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Schäfers Stunde. Ist sie glücklich, ersehnt? Gar eine Schäferstunde? Immerhin hat Schäfer ja wohl drei Frauen kennengelernt bei jenem Heiratsball in Herberts Kneipe, als das Bier so gewaltig floss. Oder eine Stunde der Gefahr, der Bewährung? Die letzte Stunde? Eine gute, eine geschlagene? Auf jeden Fall: Schäfers Stunde. Geschichten werden hier erzählt, über Schäfer und andere, aus der Heidelandschaft und der Großstadt, von Liebe und Arbeit, den Sorgen und Freuden des Aufwachsens und Altseins. Ein Stift - er fühlt sich schon beinahe als richtiger Zimmermann - muss von einem Tag zum ändern »unter lauter Weibern« bestehen. Und: Die alte Patzeln zittert vor Anstrengung, weil sie den Schutzgeist eines unschuldigen Kindes zu ihrem letzten Sohn an die Front auf den Weg zwingen will. Ein Achtzigjähriger blickt manchmal bekümmert an seinem Sohn vorbei; woher rührt seine Enttäuschung? Die alte Hanna - sie hat es gut bei ihrer Enkelin - »streuselt« an einem unfreundlichen Januartag durch die Großstadt und sucht: Zuwendung. Heiteres und nachdenklich Stimmendes, Komisches und Tragisches, große Zeitfragen und Alltag vermischen sich in diesen Lebensstunden. Das fesselnde Buch erschien erstmals 1985 im Mitteldeutschen Verlag Halle – Leipzig. Die Erzählung „Weiberwirtschaft“ wurde 1983 von der DEFA verfilmt (Regie und Drehbuch: Peter Kahane). INHALT: Kurzer Weg Unsichere Entfernung Schäfers Stunde Weiberwirtschaft Die Dusche Hickhack vor Jahren Mützenwetter Feier des Tages Lila Schimmer Stadtgang
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Seitenzahl: 278
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Joachim Nowotny
Schäfers Stunde
Erzählungen
ISBN 978-3-86394-183-3 (E-Book)
Das Buch erschien erstmals 1985 im Mitteldeutschen Verlag Halle - Leipzig.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Der Großvater lacht in meinen Traum hinein. Die Strömung ist kalt und schwarz. In ihr treibe ich dem Wehr zu. Die Schützen, eine Wand aus schwerem Holz, stehen unter Druck. Es gibt kein Durchkommen. Ich stoße Luft aus. Mein Blick folgt den Blasen, die quälend langsam zur Eisdecke steigen. Mit letzter Kraft schleudere ich mich unter das Loch, das Siggi gestern gehackt hat. Auch das ist wieder fest überfroren. Oben steht der Großvater. Er bedeutet mit gehobener Schulter, dass er mir nicht helfen kann. Er lächelt.
Ich erwache, atme stoßweise. Den Traum werde ich vergessen, das Lächeln nicht. Es ist früher Morgen. Draußen hat der Frost die Welt fest zwischen seinen Zähnen. Auch das Klingeln, das vom tröpfelnden Wasser kam und allein vom Rauschen des Wehres übrig geblieben war, ist verstummt. Selbst die Mäuse halten still. Ich lausche hinüber in die Küche. Im Ofen krachen die Scheite. Der Großvater suppt. Er bläst über den Löffel und schlürft ohne Behagen. Er muss zur Schicht. Es könnte immerhin Sonntag sein. Der Großvater muss auch sonntags zur Schicht, doch ich nicht in die Schule.
Knirschende Schritte bewahren mich vor einem weiteren Traum. Ich fahre aus dem Halbschlaf und puste ein Loch in die Eisschicht des Kammerfensters. Im Licht des kalten Mondes steht die alte Patzeln auf der anderen Bachseite. Nicht groß zum Ausgehn angetan. Das schwarzwollene Kopftuch fest unter dem Warzenkinn geknotet, hält sie die Hände krampfhaft unter der Schürze. Sie wagt das Äußerste, hebt den Fuß, setzt den Pantoffel auf den Wall aus körnigem Schnee, den wir von der Schlittschuhbahn geschoben haben, zieht den anderen Fuß nach und steht schwer atmend auf dem Eis. Ein Blick zurück, ein zweiter zur Mühlbrücke. Der Weg durchs Dorf ist geschleppt, aber weit. Der Frost hat unsere Katen zu Nachbarhäusern gemacht. So nimmt die alte Patzeln den Blick herunter und geht los. Setzt Pantoffel vor Pantoffel und bespöttelt ihre Angst, indem sie das Eis leise bespeit. Brich ok, brich ok! Ein Schritt auf dem Damm, ein rasselnder Seufzer, und sie ist auf unserer Seite. Ich falle zurück ins Bett, höre die Schritte hinter dem Giebel leiser und auf dem griesigen Hofpflaster schneller werden. Als trüge die alte Patzeln eine Last, die sie endlich abwerfen möchte. Die Haustür klappt, die Schwelle ächzt. Noch ehe es an der Küchentür donnert, hält der Großvater inne. Die alte Patzeln klopft nie mit dem Knöchel. Sie nimmt immer die ganze Faust. Ich weiß gleich: Heut’ ist es so gemeint.
