Hexenfeuer - Joachim Nowotny - E-Book

Hexenfeuer E-Book

Joachim Nowotny

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Beschreibung

Auch die leidenschaftlichste Liebschaft kann ein Leben nicht ausfüllen, wie es der junge Zimmermann Jan Scholz leben will. Wenn die Menschen seines Heimatdorfes gegen ihn stehen, wenn Großbaustellen mit lockenden Angeboten winken - er kann sich von seinem Dorf nicht trennen, denn es macht ihm allmählich Spaß, unbequem zu werden. Joachim Nowotny erzählt die Geschichte des Zimmermanns Jan Scholz in starken poetischen Episoden, deren psychologische Ausleuchtung einen interessanten Einblick in die Welt junger Menschen gibt, die an ihrem Heimatdorf hängen und doch in die Stadt wollen, die mit dem alten Brauch des Hexenfeuers verbrennen möchten, was ihrem Leben auf dem Lande entgegensteht, um bleiben zu können, wo sie aufgewachsen sind. Das spannende Buch erschien erstmals 1965 im Mitteldeutschen Verlag Halle/Saale.

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Impressum

Joachim Nowotny

Hexenfeuer

Erzählung

ISBN 978-3-86394-145-1 (E-Book)

Das Buch erschien erstmals 1965 im Mitteldeutschen Verlag Halle/Saale.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Erster Teil

Am Silvestertag stiefelt plötzlich der Gutsinspektor Massopust durch das Dorf. Die Frauen raffen ihre Kinder vom Weg in die Höfe. Alte Weiber schlagen Kreuze und murmeln fromme Bannsprüche. Ein paar Lausejungen aber schnüren sich die Hosenbeine an die Waden. Sie wollen wie der Alte in Gamaschen einhergehen. Als sie seinen Stelzgang nachahmen, droht der Inspektor mit dem Spazierstock. Er stößt eine Verwünschung aus, die der Wind zu den großen Ohren der Witfrau Kubo trägt.

So ist es passiert. Noch ehe sich das Jahr ganz verausgabt hat, kursiert ein Gerücht unter den Leuten.

„Ein Unglück wird geschehen!“

Nichts als Gerede! Am Silvestertag ist die Menschheit immer ein bisschen wunderlich. Von einer Stunde zur anderen liegt sie auf der Lauer. Gleich muss etwas geschehen! Man darf es nicht verpassen. Meist geschieht überhaupt nichts. Der Tag geht zu Ende wie jeder andere. Höchstens feuchter. Manchmal aber leistet er sich einen Spaß. Er weckt einen Mann aus dem Dämmerschlaf des Alters und treibt ihn durch das Dorf. Die Leute sehen ihm nach wie einem Gespenst. Sie wollen nicht glauben, dass das stockbeinige, dürre Gestell noch leben könnte. Es muss tot sein! Hockt es nicht das Jahr über im Sarg? Ist die Zeit, in der so etwas lebendig sein durfte, nicht vorbei?

Auch das ist Gerede! Massopust bezieht Rente. Er bewohnt eine Bodenkammer im alten Gutshaus und traktiert dann und wann seine Wirtschafterin mit dem Stock. Also kann er nicht tot sein. Nur dass ihn dicke, solide Mauerwände von den Menschen trennen. Sie verschlucken alles, auch das Geheul der alten kopfverrückten Lene. Niemand weiß, was zwischen ihnen noch vorgeht. Eine Zeitlang zerbricht man sich den Kopf darüber. Dann drängen sich die eigenen Sorgen vor. Wir sind wichtiger, bitte sehr! Mit uns müsst ihr fertig werden, liebe Leute. Den alten Knacker könnt ihr ruhig vergessen.

So geht es zu, dass Massopust schließlich stirbt. Er ist tot, obwohl er Rente bezieht und die alte Lene verprügeln kann. Und wenn er plötzlich den Mauersarg verlässt und durchs Dorf stiefelt, dann reiben sich die Leute nach dem ersten Schreck verwundert die Augen. Soll man ihnen nun trauen oder nicht? Eine Erklärung muss her! Die Witfrau Kubo hält sie bereit. „Es bedeutet Unglück."

Wie gesagt: alles Gerede!

Immerhin brennt uns am dritten Januar der Futterspeicher ab. Wir tun, was wir können, aber es hat keinen Sinn. Ehe die Rutenberger Freiwillige Feuerwehr mit der Motorspritze zur Stelle ist, hat sich der Fall erledigt. Der Löschmeister klettert zwar auf die Leiter. Aber er sieht nur noch in ein verkohltes Mauergeviert, das zum Himmel gähnt. Also gähnt er mit. Der Mann hat eine Nachtschicht hinter sich. Dann kommt er wieder herunter auf den Boden der Tatsachen.

„Was war drin im Speicher?“

Der Vorsitzende grinst.

„Gold“, sagt er, „pures Gold.“

Der Löschmeister grinst zurück.

„So ein Schwein auch zu haben! Gold verbrennt nicht.“

Er dreht sich auf dem Absatz um und geht zur Schenke. Von dort telefoniert er mit der kreisstädtischen Berufsfeuerwehr. „Es hat keinen Sinn mehr, dass ihr kommt. Schickt lieber einen von der Kripo.“

Dann gähnt er noch einmal. Das Bier, das ihm Gastwirt Henke über die Theke schiebt, lässt er stehn. Eine halbe Stunde später rasselt das rote Auto mit trockenen Schläuchen aus dem Dorf. Die Leute stehen mit hängenden Schultern da und starren dem Gefährt wütend nach. Einem muss man doch die Schuld aufpacken. Warum nicht der Feuerwehr?

Am Abend sieht die Sache anders aus. Wir sitzen in der Gaststube bei Henke-Max und belauern die Tür zum Vereinszimmer. Die Kripo ist tatsächlich gekommen. Sie hockt mit dem Hauptbuchhalter zusammen und lässt sich vorrechnen, wie viel Futter im Speicher war. Das dauert seine Zeit.

Henke trägt mit dem Bier seine Meinung unter die Leute. „Sabotage war es, das sag’ ich euch!“

Der Fuhrunternehmer Kubo schiebt die Daumen hinter die Joppenrevers. „Red keinen Zwirn. Kannst es nicht beweisen“, sagt er.

Die Vereinszimmertür lässt er nicht aus dem Auge.

„Ich hab’ es kommen sehn!“, orakelt die Witfrau Kubo. „Es war Gottes Wille.“

Henke schiebt ihr ein Tablett mit schaumbereiften Gläsern zu. „Mach hin!“, sagt er. „Ich komm’ sonst nicht nach.“

Ärgerlich dreht er das Pressluftventil auf. Was die alte Schachtel hier bloß reinzureden hat? Sie soll gefälligst Gläser spülen, wie es sich bei einem solchen Andrang gehört.

Auch der Schäfermeister Hubalek möchte seinen Senf dazugeben. Er war während des Brandes zwar mit der Herde auf den winterstarren Heidewiesen - aber das hat nichts zu sagen. Der Mensch wuchert mit seinen Erfahrungen, wenn er älter wird. Warum soll ausgerechnet Hubalek mit ihnen knausern?

„Es ist alles ganz anders!“, räsoniert er. „Ihr habt alle nicht recht. Mit Sabotage und Gottes Wille ist nichts erklärt. Man braucht einen Täter, einen Brandstifter sozusagen. Kennt man ihn, dann weiß man auch, weshalb er gekokelt hat.“

Henke zapft frisches Bier. Über den Hahn hinweg schielt er zu dem Klugschnabel.

„Gut und schön“, sagt er, „Bloß, wo nehmen wir so schnell einen her, einen Täter, mein’ ich?“

Hubalek kneift die windgebeizten Augen zusammen. Einer in der Gaststube muss eine verdammt schlechte Sorte rauchen. „Manches wüsste man schon ...“

Wir werden unruhig. Der Schäfer kann also mehr als bloß Bier trinken und lange Reden halten. Unter Umständen wird er der Polizei allerhand auf den Tisch packen. Man könnte direkt neidisch werden.

Fuhrunternehmer Kubo weiß, wie man einen Menschen kunstgerecht aushorcht. Er stellt sich neben den Kachelofen, schiebt wieder die Daumen unter die Joppenrevers und wippt von den Absätzen bis zu den Schuhspitzen.

