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Das Erzähltalent Joachim Nowotnys ist unbestritten, die poetische Originalität seiner Kinderbücher zeigt dies ebenso wie die vorliegende Sammlung von Erzählungen. Nowotny hat mit diesen Geschichten den Versuch unternommen, die Farbigkeit des Lebens einzufangen. Meist wird in diesen Erzählungen erst eine Barriere des Alltäglichen durchbrochen, ehe man zu dem Eigentlichen, Bewegten, zu den prallen Vorgängen kommt. In Fabeln von außerordentlichem Reiz wird hier gezeigt, dass Lebensfülle und Vitalität nicht nur in exotischen Bereichen zu finden, sondern unvermutet hinter den Ereignissen des Alltags zu entdecken sind. Joachim Nowotny hat selbst einmal von der Bedeutung der winzigen Begebenheiten unseres Lebens gesprochen - hier finden sich solche Situationen und Verhaltensweisen. Es sind Geschichten von starker Überzeugungskraft und voll echtem Humor, Beweise, dass die Erzählung in unserer Zeit nicht nur nötig ist, sondern auch wirksam werden kann. Eine Sammlung für Freunde poetischer und eigenwilliger Geschichten. INHALT: Ein Ohr für alte Geschichten Wir ...! Wolke im Rücken Pimpusch Die Fliege am Fenster Gestern und Heute Begegnung im Pavillon Erstes Haus linker Hand Labyrinth ohne Schrecken Kurioses Seltsames Pärchen oder Fade Vorsuppe Legende von der Sintflut Julius auf dem Baume Junge Leute Ein schwieriger Fall Felix verliert eine Wette Die Stunde nach der Prüfung Podelziger Intermezzo Das Rindenschiff Lob einer Gegend
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Seitenzahl: 217
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Joachim Nowotny
Labyrinth ohne Schrecken
Erzählungen
ISBN 978-3-86394-195-6 (E-Book)
Das Buch erschien erstmals 1967 im Mitteldeutschen Verlag Halle - Leipzig.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Also gut: Wir leben. Aber das zu wissen, reicht nicht immer. Wenn wir irgendwo auftauchen, gibt’s Bewegung. Wir reißen Bäume aus, trinken Fässer leer, singen und lieben, manchmal vergessen wir uns auch, Gott ja, wir wollen es schließlich spüren, dieses Leben. Wollen es packen, in uns aufnehmen, aus uns herausströmen lassen. Kurz gesagt: Gewöhnlich machen wir allerhand Wind.
Manchmal freilich gibt es triste Stunden. Da sind wir uns selbst zu viel. Ein Wunder ist es nicht. 12 Kerle, keiner älter als fünfundzwanzig, seit Jahren bei einer Truppe, mal an der Oder, mal an der Küste, nun hier in der Lausitz und immer zusammen. Und kein Handschlag Arbeit ohne den anderen, kein Schluck Bier ohne ein allgemeines »Prosit!«, kein Kuss und kein Verhältnis, von dem nicht alle wüssten. Dazu diese Einöde. Sand, Schmälgras, prasseldürre Kiefernheide, ein milchiger Himmel über dem stumpfen Wipfelgrün, Rinde, Harzgeruch und wieder Sand. Wir mittendrin mit unseren Motorsägen - Tag für Tag die gleiche Arbeit: Das rechte Bein knickt zur Erde, der Körper senkt sich darüber, der Finger bewegt den Hebel der Säge. Aber die Ohren hören nicht das Sekundengekreisch, die Nase reagiert nicht auf den jähen Ansprung des Holzgeruchs, und die Haut bleibt unter dem Trommelfeuer der Späne gefühllos. Auch das Gemüt ist verhornt. Es verharrt unbewegt, wenn zähe Fasern endlich platzen, wenn der Stamm zu zittern beginnt, eine Vierteldrehung auf dem abgetrennten Stock beschreibt, wenn er fällt, anfangs sacht, als entschließe er sich eben zu einer Verbeugung, später mit Getöse und Geprassel hinein ins Heidekraut wie ein schlechter Schauspieler.
