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Heino, der lange Bartel, Brocken-Theo und der kleine Belo sind aufgeweckte zwölfjährige Jungen, die immer über alles Wichtige in ihrem kleinen Dorf informiert sind. Sie sind nun alt genug, um an der geplanten Treibjagd mitzuwirken. Aber die Jagdgemeinschaft können sie nur mit einer kleinen Notlüge von einem riesigen Keiler überzeugen. Als es spannend und tatsächlich ein Keiler geschossen wird, lässt man die Jungen links liegen. Doch diese lassen sich von ihrem Jagdeifer nicht abbringen. Sie haben neue Einfälle und großen Mut; denn im Wald gibt es ja noch einen kapitalen Rehbock! INHALT: Der Sonntag kommt auf leisen Sohlen Am Sonnabend wird ein großer Entschluss geboren Ein Ferientag und keine Freude Schreck in früher Stunde Sonntagsschweiß schmeckt bitter Ein Vorbild wird gefunden LESEPROBE: "Es war mehr ein Zukunftsbock, wisst ihr. Sie wollten sich ihn partout zum Nachwuchs halten", erklärt Jonas unseren fragenden Gesichtern. "Aber ich will Freiheit. Was soll unsereins mit Vorschriften? Wenn so ein prachtvolles Stück vor der Flinte steht, da juckt es einem im Finger. Man muss einfach abdrücken. Versteht ihr das? Aber sie verstehen es nicht. Reden von Disziplin und Ordnung im Jagdgebiet. Und von Recht und Gesetz. Lächerlich!" "Was soll denn nun werden?" "Ich hau in die Pfanne!" In Jonas Gesicht kehrt das Blut zurück. "Ich tanz nicht nach deren Pfeife. Ein freier Mensch bin ich, jawoll! Und keiner hat mir was zu sagen. Denkt ihr vielleicht, ich bau ihnen die Raufen für die Winterfütterung? Zehn Stück haben sie mir aufgebrummt, diese Korinthenkacker. Als Wiedergutmachung, gewissermaßen. Aber da sind sie schlecht beraten. Keinen Finger mach ich krumm für die Bagage." Langsam dämmert es in unseren Köpfen. Und je mehr wir dahinter kommen, was Jonas eigentlich meint, umso größer wird unsere Wut. Das ist vielleicht eine Kumpanei! Schließen an einem Tage gleich den besten Schützen und die besten Treiber von der Jagd aus. Man könnte auf die Bäume klettern vor Wut. Mag es kommen, wie es will: Für uns ist die ganze Gesellschaft erledigt. Laut krakeelend wandern wir die Dorfstraße hinunter. "Wir pfeifen auf die Jägerei, weil uns nicht passt die Kumpanei." Ich habe den Vers erfunden und sage ihn vor mich hin. Schon greifen die anderen mit ihren Mündern zu. Sie schreien die Worte in die Welt hinein. Sollen es ruhig alle hören. An der Milchbankecke steht die Großmutter. Sie hat die Hände in die Hüften gestützt und schimpft.
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Seitenzahl: 208
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Joachim Nowotny
Jagd in Kaupitz
ISBN 978-3-86394-810-8 (E-Book)
Das Buch erschien erstmals 1964 beim Kinderbuchverlag Berlin.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Im oberen Fensterwinkel hockt ein winziges glänzendes Männchen. Eitel wie ein Junghahn spreizt es sich in einem Mantel aus purem Gold.
"Bin ich nicht ein passables Kerlchen?"
Jedes Mal, wenn sich der Wicht vor den Scheiben dreht, schießen weißgelbe Blitze aus den Mantelfalten in die Schlafkammer. Zack! trifft einer den braunen Kleiderschrank. Zack! ein zweiter das Spiegelvertiko. Auf der Vertikoplatte stehen geschliffene Biergläser und Weinkelche. Sie lassen sich den Beschuss nicht gefallen. Sobald der Blitz auf eine Schleifkante trifft, schleudern sie ihn zurück. "Da hast du's!"
So tobt der Kampf. Mit der Zeit verlieren die Blitze ihre Zielrichtung. Zack! fährt einer aufs Deckbett. Zack! ein anderer genau auf meine Nase. Mit einem Ruck richte ich mich auf. "Wart, Bürschchen, ich werd dich gleich packen!" Erst muss ich mir die Augen reiben. Und dann? Wo ist das Männchen? Keine Spur mehr davon. Der Fensterwinkel beherbergt ein Stück Sonne. Die Blitze, das waren ihre Strahlen. Ich habe halb und halb geträumt und in den hellen Tag hineingeschlafen. Warum hat mich die Großmutter nicht geweckt? Ich muss doch längst in der Schule sein.
