatkartoffeln aus der Miete, es ist höchste Zeit, dass sie in die Erde kommen.
Weit weg im Dubowitzer Forst rollt Peter Honko, der Sohn Pauls, ausgelängte und geschälte Riesenstämme auf den Rungenwagen; nicht mehr lange, und er donnert mit dem schweren Traktor auf den Ladeplatz des Dubowitzer Güterbahnhofes. Von dort ist es nicht weit zum Glaswerk, der kalte Ofen liegt gleich neben der Rampe, an ihm mauert Josef Kambor, Kurbels Vater, herum. Er teilt gerade einen Schamottstein kunstgerecht in vier ziemlich gleiche Viertel.
Bliebe noch Elisabeth. Elisabeth Honko, die hübsche Schwester Peters, der Stolz von Melanie, der Liebling von Paul Honko. Die sitzt im Augenblick mit ihrer Freundin in der kreisstädtischen Eisdiele und isst in aller Ruhe Halbgefrorenes. Die Schule ist aus, und der Zug fährt erst nach zwei zurück.
Kurz und gut: All die Buschmühlenleute haben ihre Beschäftigung, keiner weiß von dem betrunkenen Mann, niemand ahnt etwas davon, dass Paul Honko wieder einmal seinen Koller hat. Der Buschmühlenhof liegt weitab vom Dorfe Kattuhn in ziemlicher Einsamkeit, nahe am endlosen Kiefernwald, da kann der dicke Rodeländer Hahn ruhig empört spektakeln, die Ziege Meta kann meckern, wie sie will, der Hund Prinz noch so heulen und wimmern, das hört keiner.
Aber die Scheite fliegen. Und wie sie fliegen! Pauls langer Körper schwankt zwar auf steifen Beinen, die schwarzen Haare hängen ihm ins Gesicht, doch zielen kann er noch. Ein Scheit trifft Prinz am Hals, ein zweites an der Hinterpfote, ein drittes überm linken Ohr. Daneben geht keins.
Kurbel muss her! Vielleicht hockt er oben unter der Dachkappe des alten Mühlengebäudes. Das macht er manchmal, aber bloß abends, wenn die Sonne rot und rund hinter der Kiefernheide versinkt. Vielleicht steckt er auch am Mühlgraben, gegenüber der Stelle, an der sich früher das große Schaufelrad drehte. Dort steigen im stillen tiefen Wasser immer noch ein paar lichtscheue Schleie auf. Es kann auch sein, dass er sich in Meister Jubkes Schusterwerkstatt geschlichen hat, jetzt wäre es gerade günstig, Kurbel könnte endlich sein Taschenmesser an der elektrischen Schmirgelscheibe schärfen. Das wollte er schon immer mal tun, bloß der Meister Jubke lässt ihn da nicht ran, der traut sich ja selber kaum.
Ginge es nach Kurbels Mutter, der energischen Frau Kambor, dann müsste der Junge jetzt in der Wohnstube am runden Tisch sitzen und Schönschreiben üben. Vier Seiten jeden Nachmittag. Und wehe nicht! Frau Kambor traut sich ja nicht mehr ins Dorf, seit alle Welt weiß, dass ihr Sohn in letzter Zeit so eine Klaue hat. Aber Kurbel sitzt natürlich nicht in der Wohnstube am runden Tisch. Noch viel weniger übt er das Schönschreiben.
Irgendwo wird er wohl stecken. Josef Kambor, der Hüttenmaurer, bildet sich ein, dass sein Sohn im Augenblick im Schuppen hinter dem ehemaligen Pferdestall Holz hackt. Der wird schon die Bescherung sehn, wenn er heimkommt. Nicht ein Scheit ist gehackt, nicht eins. Der Herr Sohn drückt sich vor der Handarbeit, er will später bloß auf lauter Knöpfe drücken und die Maschinen mit einem Fingerschnipsen regieren, arbeiten will er natürlich nicht.
Also: Kurbel ist immer noch nicht gefunden. Der kleine Hähnel wartet auch auf ihn. Da hat man nun eine ganz passable Bude gebaut, aus Latten und Schalbrettern, ziemlich gut versteckt auf der schmalen Mühlteichkaupe, die dreiseitig von Wasser umspült wird, mitten im Buschwerk steht die Bude, wie gesagt, also kaum erkennbar. Aber wozu eigentlich? Jetzt könnte man allerhand anstellen, etwas stibitzen und hier verstecken, jemanden, der auf dem Mühlteich zu tun hat, könnte man heimlich beobachten, vielleicht hat wirklich mal einer hier was zu tun. Und wenn nicht, dann ließe sich die Bude zu einem Steuerhaus umträumen, die Kaupe zu einem Riesenschiff, der Teich zum großen Meer. Der kleine Hähnel würde sich ganz gern mit dem Rang eines Ersten Offiziers begnügen und das Kapitänsamt dem Kurbel überlassen, wenn der bloß da wäre.
Aber er ist nicht da. Nirgends ist er. Und der arme Prinz heult immer noch, die Scheite fliegen, Paul Honkos Augen flackern böse. Junge, Junge! würde Piepe Jatzmauk aus Kurbels Klasse sagen, der ist ganz schön blau. Aber auch Piepe Jatzmauk ist nicht da. Was soll bloß werden?
Prinz endlich findet einen Dreh. Er zieht den Schwanz zwischen die Beine und verkriecht sich in der Hütte. In die äußerste Ecke kriecht er. Einen Moment steht Paul Honko verdattert da, wen soll er nun malträtieren, wo er doch so einen Rausch hat und einfach jemanden malträtieren muss? Dann aber reißt es seinen Oberkörper nach vorn, das macht Schwung, nimmt die langen Beine mit, auf die Hütte zu, quer über den buckligen Hof, vielleicht fällt der Mann hin. Aber er fällt nicht, sondern greift sich eine rostige Eisenstange von der Mühlenrampe, die hat dort zwischen Moos und Mauerritzengras gelegen, jahrelang, nun muss sie dazu herhalten, Prinz aus seinem Versteck zu stochern. Der Hund quiekt in seiner Angst wie ein Ferkel, schießt dann aber plötzlich aus der Hütte, springt in rasender Wut auf Honko los, aber die kurze Kette reißt ihn zurück. Taumelnd knickt er in den Knien zusammen. Paul Honko lacht, lautlos, nur mit auseinandergezerrten Lippen lacht er, dabei schlägt er mit der Eisenstange auf den Hund los. Das nimmt kein gutes Ende. Wenn wir nur Kurbel endlich fänden!
Wir finden ihn. Zufällig sehen wir mal zu der Stelle, wo sich der Mühlgraben wieder mit dem Flüsschen Schwinde vereinigt. Dort wächst im Sommer Schilf einen ziemlich behäbigen Damm hoch, oben auf dem Scheitel wuchert fleischiges Grünkraut, auf der dem Wasser abgewandten Seite aber duftendes Sauergras. Jetzt freilich zeigt alles erst ein paar schüchterne Spitzen, nur das Sauergras bildet schon einen gelbgrünen Teppich, das hat es im Frühjahr immer etwas eilig. Und hier liegt nun auch Kurbel. Kopfüber liegt er. Erst kommen die Füße oben auf dem Dammscheitel, dann die Beine in Nahthosen, endlich der graue Pullover und dann das Kinn, der Nasenrücken und der dunkle Haarschopf unten im Gras. Wie kann man sich bloß so hinlegen! Uns steigt gleich das Blut in den Kopf.
Jedenfalls hätten wir nun endlich diesen Kurbel. Aber wir sehen, dass er eigentlich nicht da ist. Natürlich liegt er hier den Damm hinunter, das wollen wir nicht bestreiten. Eine Verwechslung ist auch nicht möglich, denn solche schwarzen, dichten schnurgeraden Augenbrauen, solche langen Wimpern gibt es im ganzen Kreis nur einmal.
„Oha!“, sagen die Kattuhner und Dubowitzer Mädchen. „Das wird mal einer!“
Und sie meinen damit den Kurbel von morgen, den jungen Mann Klaus Kambor, der in vier, höchstens fünf Jahren die Tanzsäle der Umgebung unsicher machen wird. Aber soweit ist es noch nicht. Außerdem kann sich Kurbel auch jetzt schon sehn lassen. Im Augenblick freilich wären wir ganz froh, wenn er endlich zu sich käme. Hier liegt er, aber mit den Gedanken ist er woanders. Bei Daniela Greiner natürlich, bei der Tochter vom Kattuhner Revierförster. Na, gute Fuhre! Wenn Kurbel von Daniela träumt, dann dauert das seine Zeit. Stundenlang kann er da mit geschlossenen Augen liegen, sitzen, stehn und auch gehn. Manchmal fällt er dabei freilich über eine Wurzel oder in ein Loch. Aber das macht ihm nichts aus. Er steht auf, klopft sich ab, geht mit offenen Augen weiter - bloß, von Daniela träumt er immer noch.
Sie weiß natürlich von nichts. Kurbel würde sich eher die Zunge abbeißen, ehe er etwas von seinen Traumbildern verriete. Vorläufig genügt es ihm so. Jeden Tag kann er Danielas braunkräuseliges Nackenhaar sehen, denn er sitzt in der Schule direkt hinter ihr. Jeden Tag bewundert er ihren schlanken stolzen Hals. Und er sieht ihr manchmal über die Schulter auf das Schreibheft, in dem die Buchstaben wie Perlen stehn, so sauber und rund, so regelmäßig. Ja, Daniela, das ist ein Mädchen! Wir können’s verstehen, wenn Kurbel in der letzten Zeit immer wieder von ihr träumt. Im Augenblick allerdings wäre es uns lieber, sie wäre weniger hübsch. Denn der arme Prinz muss leiden, weil sich Kurbels Gedanken nicht von ihr losreißen können. So eine verzwickte Welt.