Und doch sind wir am Abend wie gelähmt. Kein Funke ist in uns. Blinden Hühnern gleich, sehen wir aus den Barackenfenstern auf die verwüstete, um und umgekehrte Rodefläche, in die Sandkrater, auf die zottigen Wurzelbärte und geschundenen Stubbenklötze. Manchmal fällt uns dabei ein, dass wir die ersten hier sind, dass andere kommen werden, die hier ein Kraftwerk bauen wollen. Irgendwo da drüben wird vermutlich die Bereitschaftssiedlung entstehen. In zwei, drei Jahren spielen dort schon Kinder, küssen sich junge Leute in den Kellernischen, dehnen sich nachts schlafwarme Glieder unter den Decken. Wir aber glauben nicht, was wir wissen. Das ist dann unser ganzes Problem. Und es ist auch die Stunde des alten Bregula, Plötzlich haben wir ein Ohr für seine Geschichten. Wir, die wir viel lieber selbst welche machen, hören ihm zu.
Seht den Baum da, sagt er, die große Kiefer mein’ ich, links an der Schneise, diesen mächtigen Apparat, das ist euch ein Kerl, was? Wie viel Jahre wird er stehen, zweihundert, dreihundert oder mehr? Ah, das ist eher ein Stamm, drei Mann müssten die Arme ausstrecken, wollten sie ihn umfassen. Sein Wipfel beschattet im Mittag einen halben Morgen Land. Was sag’ ich Wipfel, eine Krone ist das! Ein Königreich! Jede Astregion ist eine Provinz, jedes Zweiglabyrinth eine Residenz, jedes Zapfennest ein Weiler. Und wie er dasteht, frei und gerade gewachsen wie eine Dampfwolke bei Windstille ...
Sonderbar. Wir hören den alten Bregula so eigenartig schwärmen, und es kommt uns nicht sehr komisch vor. Merkwürdig ist nur, dass wir jetzt erst den Baum entdecken. Ein einbeiniger Riese, so reckt er sich aus der Tausendschar der halbwüchsigen Kiefern, diesen charakterlosen Mimen, die dünnstämmig und langweilig sind, bloß für das Fließband gepflanzt. Sie alle fallen klaglos unter unseren Sägen.
Und wir verspüren plötzlich eine leise Lust, uns an den Riesen heranzuwagen. Wie lange würde der Hobel brauchen, ehe im Stamm das letzte Zittern begänne? Zehn Minuten? Länger? ... Schätz einer, wenn Bregula seine alten Geschichten erzählt! Von Liebe und Tod ist die Rede, von Menschen früherer Jahre, von schönen Frauen und rauflustigen Staatskerlen, von blutigen Händeln, rauschenden Festen, von Trauer, tief wie ein Brunnen - und vom Wald, immer wieder vom wilden, mächtigen, hoch aufragenden Kiefernwald. In ihm erschlägt der Knecht seinen Herrn, in ihm liebt die schöne Reiche den armen Tropf, in ihm trauert das alte Holzweibel der Jugend nach.
Diese alten Geschichten! Wir können sie nicht ausstehen. Sie prahlen mit Blut und Kraft, strotzen vor Zufällen, lügen hinten und vorn. Der alte Bregula hat es schwer mit ihnen. Wir fallen über seine Worte her, reißen sie aus dem raunenden Zauberton, bringen die Ungereimtheiten und falschen Töne ans Licht. Nein, da ist uns so schnell nichts heilig.
Den Baum aber, den Riesen, werden wir vielleicht stehen lassen. Mögen sich später die Mädchen mit den Rücken an seinen Stamm lehnen, wenn sie sich gegen den Kuss wehren, den sie so gern haben wollen.
Wie soll ich es Ihnen sagen? Das ist ein dummes Gefühl, wissen Sie, meist kommt es einem gar nicht zum Bewusstsein. Vielleicht ist nicht einmal der Ausdruck Gefühl ganz richtig für das, was ich meine, es handelt sich mehr um so einen merkwürdigen Druck, den man plötzlich verspürt und dem man einfach nicht ausweichen kann. Irgend so ein Zwang ist da, man fühlt sich terrorisiert, man möchte am liebsten um sich schlagen und schreien - aber weiß, dass das gar keinen Zweck hätte. Na, Sie merken schon, wie ich nach den richtigen Worten suche, letzten Endes fällt mir nicht mehr ein als dieses »vielleicht« und »merkwürdig« und »irgend so«, aber das ist ja nichts Genaues. Am besten wird es sein, wenn ich Ihnen eine Geschichte erzähle. Geschichten machen sich immer gut, sie sind passiert, und keiner kann gegen sie an. Auch wenn man sie nicht versteht, haben sie etwas Überzeugendes - aber das führt nun wohl doch zu weit. Zur Geschichte also!