Auch die Großmutter muss es ahnen. Sie ruft: Herein! Ihre Stimme steigt an und bleibt oben. Die alte Patzeln fällt durch die Tür, sie stimmt ein und steigert den Ton zu einem gellenden Schrei. Dabei ringt sie die Hände, dabei schießen die Tränen. Die Großmutter fasst sich ans Herz, und der Großvater hält den zitternden Löffel vor dem geschlossenen Mund. Ich sehe das alles trotz der Wand, die die Kammer von der Küche trennt. Ich sehe es genauso, wie ich den lautlosen Schrei höre. Damals, als Krautschicks Siggi mit Spuckeblasen im Lippenwinkel im Viehfutter rührte, während seine Mutter unter der Kuh schrie. Der Milchstrahl fuhr aus dem Euter und brachte die Eimerwand zum Singen. Warum schreit sie, fragte ich. Siggi sagte: Vater ist gefallen. Aber sie soll nicht denken, dass ich mir das länger anhöre. Ich meld’ mich freiwillig. Auch die Witfrau Ruschke schrie, als ihr der Ortsbauernführer die Nachricht gebracht hatte. Es war alles zu, Hoftor, Haustür, Fensterläden. Zu und dunkel. Unterm Dach gurrten die Tauben. Aber sie wurden vom lautlosen Schrei der Witfrau Ruschken aufgeschreckt. Nach dem Mann hatte sie auch den Jungen verloren. Und die Frau Janke aus der Mühle ging überall herum und las aus dem letzten Brief ihres Stalingradkämpfers: Heut’ haben wir die Liese erschossen. Ich hab’ nicht hinsehen können. Das Pferd hat mich bis hierher gebracht, nun musste es dran glauben. Ich werd’ auch nichts vom Fleisch essen können, obwohl ich Kohldampf genug habe ... Frau Janke hat erst geschrien, als alles vorbei war und der Landjäger ihr den Brief wegnahm. Man hörte es nicht auf gewöhnliche Weise, aber das Wasser im Mühlgraben kräuselte sich vor Grauen.
Bloß die alte Patzeln schreit richtig.
Mei Eitel, schreit sie, mei gutes Eitel.
Sie meint ihren jüngsten Sohn. Die beiden älteren sind gefallen. Der eine in Polen, der andere in Afrika. Eitel steht im Osten, der letzte Brief kam aus der Gegend von Shitomir. Wenn der Großvater auf Schicht war, haben sich die beiden Frauen den Namen so oft zugeseufzt, dass ich ihn jetzt glatt hersagen kann. Aber da musste die alte Frau Patzel noch durchs Dorf.
Patzeln! schreit nun auch die Großmutter. Es ist ein leiser Schrei, einer, der schon eher in die Zeit passt. Der Großvater öffnet den Mund. Er schiebt den Löffel erst hinein, als auch die alte Patzeln leiser wird.
Er war da, schreit sie leise, in der Nacht war er da, mei Eitel.
Needoch, stößt die Großmutter hervor.
Jadoch, stöhnt die alte Patzeln. Und redet nun schnell, aber so, dass es in den vier Wänden bleibt. Der Eitel soll direkt aus dem Trommelfeuer gekommen sein. Ist geflogen, so schnell wie ein Seufzer, über Böhmen und Mähren oder auch umgekehrt, war da und hat ans Fenster geklopft. Mutter, hat er gerufen, Mutter, hilf! Wie einer, hinter dem sie her sind. Und die alte Patzeln hat gelegen, stumm und dumm, hat sich vor Schreck nicht zu rühren gewusst, hat schreien wollen, aber der Mund hätte ihr offen gestanden und das Herz den Hals mit seinen Schlägen abgeklemmt. Es hat sie geschüttelt und hin und her geworfen, und als es vorbei war, ist sie im Nachthemd 'raus, barfuß, trotz Schnee und Eis. Doch da hatte es den Eitel schon wieder abberufen, zurück über Böhmen und Mähren und hinein in die Kesselschlacht. Die alte Patzeln will in der Kälte gestanden und sich ins Gesicht geschlagen haben. Den Hals hab ich mir aufgekratzt, hier seht’s euch an, seht’s euch um Gottes willen an, wie ich mich zugerichtet habe.
Großmutters Stuhl ächzt. Der Großvater beginnt zu schlürfen; ob er lächelt, kann ich nicht sehen, plötzlich spüre ich die Wand. Ich sehe nur, was ich der Großmutter abhören kann. Ihr ist es ernst mit diesen Dingen, die zwischen Himmel und Erde sind. Sie hat sich dem Tisch zugewandt und redet der alten Patzeln auf Umwegen zu. Tu dich ok fassen, sagt sie. Fass dich um Himmels willen, er lebt ja noch, dein Eitel, er lebt, sonst hätt er nicht geklopft.
Das weiß nun wirklich jedes Kind. Erst wenn es das dritte Mal gekommen ist und nächtens geklopft hat, dann muss er sterben. Es hat freilich bei keinem nur zweimal geklopft. Wenn es einmal losgegangen war, ging’s auch zu Ende. Dann klopfte nichts und niemand mehr.
Der alten Patzeln muss das keiner sagen. Sie lässt sich auf den Holzkorb fallen. Ich höre die Scheite unter ihrem Hinterteil stöhnen. Es ist ihr Platz, sie sitzt, den Kopf zwischen den aufgestützten Händen, den Rückenbuckel vor der Wand, wo er im Feuerschein zuckende Schatten schlägt. Sie hat den Schrei verschluckt; er stößt von Zeit zu Zeit aus der Mitte des Leibes. Dann würgt sie ihn in der Kehle ab und verdünnt den Druck zu einem jämmerlichen Wimmern. Es ist schieres Mitleid, was die Großmutter herumreißt. Ich höre es dem ächzenden Stuhl ab. Sie beugt sich übers Knie und redet der alten Patzeln zu.
Nunu, murmelt sie, tu dich ok nie grämen. Ist wohl noch nicht aller Tage Abend. Ist wohl noch nicht alles verloren. Er war ja nicht selber da, dein Eitel, es war sein Geist und Schemen. Wenn man ihn festhalten kennte ...