„Jeder kann kommen und sagen, dass er eine Ahnung hat. Jeder! Damit ist überhaupt nichts bewiesen. Ich zum Beispiel könnt’ mich hinstellen und behaupten, ein gewisser Hubalek sei der Brandstifter.“

„Beleidigung!“, schreit der Schäfer aus seiner Ecke.

Kubo dämpft seine Entrüstung mit einer Handbewegung. Es sieht aus, als tätschele er die Luft.

„Könnte! Hab’ ich gesagt. Ich werd’ mich hüten, so einen Schnee in die Welt zu setzen. Manche Leute aber, die sind schlimmer als die Hühner. Sie krakeelen los, und das Ei bleiben sie uns schuldig.“

Nun sitzt Hubalek fest. Entweder er spuckt seine Weisheiten aus, oder er muss zusehen, wie man ihn zum Schwätzer stempelt. Eine Weile ziert er sich noch. In einer Tour versichert er, dass er tatsächlich was auf Lager habe.

„Kommt Zeit, kommt Rat“, verkündet er uns. Und er will uns den ganz Schlauen vorspielen. Aber Kubo lässt nicht locker. „Geschwätz!“, zischt es zwischen seinen Goldzähnen hervor. Schließlich setzt sich der Schäfer in Positur. Er nimmt einen Schluck aus dem Glas, wischt sich mit dem Handrücken den Schaum aus dem Schnurrbart und lässt seine Augen im Raume wandern. Nachdem er sicher ist, dass alle die Ohren gespitzt haben, beginnt er zu sprechen.

„Ich will nichts gesagt haben. Überhaupt nichts, versteht ihr? Nur eins: Seit drei Wochen ist Scholz-Teifel auf freiem Fuß, tja!“

Ich höre noch, wie die Witfrau Kubo die Luft ausstößt. Einer setzt in der Stille sein Glas auf den Tisch. Henke lässt den Wischlappen in die Blechschüssel rutschen, Kubo beult seine Revers aus, dass die Joppennäthe knacken, im Vereinszimmer klimpert ein Bleistift auf die Diele, die Pendeluhr über der Theke tickt. Dann höre ich nichts mehr. Ich sehe rot. Im nächsten Augenblick lang’ ich über den runden Tisch nach Hubaleks Kragen. Meine Faust springt ihm ins Gesicht. Gläser klirren zu Boden, Stühle kippen mit Gepolter auf die Lehnen, Schreie gellen zur Balkendecke auf. Und ich schlage, was die Armmuskeln hergeben. Irgendwo hinten klappt eine Tür. Das Gesicht des Schäfers wird pappig wie eine Würgebirne. Noch einmal will ich zustoßen, mitten in das schwarze Mundloch, das sich erstaunt öffnet. Aber da packen sie mich von allen Seiten. Kubo versetzt mir einen Kinnhaken. Vor meinen Augen tanzen rote und grüne Ringe. Schade, denk ich im Fallen, schade, dass die Schrecksekunde so kurz ist. Stundenlang hätt’ ich ihn bläuen können. Dann trudle ich nach unten, immer tiefer - durch die Diele, vorbei an den Lagerhölzern, hinein in den Schwemmsand und noch tiefer bis zum Erdmittelpunkt.

Was ist das für ein niederträchtiges Licht? Es strahlt von der Decke genau in meine Augen.

„Er kommt zu sich“, sagt jemand.

Ich klappe die Augendeckel herab. Öffne sie wieder. Das Licht ist nicht mehr so grell. Ohne Not kann ich die Quelle ausmachen. Die dreikerzige Hängelampe des Vereinszimmers ist es. Na also! denk’ ich, da haben sie schon einen am Wickel. So ein Feuer kann schließlich nicht vom Heiligen Geist stammen. Einer muss ja schuld sein. Warum nicht ich?

Doch dann wisch’ ich den Gedanken fort. Von mir war nicht die Rede vorhin. Scholz-Teifel wurde verdächtigt. Dieser Mensch geht mich nichts an. Er ist mein Vater - und was weiter?

Ich richte mich auf. Sehe in die Gesichter zweier uniformierter Männer. Hinter ihrem Rücken hantiert der Hauptbuchhalter Wenke. Ein Zivilist steht am Fenster und starrt durch den Gardinenspalt ins Dunkle.

„Geht’s wieder?“, fragt er, ohne sich umzudrehen.

„Es geht!“

Der Mann nickt der Finsternis vor dem Fenster zu.

„Fangen wir an.“

Man schiebt mir einen Stuhl hin. Noch ehe ich mich gesetzt habe, schießt der eine Uniformierte die ersten Fragen auf mich ab.

„Name? Geburtstag? Beruf?“

Ich massiere mein Kinn und kaue ihm ein paar Brocken vor. „Scholz, Jan. Neunzehn Jahre, Zimmermann.“

„Wo beschäftigt?“

„Baubrigade.“

„Also in der LPG „Grüner Zweig?“

Dumme Frage! Gibt es vielleicht noch eine Baubrigade im Dorf?

Der Hauptbuchhalter springt ein. Er hebt den Finger in die Luft wie ein Schuljunge.

„Wenn ich was bemerken dürfte, Genosse ...“

„Nein!“, sagt der Zivilist vom Fenster,

„Wie kam es zu der tätlichen Auseinandersetzung in der Gaststube, Herr Scholz?“

Diese Pedanten. Sie wissen’s genau, wie es dazu kam. Aber nein, sie fragen und fragen, als gälte es, einen Doppelmord aufzuklären.

„Ganz einfach!", sage ich frech. „Ich hab' dem alten Hubalek eins verwinkt, vielleicht auch zwei, das weiß ich nicht genau. Dann haben sie mich leider Gottes k. o. geschlagen.“

„Falsch!“, sagt der Mann vom Fenster. „Es war ein ganzer Hagel von Faustschlägen. Hubalek musste von der Gemeindeschwester behandelt werden. Finden Sie nicht auch, dass Sie als junger Mann ein wenig zu grob waren?“

Ich finde es nicht. Aber mit den Leuten hier ist nicht zu reden. Man muss ihnen auf die patzige Art kommen.

„Ich denk’, hier soll die Brandursache geklärt werden. Was hat das mit der Schlägerei zu tun?“

Jetzt dreht sich der Zivilist endlich um. Ich sehe ein rundes rosiges Gesicht mit zwei abstehenden Henkelohren und einem blonden Flaumbart.

„Herr Scholz!", sagt er mit schneidender Stimme, die nicht zu der Figur passt, „Herr Scholz! Wir sind dabei, den Brand aufzuklären. Ist das klar?“

Also doch! Hier wird irgendetwas zusammengebraut. Den Leuten muss schließlich was gesagt werden. Es geht nicht an, dass die Polizei ohne Ergebnis bleibt. Aber mit mir können sie das nicht machen. Mit mir nicht!

Mit einem Ruck stelle ich mich auf die Beine. Wenke kann gerade noch den Stuhl abfangen, der hinter mir auf die Diele kippen will.

„Ich weiß nichts!"

Der eine Uniformierte wirft seinen Bleistift auf das Papier. Er holt tief Luft Der andere beruhigt mich,

„Setzen Sie sich wieder, Herr Scholz. Sie sind durcheinander, das ist begreiflich. Vielleicht fällt Ihnen doch etwas ein. Wenn ich nicht irre, dann hatte Ihre, na sagen wir, Aufwallung in der Gaststube eine bestimmte Ursache, die mit dem Brand zusammenhängt.“

Was soll ich darauf antworten? Natürlich hat der alte Hubalek von einem Brandstifter gequasselt, von wem sonst? Im Augenblick spricht keiner im Dorf von etwas anderem. Ist das so verwunderlich?

Der Mann mit den Henkelohren schüttelt den Kopf.

„So geht das nicht weiter. Herr Wenke, berichten Sie!“

Der Buchhalter zuckt zusammen.

„Sehr wohl, Genosse Oberleutnant“, dienert er. „Das ist alles leicht zu erklären. Hubalek sprach von einem gewissen Johann Scholz, bei uns Scholz-Teifel genannt. Man weiß, dass er kürzlich aus dem Zuchthaus entlassen worden ist. Seinerzeit wurde er auf Veranlassung des Vorstandes festgenommen. Diebstahl am privaten und genossenschaftlichen Eigentum, Sie verstehen ... Der Schäfer vermutet nun ganz logisch, dass sich dieser Scholz rächen wollte. Damit wäre der Brand erklärt. Um so mehr, als die fragliche Person heute früh in der Heide beobachtet wurde. Auch von Hubalek, verstehen Sie? Er hütete draußen eine Herde und ...“

„Zur Sache!“, drängt der eine Polizist.