Ja, das war im Sommer, im vergangenen Sommer. Ich hatte Urlaub und fuhr in meine Heimat aufs Dorf, wollte ein paar faule Tage verleben. Wie das so ist. Geh’ also gleich den ersten Tag in die Schenke - da geh’ ich immer hin, wenn ich grad mal zu Hause bin, es muss so gegen Mittag gewesen sein. Jedenfalls die Sonne schmiss Hitze wie sonst was, ich entsinne mich, dass es vorn auf dem Weg in der Luft flimmerte. Und als ich in die dämmrige Gaststube trat, hatt’ ich es mit lauter roten Spiralnebeln zu tun. Vor den Augen, mein’ ich. Natürlich musste ich sie gleich zudrücken, das hält kein Mensch aus. Aber ob Sie es glauben oder nicht, in der allerersten Zehntelsekunde, noch ehe ich die Augen ganz geschlossen hatte, sah ich außer den Spiralen noch etwas: einen Menschen mit breitem Kreuz und eckigen, wie mit dem Beil behauenen Schultern, mit einem gewaltigen Schädel und zwei rechtwinklig abstehenden Ohren; dieser Mensch also saß vor dem Fenster, direkt davor, er hatte alles hinter sich: das dunkle Rahmenkreuz, die beiden Linden vor dem Eingang, das bisschen Dorfplatz, den staubigen Weg und auch eine Wolke, klein und grau, harmlos sozusagen; sie saß dem Manne überm linken Ohr, was natürlich nur so aussah, tatsächlich klebte sie am tadellos blauen Sommerhimmel. Wieso weiß ich das eigentlich noch so genau?- Na, egal, ich will mich damit nicht aufhalten. Diese Zehntelsekunde jedenfalls hatte genügt, all das zu sehen, und noch mit den Spiralnebeln vor den Augen breitete ich also die Arme aus und begrüßte meinen alten Freund Schober.
»Menschenskind«, sagte ich, wie man das bei solchen Gelegenheiten sagt: »Menschenskind, das ist aber gelungen.«
Und nun sollen Sie nicht denken, dass das bloß so eine Redensart von mir war. Nein, ich freute mich wirklich. Denn Schober war immer ein feiner Kerl, so einer mit einer guten Seele, wenn sie auch unter viel Fleisch und Knochen verpackt war. Entschuldigen Sie den Ausdruck! Und er, Schober, freute sich auch, was ich gleich merkte, denn er stieß sein unverkennbares, tief aus der Brust geholtes und blitzschnell hingehauchtes »Hä!« aus, mit dem er auch sonst alles zu kommentieren pflegte, mal mit ärgerlichem, mal mit wütendem, heut aber mit erstaunt freundlichem Unterton. Na, das war nun kein Wunder, wir kannten uns seit der Schulzeit, hatten auch auf dem Bau zusammengearbeitet, damals achtundvierzig, als wir noch Stifte waren. Später hatten wir uns ein bisschen aus den Augen verloren, er machte in der Stadt seinen Ingenieur und blieb dort, ich wurde der Zunft untreu und sah mich - wieder in einer anderen Stadt - nach einem Büroschemel um. Darauf sitze ich heute noch. Kurz und gut: Endlich einmal trafen wir uns wieder, in der alten Heimat und als leidlich gereifte Männer, mit ein paar Tagen Urlaub in der Hinterhand und einem ordentlichen Bierdurst in der Kehle. Sie können sich leicht denken, dass wir den Gastwirt, einen alten lendenlahmen Herrn übrigens, ganz schön in Trab brachten, denn so ein unverhofftes Wiedersehen macht nun einmal Umsatz. Also wir tranken. Bier und Melde-Korn, wie das so üblich ist in der Gegend. Mehr Bier freilich wegen der Hitze. Das heißt, in der Gaststube war es ja ganz gemütlich, nicht wahr, kühl und schummrig, aber draußen knallte die Sonne auf den Weg, sie sengte den kümmerlichen Rasen auf dem Dorfplatz braun und grau und ließ die Luft über den niedrigen Dächern schlierig werden. Uns sollte das nicht stören, wir hatten einen günstigen Platz, mit dem Rücken zum Fenster, und die Ahnung von der Sonne draußen war gerade gut dazu, unseren Durst immer wieder neu zu schärfen. Wir tranken also weiter, erzählten uns von früher, lachten ausgiebig und schlugen uns vor Vergnügen auf die Schenkel, als wir uns gegenseitig die Geschichte vom Polier Funke erzählten, dem wir seinerzeit einen neuen Hut an den Firsträhm genagelt hatten, bloß