Hochwasser im Dorf - Joachim Nowotny - E-Book

Hochwasser im Dorf E-Book

Joachim Nowotny

4,4

Beschreibung

Heino, der lange Bartel, Brocken-Theo und der kleine Belo langweilen sich in den Winterferien, weil nichts passiert. den alten Hubein lachen sie aus, weil er vor einem Hochwasser warnt. Der träge dahinfließende Bach überschwemmt zwar die Wiesen, aber die Häuser im Dorf sind nicht betroffen. Doch diesen Winter ist alles anders. Voller Eifer unterstützen die Jungen die Erwachsenen bei der Bekämpfung des Hochwassers. Als das Eis sich staunt und das Sprengkommando keine Zeit hat, hat der lange Bartel eine großartige Idee. Die Erwachsenen finden diese aber gar nicht so gut und verordnen den Jungen Stubenarrest, gerade jetzt, wo das Hochwasser schon das Dorf umschließt. Wird man ihnen die Sache mit dem Karbid nicht endlich verzeihen und ist ihre tatkräftige Hilfe deshalb ganz vergessen? LESEPROBE: Da stehen wir schon auf dem Eisblock und stemmen uns aus Leibeskräften gegen die äußeren Schollen. Aber es ist alles umsonst. Das Eis lässt sich keinen Millimeter bewegen. Wütend knallt Brocken-Theo den Feuerhaken nach unten. „Zwecklos“, sagt er. Der kleine Belo zeigt in Richtung Wehr. Von dort schwimmen neue Eisschollen eilig heran. Gleich werden sie auf unseren Berg stoßen. Ehe es so weit ist, fällt plötzlich ein Schatten aufs Wasser. Ist da jemand? Wir blicken hoch. Der lange Bartel steht auf dem Damm und grinst. Er hat die Schildmütze von seinem Vater auf und die Hände in den Taschen. Ich überlege gerade, dass es bequem ist, wenn zwei im Hause die gleiche Kopfgröße haben. Man kann nie in Verlegenheit kommen. Da sagt der lange Bartel: „So wird das nichts.“ Das sagt er genauso, als wäre zwischen ihm und uns nie etwas gewesen. Er kann lange reden. Wir hören gar nicht hin. Weil er doch erledigt ist für uns. „Ich wüsste schon was“, sagt der lange Bartel. Was wird er schon wissen? Hier ist nichts zu machen. Die Eisschollen werden so lange liegen bleiben, bis sie weggetaut sind. Und bis dahin ist das Unterdorf jämmerlich ersoffen. Da kann kein Mensch helfen, und wenn er noch so schlau ist. „Allein kann ich das natürlich nicht machen“, sagt der lange Bartel. Also weiß er doch etwas. Will er das Eis vielleicht weghexen? Langsam werde ich neugierig. Und ich beschließe, es so zu machen, wie gestern der Pistrosch mit dem alten Bartel. Vorübergehend werde ich Frieden schließen, bis dem Dorf aus der Not geholfen ist. Danach ist auch noch Zeit, um auf die alte Geschichte zurückzukommen. Ich springe mit einem mächtigen Satz vom Eisberg auf den Damm.

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Impressum

Joachim Nowotny

Hochwasser im Dorf

ISBN 978-3-86394-148-2 (E-Book)

Das Buch erschien erstmals 1963 in Der Kinderbuchverlag Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

Der lange Bartel ärgert sich über die Ferien und die Stare. Heino träumt von einem gelbbäuchigen Tier. Alle wünschen sich ein großes Unglück

Der lange Bartel lässt seine Schultasche einfach fallen.

„Los“, hetzt er, „machen wir Ringkampf! Wer will die Jacke voll haben?“

Wir sehen uns an. Der kleine Belo tritt von einem Bein auf das andere. Dann verdrückt er sich hinter meinem Rücken. Brockentheo aber winkelt die Arme an. Ein Weilchen umkreist er den Hetzer wie ein aufgeplusterter Truthahn. Auf einmal macht er einen Satz nach vorn. Er packt den langen Bartel um den Leib, hebt ihn hoch und lässt ihn dann fallen. Beide wälzen sich auf dem Boden.

„Lass los“, stöhnt der lange Bartel, „ich hab keine Lust.“ Komisch, auf einmal hat er keine Lust mehr.