„Zur Sache, ja!“ Wenke leckt sich die Fingerspitzen. „Der Zimmermann hier ist der Sohn des genannten Scholz-Teifel. Seine Mutter starb bei der Geburt. Er kam zu Leuten in Pflege. Seit vier Jahren hat er eine Kammer beim Vorsitzenden Jento. Der eigentliche Vater kümmerte sich nicht um ihn, müssen Sie wissen. Er trieb sich in der Gegend herum, falls er nicht gerade im Knast, äh, Zuchthaus saß. Ein a-so-zi-a-Ies Element, wenn das richtig ist.“

„Es ist richtig!“, bestätigt der Polizist. Er klopft ungeduldig mit dem Bleistiftrücken auf den Tisch.

Wenke aber hebt die Schultern.

„Mehr kann ich leider nicht ...“

„Eben sagten Sie aber, es sei alles leicht zu erklären.“

„Sie erlauben?“

Wenke setzt sich auf den vorderen Stuhlrand. Das ist ein Kunststück bei seinen Speckhüften. Aber er schafft es. Was der Mensch so alles zuwege bringt, wenn er Eindruck schinden will.

„Bis hierher lässt sich alles bezeugen. Jeder im Dorf könnte es. Jetzt aber bewege ich mich gewissermaßen in Vermutungen.“

Da sein Blick zu meinen Fäusten hinwandert, kann ich für einen Moment seine Augen sehen. Sie sind tief unter gelblichen Fettpolstern verborgen und flackern wie Reisigfeuer.

„Es könnt’ sein“, beginnt er zögernd, „es könnt’ sein, dass doch eine geheime Verbindung zwischen Vater und Sohn besteht. Bisher hat es den Zimmermann immer kalt gelassen, wenn irgendwo in seiner Gegenwart von den Schandtaten Johanns gesprochen wurde. Deshalb nahm sich der Schäfer auch heut kein Blatt vor den Mund. Niemand hatte damit gerechnet, dass der Junge plötzlich aus der Haut fährt und seinen Vater gewissermaßen mit Faustschlägen verteidigt. Niemand, meine Herren!“

Ich bin jetzt ganz ruhig. Mittlerweile habe ich begriffen, was da für ein Gerüst zusammengezimmert werden soll. Man muss nur kräftig mit dem Fuß dagegen treten, und schon bricht es in sich zusammen. Aber ich warte ab. Man ist kein Spielverderber. Mal sehen, was sie noch alles auskramen. Ist dann ein Aufwasch!

Der Polizist legt den Bleistift wieder aufs Papier und pfeift plötzlich durch die Zähne.

„Hui!"

Doch der Zivilist lässt ihn nicht zu Wort kommen.

„Haben Sie eine Erklärung für Ihr Verhalten?", fragt er mit eingefrorener Miene. Es sieht aus, als wäre Reif auf eine Pfingstrose gefallen.

„Nein“, sage ich. Ich habe tatsächlich keine Erklärung. Es ist über mich gekommen, vorhin in der Gaststube. Manchmal zuckt es mir in den Fingern. In einer Tour muss ich sie zur Faust ballen. Eine Fliege kann mich dann zur Raserei bringen. So geht es schon Jahre ...

„Haben Sie sich mit Ihrem, hm, Vater, getroffen?"

„Ja“, sage ich patzig. „Gestern Abend beim Mondschein. Er wollte das ganze Dorf abfeuern.“ Und die Kreisstadt auch, weil er dort gesessen hat. Am meisten war er auf eine gewisse Villa in der Bahnhofstraße scharf.“

Buchhalter Wenke staunt.

„Wieso ...?“

„Ach“, sage ich, „das ist ganz einfach. Leute in Zivil und Uniform, die andauernd blödsinnige Fragen stellen, kann er nicht riechen. Deshalb ...“

Nun habe ich die Herrschaften tatsächlich durcheinandergebracht. Die Bleistiftspitze des Polizisten rollt über den Tischrand und die Diele. Der andere Uniformierte drückt krampfhaft die Ellenbogen an den Leib. Und der Zivilist bekommt feuerrote Ohren. Immerhin! Sie reißen sich zusammen. Das muss man ihnen lassen. Nur Wenke rast im Zimmergeviert auf und ab und ringt die Hände. „Ein Abgrund ... bodenlose Tiefe ... tja.“

Mir zuckt es schon wieder in den Fingern. Ich bin drauf und dran, dem dicken Buchhalter eins zu versetzen. Der Mensch verstellt sich. Faustdick hat er es hinter den Ohren. Hier aber spielt er den Beschränkten. Hat auch allen Grund dazu.

„Herr Scholz!“, sagt der Zivilist, dessen Ohren mittlerweile wieder die normale Farbe angenommen haben, „wir sind nicht hier, um uns gegenseitig Komplimente zu machen. Es geht um die Aufklärung eines Brandes, der großen Schaden verursacht hat. Das Futter für ein Vierteljahr ist hin."

„Falsch", schreie ich, „alles falsch. Der Speicher war fast leer. Eine Handvoll Heu, drei Fuder Stroh und ein paar Säcke Quetschhafer. Mehr war nicht drin.“

Die Stille im Zimmer ist sichtbar. Beide Polizisten sitzen da wie Salzsäulen. Der Zivilist mit den Henkelohren hat den Kopf nach der linken Seite geneigt. Eine unbequeme Haltung für die Dauer. Aber er bleibt dabei. Wenkes Flackerpupillen jagen von der einen Augenecke in die andere. Ich höre es, wie die Augäpfel in den Schleimhäuten gleiten. So still ist es. Endlich stößt der Zivilist den Atem aus.

„Was können Sie dazu sagen, Herr Buchhalter?“

Der Angesprochene springt auf und rennt zu den Papieren, die den Tisch bedecken.

Seine Finger rascheln mit den Seiten eines schmalen schwarzen Buches.

„Hier ist alles aufgezeichnet, Genosse. Alles! Jedes Korn gewissermaßen. Genau nach Dezitonnen und so weiter. Darauf muss ich mich verlassen.“

„Ich frage nicht nach den Unterlagen. Wie viel Futter war real im Speicher?“

Wenke stützt sich mit der rechten Hand auf sein Buch. Er hebt das Kinn, dass es absteht wie ein Rammbock.

„Mein Platz ist die Buchhaltung!“, sagt er. „Im Speicher hab' ich nichts verloren."

Dann setzt er sich auf den Stuhl. Diesmal aber drückt er den Rücken an die Lehne. Die Schnürschuhfüße sind fest auf die Diele gestemmt. Das kurze Stoppelhaar ist gesträubt. Ein beleidigter Mensch, so sitzt er nun da. Man hat ihm was Ungeheuerliches zugemutet! Man traut seinen Büchern nicht. Wo lebt man eigentlich?

Der schlaue Fuchs hat seine Taktik geändert. Aus dem höflichen Hüftknicker ist im Handumdrehen ein Bürohengst geworden, der alles schriftlich hat und dem keiner an die Nieren kann. Wer wird ihn verantwortlich machen können, wenn er falsche Informationen erhielt?

Inzwischen tuschelt der Zivilist mit einem der Polizisten. Wie er damit fertig ist, geht der Uniformierte zur Tür. Er reißt sie auf und ruft in den Tabaksqualm, der aus der Gaststube dringt: „Herr Jento, bitte!“

Die Schritte des Vorsitzenden quälen die Dielenbretter. Das Holz windet sich unter den zögernden Stiefeltritten in den Nagellöchern und Nuten. Es tut weh, so etwas zu hören. Dass der Mensch nicht ordentlich auftreten kann!

Ich dreh’ mich nicht um. Was gäbe es schon zu sehen? Ein faltenloses Spitzmausgesicht unter einer schwarzen Haarkappe. Einen schmächtigen Brustkörper auf einem prallen Bauch. Krumme, dünne Beine in Schaftstiefeln und lange Spinnenarme. Das ist Jento. Ich kenn’ ihn zur Genüge.

Der Zivilist sieht an mir vorbei, dem Vorsitzenden genau in die Augen, Er wiederholt meine Aussage: Der Speicher wäre fast leer gewesen, kaum Heu, kein Saatgut, kein Futtergetreide, außer einigen Säcken Quetschhafer. Das widerspreche allen bisherigen Ermittlungen.