weil er nichts auf ihn ausgeben wollte. Aber das ist nun schon wieder eine Angelegenheit für sich, sie gehört nicht zur Sache. Ich habe auch bloß damit angefangen, damit Sie sehen, in welcher Stimmung wir uns befanden. In der besten also. Wir fühlten uns - verzeihen Sie, es lässt sich nicht besser sagen - sauwohl in dieser Mittagsstunde. Und wir nahmen uns vor, sie recht lange auszudehnen, sollte es auch Abend darüber werden. Schließlich hatten wir Urlaub, keiner wartete auf uns, wir konnten uns das nach einem langen, arbeitsreichen Jahr mit dem besten Gewissen mal leisten. Sie verstehen ... Schober jedenfalls hieb mir plötzlich seine Pranke auf die Schulter, er schrie nach frischem Bier und nach Melde-Korn. »Kumpel!«, schrie er, »mach dir nichts draus, heute wird gefeiert, und wehe dem, der uns stört.«
Das war freilich unnötig, was er da sagte, denn außer uns und dem Wirt war keiner in der Gaststube, wer sollte uns also stören? Wie kam Schober bloß drauf? Ich weiß es bis heute nicht. Vielleicht war es die Wolke am Himmel, wir sahen sie nicht, aber ich wusste plötzlich, dass sie nach und nach größer wurde, sie blies sich auf, aber sie war immer noch die einzige am sonst einwandfreien Sommerhimmel, und außerdem, was ging sie uns eigentlich an? Auch als draußen auf dem Weg Pferdefuhrwerke vorbeiknarrten, sahen wir uns nicht um. Aber wir hörten am Schnaufen der Gäule und am Kreischen der Achslager, dass da jemand zur Eile trieb und auch dass die Wagen hoch mit Korngarben bepackt waren.
Nun sagen Sie selbst, was hatten wir damit zu tun? Wozu hörten wir da überhaupt hin? Wozu mussten wir wissen, was hinter uns vor sich ging? Nun gut, wir waren auf dem Dorf aufgewachsen, da behält man vielleicht sein Leben lang so eine Art Fieber, wenn die Erntezeit herankommt. Aber nach gut zehn Jahren Stadt musste einen doch das schon ganz schön kalt lassen. Und außerdem konnte uns ja keiner etwas vorwerfen an diesem Tage, nicht einer. Denn wir hatten, wie schon gesagt, das ganze Jahr über hart gearbeitet wie jeder vernünftige Mensch, die Ferien waren also wohlverdient, wir hätten sie ebenso gut unter lauter Urlaubern in der Hohen Tatra oder an der Ostsee verbringen können. Aber nein, wir saßen nun einmal hier in diesem Lausekaff hinter der Heide und begriffen nicht, wie das alles zusammenhing.
Na, wir zerbrachen uns auch nicht groß den Kopf darüber, mochte die Sonne ruhig prasseln, die Wolke wachsen, mochten die Fuhrwerke quietschen. Wir tranken noch eins. Und jagten den Wirt immer wieder vom Fenster weg hinter die Theke. Der Bursche schaute nämlich alle Augenblicke nach der Wolke aus, und als sie dann schon mächtig aufgeblasen am Himmel stand, geschah das Wunder: Der Mann hatte in seinem feisten Speckgesicht tatsächlich Platz für ein paar Sorgenfalten um die Augen herum.
Sehen Sie, das war nun genau die Stunde, in der wir zum ersten Mal den Druck fühlten. Am Anfang freilich war er nicht besonders stark, er bestand mehr aus einem Kribbeln in den Handflächen und an den Fußsohlen, es war also gar kein richtiger Druck, und es genügten ein paar mit Inbrunst hingezischte Flüche, um ihn wieder loszuwerden. Schober hatte da was los. Wenn ich mich recht erinnere, fasste er die ganze Stimmung in drei, vier derben Worten zusammen, die ich leider vergessen habe. Ausgerechnet! Aber so etwas Schönes merke ich mir nie. Jedenfalls lag alles drin: der Ärger über die Bauern, die seit Jahr und Tag nie mit der Zeit zurande kamen, sobald es an die Ernte ging (wie haben sie’s bloß früher gemacht?); der Zorn über die Zeitungsschreiber, die in einer Tour vom schlechten Wetter unkten und zur Eile trieben; das schiere Mitleid mit den Leuten, die tagaus, tagein von den Vorteilen der modernen Landwirtschaft sprachen, bei dem kleinsten Regentropfen jedoch sofort nach ganzen Legionen von Erntehelfern schrien.