„Feigling!“, ruft der kleine Belo hinter meinem Rücken.

Nicht einmal das kann den langen Bartel heut erschüttern. Er bleibt ruhig auf dem grauen Februargras sitzen.

„Ihr könnt mir’s glauben, Leute“, sagt er, „ich hab einfach zu nichts mehr Lust. Die Sache mit dem Ringkampf war bloß so ein plötzlicher Einfall. Aber sonst? Früher, da hab ich mich gefreut, wenn Ferien waren. Und heute? Was soll man mit den vierzehn Tagen anfangen, frag ich euch. Im Sommer, ja, da stellen sie sich auf den Kopf, bloß um uns zu beschäftigen. Ferienlager, Fahrten und Geländespiele, alles wird organisiert. Aber wer kümmert sich jetzt um uns? Niemand.“

Wir hocken uns neben ihn. Recht hat er. Diese Ferien im Februar sind großer Quatsch. Schnee liegt nicht mehr. Und das Eis auf dem Mühlteich ist weich wie nasse Pappe. Man kann sich nicht mehr drauf wagen. Im Walde herumzustromern macht auch keinen Spaß. Alles ist dort nass und klebrig. Was soll man also tun?

„Man müsste ...“, sagt Brocken-Theo, „man müsste ...“ Er weiß auch nicht, was man müsste. Theo schnippst mit den Fingern. So macht er es immer, wenn er beim Gedichtaufsagen nicht weiter kann.

„Mensch, die Stare“, sagt der kleine Belo plötzlich. Er zeigt mit seinem roten Zeigefinger auf eine Weide, die am Graben steht.

Tatsächlich, dort sitzen die ersten Stare. Sie haben ihr Federkleid dick aufgeblasen. Aus ihren gelben Schnäbeln quetschen sie quengelnde Töne heraus. Dann hocken sie wieder stumm und trübsinnig beieinander und horchen in die Welt. Aber da ist noch niemand aus der Vogelschar, der ihnen was vorpfeifen könnte. Also können sie auch nichts nachpfeifen. Von selbst fällt den Staren keine Melodie ein. Das wissen wir längst.

Der lange Bartel starrt ein Weilchen zu der Weide hinüber. Dann sagt er: „Langweilig, die Biester. Sitzen zusammen wie die alten Weiber beim Federnschleißen.“ Damit sind die Stare für uns erledigt. Was der lange Bartel sagt, das gilt.

Ich sehe mich um. Hinter meinem Rücken liegt das große Dorf. Es heißt Reicha. Dort gibt es den Bahnhof, die Post, das Gemeindeamt und die Schule. Vor mir kann ich in der Ferne ein paar Häuser erkennen. Sie gehören zu unserem kleinen Dorf. Wir sitzen mitten auf der großen grauen Wiese, die zwischen den beiden Ortschaften liegt.

Immer wenn wir aus der Schule kommen, machen wir an dieser Stelle halt. Hier entscheiden wir, welchen Weg wir wählen: Entweder gehen wir auf dem Dammweg, der kurz vor unserem Dorf eine Spitze des großen Kiefernwaldes durchschneidet, oder einfach quer über die Wiese. Das ist der kürzeste Weg. Aber es gibt noch eine Möglichkeit. Auf der Südseite wird die Wiese von einem Graben begrenzt. Am liebsten würden wir immer am Grabenrand entlang spazieren. Aber das ist verboten. Keiner weiß weshalb. Es ist einfach verboten, und fertig. Dabei gibt es in den Dämmen, die das Wasser von der Wiese trennen, Bisamratten. Tatsache. Wir haben sie schon mehrmals beobachtet.

Der lange Bartel rappelt sich plötzlich auf. Mit einem Ruck haut er sich die Schultasche über den Kopf auf den Rücken. „Los“, sagt er, „wir gehen am Graben lang.“

Keiner hat etwas dagegen. Heut ist schließlich der letzte Schultag. Und wenn sie schon sonst nichts mit uns anstellen, dann müssen sie uns wenigstens das erlauben. Wer weiß, vielleicht finden wir gar einen Bisamrattenbau.