„Äußern Sie sich dazu!“

Neben mir beginnt es zu zischen. Der Lachdrang presst dem Vorsitzenden die Luft ab. Sie entweicht nur stoßweise und mühevoll seinem Hals. Endlich sprengt sie die Kehlkopfsperre. Jento meckert laut vor sich hin.

„Gut, der Junge! Wirklich gut, muss ich sagen, hehe! Hat Fantasie und so. Vielleicht auch einige Promille im Blut, wie? Man kennt das. Früher spekulierte ich beim Schnaps auch immer den halben Münchhausen zusammen.“

Unversehens ist seine Stimme kalt geworden. So gemütlich hat er angefangen, der Jento. So lustig und locker. Nun aber muss er seine Wut in launige Worte gießen. Das kühlt ab.

„Wollen Sie damit sagen, dass Herr Scholz lügt?“, fragt der Zivilist gleichmütig.

Jento kneift die Augen zusammen. Eine schwere Arbeit für ihn. Die Haut spannt sich straff über den Schädel. Sie weiß nicht, wo sie die Winkelfalten für ein pfiffiges Gesicht hernehmen soll.

„Er fantasiert mehr“, sagt er und lässt sich wieder von seinem falschen Lachen stoßen.

„Wer kann über den Speicherinhalt Auskunft geben?“

„Der Buchhalter, denk’ ich.“

„Scheidet aus!“

Jento will nun die Stirn in Falten ziehen. Man muss den Leuten von der Kripo zeigen, dass man sich anstrengt ihretwegen. Den besten aller möglichen Männer muss man vorschlagen, nicht irgendeinen, der sich gerade in die Gedanken drängt. Die Sache ist wichtig genug. Nicht weniger als das Fortkommen der Genossenschaft hängt davon ab. Nein, da kann einer sagen, was er will: Ein paar gehörige Stirnfalten sind notwendig.

„Ich denk’, wir nehmen den Graupeter-Adolf. Rentner und Schlüsselfürst bei uns. Will sagen, er macht so eine Art Pförtner beim Speicher. Muss ja schließlich wissen, was gebracht und geholt wurde, nicht wahr?"

„Gibt es keinen Speichermeister?"

„Wo denken Sie hin! Dazu reicht’s bei uns nicht. Sind zwar Typ III, aber sonst bloß mittelprächtig. 120 Mitglieder, auf die Null genau."

Wieder reißt der Polizist die Tür auf. Diesmal ruft er nach dem Schlüsselfürsten Adolf Graupeter.

Na, denk’ ich, jetzt muss die Bombe ja platzen. Der Buchhalter wird ein paar Pfund Speck von den Hüften verlieren und der Vorsitzende ein paar Zentimeter vom Bauchumfang. Im Großen und Ganzen wird es den beiden nicht schaden, wenn sie sich einige Monate hinter schwedischen Gardinen aufhalten. Vielleicht, dass sich die Sache zu einer regelrechten Erholung auswächst. Endlich mal Ruhe und keine Sorgen. Mag das Vieh ruhig Fichtenreisig fressen. Wer im Knast sitzt, kann schließlich kein Futter beschaffen. So denk’ ich mir den Fall. Und ich begrüße den alten Adolf mit einem kleinen Nicken.

Er hat die Aufmunterung nicht nötig. Ein paar Wolken aus der Tabakspfeife paffend, schleudert er sein lahmes Bein vor sich her in das Vereinszimmer. Es hat ihm dies und jenes eingebracht, dieses Bein. Einmal viel Mühe und Beschwernis. Zum anderen auch Sicherheit gegenüber Behörden aller Art. Dem letzten Kaiser ist es zu verdanken, für den er Anno sechzehn vor Verdun beinah krepiert wäre. Höchstwahrscheinlich hat ihm der alte Herr im Lazarett die Hand gedrückt. Für treue Dienste und kaputte Knochen. Seither fürchtet Adolf weder Uniform noch Amtsmiene. In seinen Augen gelten nur Leute, die mindestens einen persönlichen Handel mit einem Staatsoberhaupt vorweisen können. In Rutenberg gibt es einen Nachtwächter, der an den Innenminister geschrieben hat. Damit wollte er durchsetzen, dass die Glashütte einen Wecker für den Dienstgebrauch anschafft. Man weiß nicht genau, was aus der Sache geworden ist. Auf jeden Fall aber ist dieser Mensch der einzige, mit dem Graupeter ab und an ein Bier trinkt. Alles andere ist Kroppzeug. Auch der henkelohrige Zivilist und Kripomann, auch die Polizisten, auch Jento, der Vorsitzende, und Buchhalter Wenke. Auch ich. So einer ist nicht zu bestechen. Er sagt die Wahrheit, weil ihm das poplige Volk keine Lüge wert ist. Die Bombe muss platzen.

„Randvoll war der Speicher!“, sagt er und zwirbelt sich den grauen Kaiserbart.

Ich donnere mit der Faust auf den Tisch.

„Lüge!“, schrei’ ich, „alles gelogen! Ein abgekartetes Spiel.“ Dann sehe ich wieder rot. Meine Fäuste springen auf Jento zu. Der hebt erschrocken die Hände vors Gesicht.

„Es hat ausgehakt bei ihm!“, stöhnt er, Schreck heuchelnd.

Ehe ich richtig zuschlagen kann, pressen sie mir die Arme an den Körper, Von den zwei Polizisten flankiert, werde ich im Eiltempo aus dem Vereinszimmer geschoben. Durch die verqualmte Gaststube geht es, hinaus auf den Flur und endlich auf den finsteren Dorfplatz. In der Nachtkühle lassen sie mich stehen.

„Schlaf dich aus!“, sagt der eine Polizist gemütlich. „Vielleicht hilft’s.“

So ein Korbstuhl ist ein merkwürdiges Ding. Man sitzt auf knisterndem Holz, und es drückt nicht. In einen Polstersessel könnte man sich nicht besser schmiegen. Warum habe ich erst heute bemerkt, welch ein Schatz so ein Möbelstück ist? Vor vier Jahren bin ich in die Kammer eingezogen. Jento stellte mir damals den Stuhl hin und sagte:

„Manchmal muss man abruhn. Kannst es natürlich auch bei uns unten im Wohnzimmer. Aber vielleicht willst du mal allein sein und so.“ Ich verstand ihn nicht. Für seine Freundlichkeit hatte ich keine Verwendung. Kam ich von der Arbeit, ging ich in den Stall. Oder auf die Wiese. Oder in die Heide. Es gab vielerlei zu tun in Jentos individueller Wirtschaft. Drei Kühe mussten versorgt werden, sechs Schweine, davon zwei Sauen, Stücker vier Schafe und ein Panje-Pferd. So ein Vorsitzender kann sich nicht um den häuslichen Kram kümmern. Er muss die großen Dinge im Auge haben. So war es recht und billig, dass ich ihm die Arbeit abnahm. Sparte mir dadurch die Miete und das Essen. Immerhin - zum Abruhn blieb nur das Bett. Der Stuhl stand völlig umsonst in der Kammer. Auch die Gardinen, die die Frau zweimal im Jahr aufsteckte, verfehlten ihren Zweck. Ich sah sie nicht. Nur wenn sie fehlten, fiel es ein bisschen auf. Na ja.

Heute aber genieße ich den Komfort. Mitten in der Nacht. Das Bett kann mich nicht locken, der heraufkommende Tag nicht schrecken. Ich habe eine Unmasse Zeit. Es ist mir, als dauere diese Stunde ewig. Das, was sich da draußen tut, geht mich nichts mehr an. Ich bin fertig damit. Morgen werd' ich nichts weniger als den Kram hinschmeißen. Geh’ einfach in die Rutenberger Glashütte, verdien’ mein Geld beim Külbelmachen und stell’ mich nach Feierabend an die Kreuzung, um den Mädeln nachzupfeifen. Anschließend setz’ ich mich in Magnus’ Eckkneipe und lass’ mich langsam mit Bier volllaufen. Ich hab’s ja! Dann mit schweren Gliedern ins Bett.