Wir pfiffen ihnen was und tranken unser Bier. Die Welt da draußen konnte uns gestohlen bleiben, schließlich waren wir auch wer, wir hatten es mit der Zeit zu Positionen gebracht, in denen sich was verdienen ließ, auch zu Familie und Wohnung. Sogar ein Wagen ließ sich erübrigen, das war schon keine Frage des Geldes mehr, sondern eine Frage der Zeit. Unsereins konnte gut und gerne in dieser Schenke sitzen, sein Bier trinken, endlich mal alle fünfe grade sein lassen, und keiner hatte da etwas ’reinzureden.
Wissen Sie, das schlimmste war, dass wirklich niemand dreinredete. Der Wirt zum Beispiel sagte trotz Sorgenfalten nichts weiter als: »Bitte, meine Herrn! Wohl bekomm’s, meine Herrn! Sehr zum Wohl, meine Herrn!«
Und Sie müssen nicht etwa denken, dass in seiner Stimme etwas Besonderes gewesen wäre, vielleicht eine Spur Verachtung oder Ärger oder Zorn. Nichts von alledem. Da war alles ganz normal. Und auch später, als plötzlich ein Mann über die Schwelle stolperte, ein kleiner, hagerer, zäher Mensch mit knorpligem Adamsapfel und senkrecht über dem Schlüsselbein aufsteigenden Halssehnen, auch da fiel zwischen ihm und uns kein Wort, Der Mann stand bloß da in einer blaugrauen Hose, mit Hosenträgern auf dem bloßen Leib. Er schob die Mütze ins Genick, scharrte sich kurz in den spärlichen Haaren, mehr tat er nicht. Natürlich, er trank einen halben Liter Bier. Und dann noch einen, so schnell, dass wir es nicht für möglich hielten. Sein Adamsapfel sprang dabei schnell hoch zum Kinn, dort verweilte er einen Moment, dann fiel er wieder hinunter in das Tal zwischen den harten Halssehnen, zur Brust hin, wo im grauen Haarfilz Strohgrannen hingen. Ja, der Mann trank, weiter tat er nichts. Er sah nur einmal mit einem halben Blick zu uns hin, doch wir hatten den Eindruck, als sei das nur zufällig geschehen - ohne jede Absicht. Freilich, wie er so dastand in der kühlen Gaststube, mein’ ich, da musste er das Gefühl haben, als liefe der Schweiß in Strömen an seinem Körper; er wischte jedenfalls immerfort Stirn und Nacken mit einem großen Taschentuch - aber das schlimmste war, dass Stirn und Nacken völlig trocken blieben, kein Tropfen Schweiß trat aus der Haut, sage ich Ihnen. Mir wurde ganz komisch zumute, als ich das sah. Aber der Mann ging wieder, er ließ die Zeche auf den Abend anschreiben, und er hatte die Augen schon zu schmalen Schlitzen zusammengepresst, ehe er über die Schwelle gestolpert war. Alles in allem ein Mensch, wie er nicht unauffälliger hätte sein können, mitten in der Arbeit, bloß auf einen Sprung hier, um etwas gegen die innerliche Dörre zu haben, sonst aber gar nicht aus dem Taumel des endlosen Scharwerkens herausgekommen. Sicherlich hatte er uns gar nicht wahrgenommen, und doch ärgerten wir uns, als draußen die Peitsche pfiff und die Pferde anzogen.
Nein, fragen Sie nicht, warum wir uns ärgerten. Ich kann Ihnen da keine Auskunft geben. Vielleicht neigen Sie zu der Auffassung, dass man sich immer gegenseitig ins Gehege kommt, wenn ein Ruhender und ein Arbeitender zusammentreffen. Aber das war es nicht. Wirklich nicht. Denn so etwas konnte schließlich auch in der Stadt passieren. Bei uns im Betrieb wird Schicht gearbeitet, da hockt mancher nach Feierabend in der Kantine und lässt sich in aller Ruhe von den Leuten der zweiten Schicht, die schnell mal nach Brause kommen, neidisch anstarren. Also das war es nicht. Wir müssen uns wohl damit abfinden, dass es auch in den Geschichten unerklärliche Dinge gibt, die etwas erklären sollen. Na, lassen wir das ...