Aber da kommt Rettung. Wir haben nicht mit dem Rodeländer Hahn gerechnet. Dem ist es im Buschmühlenhof unheimlich geworden. Ziegengemecker, Hundegeheul, die schweren stockernden Stampfschritte des trunkenen Honko, jetzt rammt auch noch der Schafbock Leo seinen Hörnerschädel gegen den Stallpfosten - das hält selbst ein Rodeländer Hahn nicht aus, mag er auch einen dicken Federpanzer und so gut wie keine Ohren haben. Er krümmt also die Zehen und läuft mit weitgreifenden Schritten und vorgestrecktem Hals immer im Kreise herum. Nirgends ein Ausweg! Überall Mauerwände, rund um den Hof. Nur die Durchfahrt ist offen, davor aber steht Honko mit der Eisenstange. Es bleibt nur eine Möglichkeit, die letzte für einen Rodeländer Hahn: Er muss sich ein Herz fassen und versuchen, mit schnellen knatternden Flügelschlägen Höhe zu gewinnen. Erst mal einen Schaukelflug auf die Regenrinne, dann mit Laufunterstützung die Dachschräge hinauf bis zum First. Da oben kann er sich blähen, da ist er sicher. Er stellt sich auf die Krallenspitzen und kräht triumphierend. Sein Hahnenschrei endet mit einem lange nachzitternden tiefen Üüü.
Kurbel hört das. Er hört es wirklich. Erstens ist es selten, dass der Hahn am frühen Nachmittag kräht, zweitens hat man ihn noch nie auf dem Dachfirst sitzen sehen, drittens das Gurgel-üüü am Schluss, das kann ja nur höchste Entrüstung sein. Jedenfalls muss es auffallen. Kurbel springt auch sofort auf die Beine, will es tun, aber das mach mal einer, der kopfüber den Damm hinunter liegt und eben noch geträumt hat! Eine Weile dauert es schon, ehe Kurbel sich in seinen Gliedern zurechtfindet, aber dann rennt er sofort los, über die Wiese, dem Buschmühlenhof zu. Unterwegs fährt ihm nun der ganze Spektakel ins Ohr, Kurbel muss da gar nicht erst sortieren, er weiß schon, woher das kommt. Der Honko hat wieder mal seinen Koller. Man muss ihm entgegentreten, sonst schlägt er alles kurz und klein. Man? Wer soll das sein?
Außer Kurbel ist niemand da. Also Kurbel! Aber wie dann das? Soll ein Schuljunge - zugegeben, er ist nicht gerade der schwächsten einer, aber immerhin -, soll er es mit dem bärenstarken Honko aufnehmen?
Der Mann ist knapp an die fünfzig, lang wie ein Baum und kollrig dazu. Der hat sich seinerzeit einem Gespann feuriger Rappen entgegengestellt, die dem Müller Tabor durchgegangen waren, hat ihnen in die Trense gegriffen, sich von den rasenden Pferden mitschleifen lassen, bis die Gäule schweißnass und mit pumpenden Flanken standen. Nun schwingt er hier im Buschmühlenhof eine Eisenstange. Wer kann von Kurbel verlangen, dass er seine Hand gegen einen solchen Menschen erhebt? Wer?
Prinz verlangt es. Er winselt und klagt und kriecht auf dem Bauche und sieht mit flehenden Augen zu Kurbel auf. Aber er ist es nicht allein. Welche Augen werden die Buschmühlenleute machen, wenn sie heimkommen und alles zerschlagen finden, Fensterscheiben, Töpfe, vielleicht sogar den Stall des Schafbockes Leo, der mit seiner sturen Rammelei direkt mit Paul Honko verwandt sein könnte. Nanu, werden diese Augen fragen, wir dächten doch, dass da hätte einer eingreifen können. Muss man es mit dem bedauernswerten Mann erst so weit kommen lassen?
Auf Kurbels Stirn steht der Schweiß. Zum Glück hat er gerade nicht den hohen, dunstlosen Frühlingshimmel über sich, wie klein käme er sich da vor. Nein, wenn er sich auf die Zehenspitzen stellt und streckt, hier unter der Durchfahrt, dann braucht er bloß noch einen knappen Meter bis zu den rissigen Bohlen des Strohbodens. Das zu wissen hilft über den ersten Schritt in den Hof hinweg. Den zweiten tut Kurbel mithilfe der alten Frau Greiner, seiner Klassenlehrerin, obwohl die gar nicht hier ist, sondern in ihrer Schulwohnung Hefte korrigiert. Vielleicht ist sie gerade bei Kurbels Heft angelangt, vermutlich schimpft sie still vor sich hin: Diese Schrift aber auch! Dennoch: Wird sie während des Unterrichts mal abberufen, dann gibt es in der ganzen Klasse nur einen, der für Ruhe sorgen kann, nämlich Kurbel. Der setzt sich durch. Sogar gegen Piepe Jatzmauk, was ganz bestimmt allerhand heißen will.
Der dritte Schritt geht auf das Konto von Kurbels Vater.
„Was willst du mit dem Handbeilchen?“, hat er ihn neulich im Schuppen gefragt. „Nimm die Axt! Holzhacken ist keine Spielerei, sondern Arbeit. Du bist groß genug.“
Und noch einen Schritt kann Kurbel wagen. Geht die Mutter nicht neuerdings aus der Waschküche, wenn er sich badet?
Jetzt reicht es übrigens. Kurbel steht direkt vor Honko, vor Paul, der die Eisenstange langsam, wie lauernd, erhoben hat, dessen Augen böse und zugleich verständnislos glimmen, dem die feuchten Haare strähnig ins Gesicht hängen, der nun nicht mehr schwankt, sondern dauernd schluckt, sodass der Kehlkopfknorpel zwischen den scharfen Halssehnen auf und ab fährt.
Jetzt kommt das Schwerste, und Kurbel muss es ganz allein überstehen.
Einen Herzschlag lang ist es merkwürdig still, nur Prinz hechelt leise und erschöpft, die laue Luft faucht unter den Flügelschlägen eines Wildtaubers, aus dem rauchblauen Himmel zuckt eine Schwalbe in den Hof.
Da hebt Kurbel die Hand. Ganz ruhig ist er auf einmal, der Schweiß auf seiner Stirn wird eiskalt, doch Kurbel beißt die Zähne zusammen, er überwindet die Angst und presst mit einem heftigen Atemstoß das plötzlich einsetzende Bauchgrimmen zurück. Honkos Handgelenk fühlt sich wie Eichenholz an, schwer und hart, Kurbel spürt den Widerstand, sieht Honkos Augen langsam schwarz werden, doch Zorn und Widerstand lähmen ihn nicht. Er verstärkt den Druck, zieht den drohend erhobenen Arm nach unten, packt die Stange und dreht sie dem verblüfften Mann aus den Fingern. Als sie auf das Pflaster klirrt, will sich Honko noch einmal auflehnen, aber es ist schon zu spät. Kurbel springt mit einem schnellen Satz hinter ihn, er zieht ihm die Arme auf den Rücken, stößt ihn vorwärts.
Da erlischt Paul Honkos Funkelblick, die Schultern geben nach, auf einmal wird er ganz schlapp. Gehorsam marschiert er über den Hof, bückt sich durch die Tür zu Honkos Wohnküche, lässt sich von Kurbel wortlos zum alten Lederkanapee dirigieren und knickt seufzend auf ihm zusammen. Eine Polsterfeder summt. Das ist der erste Ton, den Kurbel nach dem Schwalbenschrei vorhin im Hofe wieder hört.
All das ist wirklich geschehen. Noch stehen wir da und zwinkern ein bisschen mit den Augen. Vielleicht haben wir das bloß geträumt. Aber als Kurbel aus Honkos Haustür tritt, als er sich bückt, obwohl der Querbalken wahrhaftig hoch genug ist, so hoch, dass Kurbel noch gut zwei Köpfe größer sein könnte, als er sich trotzdem bückt, sehen wir, dass wir nicht geträumt haben.
Dieser Kurbel ist ein Kerl. Alle Wetter! Lachen wir nicht, wenn er jetzt mit auf den Rücken gelegten Händen und mit durchgedrückten Knien um den Hof herumspaziert. Er hat sich ein bisschen Beachtung verdient. Bloß schade, dass keiner da ist. Na ja, Prinz. Der leckt sich seine Wunden, blickt dankbar zu Kurbel auf, lässt sich den Hals tätscheln.
„Nu, nu“, sagt Kurbel begütigend und mit einer merkwürdig tiefen Stimme, die an seinen Großvater erinnert. Aber Prinz ist ein Hund. Mehr als dankbar gucken und ein wenig mit der blassblauen Zunge nach Kurbels Hand schlappen kann er nicht. Kurbel braucht jetzt eigentlich einen Schulterschlag. Junge! Müsste einer zu ihm sagen, Junge, Junge! Und er müsste das natürlich so sagen, dass jeder gleich heraushört: Hier wird ein Erwachsener gemeint.