Früh geht’s weiter - immer von vorn. Fällt’s mir ein, lass’ ich das Bier weg und spar’ auf ein Motorrad. Alles drin bei dem Verdienst. Solche Aussichten hab’ ich. Es kann auch sein, dass ich den Gleisbau bevorzuge. Möglicherweise stecken sie mich auf eine Großbaustelle. Schwarze Pumpe oder so. Da verdien’ ich mit der linken Hand und dem kleinen Finger dreimal so viel wie hier in dem vergammelten Genossenschaftsverein. Und hab’ meinen Feierabend.

So stehn die Aktien, meine Herren!

Das Speicherfeuer hat auch mir ein Licht aufgesteckt. Jahrelang hockte ich auf einem Fleck. Sah nicht nach links, nicht nach rechts. Schluckte alles ’runter, was sie mir vor die Nase setzten. Hatte einen guten Magen und verdaute viel. Schiefe Blicke, Beleidigungen, Hohnreden, Ausbeutung. Nun ist Feierabend! Die Zeiten haben sich geändert. Sie halten für junge Leute beide Arme offen.

Nimm schon! sagen sie. Es ist alles für dich. Brauchst dich nicht zu zieren. Sechshundert Mark bar auf die Hand, Auslösung dazu, Unterkunft und Verpflegung spottbillig. Du kannst was werden bei uns.

Was bin ich geworden? Ein lumpiger Dorfzimmermann mit sechzig Mark in der Woche. Für Gardinen, Korbstuhl und Bett zahl’ ich die Feierabendstunden. Ein Idiot war ich! Ein Brummochse ohnegleichen.

Das hat nun alles sein Ende. Morgen wird gekündigt. Mal sehen, was sie für Augen machen. Oder besser gar nicht hinsehen. Was geht’s mich an? Mögen sie sich kümmern. Der Jento zuerst. Ich bin niemandem etwas schuldig geblieben. Niemandem? Da ist Schäfer Hubalek zum Beispiel. Ein Schwätzer, ja. Aber ein Mensch mit so etwas wie einer Seele in der Brust. Man kann es, glaub’ ich, auch Herz nennen. Weiß nicht genau. Auf jeden Fall hat er mich seinerzeit zu sich genommen, als ich noch nicht mal auf den Beinen stehen konnte. Das war fünfundvierzig und eine hundsmiserable Zeit. Die Dorfleute müssen ihn damals für behämmert gehalten haben. Wer nahm schon ein Zuchthäuslerbalg in Pflege, wenn er selber nichts zu beißen hatte? Kurz und gut: Hubalek tat es. Noch mehr. Als Scholz-Teifel drei Jahre später in der Schäferkate erschien und mich mitnehmen wollte, warf Hubalek den finsteren, gewalttätigen Mann vor die Tür. Jawohl, der kleine mickrige Hubalek war das, kein anderer.

Das weiß ich nun schon.

„Verschwinde!“. sagte er zu Scholz-Teifel, „verzieh dich! Du hast kein Vaterrecht. Such im Zuchthaus nach. Dort muss es liegen geblieben sein.“

Und Johann Scholz, der mein Vater sein sollte, ging mit gesenktem Kopf. Und mit leeren Händen. Was immerhin ein Wunder war.

Mit dem Begriff Vaterrecht wusste ich damals nichts anzufangen. Aber dass hier ein Kleiner einen Großen besiegt hatte, das leuchtete mir ein. Also ging ich hin und verprügelte den zwei Jahre älteren Sohn vom Jento-Bauern. Es lag kein Grund vor. Ich tat’s nur, um meine Kraft zu probieren. Riss ihm ein Bündel seiner roten Haare aus und blieb Sieger.

Als Hubalek von der Geschichte erfuhr, gerbte er mir das Hinterteil mit einem Stück Korbweide. Dann setzte er mir auseinander, dass ich der letzte im Dorf sei, der das Recht habe, den Sohn des reichsten Bauern zu vermöbeln. Wieder war vom Recht die Rede. Ich verstand immer noch nichts und fühlte mich ungerecht behandelt.

Später interessierte sich der Bauer Kubo für mich. Als Hubaleks Frau starb, nahm er mih auf seinen Hof,

„Am Ende mach’ ich dich zum Erben", sagte er. Dabei sah er seine Hedwig von der Seite an. Er brauchte einen langen Blick dazu, denn die Frau trug gute zwei Zentner mit sich herum, und kein Pfund an ihr war in der Lage, neues Leben zu gebären. Fortan lebte ich unter der Fuchtel des ewig unzufriedenen Weibes. Sie prügelte mich mit Blicken, wenn ich am Nachmittag über den Schulbüchern saß, mit ihren großflächigen Händen, wenn ich früh nicht aus dem Bett wollte und meine Stallarbeit vergaß, und manchmal auch mit dem Halfter, wenn ich mir ein Markstück vom Schrankbrett genommen hatte, um in Rutenberg Eis und Limonade zu kaufen. Der Bauer sah zu und schmunzelte.

„Lass ihn am Leben, Hedwig. Er hat schon beinah ein Recht auf das Geld. Nimm es als Vorgriff auf das künftige Erbteil.“ Darauf schlug mich die Frau noch mehr. Und sie spuckte auf die Diele, was ihrer reinlichen Natur ganz widersprach. „Der?“, schrie sie, „der und Hoferbe? Eher erwürg’ ich ihn.“ Heute weiß ich ja, warum ich ihr im Wege war. Fünf lange Jahre raubte ich ihr tagtäglich ein Stück Hoffnung. Sie, die Tochter eines armen Schluckers, wollte so sein wie andere Frauen auch. Sie wollte einen leiblichen Erben gebären, damit alles seine Ordnung bekam. Sie war sehr für Ordnung! Deshalb fuhr sie auch zu Ärzten, Pfuschern und weisen Männern und schleppte Speck und Schinkenseiten zu Leuten, die Hilfe versprachen. Alles umsonst. Aber sie gab nicht auf. Um der lieben Ordnung willen stürzte sie sich in größte Unordnung. Ließ sich mit anderen Männern ein, mit jüngeren, kraftstrotzenden, versteht sich, damit der Knoten reißen sollte. Sie trieb auch Kubo unablässig ins Bett und heizte ihre zwei Zentner auf Hochglut. Schließlich machte sie Magerkuren, die ihr wochenlang nagenden Hunger einbrachten, den Hüftspeck aber kaum verringerten. Sie kämpfte weiter, auch als Kubo mich auf den Hof nahm und mir in ihrer Gegenwart die Erbschaft versprach. Nur, dass sie nun allein hoffte und dass dieser Hoffnung Grenzen gesetzt waren. Jeder Tag, der mich älter machte, raubte ihr ein Stück davon. Sollte sie mich unter diesen Umständen vielleicht auf den Armen wiegen?

Wie gesagt, heut kann ich hinter die Kulissen sehen. Damals freilich ging ich ihr aus dem Wege, wenn es sich einrichten ließ. Ich hielt mich an Kubo, der aus mir einen Landwirt machen wollte. Einen guten, verdammt noch mal, so einen, wie er es war.

„Streck dich!“, sagte er dreimal am Tage zu mir. „Bauer wird man hierzulande nur, wenn man seine Knochen nicht schont.“ Alles, was er mir beibrachte und für mich aufwandte, habe ich mit meinen Händen tausendmal vergolten. Ich war es, der die Wirtschaft in Schuss hielt, als der Bauer plötzlich aufsteckte. Deshalb kann auch er keine Rechte mehr anmelden. Ich bin zehnmal fertig mit ihm. Er hat mich verraten und sitzen lassen.

Achtundfünfzig verkaufte er den Hof und mich gab er als Draufgeld. Der schlaue Fuchs witterte die Genossenschaft über sieben Meilen. Er wollte sich nicht ins Joch der Habenichtse spannen lassen. Ein Gespann Pferde und einen Gummiwagen nahm er mit. Fortan betrieb er ein Fuhrgeschäft. Die dicke Hedwig wurde noch einige Zentimeter umfangreicher. Das machte die Ruhe. Alle Pläne, es doch noch zu einem Erben zu bringen, konnte sie nun aufgeben. Es war keiner mehr nötig. Und der neue Besitzer brachte eine Herde Kinder mit. So lösten sich alle Probleme mit einem Schlag. Nur ich blieb übrig. Was soll ein fünfzehnjähriger Spund in der Welt anfangen, wenn er mit niemandem rechnen kann? Keine Aussichten, keine Familie, nur eine Kammer, nach der die beiden Ältesten des Neuen vom ersten Tage an schielten.