Der Mann also hatte uns gestört. Na, wir taten das einzig Richtige, das in einer solchen Lage zu tun war. Wir tranken noch einen. Und zwar einen gewaltigen.
Aber - so merkwürdig das auch sein mag - wir wurden nicht betrunken. Nein, nein, das Bier war gut. Landskron-Bier, das ist immer gut. Daran lag es nicht. Auch nicht an der Hitze, etwa weil man da immer gleich alles ausschwitzt. Wir hatten ja in dieser Hinsicht nichts auszustehn. Letzten Endes war alles so, dass es hätte ganz gemütlich werden müssen, wunderbar gemütlich: gutes Bier, keine Frau, die zu Hause wartet, Geld in der Tasche, Urlaub, ja freilich - auch einen Rucksack voller kleiner Sorgen; aber die ließen sich beiseite drängen. Uns ärgerte etwas ganz anderes. Der Druck! Er wurde stärker, nachdem der Mann mit dem Adamsapfel gegangen war, da halfen keine Pillen. Schober fluchte noch einmal, diesmal so deftig, dass sogar der Wirt erstaunt den Kopf hob, und der musste doch allerhand gewohnt sein, nicht wahr. Sicher hatte auch die Wolke ihren Anteil daran, wir kehrten ihr noch immer den Rücken zu, aber wir wussten schon, dass sie mittlerweile breitgelaufen war, über den ganzen Horizont hinweg; sie konnte auch nicht mehr so harmlos wattig sein, schon eher bleigrau mit geballten Rändern über den unbeweglichen Kiefernwipfeln und unter dem sonst einwandfreien Sommerhimmel. Das alles wussten wir gewissermaßen aus zweiter Hand, denn wir sahen, wie sich das Licht in der Gaststube schnell veränderte, dass es grell in die Ecken strahlte, Staub aufflimmern ließ, dann aber gleich trübe wurde, sodass nur noch die bauchigen und dünnwandigen Biertulpen einen schwachen Widerschein hergaben. Draußen stöhnten die Achslager stärker als bisher, die Peitschen pfiffen schärfer, die Gäule schnoberten unwilliger, alles wurde zur Eile getrieben, und das an einem Tag, der wie Blei in den Knochen lag. Wir hörten es am Aufklotzen der Hufe und am Knirschen des Wegsandes. Die Maschine auf dem Druschplatz hinter der Schenke heulte plötzlich seltsam auf, ihr gleichmäßiger Brummton steigerte sich immer wieder zu einer Art wütendem Schrei, jemand musste sie ganz einfach zu schnell und zu hastig mit Garben füttern. All das aber hatte letzten Endes etwas Zähflüssiges, Schleppendes an sich, so, als träte jemand dauernd schnell auf einer Stelle und es gäbe kein Ende,
Nun seien Sie ehrlich, wie soll man unter diesen Umständen sein Bier trinken können? Es dauerte nicht lange, und ich sprang auf, rannte zwischen Tisch und Theke hin und her, immer auf den Dielenritzen entlang, immer den Kopf gesenkt, damit mich die bleischwere Hast da draußen ja nicht anstecke. Schober indessen blieb sitzen, er hatte die nötige Schwere dazu. Und er begann mir zuzureden, wie man einem nervösen Pferd zuredet, beruhigend, auch ein bisschen überlegen.
»Setz dich wieder hin!«, sagte er, »das hat alles nichts zu bedeuten, wir nehmen noch einen Hieb, und dann haben wir das hinter uns.«
Wir tranken, behalfen uns mit allerlei Sinnsprüchen wie: »So jung kommen wir nicht mehr zusammen!« Oder: »Man muss die Feste feiern, wie sie fallen!«, und was einem eben noch bei solchen Gelegenheiten einfällt. Und ich setzte mich auch richtig wieder hin, und alles schien gerade noch einmal so hinzugehen, es kam ja wirklich nur darauf an, dem Druck zu widerstehen. Man musste sich stark machen, man musste trinken. Irgendwann kam dann noch eine Frau ins Gastzimmer. Am Anfang war uns das gerade recht so, endlich was fürs Auge, nicht wahr. Denn da gab es allerhand zu bewundern, eine üppige Figur, stramm rundum unter kaum mehr als einer ärmellosen Kittelschürze und einem roten Kopftuch. Im Nacken hing Druschstaub, auch in den Augenbrauen. Die Arme aber waren prall und braun, an ihnen blieb kein Staub hängen. Braun war auch das Gesicht, tiefbraun, wie man es selten bei einer Frau sieht. Wahrscheinlich hing das mit den Augen zusammen, sie rollten groß und weiß - ein einziger Gegensatz zu der Bräune - unter den unbeweglich hochgeklappten Wimpern. Damit aber fing der Ärger wieder an. Diese Wimpern wissen Sie! Wir wussten doch, dass sie zum Kokettieren wie geschaffen waren, für Blicke, die so ein hübsches Weib ganz unverhofft in die Gegend schießt, aus den Winkeln heraus, blitzschnell, versengend, ein vollkommen reibungsloses Zusammenspiel von Wimperschlag und Pupillendrall. Und wir, die wir immer noch am Tisch saßen, der Theke zugekehrt also, mit dem ganzen Schlamassel da draußen im Rücken, wir gierten nach einem solchen Wunderblick aus ihren Augen, wir gaben uns alle Mühe, einen zu fangen.