Der Großvater legt den Löffel hart aufs Holz. Vorsicht! heißt das. Es sind keine Zeiten für wenn und aber. Die Leute sind außer Atem, sie nehmen den Zweifel als Hoffnungsschimmer. Aber es ist zu spät. Die alte Patzeln springt vom knisternden Korb, sie bekommt Großmutters Schürze zu packen, sie knetet den grauen Warbstoff und presst ihre Bitte mit beiden Händen. Ach Martha, Martha, wenn du was machen kenntest!
Nun sehe ich Großvaters Lächeln doch. Das muss man sich vorstellen: Zwei alte Weiber, das eine vor Kummer krumm, das andere aus Mitleid zu Versprechungen geneigt, die es nicht halten kann. Beide wollen dem Schicksal in den Rachen greifen. Der Großvater glaubt nicht an Schnickschnack und Firlefanz, ihn können die Geister kreuzweise. Aber er muss einräumen, dass es tausendmal wahrscheinlicher ist, dass der Eitel umkommt, als dass er heimkommt. Und dagegen weiß auch er kein Kraut. So ist das Lächeln schnell weggesteckt; außer mir hat es vermutlich keiner gesehen.
Aber weshalb vermutlich? Was hier gespielt wird, spielt alles noch im Finstern. Ich sollte es nicht mit Mutmaßungen verdunkeln. Ich stehe doch lieber auf und nehme an, es ist kein Sonntag. Wenn ich selber am Tisch sitze und meine Suppe löffle, kann ich alles viel deutlicher sehn. Es ist wohl auch nicht so schlimm. Es ist eher so, wie es oft war, wenn die alte Patzeln kam und sich doch lieber aufs Sofa setzte. Im Radio spielen sie eine Polka mit Gesang. Die alte Patzeln wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel und beginnt mitzusummen. Wir hören fast immer Prag, Praha jedna, wie sich der Ansager meldet. Manchmal abends den Zeitspiegel vom Deutschlandsender. Dann hat der Großvater Nachtschicht, und wir liegen nebeneinander auf dem Sofa und passen auf, dass niemand schläft. Die alte Patzeln kommt immer, sobald Musik angesagt ist. Ihr Mann war früher Straßenmeister im Böhmischen, im Biemschen, gewesen. Der Großvater behauptet, das sei eine Gegend, in der sich jeder Feger Meister nennen dürfe. Doch die alte Patzeln hat dort als junge Frau manche Polka getanzt. Nicht nur mit dem eigenen Mann, wie die Großmutter durchblicken lässt. Da muss ich aufpassen, dass ich das richtige Gesicht mache. Sonst gibt sie mir eins übern Mund. Vielleicht glaubt sie, ich könnte die alte Patzeln fragen, mit welchem Mann sie gerade tanze, wenn sie auf unserem Sofa sitzt und sich zu den Klängen der Polka wiegt. Ein schönes Stücke, sagt die Großmutter, aber alles biemsch. Wenn man wüsste, wovon sie singen. Die alte Patzeln schließt die Augen. Vom Abschiednahmen, schnieft sie. Sie singen immer vom Abschiednehmen, sooft man auch fragt. Weiter hat sie nischt gelernt, sagt der Großvater. Und er lächelt ein Lächeln, von dem er selber nicht mehr weiß, dass er noch darüber verfügt.
Aber mit mir ist es nun Zeit in die Schule. Ich nehme den Weg bachaufwärts übers Eis. Wo es der Wind blank gefegt hat, schlittere ich auf den kostbaren Sohlen. Abwärts rutscht es besser. Ich trödle so lange, bis ich zu spät komme. Fräulein Krain verzieht die dicken Lippen, als ich meine Entschuldigung stammle. Das will nun ein Pimpf des Führers sein. Der Führer steht in schwerem Abwehrkampf gegen den plutokratisch-bolschewistischen Feind. Er kann Trödelei nicht dulden. Fräulein Krain befiehlt mir, mich zu setzen. Sie kommt dicht an die Bank und drückt ihr Knie auf meinen Oberschenkel. Dann zieht sie mich am Ohr hoch. Ich bin noch einmal gut weggekommen. Krautschicks Siggi hat sie über den ganzen Schulhof geohrfeigt, nachdem sie ihn in der Turnstunde aus dem Jungenabort geholt hatte. Und Piepe musste fünfundzwanzig Liegestütze machen, weil er wieder mal dumm vor der Tafel stand und nicht wusste, wie die Hauptkampflinie verlief. Als er nicht mehr japsen konnte, zog sie ihn am Ohr hoch.
Auf dem Heimweg fragt mich Piepe, ob ich’s gespürt habe. Es feuert ganz schön, gebe ich zu. Ich spür’s oben nicht mehr, sagt Piepe, ich konzentriere mich aufs Knie. Wieso, frage ich. Wenn du’s nicht spürst, kann ich dir’s nicht erklären, antwortet Piepe. Man hat ihn wegen des Bombenterrors aus Berlin zu uns aufs Dorf evakuiert. Wir können uns manches nicht erklären.
Schon von Weitem hören wir Großvater im Schuppen rumoren. Trotz der Schneedecke dröhnt die Erde unter den Schlägen des Vorschlaghammers. Der Großvater hat schon den zweiten Eisenkeil in den Stubben gedroschen. Der wehrt sich mit allen Fasern. Den dritten Keil hebt sich der Großvater auf. Er wird es erst mal mit dem aus Eichenholz versuchen. Saugt der sich fest, hat der Stubben verloren. Aber er springt aus dem Spalt an Großvaters Schienbein. Er reibt sich die schmerzende Stelle und flucht in sich hinein. Das Lächeln spart er sich für den Moment, in dem der Stubben trotz allem kapitulieren muss. Piepe sieht in den Schuppenmulm und wundert sich. Bis unter die Decke alles voller Scheitholz. Das langt doch Jahre, Mann! Er spürt’s nicht, weshalb der Großvater sich immer weiter schindet. Ich kann’s ihm nicht erklären, obwohl ich sicher bin, es würde Fräulein Krain nicht gefallen.