Also wir verstehen das. Sehr gut sogar. Kurbel hält es jetzt zwischen den engen Wänden des Buschmühlenhofes nicht mehr aus. Es ist schon allerhand, dass er erst noch den braunen Hundenapf unter der Pumpe mit frischem Wasser füllt, dass er sogar noch einen prüfenden Blick durch Honkos Wohnküchenfenster wirft, um sich davon zu überzeugen, dass Honko auch wirklich schläft. Für einen Augenblick ist Kurbel direkt erschrocken, denn Honko atmet nicht, er hält die Luft an, lange, sehr lange, endlich stößt er sie mit einem kläglichen Seufzer aus. Alles im Schlaf, ein Traum also. Sicherlich ein schlechter. Aber Kurbel muss sich nicht darum kümmern. Er geht. Oder besser: Er trabt. So einfach Schritt für Schritt, das ist ihm heute zu langsam. Rennen will er auch nicht gerade, das tun Kinder. Also winkelt er die Arme an, boxt die Luft mit den Fäusten und trabt. Zur Durchfahrt hinaus, den Fuhrweg hinunter über die Mühlgrabenbrücke, dann auf den Feldweg in Richtung Kattuhn.
Auf einmal verstehen wir ihn nicht mehr. Der Weg führt durch Felder und Wiesen ziemlich flott ins Dorf. Für Kurbels Zuckeltrab reichte eine knappe Viertelstunde. Es ließe sich auch denken, dass Kurbel den kurzen Umweg durch den Kiefernwald macht, der in einer schmalen Zunge zum Dorf hinleckt. In ihm gibt es einen gewissen Trampelpfad, der unmittelbar am Försterhaus vorbeiführt. Es ist immerhin denkbar, dass Daniela Greiner aus dem Fenster schaut und den mutigen Kurbel sieht. Für einen Bewunderungsblick aus ihren flinken Augen könnte man so eine kleine Verzögerung ruhig in Kauf nehmen.
Aber Kurbel wählt weder den einen noch den anderen Weg.
Er schwenkt plötzlich ab und trabt unverdrossen quer über die Großwiese dem Babenberg zu. Der nun wiederum liegt zwischen den Dörfern Kattuhn und Mauke, ist gewöhnlich öde und langweilig wie ein Garten im Winter und nicht einmal besonders hoch. Gemessen hat ihn freilich noch keiner, aber der Schornstein vom Rutenberger Glaswerk ist bestimmt höher. Berg sollte man zu so etwas von Rechts wegen gar nicht sagen, höchstens Hügel, Sandplacke nennen ihn einige, aber die haben auch nicht recht. Denn es wächst schon allerhand dort, Dornengestrüpp, Heiderosen, Ginster, Krüppelbirken, Anflugkiefern, im Sommer Pfifferlinge und Fliegenpilze. Wildkaninchen gibt es, auch ein Dachs soll sich angesiedelt haben, es hat ihn aber noch keiner gesehen. Wie es auch sei, all das lohnt wohl nicht den Umweg von gut zwanzig Minuten.
Hat vielleicht Piepe Jatzmauk etwas damit zu tun? Er hockt in einem Sandloch, über dessen Rändern dünnstängelige Farnwedel zittern. Und hustet. Ja, er hustet ganz schön. Plötzlich aber hält er die Luft an und verscharrt schnell etwas im Sande. Bewegungslos sitzt er da, er lauert, im Halse juckt es derweil fürchterlich. Er müsste schon wieder husten. Aber irgendetwas hat jetzt geknackt, ein Ast unter einem Fuß vermutlich, man hört auch Schritte, stampfende Schritte, merkwürdig schwer und kurz hintereinanderfolgend zugleich, jedenfalls keine Kinderschritte.
Wer kommt den Babenberg herauf?
Piepe Jatzmauk linst durch die Farnstengel, er sieht zuerst ein Paar Riemensandalen und ist schon etwas erleichtert, dann ein Paar auf die Knöchel gerutschte Socken, das lässt ihn aufatmen, schließlich den zerfransten Rand einer blauen Nahthose. Piepe Jatzmauk kann sich nicht mehr bezwingen, er hustet los, bellt und kuzt wie ein heiserer Rehbock, schiebt dann den Kopf über den Grabenrand und sagt: „Menschenskind“, sagt er und hustet noch einmal, „du hättest mich beinahe erschreckt.“
Kurbel steht wie versteinert. Auch er ist natürlich zusammengefahren, als er Piepe Jatzmauks braunsträhnigen Haarschopf im grünen Farnkraut auftauchen sah. Doch er fasst sich schnell.
„Machst’n hier?“, fragt er und bleibt stehn, wo er steht.
Piepe Jatzmauk antwortete nicht gleich. Er guckt Kurbel von unten bis oben an, irgendetwas hat sich da verändert. Dann zieht er das Kinn hoch und sagt: „Komm mit rein hier, du wirst dich wundern.“
Eigentlich hat Kurbel ja keine Zeit. Er will ins Dorf, Bewunderung einheimsen. Das Versteckspiel auf dem einsamen Babenberg ist gar nicht nach seinem Geschmack., Aber Piepe Jatzmauks Stimme hat so einen geheimnisvollen Unterton.
„Los, Mann!“, sagt er. „Zier dich nicht.“
Kurbel springt durch das schüttere Farnkraut in die Tiefe und landet neben Piepe. Zwischen den engen Sandwänden steht die Luft kühl und muffig. „Hast du gequalmt?“
.Hm“, antwortet Piepe, „aber bloß drei Züge.“
„Mensch!“ Kurbel ist für den Moment ganz perplex, „Wenn hier was anbrennt. “
Piepe verzieht das Gesicht. „Pfeife“, sagt er, „was soll schon brennen? Papprutsch und Sträucher, das wächst sowieso für die Katz.“ Piepe Jatzmauk ist beinahe vierzehn. Einiges lässt sich Kurbel von ihm schon sagen. Aber Pfeife darf ihn keiner schimpfen, heute schon gar nicht.
„Selber Pfeife!“, sagt er deshalb und will wieder aus dem Loch heraus. Als er aber beim ersten Versuch abrutscht, bleibt er doch. Plötzlich fühlt er sich seltsam müde und schlapp, er lehnt sich gegen die Sandwand, gleitet mit dem Rücken an ihr herab, setzt sich, sitzt unbequem und steif, rührt sich aber nicht. Alle Kraft hat ihn verlassen, erst jetzt merken wir, wie er sich vorhin im Buschmühlenhof völlig verausgabt hat.
Piepe weiß gar nicht, was mit Kurbel los ist. Die Sache wird ihm direkt unheimlich, der Kerl sitzt da wie eine lahme Ente und macht doch ein paar Augen, als gehöre ihm die ganze Welt. Schulterzuckend wendet sich Piepe ab, er bückt sich in die freie Ecke des Sandloches und beginnt wie ein Hund zwischen den Beinen zu scharren.
„Du“, sagt Kurbel plötzlich leise und beinahe versonnen, „du, heut hab ich den alten Honko bezwungen.“
Piepe stellt das Scharren sofort ein. Über die Schulter hinweg fragt er: „Den Paul meinst du, den von der Buschmühle?“
„Wen denn sonst?“, antwortet Kurbel halb ärgerlich. „Als ob es hier noch andere Honkos gäbe.“
Da dreht sich Piepe Jatzmauk nun doch um, in der Hand hält er eine grüne Flasche, die Kinnlade ist herabgesunken, sie lässt sich nur schwer wieder heben, aber hoch muss sie.
„Junge“, sagt Piepe Jatzmauk, „Junge, Junge! Der hat wohl wieder seinen Koller gehabt ...“
Kurbel antwortet nicht. Die Sache spricht für sich selbst. Und Piepe Jatzmauk ist auch ehrlich ergriffen. Der Honko hat ihm vor fünf Wochen erst ein paar hinter die Ohren gegeben, als er in der Kattuhner Schenke saß, schwarz bis zum Haaransatz, mit glimmenden Augen und vor einer Batterie Schnapsgläser. Alle Tischgäste waren weggelaufen, keiner wollte mit Honko trinken, denn der saß in seiner schwarzstaubigen Kohlenschipperkluft auf einem Blatt Zeitungspapier, das ihm der Wirt untergeschoben hatte, und schnauzte alle an.
„Ho“, schrie er, „ihr werdet mich noch kennenlernen, das Schwarze unter den Fingernägeln werdet ihr noch fressen, das sag ich, aber von mir wird keiner was kriegen, von mir nicht.“
Die Leute standen auf. Sie arbeiteten und verdienten ihr Geld. Von Honko brauchten sie nichts, auch keinen Schnaps. So blieb Paul allein am Tisch, stierte vor sich hin und schimpfte ab und zu mit einer Stimme, die aus einem Fass zu kommen schien. Erst als Piepe Jatzmauk in die Gaststube nach Bier und Limonade kam, stand er auf.
„He, Junge“, rief er, „trink!“
Und er wies mit einer weit ausholenden Bewegung auf die gefüllten Gläser. Er konnte aber den Armschwung nicht bremsen, die Hand krachte plötzlich auf den Tisch hinunter, als gehöre sie nicht mehr zu seinem Körper. Piepe stand vor der Theke und schielte verstohlen durch den Küchentürspalt. Wo blieb der Wirt bloß? So allein mit dem betrunkenen Mann zu sein, das war nicht gerade ein Vergnügen.