Wissen Sie, so ein Blick hätte vielleicht alles zum Guten verändert. Aber er kam nicht. Wir saßen und stierten, beide kurz über die Dreißig, also intakte Männer, wenn Sie so wollen, Schober bullig und mit einem gewissen klebrigen Glanz in den kleinen Augen, ich mehr asketisch schmal und schwarzhaarig, aber immerhin mit Feuer im Blick - na ja, was soll ich noch viel erzählen, jedenfalls stellten wir was dar, und die genossenen Promille machten uns ganz einfach kühn. Wir bildeten uns ein (jeder für sich freilich), die Frau müsste reineweg verrückt nach uns sein.
Sie werden es nicht glauben, aber die Frau sah uns nicht. Sie hatte nur Blicke für ihre verbeulte Tasche, für die staubigen Bierflaschen, die sie aufs Thekenblech stellte. Nicht einmal, dass sie zwinkerte. Sie verlangte Bier und Brause, auch ein paar Flaschen Cola, glaub’ ich; ihre Stimme war wie Bruchglas, so spröde. Wir hörten aber doch heraus, dass sie zu allem fähig war, diese Stimme, zu zärtlich verspieltem Geplapper, zu aufreizendem, volltönendem Gelächter, zu Iustvollem Stöhnen. Hier ließ sie aber davon nichts, für uns blieb nur der spröde Glaston, uns lief es eiskalt über den Rücken.
Ja doch, ich gebe Ihnen recht. Die Frau kam vom Druschplatz, sie hatte das Gewicht der gepressten Strohballen noch in den Armen, die schwirrende Spreu in den Augen, in ihrer Kehle biss der Staub. Sie war schnell auf ein Fahrrad gestiegen, so schnell es nur ging, sie hatte ein paar Flaschen für den größten Durst geholt, dann musste es gleich wieder weitergehen, ohne Erbarmen weiter. Wie sollte sie da Augen für uns haben? Das war zu viel verlangt, sicher, aber damals sahen wir das nicht ein, wir hatten ja getrunken, wir fühlten den Druck auf unseren Schultern und wohl auch im Magen, wir wussten leider gar nicht genau, was eigentlich mit uns los war.
Natürlich drehten wir uns doch noch um, zum Fenster, mein’ ich, wir sahen der Frau nach, wie sie der dunklen Wolkenwand entgegenfuhr, rechts und links die Pedale tretend, ganz sachlich und ohne einen angstvollen Blick nach oben, so eine Frau, sage ich Ihnen, schön und stattlich wie eine gewisse Juno; aber wir hatten nichts von ihr als den Staub ihres Nackens und den Blick in ein Paar Augen, die nichts als die Arbeit sahen.
Da war uns der Spaß verdorben. Schober setzte noch ein paar Mal an, er schrie nach Bier, er schimpfte mächtig auf Gott und alle Welt, pochte ganz unnötig auf sein Urlaubsrecht, zwischendurch erzählte er sogar noch eine Schnurre aus der Lehrlingszeit - aber es war aus. Das Bier tranken wir nur noch so. Und der Abschied kam ganz von selber, ohne Spektakel, keine Umarmung, kein Händedruck, nichts. Wir gingen einfach, ich zuerst, aber ich wusste, dass Schober gleich nach mir die Schenke verlassen würde. Es war einfach nicht möglich, dem Druck standzuhalten.