Dann lasse ich mich ins Kissen zurückfallen. Es ist Sonntag heute. Alle Welt schläft länger als sonst, sogar die Lehrer. Also kann auch ich noch ein Weilchen liegen.
In der Küche rumort die Großmutter mit dem eisernen Topf. Ich höre es genau. Im ganzen Dorf gibt es nur einen Topf, der so schwer ist. Jedes Mal wenn die Großmutter den Topf mit dem Ziegenfutter auf den Herd hebt, jammert sie laut auf: "Jemine! Mein Kreuz!" Gleich darauf schimpft sie los. "Er kommt mir aus dem Haus, das Luder! Krumm und lahm schleppt man sich."
Wenn es der Großvater hört, kneift er das linke Auge zu und schüttelt den Kopf. Begreif einer die Weibsleute! Zwanzig Jahre lang schimpft sie schon auf den Topf. Ist sie vielleicht auf ihn angewiesen? Oben auf dem Herdsockel steht ein blitzender Aluminiumtopf. Ein Geburtstagsgeschenk von ihm. Man kann ihn auf dem kleinen Finger balancieren, so leicht ist er. Aber die Großmutter verschmäht ihn. Das dünne Metall hält die Hitze nicht fest. Sobald das Feuer im Ofenloch verflackert, hört das Ziegenfutter auf zu kochen. Immerfort muss angelegt werden. Das viele Holz!
Der Großvater zwinkert noch ein bisschen mehr mit dem linken Auge. Er lässt die Ausrede nicht gelten. Der Mensch muss mit der Zeit gehen. Neue Zeiten, neue Töpfe, jawohl. Wer immer am Alten klebt, der soll sich gefälligst nicht über Kreuzschmerzen beklagen. Und außerdem: Wer sorgt denn für das Holz? "Kümmre dich nicht um die paar Scheite", sagt der Großvater, "bis jetzt hat es immer gereicht."
Die Großmutter ist nicht zu schlagen. "Well ich hinten und vorne spare, deshalb reicht es", antwortet sie.
Ist der Streit soweit gediehen, dann zwinkert der Großvater nicht mehr mit dem linken Auge. Er schüttelt auch nicht den Kopf. Plautz! haut er die Küchentür zu. Dann stapft er mit gewichtigen Schritten aus dem Hause. Quer über den Hof geht er zum Schuppen. Dort packt er Axt, Säge, Spaten und einen Sack mit eisernen Keilen auf die Heukarre. Zuletzt holt er den schweren Hammer aus der Schuppenecke. Wir nennen ihn Mortak. Kein Mensch weiß, wie der Hammer zu so einem Namen gekommen ist.
Nicht lange, und das eisenbeschlagene Karrenrad rumpelt auf dem Pflaster. Der Großvater fährt in den Wald, um Kiefernstubben zu roden. Er wird sich nicht vorwerfen lassen, dass sich irgendjemand seinetwegen Kreuzschmerzen anheben muss. Heut ist alles so wie sonst. Alles? Das Stöhnen der Großmutter war da und auch die Schimpfkanonade. Der Streit brach aus, und die Küchentür schlug zu. Sogar die gewichtigen Schritte des Großvaters auf dem Hauspflaster habe ich gehört. Und auch das Rumoren im Schuppen. Nun liege ich auf der Lauer und warte auf das Rumpeln des Karrenrades.
Es kommt nicht. Dafür ertönt ein sonderbares Kratzen und Scharren im Hof. Raaatsch, raaatsch geht es, und dazwischen ist immer ein kurzer Schritt des Großvaters zu hören. Diese Schritte verwirren mich. Immer wenn der schwere Mann über das Pflaster geht, klirren die Gläser leise auf der Vertikoplatte. Heut rühren sie sich nicht. Und doch stapft der Großvater auf dem Pflaster auf und ab. Aber es klingt, als ginge er in einer Schicht Watte. Die Sache muss untersucht werden. Ich raffe mich auf und suche mit den Füßen die Pantoffeln. Mein Blick springt aus dem Fenster. Da habe ich die Bescherung.
Draußen liegt Schnee. Weißer, leichter Pulverschnee liegt auf der Wiese, soweit ich sehen kann. Und nicht nur das. Das ganze Land hat sich verändert. Gestern noch kroch der Mühlgraben hinter unserem Hause wie eine graue Schlange im grauen Gras. Heut aber ist das Wasser beinah schwarz, und doch glänzt es in der Sonne. Gestern noch waren die Stämme des Kiefernwaldes hinter einem Nebelschleier verborgen. Heut wetteifert ihre Bräune mit dem Grün der Nadelkronen und der Himmelsbläue. Der weiße Schnee hat den grauen Schleier über Nacht weggeputzt. Die Welt glänzt wie ein polierter Speckstein. Wie kann ich jetzt noch nach den Pantoffeln suchen? Auf einem Bein hüpfe ich aus der Schlafkammer über das Flurpflaster in die Küche.