Aber Paul Honko hatte im Augenblick mit seiner Hand zu tun. Verwundert sah er auf sie hinab, wie sie da auf dem Tisch neben den Schnapsgläsern lag, wie sie die Finger bewegte und zur Faust krümmte, ganz ohne seinen Willen. Da überfiel ihn plötzlich eine tiefe Traurigkeit, nichts gehorchte ihm mehr, die Leute nicht, nun verweigerte sogar die Hand ihm Gehorsam. Seufzend fiel Paul wieder auf den Stuhlsitz mit dem Zeitungsblatt, seufzend stierte er vor sich hin, eine ganze Weile stierte er, der Wirt kam und kam nicht. Piepe stand wie auf glühenden Kohlen. Er wusste, dass es in Honkos Koller immer auf und ab ging. Drei Minuten sture Schlappheit, drei Minuten tobendes Ungeheuer.
Diesmal kam es anders. Honko stierte auf einmal nicht mehr. Er sah sich den Jungen an der Theke an. Gründlich. Von oben bis unten. Sah die engen Hosen, den abgewetzten Anorak, die verwegene Haartolle und die fleischige Nase.
„Du bist dem Jatzmauk seiner“, sagte Honko schließlich, als zweifele einer daran.
„Mhm“, nuschelte Piepe unsicher.
„Sitzen geblieben, was?“
„Einmal“, sagte Piepe, „und ein Jahr zu spät eingeschult.“
Er wusste nicht, weshalb er das dem betrunkenen Mann so amtlich auseinandersetzte. Vielleicht war es einfach die Überraschung darüber, dass Honko auch vernünftig sein konnte. Aber er war nicht vernünftig.
„Hähähä“, lachte er triumphierend, „wirst mal Kohlenschipper wie ich.“
„Nein!“ Piepe Jatzmauk schrie es beinahe.
Aber Honko schrie jetzt auch, „Trink endlich!“
Er erhob sich, ging auf unsicheren Beinen um den Tisch herum, hielt Piepe Jatzmauk ein Glas unter die Nase. „Los, Kollege, trink!“
Piepe wusste sich nicht mehr zu helfen. Er war der Kräftigste überhaupt an der ganzen Kattuhner Schule, er fürchtet sich vor keinem, aber ein Betrunkener? Der war unberechenbar, der nahm am Ende einen Stuhl und drosch damit los.
„Nein“, hauchte Piepe Jatzmauk, und als er Luft holte, sog er den Schnapsdunst in sich hinein. Honko stand ganz dicht vor ihm, schwarz bis zu den Haarwurzeln, drängte er den Jungen an die Theke. Die Augen glimmten, der Mund war verzerrt.
„Nein“, sagte Piepe ein letztes Mal.
Er hatte sich schon entschlossen, einfach auszurücken. Von unten schlug er gegen Honkos Hand, dass der Schnaps überschwappte, bückte sich blitzschnell zur Seite, fühlte noch den Schlag hinterm rechten Ohr, war dann aber schon über die Schwelle und schmetterte die Tür hinter sich zu.
Bisher hatte noch keiner etwas von dieser Blamage erfahren. Was hätte Piepe Jatzmauk auch erzählen sollen? Dass er ausgerückt ist, dass er einen Schlag bekommen hat, ohne sich zu wehren, dass man ihm eine Zukunft als Kohlenschipper voraussagte? Nein, Piepe konnte die Sache drehen, wie er wollte: Etwas Rühmliches kam nicht für ihn dabei heraus. Um so mehr bewunderte er jetzt diesen Kurbel. Der kam einfach angetrabt und verkündete: Ich hab den Honko bezwungen. Als wäre das nichts.
„Hier“, sagt Piepe Jatzmauk, „nimm mal einen Hieb aus der Flasche.“ Kurbel guckt erstaunt auf. „Most?“, fragt er.
„Ha, Most!" Piepe Jatzmauk tut ein bisschen dumm. Wie kann man ihm zumuten, dass er dieses Kindergesöff mit sich herumschleppt?
„Rhabarberwein, Mann“, sagt er. „Ziemlich stark. Hab ich aus Großmutters Keller.“
„Gemaust?“
„Wo denkst du hin! “
Piepe Jatzmauk grinst übers ganze Gesicht und erzählt die Geschichte von seiner gutgläubigen Großmutter. Er sei zu ihr hingegangen und habe dreist behauptet, er hätte Durst. Ganz gewaltigen Durst. Wasser wolle er trinken, die Großmutter solle ihm eine Tasse geben. Natürlich wäre sie dagegen gewesen, von Wasser bekäme man bloß Läuse in den Bauch. Also Apfelsaft, selbst gekeltert, da könne er sich eine Flasche holen. Er, Piepe Jatzmauk, habe sich ein bisschen dumm gestellt. Wo der Saft im Keller stehe, habe er gefragt, links oder rechts auf dem Regal? Na, links natürlich, rechts stehe doch der Wein. Aber sie sehe schon, dass sie selber gehen müsse. Nein, habe Piepe gesagt, sie solle bloß mit an die Treppe kommen und aufpassen, damit er im Finstern nicht doch etwa den Wein greife. Wäre ja noch schöner, habe die Großmutter gesagt, Alkohol und Kinder! Und sie wär richtig mit zur Treppe gekommen, habe immer links! gerufen, links, mein Junge!, er aber, Piepe, habe nicht einmal gemogelt, sondern sich mit dem Rücken zum Regal gestellt und hinter sich gegriffen, da war natürlich links der Wein. Hast du? hätte die Großmutter gefragt. Und er: Ja, ich habe. Mit der Flasche in der Linken sei er hochgekommen, zum Glück war es Rhabarberwein, der sieht fast wie Apfelsaft aus, nur ein bisschen molkiger. Trink, trink, mein Junge, hätte die Großmutter gesagt und ihm so den Wein direkt aufgezwungen. Kontrolliert habe sie nicht.
„Na“, fragt Piepe Jatzmauk, „ist das nun gemaust?“
Kurbel weiß nicht. Ganz astrein scheint ihm die Sache nicht, aber auch er hat Durst. Ganz gewaltigen Durst.
„Gib her!“, sagt er. Und er trinkt einen kräftigen Schluck und noch einen und noch einen, das Getränk rinnt kühl und süß und herb zugleich über seine Zunge.
„Halt!“, schreit Piepe Jatzmauk. Er will wenigstens noch einen Rest retten. Aber Kurbel trinkt auch den Rest. Aufatmend stellt er die Flasche in den Sand.
„Du kannst dir eine neue holen bei der Großmutter“, sagt er zu Piepe. Und er ist plötzlich gar nicht mehr müde, sondern ziemlich aufgekratzt. Der Piepe Jatzmauk soll sich ja nicht mucken, den haut er sofort in die Ecke, und wenn er zehnmal so stark ist wie der Dubowitzer Schmied. Kurbel kuscht nicht so schnell, er hat den kollrigen Paul Honko bezwungen, er hat eine ganze Flasche Wein in einem Zug getrunken, er ... ach, überhaupt! Der Kurbel wird jetzt losgehen, um im Dorf endlich die Bewunderung einzuheimsen, die ihm zukommt. Jetzt gleich!
Das Dorf Kattuhn. Wie merkwürdig krumm es heute ist. Der Weg schlängelt sich durch sanft geschwungene Zaungassen, die niedrigen Häuser tragen verbeulte Dächer, die Bäume haben gebogene Stämme. Sogar die Enten auf dem Teich schwimmen lauter Kurven, und auch der Wind scheint um die Ecke zu wehen, eigentlich kommt er von den Mistbeeten in Jatzmauks Garten, aber er duftet nach den eben erst aufgegangenen Kirschblüten.
Kurbel schüttelt ein bisschen den Kopf. Ihm ist so leicht und wunderlich zumute, er könnte von der Stelle weg losfliegen, hätt er bloß ein Paar Flügel. Warum hat er eigentlich keine? Wäre doch möglich, dass er welche auf dem Rücken trüge, da brauchte er sie bloß auszubreiten, ein paar Schritte gegen den duftenden Wind rennen, und schon könnte er wie ein Storch über dem Dorf segeln.
Kurbel ist sicher, dass das ginge. Seit er den Wein getrunken hat, ist überhaupt alles viel einfacher geworden. Jetzt würde er zum Beispiel keinen Umweg mehr machen. Ohne Weiteres würde er den Feldweg benutzen, auch wenn ihn die Mutter spätestens bei der Kartoffelmiete abfangen könnte. Schönschreiben? Wozu denn das? Er hat den Honko aufs Kanapee gelegt, bitte sehr. So einer kann eine Klaue haben, wie er will. Sogar dem Vater würde Kurbel ohne Angst entgegentreten, träfe er ihn auf dem Trampelpfad vor der Försterei. Gib Gas, würde er zu ihm sagen, damit du noch einen Festmeter Holz hacken kannst, ich bin noch nicht dazu gekommen heut. Und so wie Kurbel die Sache jetzt sieht, würde der Vater tatsächlich den Campingbeutel mit der Schnittenbüchse und der Kaffeeflasche auf die andere Schulter werfen, sein Moped antreiben, nur damit er rechtzeitig in den Schuppen kommt und den Feierabend ausnutzt. So lösen sich alle Probleme von selber, wenn die Leute die Hälse recken, sich gegenseitig anstoßen und zuflüstern: Seht, dort geht der Kurbel. Der Honkobezwinger!
Woher wissen es die Leute überhaupt? Hat vielleicht einer übers Dach geguckt? Oder kann neuerdings der Wind reden und solche Neuigkeiten verbreiten? Kurbel würde sich nicht einmal darüber wundern. Heut ist eben alles möglich.