Für Großvaters Arbeitslust wird es zu zeitig dunkel. Brummig tappt er sich bis zur Küche vor und steht der Großmutter, die Ziegenfutter kocht, andauernd im Wege. Endlich bequemt er sich aufs Sofa. Ich leg' mich gleich dazu. Und soll aufpassen, dass keiner schläft. Während ich den Zeitspiegel höre, fängt der Großvater an, das Holz zu sägen, das er bei Licht nicht geschafft hat. Ich rüttle ihn an der Schulter. Opa, wo liegt Narvik? Er erwacht röchelnd: Lass es liegen. Und schläft schon wieder.
Nach dem Abendbrot legt er sich noch mal richtig hin. Drüben in der Stube ins Bett an der bereiften Wand. Die Großmutter ermahnt mich. Ich soll gefälligst stille sein. Ich lasse meinen Stuka mit gedrosseltem Motor landen und überlege, ob der Tag noch etwas bringen könnte. Um neun wird der Großvater aufstehen, seine Joppe anziehen, die blaue Kaffeekanne packen und zur Schicht gehen. Die Großmutter sieht mich gähnen und jagt mich ins Bett. Weil ich mich graule, bevor die Mäuse anfangen, die alten Pappkartons zu benagen, stellt sie eine kleine Kerze in die Fensterhöhle meiner Kammer.
Ich liege auf dem Rücken und sehe zu, wie die Schatten tanzen. Draußen drückt die Nacht aufs Dach. Ich höre die Dachbalken der Kate knacken und stöhnen. Brich ok, brich ok! kommt’s von der anderen Bachseite direkt auf das Fensterloch zu. Dann aber schwenken die Schritte ab zum Giebel und aufs Hofpflaster, und die Großmutter ruft Herein, noch ehe die alte Patzeln pochen kann. Heut' wird nicht geschwatzt, heute gibt’s viel zu tun.
Haste was gegessen, fragt die Großmutter in dem Ton, mit dem sie sich erkundigt, ob ich mir den Hals gewaschen habe. Nischtenischt, antwortet die alte Patzeln. Ich sehe trotz der Wand, wie sich die Beteuerung auf ihrem Runzelgesicht spiegelt.
Dann müssen wir warten, sagt die Großmutter.
Es ist still, der Frost packt leise zu, und nur einmal dröhnt das Mühlteicheis unter einem fauchenden Sprung. Mein Ohr feuert; ich denke an Piepes Worte. Fräulein Krain tritt ganz nahe ans Bett, ich lege mich gehorsam auf den Bauch. Du musst es spüren, sagt Piepe. Ich spüre etwas, weiß nur nicht was. Ich will mich umdrehen und sagen, dass die Schranke wieder mal zu war und dass ich mich nicht getraut hätte, zwischen den Achsen des Güterzuges hindurchzukriechen, aber die Großmutter will es nicht hören. Sie rüttelt mich an der Schulter und zischt: Zieh dir die Hose hoch und komm in die Küche. Sie nimmt die Kerze und stellt sie auf den größeren Tisch, der bei uns die gute Stube ersetzt. Mich empfängt eine fremde, hurtige Stimme.
Das Jungchen, das Enkelchen, der Zuckerprinz! Er schläft wohl gar noch? Lassen Sie ihn, gute Frau, lassen Sie nur. Es ist doch so spät. Nicht wahr, mein Goldsohn? Da schlafen die kleinen Jungens nun mal. Schlaf nur, schlaf nur, das macht alles leichter.
Im flackernden Licht erkenne ich die nicht minder hurtigen Augen von Frau Ziehgärtel. Sie bittet die Großmutter immer mal um ein Viertel guter Ziegenmilch für ihren armen lungenkranken Mann. Sie kommt extra deswegen aus dem Schuldorf zu uns in die Katengasse. Der Großvater macht gleich auf dem Absatz kehrt, wenn er den gelben Bubikopf vor dem Zaun sieht. Er kann das Geseire nicht hören. Von wegen Lunge. Es ist die Leber. Er kennt den Ziehgärtel von der Hütte her. Der war dort Werkmeister und ging nicht anders als mit blutunterlaufenen Augen unter die Leute. Wäre der Krieg nicht gekommen, wäre der Schnaps nicht knapp geworden, hätte sich der Kerl längst totgesoffen. Doch die Großmutter kann nicht widerstehn. Frau Ziehgärtel hat es in den Jahren, in denen ihr Mann sie schlug, gelernt, mit den überirdischen Mächten in Verbindung zu treten. Das weiß alle Welt. Darüber spricht keiner. Nur wenn Not am Mann ist, wird ein Wort über den Zaun gewechselt. Sie kennten wohl nicht mal? Frau Ziehgärtel denkt an die künftige Milchschwemme und zeigt sich nicht abgeneigt. Aber dass es unter uns bleibt, gute Frau. Nicht mal ihr lieber Mann darf was riechen!
Der Großvater ist längst an seinem Generator. Bei ihm riecht es nach Gas. In unserer Küche aber wallt ungewohnter Duft. Die Großmutter hat ihr letztes bisschen Bohnenkaffee gebrüht. Man muss Opfer bringen. Frau Ziehgärtels Blick gleitet rasch von mir weg zu der alten Patzeln und zur Großmutter. Erst auf der dampfenden Kanne bleibt er kleben. Sie lasst sich nachschenken.