Wir gehen im Gänsemarsch. Vor mir stakt der lange Bartel. Eigentlich heißt er Werner - aber wir sagen fast immer Langer zu ihm oder auch langer Bartel. Denn er ist dünn und gut anderthalb Kopf größer als der Brocken-Theo, der hinter mir über die Maulwurfshaufen stolpert. Dafür hat Theo einen mächtigen Brustkorb und harte Muskelballen an den Oberarmen. Der kleinste von uns aber geht hinten. Das ist der kleine Belo, und er muss schon immer trippeln, wenn wir noch einen ganz normalen Schritt drauf haben.

Und ich? Ich bin mittel. Nicht zu groß, nicht zu klein. Nicht zu breit, nicht zu dünn. Ich habe gar nichts Besonderes an mir. Manchmal ärgere ich mich darüber. Ich möchte auch einen Spitznamen haben. Aber den anderen fällt nichts Passendes ein. So sagen sie ganz einfach Heino zu mir. Bloß, das ist mein richtiger Name.

Wenn ich erst schneller als der kleine Belo rennen kann, dann hab ich was Besonderes. Vielleicht werden sie dann Flitzer-Heino zu mir sagen oder so ähnlich. Im Augenblick bin ich erst der Zweitschnellste. Aber ich trainiere fleißig. Nicht ausgeschlossen, dass ich es in den Winterferien schaffe. Jedenfalls sollten sich die anderen schon jetzt den Kopf darüber zerbrechen, welchen Namen sie mir verleihen wollen.

Aber sie denken gar nicht dran. Sie stampfen durch das harte Gras vom vorigen Jahr.

Der lange Bartel kommandiert: „Links, zwei-drei!“

Plötzlich ruft er: „Halt!“

Vor uns erhebt sich ein dichtes Erlengebüsch. Die trockenen Sträucheräste sind mit gelben Schilfstängeln zu einer festen Wand verknüpft. Man könnte das Hindernis leicht umgehen. Aber wir haben keine Angst vor den paar lächerlichen Sträuchern.

„Belo vor“, ruft Bartel.

Weil Belo der kleinste von uns ist, kann er wie ein Wiesel durch das Gestrüpp flitzen und uns einen guten Weg suchen. Schon ist er im gelben Schilfgesträuch verschwunden. Wir hören, wie er sich keuchend vorwärts arbeitet, Äste knacken. Manchmal seufzt der Boden tief auf, wenn der kleine Belo in den Morast getreten ist und seinen Schuh wieder herausziehen muss.

Auf einmal ist es ganz still. Es rührt sich nichts mehr im Gebüsch. Dann schlüpft ein leiser Pfiff durch das Gewirr von Ästen und Schilf. Wir bleiben stehn - mucksmäuschenstill. Was war das? Der Pfiff bedeutet: Ruhe - ich belauere jemanden! Wir haben das so ausgemacht.

Aber wen belauert der kleine Belo? Die Ungeduld zwickt uns in den Beinen. Sollen wir hier draußen stehen bleiben und nichts erleben? Und der kleine Wicht flunkert uns später was vor? Schon hebt der lange Bartel die Hand: Achtung, gleich geht’s los. Aber dann lässt er die Hand wieder fallen. Aus dem Gestrüpp kommt ein leises Geräusch: Tapp, tapp, tapp. Irgendetwas läuft auf vier Füßen, ganz vorsichtig - kein Ästchen knackt. Langsam nähert sich das Tappen. Endlich steckt der kleine Belo seinen weißen Haarschopf aus dem gleichen Loch, in das er vorhin gekrochen war.

„Was ist los?“, zischt der lange Bartel aufgeregt.

Der kleine Belo steht immer noch auf allen Vieren. Mit der rechten Hand fährt er sich an den Mund. Er legt den schlammigen Zeigefinger an die Lippen. Pst! Aber dabei verliert er das Gleichgewicht. Wie eine Walze rollt er seitwärts in das knisternde Schilf.

„Dussel“, knurrt der lange Bartel. Recht hat er. Wir sollen uns nicht mucken, und er macht einen Spektakel wie eine Schar Teichenten.

Endlich hat sich der kleine Belo aufgerichtet.