Wir aber wissen ein wenig mehr. Piepe Jatzmauk hat sich als echter Freund erwiesen. Hingegangen ist er, zu seiner Großmutter, eigentlich, um eine neue Flasche Wein zu holen, dann aber doch, um die Geschichte von Kurbels großem Sieg loszuwerden. Mit aufgerissenen Augen hat er ihr den Hergang erzählt, mit hastigen Armbewegungen und einem Zittern in der Stimme, dass es der Großmutter nicht anders vorkam, als stände der kollrige Honko leibhaftig vor ihr. So eine Sache konnte sie beim besten Willen nicht bei sich behalten, also lief sie hin zur Nachbarin rechts, von da zur Nachbarin links, auf dem Wege traf sie die Gemeindeschwester, die wollte es auch hören, und während Piepe Jatzmauks Oma noch eifrig die Zunge mit der Nachbarin gegenüber wetzte, da erzählte es die Nachbarin links schon dem Meister Jubke, der gerade die fertigen Schuhe ablieferte, die Nachbarin rechts flüsterte es dem Briefträger Fietze zu, und die Gemeindeschwester Ida sagte es der rheumasteifen Bielas-Jette, die nun hört mit angehaltenem Atem zu, sie ächzt und stöhnt heut nicht ein einziges Mal, wie sehr auch die festen Schwesternhände ihren Rücken kneten und walken.
So geht alles seinen natürlichen Gang. Kaum sind zehn Minuten verstrichen, da weiß das ganze Dorf von der Sache. Mancher hat beim Weitersagen etwas weggelassen, ein anderer etwas dazugesetzt, alle aber bewundern gleichermaßen den mutigen Jungen, der die Hand gegen den kollrigen Honko erhoben hat. Da braucht Kurbel wirklich keine Flügel, er schwebt auch so durchs Dorf, getragen von der Bewunderung der Leute, er winkt lässig dem Traktoristen Gahner zu, der heut extra seinetwegen aufs Gaspedal tritt, dass es aus dem Auspuff des schweren Radschleppers wie Salut donnert. Das geschieht gerade an der Kreuzung, dort, wo die Dorfstraße zur Gasse abzweigt, und der gute Gahner muss sich schon ganz schön ans Lenkrad hängen, damit er bei der Geschwindigkeit nicht noch Jatzmauks Zaunpfosten umfährt.
Kurbel sieht’s und lächelt, er lächelt auch noch, als ihm die große Schwester des kleinen Hähnel aus dem Giebelfenster zuwinkt, er lächelt und winkt zurück. Und er wölbt stolz die Brust heraus, als der Förster Greiner auf seinem Motorrad die Gasse hinaufkommt, hoffentlich hat auch der schon von der Sache gehört, ja, er hat, denn er nickt Kurbel freundlich zu, er sagt auch etwas, vielleicht: Guten Tag! Aber das geht im Gedröhn des Motors unter. Wie es auch sei, Kurbel wird überall freundlich begrüßt, viel zu schnell ist die Gasse zu Ende, viel zu schnell steht Kurbel am Zaun von Oma Slabkes Hof. Eigentlich wollte er ja das Lattentor ansteuern, direkt darauf losgehen wollte er, nun steht er vier Meter daneben, wie geht das zu? Also, der Wein hat es in sich.
Oma Slabke weiß von nichts. Sie war die ganze Zeit hinterm Haus, säbelte verzweifelt mit der Sense an dem harten vorjährigen Trockengras herum, das will und will nicht weichen. Aber nun ist ja Kurbel da. Kurbel, der starke und von allen geachtete junge Mann, der wird nicht zulassen, dass sich seine alte Oma derart schindet.
„Gib mal her“, sagt er. „Ich mach das schon.“
Und er nimmt der Frau die Sense einfach aus der Hand, so wie ein Alter macht er das, da kann die Oma bloß den Kopf schütteln, die graue Warpschürze zwischen den Fingern knüllen und ganz verdattert in die Gegend gucken. Aber das dauert nicht lange, Oma Slabke hat keine Zeit zum Staunen, sie muss gleich ein bisschen barmen, das macht sie für ihr Leben gern.
Mein Gott, denkt sie, der Junge! Hoffentlich zahlt er sich nicht aus.
Na ja. Die Oma Slabke. Seit ihr Mann im Kriege geblieben ist, seit sie mit Rheuma, Reißen, Hexenschuss und Ischias allein auf der Wirtschaft sitzt, seit dieser Zeit barmt sie. Immer ist sie auf andere Leute angewiesen, immer muss ihr jemand helfen, sonst wachsen ihr der Hof und das Vieh, die Felder und Wiesen über den Kopf, allein schafft sie es nie und nimmer. Natürlich hilft man ihr. Der Schwiegersohn hilft, er macht Holz, kalkt den Fachwerkgiebel, gräbt den Garten um, verschneidet die Obstbäume. Die Tochter hilft, sie betut das Vieh, scheuert das Flur- und Hauspflaster, schleppt Wasser und macht vor allem die Arbeitseinheiten in der Genossenschaft, damit der Hof zu seinem Futter kommt. Und Kurbel hilft nun auch.
Immer aber fühlt sich Oma Slabke in der Schuld, andauernd sucht sie ihren Helfern allerhand zuzustecken, dem Schwiegersohn eine Schrote Speck (Iss man, sonst fällst du vom Fleische), der Tochter eine Tüte frischer Eier (Nimm, nimm, was wirst du die Dinger im Laden kaufen), dem Enkel ein Zweimarkstück (Hol dir selber, was du brauchst).
Manchmal nimmt Kurbel das Geld. Meist aber nicht, denn er hält es mit den Eltern, die wollen auch nichts bezahlt haben, die sind mit der Schrote Speck gelegentlich, mit der Mandel Eier und der täglich frischen Milch zufrieden. Aber Oma Slabke wäre viel ruhiger, könnte sie die Kinder ordentlich mit Geld bezahlen. Nach ihrer Meinung ist nichts auf der Welt umsonst, nicht einmal die Arbeit vom eigenen Fleisch und Blut. Am liebsten würde sie jeden Handschlag selber machen, wenn sie nur so fortkönnte, wie sie wollte. Da sie es nicht kann, barmt sie.
„Ach je!“, weimert sie. „Was bin ich für eine Last, so ein unnützes Weibsen, stehl dem Herrgott die Tage und brauche fremde Leute, warum nimmt das kein Ende?“
Keiner hört auf das Gejammer, jeder macht seine Arbeit, wehrt den Dank und die Fürsorge der Frau ab, lässt sich etwas zustecken und geht wieder.
Kurbel heute nicht. Gierig saugt er Oma Slabkes Barmworte ein, dabei schwingt er die Sense, pelzt einen Maulwurfshaufen auseinander und sagt, während er das Blatt flink mit dem feuchten Stein wetzt: „Mach dir nichts draus, Oma, ich werd mit dem bisschen Zeug schon fertig.“
Heute wird er kein Geld annehmen, vielleicht lässt er sich drei oder vier Eier mit Gundermann braten, die isst er dann auf einen Ritt, dazu einen Kanten Schwarzbrot und Senf, das soll seinerzeit der Großvater auch immer gegessen haben. Aber erst muss einmal das Gras weg, es ist zäh und elastisch, immer wieder legen sich die Halme unter dem Sensenstrich flach auf die Erde und entschlüpfen so dem scharfen Blatt. Kurbel muss sehr tief halten, es ist kein Wunder, dass die Schneide so oft in Maulwurfhügel fährt und im feinen Sand stumpf wird. Kurbel wetzt und wetzt, der helle Schweiß steht ihm auf der Stirn, er muss erst einmal eine Pause einlegen.
„Setz dich, Junge“, sagt Oma Slabke bereitwillig, sie bindet gleich ihr Kopftuch ab und breitet es auf dem Pumpenstein aus, damit sich Kurbel ja nicht verkühlt.
„Willst du trinken?“, fragt sie.
Kurbel schüttelt den Kopf.
„Was essen?“
Auch essen will Kurbel nicht. Er ist eigentlich wunschlos glücklich jetzt, wie er so dasitzt, den Rücken gegen den Pumpenständer gelehnt, die Beine angehockt, richtig schläfrig wird er in der Sonne, stundenlang könnte er so sitzen.
„Erzähl mir was, Oma“, sagt er mit schwerer Zunge, „was von früher.“
Und Oma Slabke ist froh, dass sie dem Jungen wenigstens etwas anbieten kann, gleich kramt sie ihr Gedächtnis durch, es möchte schon etwas Ordentliches sein, was sie nun zum besten gibt, eine alte sorbische Sage vielleicht, von Not und Tod, von Mädchen und Helden, so eine Geschichte, die sie von der eigenen Großmutter hat, aufgehoben bis zum heutigen Tage, an dem der Enkel von der schweren Arbeit ausruht. Ja, da ist ihr tatsächlich etwas Passendes eingefallen. Oma Slabke lockert fix noch das Kopftuch unterm Kinn, das tut sie immer, bevor sie erzählt, auch heut, wo sie gar keins aufhat, damit der Mund richtig wackeln kann. Dann geht es gleich los.
Vor langer Zeit, fängt Oma Slabke an, da wuchs auf Mudrags Wiesen eine Pflanze mit roten Blättern, aber nicht überall, bloß am Grabenrand. Einmal hatte Zieschangs Blesse ein paar Stängel gefressen und gleich rote Milch gegeben, dann ist sie auf dem Mist krepiert. Der alte Zieschang ist mit der Sense losgegangen und hat das giftige Kraut abgehauen, und Feuer hat er auch gemacht. Da ist die Pflanze verbrannt. Vom Rauch aber hat der alte Zieschang Husten bekommen, den ist er ewig nicht losgeworden und am Ende dran gestorben. So viel Unglück bloß von dem Kraut. Den Leuten war’s überhaupt nicht mehr geheuer, weil die Pflanze einer Hexe gehörte, da durfte niemand ran.