Ich denk’, man darf nicht essen und nicht trinken, sagt die alte Patzeln in das genussvolle Schlürfen von Frau Ziehgärtel hinein. Deren Augen beginnen wieder zu wandern. Oh, pustet sie über den Tassenrand, oh! Das ist heiß. Aber mir macht’s nichts aus, ich steh’ mit dem Geist auf vertrautem Fuß. Er sucht mich, auch wenn ich’s mit den Vorschriften nicht so genau nehme.
Is wohl ein Verwandter, fragt die alte Patzeln.
Frau Ziehgärtel macht eine Bewegung mit der freien Hand, als gälte es, eine Fliege zu scheuchen.
Stille nun. Man darf nicht alles und jedes preisgeben. Wir wollen uns sammeln und einen Kreis bilden.
Gehorsam streckt mir die alte Patzeln ihre kalte, knochige Hand hin. Die Großmutter kommt an den Tisch. Sie streicht die Schürze glatt, ehe sie meine Finger warm umfasst. Frau Ziehgärtel beginnt zu murmeln. Sie kontrolliert aus halb geöffneten Augen, ob wir gehörig bei der Sache sind. Den beiden Frauen zieht’s die Lider herunter. Ich muss blinzeln und sehe doch, wie Frau Ziehgärtels Kopf langsam hintenüber sinkt. Das Kinn kommt hoch, die Augen zeigen mit einem Male das Weiße. Aus dem Gemurmel wird ein Singsang, aus dem Singsang steigen Rufe, Seufzer, schrille Schreie gar, die ich der feinen Frau Ziehgärtel nie zugetraut hätte. Die Großmutter fasst mich fester. Die Hand der alten Patzeln beginnt wie im Krampf zu zucken. Aus dem Mund der Frau Ziehgärtel röhrt und winselt es, als wäre Piepe hier und das Fräulein Krain hätte ihn am Ohr. Wenn ich mich nicht so graulen würde, wäre mir nach einem Lächeln zumute. Die Großmutter hält mich nun mit kalter Eisenhand, dabei schüttelt es sie, dass der Stuhl ächzt.
Frau Ziehgärtel verschluckt sich, sie muss husten. Sie senkt schnell das Kinn und zeigt ihre normalen hurtigen Augen. Ich stoße meinen Atem aus und will vom Tisch. Doch die Großmutter hält mich fest.
Es ist weiter nichts, sagt Frau Ziehgärtel, es war ein Foppgeist im Äther. Ich werde am besten noch einen Schluck trinken.
Ein Wasgeist? fragt die alte Patzeln sichtlich enttäuscht. Gute Frau, antwortet Frau Ziehgärtel, wer viel weiß, lebt gefährlich. Das ist eigentlich alles geheim. Ich kann nur hoffen, dass es unter uns bleibt. Also ich erklär’ Ihnen das mal so, wie Sie es verstehn. Aber glauben Sie ja nicht, das sei alles. Und behalten Sie’s für sich. Was bei Ihnen ans Fenster geklopft hat, war nicht Ihr Sohn persönlich, sondern sein Schutzgeist. Ihn anzuziehen übersteigt meine medialen Kräfte. So will ich den Schutzgeist dieses unschuldigen Knaben hier benutzen, damit er sich auf den Weg macht und sich nach dem Geist Ihres werten Herrn Sohnes umtut. Vielleicht kann er ihn fragen, woran es fehlt ... Die alte Patzeln fängt meine Hand, doch ihre Augen bleiben am Mund der Frau Ziehgärtel hängen.
Wenn Sie das tun kennten, gute Frau!
Es ist schwer, antwortet Frau Ziehgärtel, ich tu’ mein Bestes ... Nun erwacht auch die Großmutter. Sie sieht, wie ihr Kaffee im Hals der Frau Ziehgärtel verschwindet, und redet gepresst. Vielleicht hätten Sie doch nichts trinken dürfen. Daran liegt's nicht, sagt Frau Ziehgärtel. Da seien Sie mal ganz ruhig. Ich könnte gut und gern noch ein, zwei Tässchen vertragen. Schon wegen der Konzentration. Überall liegen die Foppgeister auf der Lauer. Das ist in der drübigen Welt wie in der Unsrigen. Es gibt keinen Respekt mehr unter dem jungen Volk, keine Unschuld. Es drängt sich überall vor, auch wenn es gar nicht gerufen wird.
So isses, sagt die Großmutter.
Aber Sie kriegen ihn doch, barmt die alte Patzeln.
Wen meinen Sie?
Den Geist meines Eitel, meines Jungen.
Das kann niemand vorher sagen. Die Geister sind uns Lebenden an und für sich freundlich gesinnt. Sie dürfen nicht an Gespenster glauben. Aber sie lassen sich nicht zwingen. Wir können nur hoffen. Und den Kreis schließen.
Augenblicklich beginnt die Hand der alten Patzeln zu zucken. Auch die Großmutter fällt schnell in den Zustand, in dem sie abends am Tische tunkt. Wieder zeigt sich das Weiße in den Augen von Frau Ziehgärtel, und aus dem kaum geöffneten Mund quellen Laute, die sich bedrängen und überschlagen: Grelle Lacher, Quiektöne, männliches Gebrabbel, Ächzer, das Gestöhn eines Geschundenen, der Triller eines Jubelnden. Ich nehme mir vor, Piepe bei bester Gelegenheit eins ins Kreuz zu hauen, wenn er hier wieder als Foppgeist spuken sollte. Aber nun fühle ich einen sonderbaren Druck in der Kehle. Ich will ihm widerstehn und schlucke. Er wird stärker und heftiger, er drängt mich zu einem Räusper, zu einem Huster gar. Die gellende Stimme aus Frau Ziehgärtels Mund gibt sich damit nicht zufrieden. Sprich, schreit sie, sprich und erweise dich. Wer bist du, Geist? Gib ein Zeichen, damit wir dich erkennen!