"Wo sind meine Stiefel?"
Die Großmutter macht mit dem Messer ein Kreuz auf dem Brotlaib, ehe sie ihn anschneidet.
"Barfuß in der Kälte", barmt sie. "Hast du nicht schon Husten?"
Ich höre nicht hin und krame im Eimerschrank unter den Schuhen. Endlich finde ich meine Langschäfter. "Wo ist die Stiefelschmiere?"
Da knallt die Großmutter das Messer auf den Tisch. "Immerfort Ansprüche, der Lauser! Bloß guten Morgen kann er nicht sagen."
Recht hat sie. Über den Schnee vergess ich noch meinen Anstand. Im Nachthemd und auf einem Bein stehend versuche ich einen tiefen Diener. "Sei gegrüßt, großmächtige Oma." Wie ich mich aufrichten will, klatscht mir der Waschlappen ins Gesicht. Ich verliere das Gleichgewicht und falle in die Eimerecke. So eine Hinterlist!
Schon will ich mich gegen Großmutters Schimpfreden verteidigen, da sehe ich Lachfalten um ihren Mund zucken. Nun ist nichts mehr zu befürchten. Der Tag hat gut angefangen.
Ein hundsmiserabler Tag ist das! Der Großvater kann den Topfstreit nicht vergessen. Er knallt die Schneeschaufel in die Schuppenecke und kommt in die Küche getrampelt. "Beeil dich", sagt er mürrisch zu mir. "Wir werden uns ein wenig um die Säge streiten heut Vormittag."
Mir bleibt der Quarkschnittenbissen im Halse stecken. Wie? Was? Holzsägen? Heut am Sonntag? Draußen liegt der erste Winterschnee, und ich soll mich im dunklen Schuppen mit den harten Kiefernstubben quälen. Eine schöne Bescherung. Die Großmutter kommt mir zu Hilfe.
"Leg dich lieber hin, Mann", sagt sie. "Bist nicht mehr der Jüngste."
Aber der Großvater reckt die Schultern. Ach was! Er ist kräftig und noch nicht einmal ganz sechzig Jahre alt. Was macht ihm so eine Nachtschicht aus? Läge nicht ausgerechnet dieses verdammte Schneepulver, dann wäre er längst im Walde beim Stöckeroden. Jawohl. Und einen kräftigen Burschen hätt er sich ausgesucht zur Feier des Tages. Einen verzwickten, hinterlistigen Apparat, bei dem man eine Ewigkeit lang nicht an die armstarke Pfahlwurzel herankommt. Und im Handumdrehen hätte er den ganzen Topfärger in Muskelkraft verwandelt. Hau ruck!... So wie die Sache nun einmal steht, bleibt freilich bloß die Sägerei. Das denkt der Großvater. Kein bisschen müde sieht er aus. Die Nachtschichten ist er gewöhnt wie andere Leute das Frühaufstehn. Abend für Abend fährt er zur Glashütte, mischt Sand, Soda und Scherben zu einem Gemenge und streitet sich mit den Schürern herum, die nie genug Hitze für den Ofen herbeischaffen können. Zum Schluss nimmt der Großvater mit der Kelle Proben aus der Glasschmelze. Erst wenn die Hüttenleute in der Frühe ihre Schicht beginnen, macht er Feierabend. Aber wer nun denkt, dass er sich gleich aufs Ohr legt, der täuscht sich. Am Vormittag kann er nicht schlafen. Da geht er gewöhnlich in den Wald, um Stöcke zu roden.
Manchmal versuch ich vor meinen Freunden mit dem Großvater zu glänzen.
"So ein Kerl", sage ich. "Hat die Kraft von einem mittleren Bären und braucht bloß sechs Stunden Nachmittagsschlaf. Macht's mal nach."
Aber der lange Bartel zieht eine Flappe. "Er hat den Rodefimmel", sagt er grinsend. Darauf kann ich nichts erwidern. Es stimmt. Stundenlang hockt der Großvater draußen auf den Kahlschlägen und quält sich mit den Kiefernstubben ab. Der Schweiß rinnt ihm von der Stirn, die Adern treten in der Schläfengegend aus der Haut, und der Atem pfeift ihm aus der Lunge. Aber er lässt nicht locker, ehe der Stock nicht neben dem Sandloch auf dem Boden liegt. Dann erst wischt er sich das Gesicht mit dem großkarierten Taschentuch ab und murmelt vor sich hin: "Herrgott, ein strammer Kerl. Hat sich festgekrallt und doch dran glauben müssen. Karascho!" Während er einen Priem zwischen die Zähne schiebt, sieht er sich schon nach dem nächsten Brocken um.