Es stellte sich heraus, dass ich doch nicht ganz so allein war. Hubalek kümmerte sich plötzlich wieder um mich. Er tat jemandem einen Gefallen und verschaffte mir eine Lehrstelle als Zimmermann. Ich kam unter die Fuchtel des alten Graupeter, der damals noch Polier war und mich nur deshalb annahm, um wiederum jemandem einen Gefallen zu erweisen, Jento bot mir die Giebelkammer an. Sie stand leer, seit sein Sohn die kreisstädtische Internatsschule besuchte. Er stellte mir den Stuhl hin, auf dem ich nun nach vier Jahren das erste Mal sitze und abruhe.

So war es immer, denke ich. All die Leute haben dir was hingestellt. Hubalek das Geschwafel vom Vaterrecht, Kubo die Erbschaft und Jento den Stuhl zum Abruhen. Und keiner hat es je ernst gemeint. Nur, dass sie dir die Augen verkleistern wollten. Schluss damit! Du bist alt genug, um ohne die Herrschaften auszukommen.

Der Schnee ist überjährig. Seit Anfang Dezember liegt er ungebraucht in der Gegend herum. Mittlerweile hat man ihn von den Wegen geschoben und aus den Höfen gedrängt. Er türmt sich zu kniehohen Wällen und trauert unbeachtet seiner fleckenlosen Weiße nach. Tausend Sandspritzer haben ihn seither getroffen. Die Menschheit ist undankbar bis auf die Knochen. Eines Tages wacht sie auf und freut sich über die reine Weste, die das Land über Nacht bekommen hat.

„Sieh einer an! Es hat geschneit - wie hübsch!“

Dann beeilt man sich, die weiße Pracht zusammenzufegen. Es geht sich unbequem auf dem Watteteppich. Soll man sich behindern lassen, wenn wichtige Wege zu erledigen sind?

An den Spuren im Schnee lässt sich erkennen, was die Leute hierzulande für wichtig halten. Bis zur Schenke liegt kein Gramm des weißen Pulvers auf der Straße. Auch die Wege zum Gehöft des Bauern Jento sind sauber, wie abgeleckt. Will aber der Buchhalter Wenke gegen Mittag das Genossenschaftsbüro aufsuchen, dann muss er ein halbes Eisgebirge überwinden. Es sieht so aus, als wäre hier der gesamte überzählige Schnee des Dorfes versammelt. Wer will es Wenke deshalb verübeln, wenn er den Weg oft genug scheut? Arbeiten kann der Mensch auch zu Hause. Er wird dabei nicht einmal von aufdringlichen Besuchern gestört. Inzwischen sitzt Frieda, die blonde Sekretärin, im Büro am Telefon und spitzt auf Gespräche, die am Ende eine Kommission des Kreises ankündigen.

Ich bin keine Kommission. Frieda hat es nicht nötig, wegen eines Zimmermanns der Baubrigade Alarm zu schlagen. Friedfertig wechselt sie ihre Brille, ehe sie mich ansieht.

„Du machst mir Spaß. Schleppst einen Haufen Dreck ’rein und willst den Vorsitzenden sprechen. Wohnst du nicht bei ihm - oder?“

„Ich will ihn sprechen, wie es sich gehört. Und zwar im Büro, Basta!“

Wieder muss Frieda die Brille wechseln. Diesmal tut sie’s mit eckigen Bewegungen. Dass die jungen Leute so aufdringlich sein können! Sieht der Kerl nicht, dass sie einen Kriminalroman bester Sorte zu lesen hat? Noch nie in diesem Winter ist es jemandem eingefallen, sie dabei zu stören.

„Er wird heut nicht vor Mittag kommen“, sagt sie schon nicht mehr so friedfertig.

Ich setze mich an den eisernen Ofen und strecke die Beine aus. „Warten werd’ ich hier!“

„Wie du willst.“

Frieda schiebt die Lesegläser vor die Augen und vertieft sich in das Buch. Für sie bin ich erledigt. Es gibt interessantere Figuren. Einen Kriminalinspektor zum Beispiel, der eine schwarze Fliege unter der Nase trägt. Oder den Raubmörder Jim, der sich in letzter Zeit mehr auf die Vergewaltigung fülliger Witwen verlegt hat.

Das wäre wenigstens ein Kerl! Frieda würde ihm zwar die Zähne zeigen, gesetzt den Fall, aber nicht zu sehr, versteht sich. Gerad so, dass es in den Augen der alten Kubo ausreicht, eine Verteidigung anzunehmen. Dann aber ...

Schwamm drüber. Ich bin nicht dazu da, im Seelenleben unbefriedigter Frauenzimmer zu kramen. Kündigen will ich. Und das in aller Form. Hier in Ofennähe lässt es sich gut warten. Nach einer knappen Stunde, in der nun die Scheite im Ofenloch knacken, fragt Frieda plötzlich:

„Müsstest du nicht eigentlich arbeiten, he?“

„Freilich!“, sage ich, „aber heute passt es mir nicht so richtig.“

Die Sekretärin wechselt noch einmal die Brille und fixiert mich von oben bis unten.

„Komischer Kauz“, sagt sie dann. „Wenn alle so dächten ...“

„Wer denkt denn nicht so?“

Darauf weiß sie nichts zu antworten. Sie schiebt beide Brillen an den Tischrand und starrt mit Entenblick durchs Fenster auf den Wirtschaftshof. Er ist leer. Ein schrittbreiter Pfad führt durch den körnigen Schnee zu den Ställen. Die Viehpfleger und Melker haben ihn getreten. Sonst kommt keiner hierher.

„Mir fällt was ein“, sagt Frieda nachdenklich.

„Ist das die Möglichkeit?"

„Jento wollte zum Speicher."

Das könnte immerhin sein. Auch dort lässt sich eine Kündigung aussprechen. Ich werd’ den Burschen vor der Brandruine zur Rede stellen. Mal sehn, was er für Augen macht, wenn ich ihm eine Handvoll Asche unter die Nase halte.

„Auf Wiedersehen im Sing Sing!“, sage ich zu Frieda.

Sie glotzt mir mit offenem Munde nach.

Das Dorf schläft in der grauen Vormittagsstunde. Hinter dem blaugrünen Zackenstrich des Kiefernwaldes ballen sich dunkle Wolken. Geht es nach dem Wind, dann wird es Regen geben.

Januarregen, der hält an. Der Sandacker wird sich vollsaugen, um im Frühjahr feuchtschwarze Fruchtbarkeit vorzutäuschen. Mehr kann er nicht. Drei Tage Sonne genügen, und die ganze Herrlichkeit zerfällt zu einem grauen Staubmeer. Es ist ein Wunder, dass in dieser Wüstenei überhaupt etwas wächst. Ein Wunder auch, dass sich hier Menschen angesiedelt haben - mitten in der Heide. Das größte Wunder aber ist, dass sie dem tauben Sand mit dem, was sie genossenschaftliche Arbeit nennen, beikommen wollen. Hier lässt sich nur was ’rausholen, wenn man den ganzen langen Tag die Nase in den Dreck steckt. Gehn sie nicht alle krumm im Dorf, die Alten? Das kommt, weil sie sich ewig und immer verbeugt haben.

„Wir betun dich hinten und vorn, wenn du es verlangst, lieber Acker. Lass uns bloß nicht sitzen.“

Er ließ sie sitzen. Nun aber wird er sich überhaupt nicht mehr bequemen. Den Achtstundentag verträgt er nicht. Er braucht den ganzen Tag und den ganzen Menschen. Er frisst ihn mit Haut und Haaren. Wer sich ihm nicht mit seiner Seele widmet, dem beschert er nichts als Melde und Quecken. Und die Seele haben sie mittlerweile aus der Genossenschaft rausgegrault.

Wie ich die Sache auch überdenke, immer wieder komme ich zu einem Ergebnis: Bloß weg von hier! So schnell wie möglich.

Meine Schritte werden eilig. Der Speicher liegt am anderen Dorfende. Ich muss an der Schenke vorbei, die Straße zurück bis zur Wehrbrücke. Einen Blick werfe ich auf den Mühlteich. Er ist unter der Eisdecke erstarrt. Ein paar Kinder jagen auf Schlittschuhen mit geschwungenen Weidenknüppeln einer Holzscheibe nach. Jentos Jüngster lauert vor dem gegnerischen Tor. Mögen sich die anderen ruhig abrackern. Er wird den günstigen Moment abpassen und dann bequem einschießen. Der Ruhm ist ihm sicher. Er lässt sich auspressen wie eine Pfeffergurke. Nicht, dass der Saft etwa sauer wäre. Süß ist er. Er heißt Macht über die ganze Meute.