Die Hand der alten Patzeln zerrt wie wild an meiner Linken, Großmutters Griff hält mich mit krampfhafter Festigkeit nieder. Mich überströmt es heiß und kalt, ich muss die Augen zupressen vor all dem Licht, das plötzlich gleißend strahlt. Ich werfe mich mit aller Gewalt zurück, die Kerze kippt, es ist dunkel nun. Im heißen Stearindunst rasselt Frau Ziehgärtels Atem. Sprich, stößt es von oben auf mich herab, zeige dich! Ich fühle den Druck in der Kehle wieder wachsen. Ehe ich noch einmal abräuspem kann, kippt Frau Ziehgärtels Stimme um, sie kommt nun unter dem Tisch hervor und verliert sich nach drei Grunzern in stoßweisem Kichern. Manchmal kalben wir im Heu herum. Piepe hält mich am Hosenbund fest und versucht, mir ein Bein zu stellen. Wir fallen beide um und rollen umeinander, bis wir schlapp sind und nicht mehr können. Wir halten uns fest und stoßen das alberne, stoßweise Kichern aus. Wie kommt es in Frau Ziehgärtels Hals? Oder entsprang es meiner Kehle?
Macht Licht, sagt Frau Ziehgärtel mit ihrer öligen Alltagsstimme. Zögernd lässt die Großmutter meine Hand los und klopft den Tisch nach den Streichhölzern ab. Die alte Patzeln hält mich weiter gepackt. Ihre Hand hört erst auf zu zittern, als die Kerzenflamme unbeweglich steht.
Tut mir leid, ihr guten Leute, sagt Frau Ziehgärtel, ich weiß wirklich nicht, was mich hindert, den Verkehr mit den Geistern aufzunehmen. Sollte der Knabe da ...? Aber ich will annehmen, es liegt an meiner Konzentrationsschwäche. Wenn ich vielleicht noch ein, zwei Tässchen von diesem guten Kaffee bekommen könnte?! Den Jungen schicken wir lieber ins Bett, es wird nun doch zu spät für ihn.
Die Großmutter steht auf. Ihr Blick ruht sekundenlang auf mir. So hat sie mich noch nie angesehen. Die alte Patzeln ringt die Hände. Mei Eitel, mei Eitel, nu musste sterben. Alle müssen mir sterben.
Da wird Frau Ziehgärtel energisch. Was reden Sie da? Das ist abergläubische Gräuelpropaganda. Der Führer wird wohl wissen, was er tut. Er allein kann uns erretten.
Ich ziehe mir das Deckbett über die Ohren und wünsche nichts sehnlicher, als dass die Mäuse ihr nächtliches Spiel beginnen. Doch sie bleiben still. Ich höre alles. Das Gemurmel, die Seufzer, die schrillen Rufe. Mein Schutzgeist sitzt in der Fensterhöhle und kichert. Er ist nicht zu gebrauchen. Er hat mich verlassen. Er wird nie wiederkommen. Auch nicht, wenn ich ihn bitter nötig habe.
Wenn das Eis gebrochen ist und die alte Frau Patzeln schreiend am anderen Ufer steht, lautlos schreiend wie die Mutter von Krautschicks Siggi, die Witfrau Ruschken und die Frau Janke. Wenn Fräulein Krain sich an der Tafel erhängt, auf deren Rückseite die unveränderte Hauptkampflinie aufgemalt ist. Wenn Siggi mir plötzlich beim Geländespiel zwischen die Beine fasst, puterrot wird und fragt, ob ich’s jetzt spüre.
Das Lächeln des Großvaters hätte mir wohl helfen können. Aber er war lange Zeit zu keinem aufgelegt.
Und eins und zwei und drei. Stein schleift Schere. Ich habe wieder gewonnen. Hanno verliert die Lust am Knobeln. Er macht sich auf dem Hochsitz lang und blickt ins Dorf. Das Dach, unter dem er zu Hause ist, ragt steil über die anderen. Unseres bückt sich hinter den Zaun. Wir haben sieben, sagt Hanno. Bei uns sind elf, sage ich. Elf sind mehr als sieben, es geht weiter nach Wunsch. Wo hausen die bloß alle, fragt Hanno. Auch darauf weiß ich Antwort. Die Großmutter hat sie der Nachbarin gegeben, früh, als sie mir das Hemd in den Hosenbund stopfte. Danach wohnt die Frau in der Hofkammer, der Ukrainer auf dem Heuboden und die anderen in der Küche. Alle neune? fragt Hanno (fragte die Nachbarin). Du kannst singen und predigen, antwortete die Großmutter (antworte ich), die hängen zusammen wie die Kletten. Keine richtigen Deutschen, sagte die Nachbarin. Volksdeutsche, sagte die Großmutter und sage ich. Im letzten Moment fällt mir noch eine Auskunft ein, die ich bis dahin selber noch nicht kannte: Aus der Walachei. Woher hab’ ich sie? Vielleicht vom Großvater, dem die Sprüche locker sitzen. Tage wie Kleie verschwinden abends im Sack. Viel Nebel im Februar, viel Regen im ganzen Jahr. Schlesier und Walachen, kannst du nur lachen! Es muss aber gut gegangen sein, denn als der Rumäne Verrat übte und zum Feind überlief, kamen sie in die Gegend von Jauer. Vorigen Herbst schon. Und nun, wo der Russe über die Oder ist, zusammen mit ihrer schlesischen Wirtin auf einem Treckwagen in unser Dorf. Wir sind auch noch Schlesier. Aber keine richtigen mehr. Die alte Jeschken pischpert mit der alten Jainzen wendisch. Aber das darf nicht sein. Großvater ist in Sachsen geboren. Wenn er will, kann er fein sprechen. Regenwärmerkriechen. Da gibt es was zu lachen. Aber er will nicht in letzter Zeit. Er ist trübetimplig. Beinahe so wie Hanno.