Das Schlimmste an der Sache ist, dass er mich immerfort einspannen will. Entweder er nimmt mich mit in den Wald zum Roden, oder ich muss ihm beim Zersägen der Spaltstücke helfen. Beides ist stinklangweilig.
"Langweilig?" Der Großvater staunt. "Ein Abenteuer ist das, eine Schlacht! Jeder Stock wehrt sich. Manch einer ist so stark, dass ihn zwanzig Mann nicht von der Stelle bewegen könnten. Und ich komme ihm doch bei, mit List und Überlegung."
Gut und schön. Für den Großvater mag das alles zutreffen. Für mich stimmt es nicht. Immer sehe ich gleich den Stapel gespaltener Stöcke vor Augen, wenn ich bloß daran denke. Ein Riesenstapel ist es. Er wartet auf die Säge. Hundertmal hin- und hergezerrt und kein Fortkommen. Das Blatt frisst sich mit stumpfen Zähnen durchs wirrfasrige Holz, es klemmt im Schnitt, dass man sich den Arm dabei ausreißen kann. Eine elende Schinderei. Unter Abenteuer stelle ich mir was anderes vor. Man könnte zum Beispiel eine Skipartie zur Todesbahn machen. Wer dreimal ohne Sturz über die Spur kommt, der ist ein ganzer Kerl. Das wäre eher was. Der Großvater würde sich umsehen, wenn er das Kunststück fertig bringen müsste. So ein paar lächerliche Kiefernstöcke zählen da gar nicht mit.
Ich ziehe meine Stiefel an. Laut aufstampfend gehe ich aus dem Haus. Jeder soll hören, wie sehr ich heut geladen bin.
Auf dem Hof treibt mir ein Windstrudel kalten Schneestaub ins Gesicht. Soll er ruhig. Ich werd mich nicht aufregen, wegen so einer Kleinigkeit. Es gibt genug von der Sorte. Eine Handbreit hoch liegt er auf der Erde. Und die Sonne strahlt und strahlt über den Dachfirst hinweg, ohne ihm etwas anhaben zu können. Eine kalte Luftschicht über der Erde nimmt den Strahlen die Kraft. Der Schnee wird liegen bleiben. Hurra!
"Von mir aus kann er wegtauen", sagt da eine piepsige Stimme durch die Zaunlatten. "Wie? Was? Wegtauen?"
Draußen auf dem Weg steht einer meiner Freunde, der kleine Belo. Kaum dass er mit den Handschuhhänden die Staketenspitzen erreicht, so winzig ist er.
"Warum soll er wegtauen, kleiner Belo?", frage ich.
"Weil... weil - ihr fahrt doch bloß immer Ski!"
Da hat er Recht. Wer wird mit zwölf Jahren auf einem Schlitten über die Hügel kutschen? Das ist Sache der Kleinen. Unsereins muss Bretter unter den Sohlen haben, wenn er was gelten will.
"Es ist bloß", weimert der kleine Belo, "ich komm immer nicht mit. Ihr habt so lange Beine. Das ist es."
Nun kenn ich seinen Kummer. Der kleine Belo hat Angst. Auch er ist zwölf Jahre alt. Aber kaum steht er mit seinen Skiern auf einem Sandhügel, da klopft ihm schon das Herz im Halse. Er traut sich nicht abzufahren. Manchmal verspotten wir ihn so lange, bis er sich doch einen Ruck gibt. Aber die Angst lähmt ihm die Glieder. Steif wie ein Sägebock rumpelt er ein paar Meter über die Spur, und dann liegt er schon lang.
"Hab ich's nicht gesagt?", jammert er beim mühseligen Aufrappeln. "Meine Beine sind zu kurz. Ich kann den Schwung nicht richtig auswuchten."
So gelehrt drückt er sich in seiner Not aus. Aber der lange Bartel hat nur Spott für ihn übrig.
"Macht nichts, Walter", tröstet er grinsend. "Wer kurze Beine hat, kann nicht hoch fallen. Wenn ich mal aufknalle, da gibt's gleich überall Beulen."