Und als ein trockener Sommer kam, wo alles auf den Wiesen und Feldern verdorrte, sagten sie: Das hat die Hexe gemacht, die wird’s uns schon zeigen! Und sie gingen auf Mudrags Wiesen und guckten, ob nicht wieder was von dem Kraut zu sehen war, aber es kam nicht mehr hoch. Mit der Dürre wurde es schlimmer und schlimmer, das Korn wuchs nicht, es vertrocknete auf dem Halm, kaum dass es kniehoch war. Da mussten die Leute mähen, auch wenn die Körner bloß hirsegroß waren, jedenfalls besser als gar nichts. Das bisschen karrten sie zur Mühle, bloß der Müller konnte ihnen nicht helfen, ihm fehlte das Wasser zum Mahlen. Ausgetrocknet lag der Graben da, bis hin ins Oberland, und die Not war groß. Da setzten sich die Leute auf ihre Karren in die heiße Sonne, stützten den Kopf in die Hände, keiner wusste einen Rat.
Aber Mudrags Jette ist aufgestanden und hat gesagt: „Es hilft alles nichts, Leute, wir müssen den starken Juro wecken.“ Der starke Juro war ein Riese, der legte sich immer hinter den Babenberg in die Heide, schlief dort fünfhundert Jahre hintereinander, und während er schlief, wuchs die Heide über ihn weg. Der Wind blies Sand auf den Leib, auch die Samen von Kiefern und Birken, das wucherte dann los und verdeckte alles. Bloß wenn man sich auf eine bestimmte Stelle des Babenberges stellte, dorthin, wo heute noch der Stein liegt, da konnte man die Arme und Beine und den Kopf des Riesen erkennen. Manchmal schnarchte er auch, aber nur bei Gewitter. Manchmal gingen die Kinder Pfifferlinge suchen, dabei trampelten sie dem Riesen auf dem Bauch herum, und wenn es dann knarrte, wie es immer mal in der Heide knarrt, dann flüsterten sie: „Schlaf, Juro, schlaf!“ Aber gefürchtet haben sie sich doch.
Mudrags Jette aber hat sich nicht gefürchtet, sie ist hingegangen auf den Babenberg, hat sich auf den Stein gestellt und laut gerufen: „Steh auf, Juro!“ Da sind die Bäume und Sträucher umgeknickt, der Sand ist fuderweise zur Seite gerutscht, und der Riese hat sich gestreckt. Damit er nicht gleich wieder einschlafen konnte, hat Mudrags Jette noch gerufen: „Mach hin, Juro!“
Auf einmal ist es finster geworden am Babenberg, das kam aber von dem Riesen, der hatte sich aufgesetzt und mit dem Rücken die Sonne verdunkelt. Mudrags Jette bekam es nun doch mit der Angst zu tun, als sie den Juro vor sich sah, so groß und stark, am liebsten wäre sie weggerannt, zum Mühlenweg hin, wo die Leute immer noch auf ihren Karren saßen und über die plötzliche Finsternis staunten. Aber sie ist dann doch dageblieben, die Jette, ein Herz hat sie sich gefasst und gerufen: „Hol Regen, Juro, hol Regen!“
Der Riese, das war einer von der guten Sorte, er half den Menschen, wenn er ausgeschlafen hatte, bloß er war es selten. Auch damals muss er noch ein bisschen vor sich hingedruselt haben, als er hoch in den Himmel griff und die Wolken zusammenzog, sonst wär das mit Jette bestimmt nicht passiert. Wie es nämlich auf einmal losblitzte und donnerte, noch ehe der Regen herunterprasselte, da kam plötzlich ein Wirbelsturm angerast, weil der starke Juro in seiner Druselei versehentlich das Windloch geöffnet hatte. Der Wirbel packte die mutige Jette, hob sie hoch und schleuderte sie mit Gewalt in ein stachliges Kanicht, in ein spitzes, eisenhartes Stangenholz, da war sie gleich tot und hat nicht einmal mehr was vom Regen gehabt.
Die Leute aber schrien vor Freude, sie dankten dem Riesen Juro auf den Knien, der hat aber nichts davon gehört, weil er schon wieder schlief. Dann schafften die Leute ihr Korn in die Mühle, denn es kam gleich so viel Wasser, dass der Müller hintereinander mahlen konnte. Auch das Gras wuchs wieder, es gab Futter genug, aber die rotblättrige Pflanze auf Mudrags Wiesen, die kam nie wieder. Bloß auf Jettes Grab wucherte sie von ganz allein. Da konnten die Leute sehen, wie es die Hexe gemeint hatte ...
Kurbel bleibt noch eine Weile sitzen. Mit geschlossenen Augen träumt er vor sich hin. Ja, er hat den Honko bezwungen, eine ganze Flasche Wein hat er getrunken, nun mäht er Oma Slabkes Dürrgraswiese. Er könnte der starke Juro sein oder auch die mutige Jette. Käme jetzt einer, der ihn bitten würde, für das Volk die schwierigsten Kämpfe und Abenteuer zu bestehen, Kurbel würde nicht zögern. Er kann alles. So stark und so mächtig war noch kein Junge in seinem Alter.
Schade, dass Oma Slabke schon ums Haus gehumpelt ist. Sie steht im Hof und füttert die Hühner aus der Schürze und weiß nicht, wie glücklich sie den Enkel mit ihrer Geschichte gemacht hat. Vielleicht weiß sie es doch. Vielleicht schmunzelt sie innerlich vor sich hin. Das ständige Barmen und Weimern hat ihr Gesicht klein und faltig gemacht, da kann man nichts ablesen, Wissen oder Unwissen, alles spiegelt sich in gleicher Weise.
Jedenfalls sollte sie Kurbel jetzt sehen, wie er so mit dem Rücken am Pumpenständer lehnt, die Augen locker zugeklappt, den Mund zum Lächeln entspannt, das sollte sie wirklich sehn. Jeko! würde sie denken, der ist mit seinen Gedanken immer noch beim starken Juro.
Dabei ist Kurbel längst wieder bei Daniela. Ja, bei der Tochter vom Förster, bei der Schönsten aller Schönen, da ungefähr ist Kurbel jetzt. Er träumt, es gäbe einen Riesenwaldbrand, so mit Feuer aus allen vier Himmelsrichtungen, eine rot glühende qualmende Flammenwalze macht Kesseljagd nach allem Lebenden, in der Mitte aber, nichts ahnend, säße Daniela, sänge ein heiteres Lied, baumelte mit den Beinen, so nahe dem Tode und doch vergnügt wie eine Blaumeise. Wer allein könnte helfen, wer nur könnte sie aus dem vernichtenden Feuerring holen? Der starke Juro, wollen mal sagen, der starke Kurbel natürlich, der allein. Mitten durch die Flammen würde er gehen, einen riesigen Zitterpappelast hätte er in der Rechten, mit dem würde er das Feuer links und rechts ausschlagen, vor sich auch, nach hinten würde er keinen Blick werfen. So käme er langsam voran, schnell genug jedoch, um das Feuer zu überholen. Bis hin zu Daniela käme er, da würde er sich sogar noch eine Minute Zeit nehmen, um sie anzuschauen. Dann erst würde er zupacken und zurückgehen, quer durch den Feuerring, diesmal den Zitterpappelast in der Linken, da er den rechten Arm für das Mädchen braucht. Gegen Hitze und Qualm würde er kämpfen, auch gegen den sengenden Wind, den beizenden Rauch, so lange, bis er endlich draußen auf dem freien Felde stünde. All das traut er sich zu, der Kurbel.
Und jetzt macht er endlich die Augen auf, sieht mit einer gewissen Sehnsucht über die Wiesen hin zum nahen Waldrand, steigt da nicht eine graue Wolke auf? Der Nachmittagszug aus der Kreisstadt könnte einen Funken verloren haben, der wieder hätte in den staubtrocknen Heidemulm fallen können, und schon wäre es geschehen.
Aber der Nachmittagszug ist noch nicht rein. Und die Wolke überm Wald ist eine richtige Wassertropfenwolke, vielleicht wird es gegen Abend regnen. Die Welt hat für Kurbels Heldentatendurst kein Verständnis. Aber das Dürrgras, das steht noch, da wird Kurbel eine schöne Weile zu tun haben. Am liebsten möchte er die Sense einfach liegen lassen und fortlaufen, sie schneidet ohnehin nicht und müsste gedengelt werden. Meister Jubke würde sagen: Auf der kannst du bis nach Berlin reiten und bekommst nicht einmal einen Wolf dabei.
Aber angefangen ist angefangen! Kurbel macht sich da nichts vor, er kann nicht betrunkene Riesen bezwingen, Wein trinken, Geschichten entgegennehmen und sich hier drücken. Was sollen die Leute von ihm halten? Er wird doch wohl mit dem bisschen Gras fertig werden!
Weg sind alle Träume, Kurbel ist ganz wach. Ihm fällt auch gleich was ein. Die Sense hängt er an der alten Siedekammer unter die Dachtraufe, dort hat sie ihren Platz, dann trabt er ums Haus in den Hof, hinter dem Rücken der immer noch Brotbrocken streuenden und mit den Hühnern hadernden Oma Slabke in die Küche. Die Streichhölzer! Sie liegen auf dem Ofenrand, wo sie immer liegen, ein Griff genügt, und sie sind in Kurbels Tasche.