Wolln wir uns anschleichen, frage ich. Meinetwegen, sagt Hanno. Wir steigen vom Baum und brechen mit unseren Stiefeln Löcher in den Harschschnee auf der Wiese. Das stumpfe Eis des Mühlgrabens bremst unser Tempo. Krachend laufen Sprünge vor uns her. Doch unser Kampfeswille ist ungebrochen. Die feindlichen Kräfte können uns nichts anhaben. Hinter dem alten Waschhaus drücke ich Hanno auf die Knie. Stille doch, da wackelt was. Die Katze, sagt Hanno. Nie und nimmer, sage ich. Gib Feuerschutz. Ich nehme die Hauswand im Sprung und gleite vor bis zum Fensterrand. Der Tag verschwindet im Sack. Drinnen muss man Licht anschalten. Die Gardinen vor dem Teichkammerfenster kann man nicht zuziehen. Die Scheibe ist angelaufen. Ich sehe verwischtes Gelb in verwischtem Rosa. Frauenfleisch im Unterrock. Ich werfe mich auf den Boden und schaufle mit dem freien Arm nach Hanno. Hierher, Mann! Hannos Sprung ist trotzdem schlapp. Ehe er das Auge vor den Spalt bekommt, geht drinnen das Licht aus. Ich könnte schwören, die Frau ist noch in der Kammer. Vielleicht ganz nackt. Aber aus dem Dunklen kann sie ins Dunkle sehen. Ich ziehe Hanno weg, lege ihm meinen Arm um die Schulter und gehe mit ihm durch den Garten. Uns kann keiner was. Zwei Freunde im leisen Gespräch. Hast du sie gesehen, frage ich. Wen, fragt Hanno. Gata, sage ich, das war bestimmt Gata. Welche Gata? fragt Hanno.
Das kann er nicht wissen, und ich kann es ihm auch nicht sagen. Als ich mittags aus der Schule kam, fing mich die Großmutter vor der Haustür ab. Dalli, wir wohnen jetzt in der Schlafstube. Aber du bist eingeladen. Sie steckte mir das Hemd in die Hose und zog meinen Scheitel mit der feuchten Zeigefingerspitze nach. Dann öffnete sie die Küchentür und schob mich durch den Spalt. Da habt ihr ihn, den Enkel. Ho, sagte jemand von der Diele her. Holla. Der Mann sprang von der Schilfmatte, die dort lag, wo sonst unser Tisch steht. Den Schwung holte er, indem er sich mit der rechten Hand auf einen Kissenberg stützte. Er war klein und breit, er erinnerte mich an unseren Birnbaum, dessen Stamm sich gleich über den Wurzeln spiralig nach oben windet, als sei ihm frühzeitig Gewalt angetan worden. Der junge Herr, sagte der Mann, der Hausherr. Frau, trag auf, wir wollen essen. Er sprach wie wir, anders, als es die Lehrer wollten. Aber in eine noch nie gehörte Richtung. Die Suppe, sagte er, wo ist die Suppe, Frau. An seinem unbewegten Gesicht sah ich, was hier für ein Spiel getrieben wurde. Aber solange ich der Hausherr blieb und es etwas zu essen gab, wollte ich gern mitmachen. Es erhob sich ein Junge, niedrig und breit wie der Mann, aber mit Augenbrauen und Haaren in der Farbe von Haferstroh. Und ich gehe zur SS, sagte er. Er stellt die Ofenbank mit einem Ruck mitten in die Küche, blies mich an, als sei ich eine Schabe, und setzte sich, den Rücken an der Wand, auf den blanken Boden. Die Frau brachte den Topf vom Herd. Den nehmen wir sonst zum Ziegenfutter. Jemand hatte ihn bis aufs blanke Eisen gescheuert. Kati, die Teller, sagte die Frau. Sie hielt die linke Hand in die Luft, während sie mit der rechten das graue Zopfnest auf ihrem Hinterkopf zurechtrückte. Das Mädchen saß neben dem Jungen. Erst jetzt sah ich, dass alle so saßen: Einfach auf der Schilfmatte, den Rücken an der Wand. Anders hätten sie in unserer Küche nicht Platz gehabt. Diese Kati stieß sich ab und begann verschiedenes gleichzeitig zu machen. Sie reichte der Frau den Teller, zupfte sich mit der anderen Hand eine Granne vom Rock, sah über die Schulter an mir vorbei und kicherte.