Wie der Alte, denk’ ich. Genauso!

Hinter der alten Mühle kriecht eine graue Erdwanze über den Brandschutt. Das ist Jork, der Feldbaubrigadier und einzige Mensch, der an einem solchen Tage in aller Öffentlichkeit arbeitet.

„Hast’n Knall!", sage ich.

Er biegt ausgeglühte Fassreifen zurecht und wirft sie mir vor die Füße. Ich muss mich mit einem Satz hinter die geschwärzte Mauer retten.

„War Jento hier?“, frage ich um die Ecke.

Keine Antwort. Dieser Jork spricht nicht mit jedem. Hat seinen Stolz, so was. Glaubt, er sei wer weiß was geworden in dem Verein. Bis vor vier Jahren lebte er als Knecht bei Jento. Dann schob ihm der Speckjäger den Brigadierposten zu. Da hatte er einen, der nie das Maul auftat und hübsch nach seiner Pfeife tanzte. Mich nahm er als Ersatz auf den Hof. Keine schlechte Lösung. Muss man ihm lassen.

Die Leute verdrehten die Augen vor lauter Hochachtung.

„Da könnt ihr sehen, wie der Jento wirklich ist. Erhöht seinen Knecht vor aller Welt und scheut sich nicht, ihm einen Posten zu geben. Denkt sozial, der Mann.“

Ich bin gespannt, wie sich der Vorsitzende in meinem Fall ’rauswinden wird. Vielleicht vergisst er es, sozial zu denken, wenn ich ihn mit der Kündigung überrasche.

Er kommt wie gerufen. Auf einem altersschwachen Moped knattert er plötzlich um die Mühle. Das Ding macht einen Krawall wie ein mittlerer Raupenschlepper. Wissen möcht' ich nur, wann der Apparat zum letzten Mal eine Werkstatt gesehen hat. In der Steinzeit vielleicht. Ist ja auch gleichgültig jetzt.

„Du stehst hier ’rum“, sagt Jento milde, „und beim Schweinestall suchen sie dich.“

„Lass sie suchen“, antworte ich genauso müde. „Sie werden es sich schon abgewöhnen.“

„Wieso?“

„Ich kündige! Hiermit und endgültig!“

Jento schiebt das Moped an die Speichermauer. Einen Blick wirft er zur Erdwanze Jork, die immer noch über den Brandschutt kriecht. Dann dreht er sich zu mir. Der Bauch steht rund in der Gegend.

„Mach keinen Quatsch!“

Die Stimme ist nun gemütlich wie beim Kirmesbier.

„Mein voller Ernst!“, sage ich.

„Einen Grund hast du nicht etwa?“

Ich grinse ihm ins Gesicht.

„Woher sollt’ ich bloß?“

Jento grinst mit. Er geht wieder zu seinem Drahthaufen von Moped und versucht, es anzutreten. Zwischen zwei vergeblichen Fußtritten sagt er:

„Diese Dinge entscheidet die Vollversammlung auf Antrag des Vorstandes. Kündigungen gibt es bei uns nicht. Du bist kein Lohnarbeiter, sondern Mitbesitzer.“

Dies sagt er mit rasch plätschernder Versammlungsstimme. Im letzten Augenblick bekomme ich den Lenker zu fassen. Jento hat den ersten Gang einrasten lassen, die Karre ruckt nach vorn, der Auspuff spuckt und donnert, aber ich packe den Stier bei den Hörnern, stemm’ mich dagegen und halt’ so alles in der Schwebe.

„Gut!“, brüll’ ich, „gut! Mach nur deine Vollversammlung. Aber bald, bitt’ ich mir aus!“

„Im März“, brüllt Jento zurück.

Wir versinken in einer Wolke blauen Auspuffgases.

„Morgen!“, verlange ich.

„Im März!“

Mir kommt der Zündschalter zwischen die Finger. Ein Fehler! Die plötzliche Stille macht mich konfus. Ich hatte mich so an die Brüllerei gewöhnt. Alles, was ich sagen wollte, lässt sich nicht im Normalton sagen. Man muss es brüllen.

Du Speckjäger! Du Ausputzerseele! Verschanzt dich plötzlich hinter den Vorschriften und Beschlüssen. Auf einmal. Und was war vorher? Abgeheftet habt ihr die Beschlüsse, einen nach dem anderen. Ausnutzung der Arbeitszeit, Programm zur Futterbeschaffung, Förderung der Genossenschaftsjugend und was weiß ich noch. Das Blaue vom Himmel habt ihr zusammengelogen, wenn es hieß, einem vom Kreis die Aktentasche zu füllen. Passiert ist nichts. Bloß der Speicher ist abgebrannt. Und nun stellt ihr euch auf die Trümmer und klagt: Ihr seht’s, liebe Leute! Wir hatten den besten Willen. Wollten euch den Wohlstand ins Haus beschließen. Aber das Schicksal geht seltsame Wege. Es nimmt uns im Handumdrehen die Futtergrundlage für das liebe Vieh.

Und die Leute senken die Köpfe, denken an die Lumpenpfennige pro Arbeitseinheit und sehen sich dann nach einer lohnenden Beschäftigung um. Besen binden, Körbe flechten, Pilze sammeln, Beeren lesen - alles wird gemacht. Nur aufgemuckt wird nicht.

Das wollte ich eigentlich sagen. Und ein paar Takte mehr. Aber Jento hat schnell geschaltet. In gewohnter Milde säuselt er: „Versteh’ schon! Der Mensch braucht mal einen Tag Ruhe nach großen Aufregungen. Unsereins kann sich das zwar nicht leisten, aber dir werd’ ich’s auf Urlaub schreiben. Gegen vier, denk’ ich, hast du die Staupe überwunden. Da treibst du den Wallach zur Schmiede. Neue Hufeisen, klar? Na, du weißt ja Bescheid.“

Dann tritt er das Moped wieder an. Aus dem Geknatter heraus brüllt er Jork zu.

„Hör hier auf zu kramen, Emil! Die Polizei hat’s verboten. Es muss alles bleiben, wie es ist.“

Im Getriebe rasselt es, als stürzten zwanzig Eisenketten vom Himmel. Aber was keiner glaubt, passiert: Der Drahthaufen bewegt sich. Ehe ich noch einen Mucks sagen kann, ist Jento schon um die Mühle verschwunden.

Da steh’ ich nun und donnere mit der Faust gegen mein Hirn. Idiot! Hast ihn nicht gefasst, den sauberen Herrn Vorsitzenden. Ist dir zwischen den Fingern durchgerutscht, der Bursche. Und zu guter Letzt hat er dich auch noch zum Zeugen gemacht. Kommt die Polizei und sieht den aufgewühlten Brandschutt, dann wird Jento auf mich weisen.

„Ich hab’s angeordnet. Der Zimmermann weiß es.“

Er weiß noch mehr. Dass er Jork vorher zwei Stunden lang hat wirtschaften lassen. Dass er froh ist, wenn hier nichts aufeinander bleibt.

Und er wird es auspacken, wenn die Zeit heran ist.

Ich dreh' mich zu Jork um. Er steht mit hängenden Schultern auf dem Schuttberg. Die Armenden pendeln um die Knie. Mir ist, als treibe der Wind die breiten Hände hin und her wie Papierfetzen. Da ist kein Willen mehr in dem Menschen. Ohne Arbeit ist er tot. Ein Ölgötze.

Verdammt! denke ich. Was wird hier mit uns gemacht.

Ich geh’ ein paar Schritte und steh’ plötzlich auf dem Sandhügel hinter dem Dorf. Hier wird Ende April das Hexenfeuer abgebrannt. Ein alter Brauch. Hin und her haben die Kinder schon altes Reisig, vertrocknete Friedhofskränze, Holzabfälle, Rinde und anderes Zeug zusammengeschleppt.

Immer zu! denke ich. Es gibt noch genug Schrott im Dorf. Soll alles verbrennen, alles. Ich werde nicht mehr dabei sein.

Die ganze Sache hat einen Haken. Fünf Tage treibe ich mich nun schon in der Gegend umher und mache keinen Handschlag Arbeit. Ich will es erzwingen, dass sie mich vorladen. Dann werd’ ich auspacken.