Alles andere ist ein Kinderspiel. Kurbel muss nur wieder zurückrennen, hinters Haus also, ein Häufchen dieser trocknen Halme zusammenscharren, ein Hölzchen zünden und das Gras anstecken. Zuerst knistert und qualmt es eine Weile, dann lodert eine gelbe Flamme auf, gefräßig leckt sie nach rechts und links, ergreift im Nu die ganze Wiesenbreite und arbeitet sich langsam, getrieben von einem leichten Wind, voran. Kurbel muss nur mal hierhin, mal dorthin rennen, um eine allzu gefräßige Flamme auszutreten, die über das Trockengras hinweg nach dem grünen Kleefutter leckt. Wirklich ein Kinderspiel, das Ganze, eine runde Sache für den Kurbel, der nicht nur wie der Juro Kraft, sondern auch Köpfchen hat.
Aber nun der Wind. Der stoppelte die ganze Zeit wie ein müder Gaul hinter dem Babenberg herum, wandte sich mal in diese, mal in jene Richtung, fing sich Blütenduft und Mistgestank, mischte alles und hatte im Grunde gar keine Lust zu wehen. Nun aber riecht er Feuer. Das macht ihn wach, mit einem Sprung ist er über den Kamm des Babenberges hinweg im Dorf, noch einmal verweilt er für eine Minute, bläht seine Nüstern, rast dann fauchend los, um die Häuser, auf die Wiesen. Kurbel rennt. Die Sache macht ihm Spaß, so mit dem Wind um die Wette zu laufen, gleichzeitig hier und dort zu sein, zu verhindern, dass sich der kühle Hauch zu innig mit der Glut verbindet, ein richtiger Kampf ist das.
Dann aber wird es mit einem Male ernst, der Wind gerät wohl in Wut, er will sich nicht befehlen lassen, er hat seinen eigenen Kopf, und der steckt voller Heimtücke. Der Hof Oma Slabkes liegt wie alle Höfe des Dorfes Kattuhn nahe am Wald, ein Steinwurf schon hinter dem Zaun beginnt die prasseldürre Heide, noch keine ganz fertige, mehr so eine dichte, sperrige Schonung aus lauter nadelbepelzten Kiefernkindern - aber dahinter erhebt sich gleich der Hochwald: Stämme mit rissiger Rinde und zerfransten Kronen. ln dieser Richtung bewegt sich die Feuerwalze. Kurbel wirft sich ihr entgegen, er kämpft schon lange nicht am Rande gegen die übergreifenden Flammen, nein, jetzt steht er mitten im Qualmmeer, schlägt wild um sich, tritt hierhin und dorthin, keucht und hustet, stampft mit den Füßen, kneift die Augen zusammen, reißt sie gleich wieder auf, springt in einen plötzlich neu aufflackernden Brandherd, mitten hinein, fühlt die Hitzewoge, die ihm entgegenschlägt, weicht zurück. Das ist nun schon lange kein Spaß mehr.
Wer wird hier siegen? Der Feuerwind oder Kurbel?
Ehe es Kurbel begreift, ist es schon entschieden. Die unersättliche Glut rast an ihm vorbei, sie lässt sich nicht aufhalten, schon die kleine Streichholzflamme hatte mehr Kraft, als Kurbel je besaß. Doch der kämpft weiter, er hustet und spuckt, wo er einen Funken austritt, dort schießen gleich zehn neue Flammen auf. Ein richtiges Feuer ist das, ein Brand, der in den nächsten Minuten die Schonung überfallen wird, und hat er die erst einmal, dann hat er auch den Hochwald. Tausend und aber tausend Hektar, Millionen Stämme, nicht zu schätzende Festmeter Holz. Endlich begreift das Kurbel. „Nein“,schreit er laut, „nein!“ Aber der Wind ist jetzt auch hierin Sieger, er deckt den Schrei mit Geprassel und Gefauche zu, erstickt ihn in dichtem Rauchnebel, rast triumphierend weiter. - Wo ist Hilfe?
Mit Großmüttern ist das so eine Sache. Kommt plötzlicher Besuch, da sind sie gar nicht so sehr überrascht. Jeko! sagen sie, ich hab’s doch geahnt. Die Katze putzte sich in der Morgensonne. Und wie ich nachlegen wollte, sprang ein Funke aus dem Ofenloch. Und die Ohren haben mir geklungen. Da musste ja Besuch kommen.
Manchmal passiert etwas ganz Schlimmes, jemand hat einen Unfall, oder ein Verwandter stirbt, die Großmütter ahnen’s schon immer, ehe die eigentliche Nachricht kommt. Ich weiß nicht, sagen sie beim rastlosen Umhergehen, ich weiß nicht! Irgendetwas ist bestimmt passiert, ich hab’s im Gefühl. In der Nacht bin ich plötzlich wach geworden. Und ans Fenster geklopft hat’s auch, obwohl gar keiner da war. Da muss etwas passiert sein.
Ja, die Großmütter. Oma Slabke hat immer ganz besonders viel Ahnungen, manchen Tag gleich drei auf einmal, eine davon stimmt dann schon irgendwie.
Heute nun füttert sie in aller Seelenruhe die Hühner und merkt erst einmal gar nichts. Der Wind hier im Hofe ist noch rein und voller Blütenduft. Und doch wird es der Frau mit einem Male so merkwürdig schwummrig in den Gliedern. Sie achtet nicht mehr darauf, dass die einzige weiße Leghornhenne den anderen Hühnern immer die größten Brotbrocken wegschnappt. Worauf achtet sie dann? Es ist sonst ruhig im Hof, ein bisschen Hühnergekakel, die Ziege im Stall scharbt Rüben, die Kuh Blinka schnauft warmen Atem ins Heu. Der Regulator tickt durchs offene Fenster, auf dem Dachfirst sitzt ein Star und quengelt vor sich hin.
Aber Oma Slabke lauscht. Etwas gefällt ihr an der friedlichen Stille nicht, etwas stört sie. Plötzlich ist der Star fort, er hat seine Quengelei mitten im Satz abgebrochen, ist verschwunden, schnell und lautlos wie eine ertappte Maus. Oma Slabke hat ihn eigentlich gar nicht gesehen, sie dreht ja dem Haus den Rücken zu. Und doch fehlt ihr etwas, dieses Gequengel hinter und über ihr fehlt ihr wirklich, es gehört nun einmal zu der Hofstille. Sie lässt den Schürzenrand los, die restlichen Brotbrocken fallen in den Sand. Der Hahn jedoch beteiligt sich, nicht an der sofort beginnenden Hühnerrauferei, er steht auf einem Bein, ruckt und wendet den Kopf, als wolle er ein fremdes Geräusch bestimmen, eine sich leise herantappende Gefahr vielleicht, auch das bemerkt Oma Slabke. Nun fehlt bloß noch der schwere Schnaufer aus den Nasenlöchern der Kuh Blinka. Mit einem Male steckt er zwischen den andern gemütlichen Schnaufern, und er wiederholt sich gleich, einmal, zweimal, noch einmal.
Da weiß Oma Slabke, dass etwas geschehen ist! Seit Jahren lebt sie mit dem Vieh allein auf dem Hof, wie viel Nächte hat sie durchwacht, wenn die Ziegen lammten oder die Kuh kalbte? Wie oft hat sie dem Rumoren all der Tiere gelauscht - mit den Gedanken freilich ganz woanders -, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung ist. Jetzt ist etwas nicht in Ordnung. Soviel steht fest.
Kurbel! durchfährt es Oma Slabke, und im Augenblick zittern ihr alle Glieder. Am Ende hat er sich mit der Sense geschnitten! Hinhocken möchte sie sich, Schreck und Schwäche ziehen sie nieder, mitten in den Hof möchte sie sich setzen, einfach in die Röcke hinein - aber sie bezwingt sich. Rheuma, Ischias, Hexenschuss, die ewigen Plagegeister, sind vergessen. Oma Slabke hetzt los, will rennen, schafft es aber doch bloß bis zu einem schlürfenden Trippeln übers Pflaster, bis zum Fachwerkgiebel, zur Pumpe, da sieht sie schon die Bescherung.
Dichter Rauchnebel wallt über der Wiese, gelbe und graue Schwaden jagen auf feurigen Füßen der Schonung zu, der Himmel schwärzt sich über der Heide, und dort, wo der Rauchvorhang für Sekunden zerreißt, springt eine schwarze Schattengestalt hin und her, ein Wesen mit Armen und Beinen, mit einem Kopf und fliegenden Haaren, schon ist es wieder verschwunden. Man hört nur noch das Keuchen und Knistern, das leise tückische Fauchen des Windes.
„Hilfe!“, schreit Oma Slabke in ihrer Not. „Hilfe!"
Der Schreck sitzt im Hals, er lässt keinen Platz für einen richtigen Schrei. Oma Slabkes Stimme reicht höchstens bis zum Nachbarhaus, wenn überhaupt so weit. Und nun muss sie sich doch in ihre Röcke setzen, sie kann nicht mehr, die Oma Slabke, sie schafft es einfach nicht mehr, schreien müsste sie, schreien, dass die ganze Welt zusammenläuft, hinrennen müsste sie, um den Enkel wenigstens aus dem Feuer zu holen, aber die Beine verweigern den Dienst. Da hockt sie nun wimmernd und weimernd in ihren Röcken und kann gar nichts mehr tun.