Der Mann strich sich den traurig gelben Schnauzer von der Lippe, wies aber den Teller zurück. Nicht doch, Frau, dem Hausherrn zuerst. Die Frau reichte den gefüllten Teller mir. Kati, den Löffel! Wieder tat das Mädchen alles gleichzeitig. Sie bückte sich, nahm den Löffel aus dem Tuch, gab ihn mir und kicherte. Ich hätte wetten können, dass das Hemd hinten schon wieder aus dem Hosenbund gekrochen war. Aber ich hatte keine Hand frei. Mein Daumen lag in der Suppe. Er brannte wie Feuer. Endlich nahm auch der Mann einen Teller. Er setzte sich mit dem Rücken an die Wand und legte die krummen Beine übereinander. Nach ihm wurde die alte Frau bedient. Sie lag auf dem Sofa, und ihr Gesicht war zwischen den Decken so klein, dass ich es zuerst gar nicht entdeckt hatte. Sie musste gefüttert werden. Langsam, Maichen, sagte sie, langsam. Das sagte sie zu einer weiteren Frau, die der Essenausteilerin glich. Sie hatte nur dort, wo bei der anderen ein Gespinst von Augenfalten saß, glatte gelbliche Haut. Und sie trug ein schwarzwollenes, über der Stirn quer gefaltetes Kopftuch. Sie blies auf den Löffel, ehe sie ihn der Alten bot. Erst jetzt begann der Mann zu schlürfen. Den nächsten Teller bekam der Junge. Er tat es dem Manne nach, aber es war mehr Wut dabei. Die Mädchen warfen ihre braunen Zöpfe auf den Rücken, ehe sie die Teller entgegennahmen. Sie zogen die Beine unter die Röcke und aßen leise. Mit Kati, die immer noch kicherte, waren es drei. Die Frau mit dem Kopftuch ließ sich ihren Teller auf den Boden stellen. Die Austeilerin nahm sich selbst eine Kelle, aber sie schien keinen Appetit zu haben. Sie schwappte die Hälfte wieder in den Topf zurück. Dann rief sie mit blecherner Weiberstimme: Gata. Die Teichkammertür öffnete sich. Herein kam eine Frau in zigeunerbunter Kleidung. Sie schwenkte den Rock, dass mich ein Hauch fremder Gerüche streifte. Ihr blauschwarzes Haar war zu einem Bubikopf geschnitten. Sie füllte sich den Teller und aß stehend, die Schulter an den Ofen gelehnt, die Hüfte vorgeschoben. Sie sah mich über den Tellerrand hinweg an. Ich fühlte, wie meine Ohren heiß wurden. Das passiert mir sonst nur, wenn mich Fräulein Reichel abkanzelt. Kati kicherte. Ich hätte sie am Zopf reißen können. Die Mutter wies sie mit Gluckenstimme zurecht. Der Mann redete mir mit Schmeichelstimme zu. Essen Sie, essen Sie! Bauchfleisch mit Krumpen wäre besser. Aber Gott gibt’s, Gott nimmt’s. Die ungewohnte Anrede klemmte meinen Kehlkopf zu. Die Suppe war im Schlund, sie wollte und wollte nicht hinunter. Mir stieg die Hitze in die Haarwurzeln. Ich sah mich plötzlich stehn, die Stiefeln drei Nummern zu groß, die blaue Überfallhose im Bund zu weit, der Pullover zu kurz, die Hände zerkratzt, die Ohren abstehend, mit drei Wirbeln, die jeden Scheitel verdarben. Und dann die Nase. Sie war beinahe so groß wie die von Großvater. Aber bei ihm passte sie. Das Mädchen sah genau auf meine Nase. Ihr entfuhr ein Gluckser. Sie verschluckte sich. Fing aber den Teller ab, ehe die Suppe überschwappen konnte. Der Mann blies über den Löffel und sah scharf zu ihr hin. Sie wandte sich zur Wand. Doch ihr Körper wurde derart von innen herausgeschüttelt, dass sie den Teller nicht länger halten konnte. Sie ließ sich auf die Knie herunter und stellte ihn ab. Der Junge bedeckte ihren Rücken mit seinem gewaltigen Oberkörper. Er legte ihr den Arm um die Schulter und stieß leise Töne aus. Nunu. Kati konnte mich nicht mehr sehen. Doch das Lachen stieß sie weiter. Der Junge wurde von den heftigen Stößen aus ihrem Bauch hochgeworfen. Er nahm sie in den Schwitzkasten. Drückte fester und fester. Aber doch so, als habe er einen Ballon im Arm. Über die Schulter hinweg blickte er ratlos zu dem Mann. Der drückte Spucke durch die Lücke in den Schneidezähnen. Hanno feuert auf diese Weise die Pferde zum Trab an. Hier half es nichts. Es war jetzt ganz still. Niemand aß. Auch die Alte kniff ihren faltigen Mund zu, obwohl der Löffel vor ihm zitterte. Die Frau im Kopftuch legte ihn schließlich lautlos in den Teller zurück. Sie starrte die Wand an, als könne die etwas dafür. Jedes Mal, wenn der Gluckser kam, hielt der Junge die Luft an. Die Austeilerin erhob sich schließlich auf die Knie und rutschte zu dem Jungen hin. Sie berührte seine Schulter. Gätz! Unter dem Arm wurde das verzerrte Gesicht des Mädchens sichtbar. Bezähm dich, sagte die Frau. Es half nichts. Kaum hatte sie sich gesetzt und den Löffel eingetaucht, platzte ihr das Lachen aus dem Gesicht. Nun erhob sich der Mann. Wieder mit Schwung und Stütze auf den Kissenberg. Er trat über seinen Teller hinweg, schob den Jungen beiseite, packte Kati am Oberarm, zog sie hoch und wandte sich mit ihr zur Teichkammertür. Mitten in der Bewegung überlegte er es sich. Er stieß das Mädchen an mir vorbei zur Küchentür. Man hörte die Schritte auf dem Hofpflaster. Aus dem Glucksen war ein harter Schlucken geworden. Die Angel von der Siedekammertür knirschte. Großvater wollte die Scharniere seit Langem schmieren. Man muss sich ja schämen. Ich hätte trotzdem essen können. Aber es machte niemand Anstalten dazu. Alle schienen auf etwas zu warten. Selbst Gata, die nur noch zwei Löffel in ihrem Teller hatte. Sie sah über mich hinweg in die Ferne, als gäbe es keine Wand hinter mir. Als die beiden wiederkamen, machte es mir nichts aus, dem Mädchen ins Gesicht zu sehen. Sie hielt die Augenlider gesenkt. Eine Haarsträhne hatte sich gelöst und hing feucht in die weiße Stirn. Sie tat nun alles hintereinander, ging auf die Knie, zog den Teller zu sich, beugte sich über ihn und begann zu essen. Löffel für Löffel. Als sei sie einverstanden. Die Suppe war wirklich gut. Etwas Scharfes blieb lange auf der Zunge. Ein Geschmack, den ich Hanno nicht beschreiben kann.