Er verschweigt, dass ihm das kaum einmal passiert. Sprach ich nicht eben vom langen Bartel? Schon ist er da. Er legt die Ellenbogen auf die Zaunstaketen und blinzelt in den Hof. Der Großvater kann es auch nicht viel besser. So lang ist der Kerl. Mit der bloßen Hand scharrt er einen Fleck Schnee vom Pfosten. Den versucht er zu kneten.
"Prima", sagt er, "wie Pulver. Nicht ein bisschen pappig. Um zehn treffen wir uns vor der Schenke. Mit gewachsten Skiern bitt ich mir aus! Es könnt sein, dass wir zur Todesbahn fahren. Ist das klar?"
Weshalb soll es nicht klar sein? Der Tag verlockt zu Ausflügen. Sonne und Schnee, was will man mehr? Das bisschen Kälte wird uns nicht schrecken. Auch die Todesbahn nicht. Aber der kleine Belo tanzt von einem Bein auf das andere und reibt sich die Nase rot.
"Und wenn wir eine Schlittenpartie machen?"
"Hihi", wiehert der lange Bartel los. "Eine Schlittenpartie. Große Klasse! Vielleicht, dass wir sogar eure Zwerghühner davor spannen."
Ich halt mir den Bauch vor Lachen. Was der Bartel so raushaut! Belos Zwerghühner vor unseren Schlitten, das gäbe eine Fuhre. Dann aber verschluck ich meine Lachlust. Das Holzsägen! Ich hatte es schon beinah vergessen.
"Was ist denn nun?", drängelt der lange Bartel. "Machst du mit oder nicht?"
Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Wenn ich jetzt mit der Sägerei ankomme, dann lachen sie mich aus. "Also", sag ich, "also... wir müssen Theo noch Bescheid geben."
Es ist nicht mehr nötig. Auch Brocken-Theo, der vierte in unserer Runde, hat sich inzwischen eingestellt. Plötzlich lehnt er am Zaun, dass die Pfosten unter seinem Gewicht knacken. Unter dem blauen Rollkragenpullover bewegen sich die gewaltigen Armmuskeln.
Nun brauchen wir nichts mehr zu erklären. Theo macht alles mit und sagt kaum ein Wort. Niemand weiß, was in seinem Kopf alles vor sich geht. Manchmal denken wir, er ist stumm. Aber es stimmt nicht. Ab und an hat er was auf Lager. Dann hustet er in die hohle Hand und brockt uns ein paar Wortfetzen hin. Wir stehen staunend in der Gegend 'rum und sehen uns an. Brocken-Theo hat gesprochen. Junge, Junge, schreib's in den Kalender!
Heute hustet er sofort in die hohle Hand. Nicht einmal, dass wir den Vorschlag mit dem Skiausflug anbringen können. "Sie machen eine Jagd", sagt er.
Mehr nicht. Wir können uns dumm und krumm fragen. Theo bringt keine Silbe mehr über die Lippen. "Jagd? Wo? Wer? Weißt du's genau?"
Keine Antwort, nur ein Schulterzucken.
Der Schnee hat uns die Ohren zugestopft und die Augen geblendet. So muss es gewesen sein. Warum haben wir nicht schon lange gehört, dass auf dem Dorfplatz die Hunde kläffen? Warum haben wir die Männer nicht gesehen, die mit geschulterter Flinte auf ihren Motorrädern in Richtung Schenke geknattert sind? Es ist eine Schande. Ein bisschen Neuschnee und der Gedanke an eine lächerliche Schussfahrt von der Todesbahn können einen glatt den ganzen Spürsinn vergessen lassen. Wenigstens einer hat aufgepasst. Wie gut, dass wir den halbstummen Brocken-Theo haben. So werden wir die Jagd nicht verpassen.
"Los", sagt der lange Bartel, "zum Dorfplatz!" Ich schiele zum Fenster. Der Großvater ist immer noch mit dem Frühstück beschäftigt. Soll er sich ruhig Zeit nehmen. Heut wird nichts aus der Sägerei. Heut ist Jagd. Vorsichtig drücke ich mich durch das Hoftor. Im Dauerlauf geht es die Gasse hinauf. Der lange Bartel klotzt mit seinen schweren Schnürschuhen längliche Löcher in den Schnee. Wir anderen bemühen uns, die Füße genau in seine Spur zu setzen. Auch der kleine Belo reißt sich zusammen. Soll er etwa zurückbleiben?
"Werden sie uns mitjagen lassen?", keucht er mühsam.
"Lass mich nur machen", versichert der lange Bartel, ohne den Lauf zu stoppen. "Bei Neuschnee gibt's Kesseltreiben auf Hasen. Da brauchen sie allerhand Leute."