Das Feuer ist kurz vor der Schonung. Kurbel weiß nichts mehr. Er denkt nicht, er fühlt nicht Funken auf seiner Haut, er keucht wie ein Ertrinkender, der sinnlos hierhin und dorthin schlägt, der verzweifelt kämpft, obwohl es schon lange keinen Zweck mehr hat. Die Glut ist tausendmal stärker als er.
Das nimmt kein gutes Ende. Selbst wenn Oma Slabkes Schrei gehört wurde, hier kommt jede Hilfe zu spät, wenigstens was die Schonung betrifft. Denn schon steht ein erster einzelner Randbaum in Flammen, er leuchtet aus dem Qualm wie eine Fackel, ist im nächsten Augenblick schwarz und tot, seine nackten Filigranzweige verschwinden wieder im Qualm.
Der Hochwald! Brennt der erst einmal, dann hat das Feuer für Tage Nahrung. Kilometerweit streckt er sich nach Norden und Osten und Westen, alles trockene Rinde, Nadelspreu wie Zunder, Harz und Kien, das frisst so ein Brand mit Vorliebe.
Wir müssen es aussprechen: Gut wäre es gewesen, hätte Oma Slabkes Hilfeschrei ein wenig mehr Lautstärke gehabt. Warum erschrickt sie bloß immer gleich vom Scheitel bis zur Sohle, warum kann sie nicht erst einmal ordentlich laut und mehrmals nach Hilfe schreien, ehe sie sich mit abgeschnürter Kehle in ihre Rödce setzt? Auf diese Frage gäbe es schon eine Antwort, aber die müssen wir uns für später aufheben. Jetzt brennt es erst einmal. Und zwar ganz gewaltig.
Vielleicht gibt es in der Nachbarschaft doch einen, der den Ruf gehört hat. Vater Hähnel zum Beispiel. Hätte er nicht gerade die Säge im Schuppen geschärft, wäre ihm das halb erstickte Hilfe! nicht entgangen.
Oder Frau Kandidel, die Kindergärtnerin. Aber das ist bald unmöglich. Erstens liegt der Kindergarten schon zwei Häuser weiter die Gasse hinauf. Und zweitens ist Frau Kandidel gerade dabei, den Zopfgusten und Hosenmätzen in die Sachen zu helfen. Der Mittagsschlaf ist vorbei, jetzt quengelt alles durcheinander, der eine sucht seinen Strumpf, der andere den Pullover, ein Mädchen fühlt sich zu zeitig geweckt, also greint es, ein anderes hat schon lange wach gelegen und sich nach der Minute gesehnt, in der es endlich, endlich wieder nach Herzenslust und ohne Pause plappern kann. Da soll nun Frau Kandidel so einen halb erstickten Schrei gehört haben. Unmöglich!
Und doch. Mit Frau Kandidel müssen wir rechnen. Sie hat etwas gehört. Kein: Hilfe!, nein, dazu war es wohl zu leise, aber gehört hat sie etwas, so einen atemlosen, erschrockenen Ton, eine Andeutung von Ruf bloß. Jeder normale Mensch hätte noch einmal in die Stille gelauscht und wäre dann zur Tagesordnung übergegangen. Wer kann sich auch um jeden Murks kümmern. Nicht so Frau Kandidel. Das ist eine von den ganz Genauen und Gewissenhaften, bei der läuft keine Fliege ohne Grund über den Teller. Alles muss sie zu Ende führen, jede unerledigte Sache raubt ihr die Ruhe. Die Leute erzählen sich da so Geschichten, na ja, wir wissen auch nicht, ob sie stimmen. Jedenfalls soll sie, als sie noch nicht geschieden war, einmal ihrem Mann über hundert Kilometer mit dem Zug nachgefahren sein, weil der vergessen hatte, ihr beim Abschied den fälligen Kuss zu geben. Wir können uns schon denken, dass der Mann nicht gerade zum Küssen aufgelegt war, als er erfuhr, weshalb ihm die Frau nachgereist war, vermutlich hat er ihr einen ganz schönen Vogel gezeigt. Indes: Genau wissen wir es natürlich nicht. Es ist auch nicht wichtig jetzt, wichtig ist allein Frau Kandidels Gewissenhaftigkeit, und die lässt es einfach nicht zu, dass so ein Ruf, mag er noch so leise und zweifelhaft sein, ohne Hilfe bleibt.
„Ruhe, Kinder!“, sagt sie in die durcheinanderwimmelnde Schar ihrer Schützlinge. „Ich guck bloß mal eben aus dem Flurfenster.“
Na, Gott sei Dank! Es mag schon sein, dass Frau Kandidel ihren Mann mit der ganzen Gewissenhaftigkeit zur Verzweiflung gebracht hat, vielleicht wollte der wenigstens einmal im Leben gleich aus dem Stall mit den Miststiefeln in die Wohnstube und musste sich allein deshalb eine andere Frau suchen, das kann schon stimmen. Sonst aber kann keiner etwas Nachteiliges über Frau Kandidel sagen, sie ist eine gute Kindergärtnerin und überhaupt eine aufgeweckte Person. Vom Flurfenster aus sieht sie nämlich, dass da was nicht im Lot ist, der Brandrauch über der Wiese und vor der Schonung, da gibt es nichts groß zu überlegen, da bekommt sie nicht einmal Herzklopfen, sondern geht rasch zum Telefon, wählt die Nummer des Gemeindeamtes und sagt, noch ehe die Bürgermeisterssekretärin auch nur ein Wort herausbringt: „Schnell, Kinder, es brennt. In Slabkes Schonung. Macht Alarm!“
Dann legt sie auf, hilft den restlichen Kindern in die Sachen, das ist das Wichtigste für sie jetzt, der Wald ist ein Wald; wenn er in Flammen steht, mag das schlimm sein, aber jedes einzelne der ihr anvertrauten Kinder ist tausendmal wertvoller als der ganze Wald zusammengenommen. Wer weiß, wie sich das Feuer dreht und wendet, am Ende ergreift es auch die Dorfflur, einzelne Häuser oder auch alles, da muss sie mit ihrer Schar bereit sein, muss ohne Lamento und Gesumm abziehen können, bis hin zu einer sichern Stelle, auf der nichts passieren kann. So ist nun diese Frau Kandidel. Die kann überhaupt nichts erschüttern, die weiß immer, was sie zu tun hat.
Und nun heult ja auch richtig die Sirene vom Spritzenhausdach, endlich, endlich. Und während Kurbel noch verbissen und vergeblich mit dem rasenden Feuer kämpft, während er immer wieder seine Hosenbeine mit der Faust quetschen muss, damit sie nicht Feuer fangen, während sich Oma Slabke nun doch mühselig genug aus ihren Röcken emporarbeitet, immer noch ganz ohne Stimme freilich, aber mit angstvoll aufgerissenen Augen, während Frau Kandidel der trödeligen Bettina Hähnel den linken Schuh zum dritten Mal zuknöpft, während die lahme Jette von gar nichts weiß, weil sie nicht einmal die Sirene gehört hat, während dieser ganzen Zeit also sammelt sich die Kattuhner Freiwillige Feuerwehr mit aller gebotenen Eile. Manche gehen erst ein bisschen langsam, ach was, denken sie, wieder mal Übung, wer das bloß immer ansetzt, entweder in der Nacht oder während der Arbeit. Andere aber rennen ganz schön, greifen sich Hacken und Spaten, Äxte und Schaufeln, stürzen sich in das Qualmmeer hinter Oma Slabkes Haus, schlagen eine Bresche in die jetzt lichterloh brennende Schonung, schippen Sand, Sand und noch einmal Sand, denn Wasser ist keins da, es würde hier auch wenig ausrichten. So scharwerken sie eine halbe Stunde, dann noch eine ganze, ohne einmal ordentlich Luft holen zu können, obwohl der beizende Rauch bis hinein in die Lungenspitzen beißt. Sie halten aus, huschen, graue Schemen im bläulichen Nebel, anfangs ein bisschen kopflos, hierhin und dorthin, dann aber doch nach dem Kommando des Traktoristen Gahner alle vor dem Hochwald, hier reißen, hacken, schlagen sie eine breite Bresche, um ihn von der Schonung zu trennen. Denn sie ist nicht mehr zu retten, bald knistert sie bloß noch leise vor sich hin, ein paar Kiefernzapfen springen in der Glut auf, ansonsten wird es totenstill.
Mittlerweile ist es halb fünf geworden. Rauch wallt niedrig über den Wiesen, er legt sich über den Kamm des Kiefernwaldes und verdunkelt die Sonne. Da erst gehen die älteren Leute rußgeschwärzt und angesengt nach Hause, schließlich muss man füttern und kochen. Ein paar junge Männer können ja dableiben, die sollen Wache stehen, damit es um Gottes willen nicht noch einmal anfängt zu lodern. Man kennt die Heimtücke des Feuers. Es verbirgt sich mit Vorliebe im braunen Heidetorf, glimmt dort ein bisschen vor sich hin, findet plötzlich einen trockenen Ast, und schon springt es zum nächsten, zu einem Baum, und hat im Handumdrehen den ganzen Wald ungeschützt vor sich. Aber das wird nicht passieren. Da kann man sich schon auf die Feuerwehr verlassen.
Selbst Oma Slabke ist ein wenig beruhigt. Sie schüttet der Kuh Blinka frisches Heu vor, endlich kann sie wieder ihre Glieder rühren, sie könnte sogar sprechen jetzt, tut es auch, und da keiner sonst da ist, barmt sie der Blinka etwas vor.
„Ach Gott, ach Gott“, sagt sie, „der Junge ...“