Alles kam dann, wie es nicht anders hätte kommen können. Noch nicht einmal am Druschplatz angelangt, stieß ich auf ein Fuhrwerk, so ein schief und krumm geladenes Fuder, von dem die Hälfte auf den Weg gerutscht war. Natürlich kam ich da nicht vorbei, ich griff mit zu, merkwürdig nüchtern, wie ich war, ich stakte die Strohschütten hoch, eine nach der anderen, so kämpfte ich mit der verdammten Wolke, die nun schon ganz Himmel war. Aber wir schafften es grad noch; ehe die ersten Tropfen fielen, war das Fuder unter Dach und Fach. Ich blieb gleich da, half mit beim Abladen, schwitzte ordentlich, schlug nach den bissigen Fliegen, ließ aber nicht locker, sondern stakte auch noch ein zweites und drittes Fuder durch das Kafferloch auf den Strohboden. Im ganzen mögen es an die 400 Schütten gewesen sein, die ich gegen diesen Druck stemmte, gegen diesen Druck, wissen Sie, den ich anfangs erwähnte und der sich so schwer beschreiben lässt. Jedenfalls war ich ihn am Abend los.
Ja, also Wally! Das ist ein ziemlich seltsames Mädchen, so an die Fünfzig, rundum gut bepackt, manchmal grillig wie eine Glucke ohne Küken, manchmal aufgekratzt, als hätte sie grad einen Liebesbrief empfangen, immer aber zungenfertig, immer mit uns jungen Leuten hadernd, sobald wir nur nach Feierabend das Wohnlager betreten. »Zieht die Stiefel aus! Geduscht habt ihr auch noch nicht! Und wer räumt euch dann die Klamotten nach?« So geht das in einer Tour. Wir hören natürlich nicht hin, und wenn, dann nur, um ein wenig zu lästern. Das ergibt gewöhnlich den schönsten Spektakel. Wally regt sich gewaltig auf, wir lachen uns eins, und alle haben wir so unseren Spaß. Lange Zeit konnten wir nicht begreifen, weshalb sich das gute Mädchen so abrackerte. Eigentlich soll Wally nur die Baracken sauber halten, eine Arbeit, die sie zwar in Hitze bringt, aber bloß bis in den halben Nachmittag hinein beschäftigt, doch sie bleibt immer bis zum Abend. Sie kocht uns ein zweites warmes Essen, ganz freiwillig, und vor allem, weil sie glaubt, dass das Betriebsessen nichts tauge. Wir können’s ihr nicht ausreden, wir versuchen’s auch nicht mehr, denn wir bilden uns ein, dass sich Wally bei uns Monteuren trotz des täglichen Spektakels wohlfühlt, dass sie keine Sehnsucht nach ihrer Jungfernkammer im Dorf hat.
Was nun das Essen betrifft, so erleben wir allerlei Überraschungen. Wally mischt Vorschriften für die gesunde Küche mit den Empfehlungen des Fernsehkochs und uralten Lausitzer Bauernrezepten. Meist schmirgelt ein Steak ohne Namen in der Pfanne oder ein Möhrenschnitzel, zugleich mit Kräutern aus dem Wald hinterm Lager und überseeischem Muskat gewürzt, oder gestockte Eier mit Gundermann, Gemüseeintopf ganz ohne herkömmliches Gemüse blubbern leise vor sich hin, nur Wally weiß, was eigentlich drin ist. Wir fragen nicht viel, sondern halten gewöhnlich eine gewisse Zeremonie ein, nachdem wir uns an den gedeckten Tisch gesetzt haben. Schweigend kauen wir den ersten Bissen, schweigend und todernst sehen wir uns dabei lange an, bis einer betont gleichmütig sagt: »Na ja, der Hunger treibt’s ’rein.« In diesem Augenblick knallt Wally meist etwas auf die Herdplatte, einen Löffel oder eine Kelle, je nachdem, was sie gerade in der Hand hat. Dann rauscht sie beleidigt hinaus. Wir grinsen uns an, essen drauflos und wissen genau, dass das ganze Theater nur fünf Minuten dauert. Wally kann ihren Zorn nie lange bei sich behalten, sie muss ganz einfach mit vielen erbosten Worten über uns herfallen, muss sich Luft machen. Uns schmeckt es bei der Begleitung noch einmal so gut, den ganzen Tag lärmen die Niethämmer und Kompressoren, zischen die Schweißflammen, kreischen Kräne - und alles in der Stille des Kiefernwaldes, da sehnt man sich ganz einfach nach einer menschlichen Stimme.