Der Dorfplatz vor der Schenke gleicht einem zerwühlten Bettlaken. Überall kreuzen sich die Profilspuren der vielen Motorräder und Mopeds im Schnee. Es lässt sich leicht erkennen, dass die Jäger aus allen Richtungen gekommen sind. Aus den Dörfern Niederstrecka, Hammerwurf, Alt- und Neuliebe, aus der Gemeinde Reicha und aus den fernen Heidehäusern. Alle wollen sie hier in Kaupitz Hasen schießen. Es wird eine große Jagd geben. Vor der Schenke stehen zwei haushohe Linden. Um ihre Stämme sind Lederleinen geschlungen und verknotet. Die Hunde hängen daran. Lappohrig und braunäugig scharren sie mit ihren kräftigen Pfoten ungeduldig im Schnee. Geht es nicht bald los? Noch ist es nicht soweit. Die Jäger sitzen in der Gaststube und warten auf die Treiber. Den Hunden dauert es zu lange. Wenn sie schon keinem Hasen nachjagen können, dann wollen sie wenigstens eine Schar Kinder verbellen. Wiff! Waff! Wiff! klingt es vielstimmig über den Platz.
Wir stehn da und lassen die Schultern hängen. Wie sollen wir in die Schenke kommen? Das Hundevolk macht unseren ganzen Plan zunichte. Endlich traut sich der lange Bartel vor. "Werd doch vor den Biestern keine Angst haben."
Zwei - drei Schritte geht er auf die Meute zu. Da springt die kräftige Junghündin Janka auf und will ihn packen. Durch das feste Halsband wird sie aus dem Anlauf gerissen und zu Boden geschleudert. Die Hündin heult wütend auf. "Angst hat sie vor mir, das ist es", verkündet der lange Bartel.
Ich will ihm gut und gerne Recht geben. Aber es hilft uns nicht weiter. Gerade die ängstlichen Hunde beißen mit Vorliebe in Kinderwaden.
Plötzlich klappt die Gaststubentür. Der alte Schäfer Hubein kommt heraus. Seine Augen flackern wie Reisigfeuer. Schon am frühen Morgen hat er sich zur Feier des Tages ein paar Stonsdorfer geleistet. Mutig tritt er mitten unter die Meute. Das Jiffen und Wimmern aus den Hundemäulern versickert. All die braunen Augen starren nach Hubeins Hand. Die reißt große Fetzen von einem Brotstück und wirft sie den Hunden vor. Kein Brocken, der in den Schnee fällt. Alles wird aus der Luft geschnappt und gierig verschlungen.
"Kunststück", sagt der lange Bartel, "mit Brot hätt ich das auch geschafft."
Ich bin nicht sicher, ob uns die Sache gelungen wäre. Der alte Hubein ist ein besonderer Mensch. Sein Leben hat er unter den Tieren zugebracht. Erst musste er die Schafe des Barons hüten und später die der Bauern. Nun aber lebt er von der Rente und verdient sich nebenbei allerhand Groschen in der Genossenschaft. Kalbt eine Kuh nicht nach der Vorschrift, dann ist Hubein da. Hat ein Pferd die Mauke, Hubein kuriert es. Findet jemand eine erstarrte Winterdrossel, Hubein wärmt und hegt sie, bis sie wieder fliegen kann. So einer ist das. Die alten Frauen im Dorf munkeln allerlei über ihn.
"Seht die Narbe über der Nasenwurzel! Ein Satanssiegel. Die ganze Heilkunst ist bloß Hexerei."
Aber der Tierarzt von Reicha schert sich nicht darum. Er hat für die Narbe eine andere Erklärung. Mag sein, dass ein Pferdehuf die Stirn traf, als sich Hubein grad nach ihm bückte. Mag auch sein, dass der Schäfer mit einem wilden Widder gerungen hat und dabei dem harten Gehörn zu nahe gekommen ist. Auf jeden Fall versteht der Mann sein Fach. Und er nimmt dem Tierarzt eine Menge Arbeit ab. Er kennt sich in den Tierkrankheiten aus, und das ist viel heutzutage.
Wir sind ein bisschen übers Kreuz mit ihm. Im Herbst hat er uns beim Schwarzangeln erwischt. Wir bockten friedlich am Teichrand mitten im Rohrschilf und dachten an nichts Schlechtes. Der kleine Belo hatte eben einen Barsch gefangen, ich lauerte mit einem Pellkartoffelbrocken am Haken auf die Karpfen, und der lange Bartel war auf Hechte aus.
"Vermach mir den Barsch", sagte er zum kleinen Belo, "der ist schön lebendig. Er wird im Wasser tanzen und kein Hecht kann vorbei."