„Da drin sitzt der alte Hubein“, flüstert er. „Ich hab ihn beobachtet.“

„Na und?“, sagt der lange Bartel. „Vor dem haben wir keine Angst.“

„Er sitzt ganz nahe am Grabenrand. Manchmal stiert er ins Wasser. Dann steckt er den Finger rein und verdreht dabei die Augen wie ein gestochenes Kalb. Zuletzt hat er eine Handvoll Wasser geschöpft und daran gerochen.“

„Vielleicht wollte er kosten?“ Der lange Bartel grinst.

„Hat er auch“, berichtet Belo weiter. „Ich trau meinen Augen nicht: Auf einmal nimmt er einen tiefen Schluck. Und schüttelt den Kopf.“

Wir lassen uns auf den Damm fallen. Was hat das nun zu bedeuten? Ein bisschen wunderlich ist er ja, der alte Hubein. Früher, wie es noch den Baron gegeben haben soll, ist er mal Schäfer gewesen auf so einem Rittergut. Heute bekommt er Rente und vertreibt sich die Zeit mit Angeln. Manchmal, wenn im LPG-Stall eine Kuh kalbt, holen ihn die Bauern. Er versteht sich drauf, und mit dem Tierarzt ist er sich auch einig. Aber schrullig ist er doch. Wenn wir Kinder ihn ärgern, hebt er beide Hände über den Kopf.

„Fass sie, Hasso“, ruft er, „Fass sie! Jag sie von der Wiese, sie zerlatschen das ganze Futter.“

Dabei hat er schon jahrelang keinen Schäferhund mehr.

Wir Kinder umspringen ihn dann und machen: Wau-rau! Dann sagt er: Ruhig, mein Hund! Ruhig!“ Und er lässt die Arme wieder fallen.

Aber wir heulen und knurren um die Wette weiter. So lange, bis er plötzlich aus den Holzpantoffeln fährt und auf uns zukommt. Die weiten Hosenbeine flattern um seine dürren Waden. Aber rennen kann er für sein Alter! Da gibt es nichts zu sagen. Wir müssen jedes Mal unsere ganze Kraft zusammennehmen, damit er keinen von uns erwischt. Aber das wird ihm nie gelingen. Tatsache.

Deshalb kann der lange Bartel auch leicht sagen: „Vor dem haben wir keine Angst. Wir werden ihm auflauern, drüben, auf der anderen Seite.“

Nun umgehen wir das Gesträuch doch noch. Unter unseren Füßen quatscht das Wasser aus dem sumpfigen Boden. Manchmal spritzt es bis zu den dickblättrigen gelben Schilfstummeln vom vorigen Jahr.

Auf der anderen Seite angekommen, können wir unser Dorf schon deutlich erkennen. Ganz vorn steht das weiß gekalkte Haus vom Bauern Witschaß. Daneben duckt sich ein Fachwerkhäuschen hinter dem Querdamm. Dort wohnt der kleine Belo.

Weiter hinten ragt eine hohe Fichte in den grauen Himmel. Sie steht im Hof vom LPG-Vorsitzenden Pistrosch. Diese drei Häuser gehören zusammen mit dem Genossenschaftsstall, den man von hier aus noch nicht erkennen kann, zum Unterdorf. Alle anderen Höfe liegen etwas höher auf einem kleinen Sandhügel.

Wir sitzen da und starren hinüber. Tausendmal haben wir das Dorf schon betrachtet. Aber von hier aus ist es schöner als sonst. Es liegt wie auf einer flachen Hand vor uns. Wenn man ein Fernglas hätte, könnte man Pistroschs Frau glatt in den Kochtopf gucken.

Brocken-Theo zieht sein Taschenmesser hervor. Es hängt an einer goldglänzenden Kette. Wir wissen aber, dass es kein Gold ist. Theo hat die Kette zu Hause bei einer alten Pendeluhr abmontiert. Wie ein flinker Vogel saust das Messer plötzlich durch die Luft. Mit dem Griff prallt es gegen einen Erlenstamm. Noch ehe sich jemand aufrappeln kann, ist der lange Bartel schon hingesprungen. Mit dem Messer in der Hand kommt er zurück.

„Passt auf“, sagt er, „jetzt werd ich euch das mal zeigen.“ Wieder schwirrt das Messer durch die Luft. Aber kurz vor dem Baum hört es plötzlich auf zu schwirren. Es schießt wie ein Pfeil mit der Spitze zuerst in den Stamm. Dort bleibt es zitternd hängen.