Es lädt mich keiner vor. Sie kümmern sich überhaupt nicht um mich. Als wäre ich Luft und nie Zimmermann gewesen, der ihnen mit einer Bande ungelernter Leute einen Schweinestall hinbauen sollte. Mit der Zeit wird mir die Sache zu dumm. Es kommt der Tag, an dem ich aufs Büro muss, um mein Geld zu holen, Frieda wird mit den Papieren rascheln und nachsehen. „Scholz? Es ist nichts verzeichnet. Keine Stunde.“

Viel brauche ich ja nicht. Berta, Jentos spillrige Frau, bekocht mich von hinten und vorn. „Iss, mein Junge! Wer in der frischen Luft arbeitet, muss was auf den Rippen haben.“

An frischer Luft fehlt es mir nicht. Soll ich mich vielleicht in die Kneipe setzen, wenn ich nur noch achtzehn Pfennige in der Tasche habe? Mit der Arbeit sieht es schon schlechter aus. Kaum, dass ich Jentos individuelles Vieh füttere. Aber irgendeiner muss sich ja schließlich darum kümmern. Der Panje-Wallach steht zwar immer noch unbeschlagen im Stall. Ich warte auf den Tag, an dem mich Jento zur Rede stellen wird. Dann leg’ ich los. Es müsste bloß bald sein. Denn Henke-Max verdreht schon die Augen, wenn er mir die tägliche Zigarettenration anschreiben muss. Nicht mehr lange, und er tippt sich an die Stirn.

„Bin ich die Volkssolidarität, dass ich deinen Luxus bezahle? Rechne erst mal ab, mein Lieber!“

Sei es, wie es sei! Entweder ich komme zu Geld, oder ich muss passen. Der Jento hat den Bogen 'raus. Er lässt mich schmoren und denkt sich sein Teil.

„Wird schon zur Vernunft kommen, der Junge. Ist an den Tabak gewöhnt und an das tägliche Bier. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Eines schönen Tages wird er die Speichergeschichte vergessen haben und die Vollversammlung dazu. Warten wir’s ab!"

Das könnte ihm so passen. Zur Not verzichte ich auf die Raucherei. Und Bier brauche ich vorderhand nicht. Hab’ mir da ein paar Flaschen Stachelbeerwein aus Jentos Keller sichergestellt. Stecken in der Haferkiste ganz unten. Das reicht ein Weilchen.

Manchmal denke ich: Haust einfach ab! Meldest dich bei der Bauunion und lässt dich nach Schwarze Pumpe verschicken. Fertig ist der Lack. Doch dann kommen mir Bedenken. Auch wenn sie dort verdammt scharf auf junge Facharbeiter sind, irgendein Papier wollen sie schließlich haben. Ohne Stempel und Unterschrift machen sie nichts in diesem Lande. Da kannst du vom Mond gefallen sein oder gar von der Venus. Hörner kannst du haben und sechs Beine. Es macht alles nichts. Sie nehmen dich mit geschmatzten Händen, sobald du einen Wisch vorweisen kannst, nach dem dein altes Arbeitsverhältnis gelöst ist. Komm’ ich aber mit leeren Händen, dann fragen sie mich sofort aus. Und irgendein Bürohengst zieht plötzlich die Stirn hoch.

„Ah, von der LPG ‚Grüner Zweig’ also. In Weida ist das wohl? Jaja, liegt bei Rutenberg in der Heide. Weiß Bescheid. Ganz hübsche Gegend dort."

Auch wenn ich nun zugebe, dass die Gegend hübsch sei, wird er plötzlich eine Frage auf mich abschießen:

„Bist du Mitglied dort? Dann tut’s mir leid. Wir können unsere Landwirtschaft nicht ruinieren, jetzt, wo es hinten und vorn mit der Versorgung hapert. Siehst du doch ein ...“

Ich sehe es zwar nicht ein, weil bei uns nichts mehr zu ruinieren ist. Aber es hilft mir nichts. Da sie mich seinerzeit in die Mitgliederliste eingetragen haben, aus lauter Sorge um den elternlosen grünen Jungen, versteht sich!, häng’ ich nun mit drin in dem Schlamassel. Keiner nimmt mir die Last ab. Damals haben sie mir Himmel und Hölle versprochen und mir lauter unverdauliche Brocken vorgekaut.

„Eine Ehre ist es für dich, wenn wir dich aufnehmen. Du hast kein Land, kein Vieh, keinen Hof, kein Nichts. Und wirst doch die Segnungen der genossenschaftlichen Arbeit genießen wie jeder andere. Wir sind für Gleichberechtigung.“

So sprach Jento. Und nun genieße ich also. Es ist zum Piepen! Man könnte tagelang darüber lachen, wenn ... also, wenn man nicht bloß 18 Pfennige in der Tasche hätte. So aber ist einem verdammt mies zumute.

Zu allem Unglück entdecke ich an der Milchbankkastanie ein Plakat. „Tanz im Winterwald. Hundert Fichten im Saal! Lauschige Ecken und Winkel en gros! Sonnabend 19.30 Uhr. Es laden freundlichst ein: Max Henke und Frau.“

Na, denk’ ich, Scholz, da geh mal ruhig hin, und stell dich ans Fenster. Lass dich nicht stören, wenn die dreizehn- und vierzehnjährigen Lausejungen neben dir stehn und Stielaugen machen. Schluck’s ’runter und vergnüg dich inzwischen am Qualm- und Parfümgemisch, das aus dem heißen Saal quillt. Sieh ruhig zu, wie dir einer den blonden Käfer ausspannt. In der Pause kannst du ihn ja dann vertrimmen und kommst doch noch zu deinem Spaß. Bloß vergiss nicht, dass du das Mädchen auf jeden Fall los bist. Mit Leuten, die sich prügeln, hat sie nichts im Sinn. Es wird dir schon schwerfallen, die Faustschläge in Hubaleks Gesicht in freundschaftliche Rippenstöße umzufälschen. Bestimmt hat sie davon gehört, auch wenn sie aus Rutenberg ist. Die Schulkinder werden ihr’s schon geflüstert haben. Vielleicht hat gar einer einen Aufsatz über den Vorfall geschrieben. Thema: Was weiß ich von der innergenossenschaftlichen Demokratie? Es soll immer noch Lehrer geben, die sich solchen Quatsch einfallen lassen. Rita gehört zu der Sorte. Auch wenn sie sonst ganz in Ordnung ist.

Himmelherrgott! denk’ ich, sie ist sogar schwer in Ordnung! Bisschen dünn freilich, bisschen blass. Aber das kann sich noch geben. So was wird erst nach dem ersten Kind fix und fertig. Bis dahin läuft es herum wie ein Küken mit Professorenbrille. Man weiß nicht genau, ob man es auf den Arm nehmen soll oder ob man besser den Hut zieht. Bis heute weiß ich das nicht. Und ehe ich nicht dahintergekommen bin, lass’ ich sie keinem anderen. Der Fall liegt auf der Hand: Ich brauche Geld. Wenigstens fünf Mark. Das wären Eintritt, Zigaretten und zwei Glas Bier. So versorgt, käme ich über den Sonnabend. Ich gehe langsam durchs Dorf und überlege hin und her. Wo klopfe ich an? Überall sind die Türen zu, die Höfe leer. Die Leute haben sich verkrochen wie die Igel. Ihr Herz geht langsam, das Blut kreist im Zeitlupentempo durch die Adern. So wollen sie über den Winter kommen. Den einen oder anderen könnte ich vielleicht wecken. Aber ich bringe es nicht fertig. Soll ich ihnen die letzten Groschen aus dem Kreuz leiern? Für fünf Mark muss man bei uns zwei Tage arbeiten. So viel Aufwand für eine Eintrittskarte, Zigaretten und zwei Glas Bier. Wer bin ich eigentlich, dass ich das verlangen könnte? Geh’ ich zu Jento oder Wenke, bekäm’ ich am Ende Vorschuss. Aber da müsste ich meine Haut verkaufen. Und meine Seele auch. Bin ich nicht mehr wert?

Rentner müsste man sein! denke ich. So wie der alte Hubalek. Da hätte man den Staat im Rücken und ausgesorgt. So aber ist man ein junger Spund mit kräftigen Knochen und Muskeln, die der halben Welt die Luft abdrücken könnten. Und muss sich ans Saalfenster stellen, weil einem der lumpige Eintritt fehlt.