"Und was krieg ich?", fragte der kleine Belo. "Die Hucke voll!", dröhnte da plötzlich die Stimme des Hubein-Schäfers vom Damm. Ich ließ vor Schreck die Angelrute fallen. Na, wir waren natürlich schnell verschwunden. Keinen von uns hat der Alte greifen können. Dafür aber hat er gebrüllt wie ein Stier: "Ich melde es, ihr Bucht. Ihr habt keinen Angelschein."
Was er noch gebrüllt hat, konnten wir nicht mehr hören. Wir waren schon zu weit fort. Seitdem warten wir nun, dass er uns irgendwo anschwärzt. Bis jetzt hat er es noch nicht getan. Auch heute sieht es nicht danach aus, als wollte er sich an die Sache erinnern. Friedvoll füttert er die Hunde und lässt seine Augen über uns flackern.
"Wollt wohl 'rein, ihr Racker?", fragt er freundlich. "Ja, Herr Hubeinschäfer."
"Geht nur, geht! Ich werd die Tierchen schon in Schach halten derweil."
Die Brotfetzen fliegen nach links und rechts. Sofort springen ihnen die Hunde nach, soweit es die Halsbänder zulassen. Eine Gasse tut sich zwischen den haarigen Leibern auf. Der lange Bartel zögert.
"Wegen vorhin", sagt er leise. "Die Viecher merken sich das, wenn ihnen einer ans Fell wollte."
Endlich macht Brocken-Theo den Anfang. Unbeachtet kommt er durch die Gasse. Dann springt der lange Bartel mit einem mächtigen Satz auf die Haustürschwelle. Ehe ich ihm folgen kann, drängelt sich der kleine Belo an mir vorbei. Er will nicht der letzte sein. Beißen den letzten nicht immer die Hunde?
Sie beißen mich nicht. Vielleicht, dass sie meine Lederwaden davon abhalten. Selbst die schärfsten Hundezähne sind gegen meine Langschäfter machtlos.
Nicht lange, und wir stehen in der verqualmten Gaststube. Kaum dass die Sonnenstrahlen mit dem Tabakdunst fertig werden. Die meisten von ihnen warten draußen vor den Fenstern auf die Stunde, in der die Luft hier drin wieder sauber ist. Vorläufig aber sieht es nicht danach aus. Die Männer hocken auf den bleich geschrubbten Stühlen und trinken Kaffee. Hinter den Tischreihen hängen grüne Lodenjoppen und -mäntel, auch Rucksäcke am Kleiderrechen. Zwischen dem Stoff lugt ab und an ein bläulicher Flintenlauf hervor. In der Fensterecke stehen sonderbare Spazierstöcke. Klappt man die beiden segeltuchbespannten Querleisten herab, hat man einen schönen einbeinigen Sitz. Ein kleiner Mann steht auf einem Bierfass und lamentiert. "Alle mal herhören! Dass mir kein Schnaps getrunken wird. Und auch kein Bier! Wer sich nicht beherrschen kann, den schließ ich von der Jagd aus."
Im Rauchnebel erkenne ich den Schreier. Es ist Günther, der Bruder vom kleinen Belo. Kaum zu glauben, was er für Spektakel machen kann. Die Woche über schwenkt er die Glasmacherpfeife und duckt sich ängstlich unter den Schimpfreden seines Meisters. Hier aber riskiert er eine Lippe, dass einem Angst werden konnte. Wie kommt das?
All die Männer hören ihm respektvoll zu. Ein paar von ihnen kenne ich. Baubrigadier Domko aus unserem Dorf ist dabei, auch der Vorsitzende Rublack. Der alte Bartel, der Vater meines Freundes, sitzt auf einem hoch gekippten Bierkasten und zwirbelt sich in der Vorfreude den Bart. Vor der Theke, nahe bei uns, stehen zwei Förster. Der eine kommt aus Altliebe und ist der Jagdleiter. Der andere wohnt bei den fernen Heidehäusern. Aus Reicha kamen Schlosser und Ziegeleiarbeiter, aus den Dörfern Bauern und Fuhrleute. Alle zusammen sind eine Kumpanei, und sie nennen sich Jagdgesellschaft. Belo-Günther aber muss sich hier nicht vor seinem Glasmachermeister ducken. Er hat sich einen langen Namen zugelegt, und der verschafft ihm Respekt: Sicherheitsbeauftragter.
"Wie steht's mit Doppelkaramel?", fragt der alte Bartel augenzwinkernd.