Donnerwetter! Der lange Bartel kann das. Er kann überhaupt so ziemlich alles, wenn es nicht gerade um die Schularbeiten geht. Auch in unserem Pionierzirkel für Schiffsmodellbau ist er der beste. Deshalb haben wir ihn zu unserem Kapitän gewählt.

„Hinlegen!“, kommandiert er.

Da hätten wir doch beinah den alten Hubein vergessen. Im Erlengebüsch knistert es. Langsam arbeitet sich der kleine alte Mann heraus. Heute hat er Gummistiefel an. Da besteht überhaupt keine Gefahr. In Gummistiefeln kann kein Mensch vernünftig rennen. Also bleiben wir ruhig sitzen.

„He“, ruft der lange Bartel, „wie schmeckt denn das Wasser?“

Der alte Hubein tut erschrocken. Hat er uns vorher nicht bemerkt? Er spuckt dreimal aus und will dann einen Bogen um uns machen. Aber so leicht kommt er nicht davon. Der kleine Belo ist schon aufgesprungen. Er läuft vom Damm auf die Wiese, bleibt kurz vor Hubein stehen und bellt: Haff-haff!

Der alte Mann fährt sich unentschlossen in die grauen Stoppelhaare hinter den großen lederartigen Ohren. Was soll er tun? Er könnte natürlich auf uns zurasen. Aber dann würden wir mit wüstem Geschrei über ihn herfallen. Er kennt das. Deshalb überlegt er sich die Sache. Langsam kommt er auf uns zu. Ganz friedlich. Er läuft so, wie ein Bauer läuft, wenn er mit zwei Fingern Wasserrübensamen über das Feld streut. Wir können ruhig sitzen bleiben. Wer so läuft, der hat nichts Böses vor. Schließlich ist er bei uns angelangt. Als er sich stöhnend auf den Damm setzt, fährt seine rechte Hand zum Rücken.

„Eh“, macht er, „das verdammte Ischias.“

Dann nimmt er mich beim Kopf und dreht mich dem Wasser zu.

„Bist du nicht dem Domko seiner?“ Ich nicke, so gut ich es unter seiner Hand kann.

„Soso“, sagt er, „und was siehst du da?“

Ich weiß nicht, was ich tun soll. Er ist sicher ganz und gar übergeschnappt. Es ist nichts zu sehen als Wasser, in dem ein paar Eisbrocken schwimmen. Vielleicht mache ich mich mit einem Ruck frei? Aber seine knochigen Finger halten mich ziemlich fest. Hinter den Ohren fühle ich auf der einen Seite den Daumen und auf der anderen den Zeigefinger.

„Wasser“, sage ich, und ich wundere mich selber, dass meine Stimme so komisch dabei klingt.

Der Alte lässt mich los.

„Ach, du Hammel“, knurrt er, „Wasser siehst du also. Mehr nicht? Das ist wenig, mein Lieber. Man muss unter das Wasser gucken. Da stecken die Geheimnisse. Oben ist es ganz friedlich. Grau und grün wie Immer. Aber unten!“

Er nimmt einen Stein vom Ufer und lässt ihn in den Graben plumpsen. Eine gelbe Fontäne spritzt hoch.

„Habt ihr gesehen? Unten ist es gelb. Nicht so friedlich grün und grau. Und kalt ist es unten auch. Verteufelt kalt. Ich hab’s ausprobiert. Es schmeckt nach Schnee und Eis, das Wasser da unten.“

Es ist genau wie in der Schule. Der Lehrer stellt im Algebraunterricht eine Aufgabe, und wir wissen nicht, was wir damit anfangen sollen.

„Na schön“, sagt der lange Bartel, „es ist unten also gelb, und es schmeckt nach Schnee. Was hat das zu bedeuten?“

Aber der alte Hubein tut, als hätte er diese Worte nicht gehört. Er starrt ins Dorf hinüber. Seine wässrigen Augen werden plötzlich ganz klein.

„Schlimm“, sagt er leise, „sehr schlimm. Das Wasser wird das Dorf verschlucken. Wenn es unten gelb ist, dann wird es bald auch oben gelb sein. Und dann macht es lange Finger über den Damm weg.“