Günther wird unsicher. Doppelkaramel? Hat es Alkohol in sich? Schon will er den Gastwirt Henke fragen. Dann aber besinnt er sich. So ein Sicherheitsbeauftragter muss im Grunde alles wissen. Sonst machen sich die Leute am Ende noch lustig über ihn. Also entscheidet er: "Eine Flasche pro Nase ist genehmigt." Enttäuscht senkt der alte Bartel den eisgrauen Kopf. Schade. Er wollte den Junghahn ein bisschen in Verlegenheit bringen, von wegen der großen Klappe. Hat sich rausgedreht, der Bursche. Wir verfolgen den Vorgang mit großen Augen. Der kleine Belo reckt sich auf die Zehenspitzen. So stolz ist er auf seinen Bruder. Mit der Zeit wird es eng an der Theke. Wir stehen im Wege herum.
"Wollt ihr was Bestimmtes?", fragt der Wirt misstrauisch. "Jawoll", sagt der lange Bartel. "Eine Limonade und vier Gläser. Schnaps ist ja nicht erlaubt heut."
Henke brummelt vor sich hin. Ansprüche haben die Kerle!
"Soll ich nicht lieber vier Löffel bringen?"
Wir begreifen nicht, worauf er hinaus will.
"Ihr könntet das Plapperwasser vom Teller löffeln."
So ein Heimtücker! Will uns verhöhnen. Wir gehen in die sechste Klasse, bitte sehr, und haben ein Recht, anständig bedient zu werden. Auch für vierundzwanzig Pfennige. Der lange Bartel lässt sich das nicht bieten.
"Vier Gläser - aber saubere", verlangt er.
Der Gastwirt bekommt einen roten Kopf. Am liebsten möchte er uns rausschmeißen. Aber die Männer sind auf uns aufmerksam geworden. Sie lachen aus vollem Halse. "Seht die Rotznasen! Sind nicht aufs Maul gefallen, hehe." Da entschließt sich Henke mitzulachen. Geschäft ist Geschäft. Heut kann man keinen Streit anfangen. Das schlägt auf den Magen, und die Leute trinken am Ende nicht einmal mehr Kaffee und Doppelkaramel.
Der lange Bartel schubst uns in die Gaststubenmitte. Hier sollen wir stehn und trinken? Könnten wir uns nicht in eine freie Ecke hocken? Aber der Lange weiß schon, was er will. Nichts da von wegen Ecke! In der Mitte müssen wir bleiben, damit uns alle sehen und hören.
Während die Limonade in unseren Hälsen krabbelt, stößt er mich mit der Schulter an.
"War ein ganz schöner Apparat, der Keiler, was?" Apparat? Keiler? Ich zermartere mir das Gehirn. Schon wochenlang haben wir kein Wort mehr über Wildschweine und dergleichen verloren. Auf einmal fängt er davon an. Was soll das bedeuten? Plötzlich fällt mir ein, worauf der Lange hinaus will. "Also, der Keiler, das war'n Ding. Bloß gut, dass wir ein paar Kletterbäume zur Hand hatten. Sonst wären wir jetzt zu Mus zertrampelt."
Wumm! Schon wieder bekomme ich einen Schwinger gegen die Schulter.
"Schneid nicht so auf", zischt mir der lange Bartel zu, "da glauben sie es am Ende nicht."
Aber der Förster Nalewski aus Altliebe hat schon Feuer gefangen. "Hm", sagt er lauernd, "wo wollt ihr denn das Stück Schwarzwild gesehen haben?"
Auch die anderen Männer horchen auf. Ein Wildschwein? Vielleicht dass man es heut gleich mit schießen könnte. Ein paar Brennekepatronen werden sich schon finden. Alle Jäger wollen einmal einen Keiler erlegen.
"Es... es ist schwer zu beschreiben, Herr Förster", druckst der lange Bartel. "Heut früh war es noch finster und so. Aber zeigen könnt ich Ihnen die Stelle. Ehrenwort!"
Der Förster überlegt lange. Man sieht es an den wulstigen Stirnfalten über den schneeweißen Augenbrauen, wie sehr sein Geist arbeitet. Schau einer an, so mag er denken, die fixen Jungs machen so mir nichts dir nichts ein ordentliches Stück Wild ausfindig, und wir dachten schon, die Schweine hätten sich aus dieser Gegend verzogen. "Also zeig uns die Stelle."
"Dürfen wir mit treiben?", fragt der lange Bartel sofort. Schon will der Förster zusagen, da schwingt sich Belo-Günther wieder auf das Fass.
"Wie alt seid ihr bitte?", fragt er mit amtlicher Stimme. Wir wundern uns. Da wohnen wir nun in einem Dorf, und er weiß unser Alter nicht. Nicht einmal das seines Bruders will er kennen. So ein Angeber.