Letzter Auftritt der Komparsen - Joachim Nowotny - E-Book

Letzter Auftritt der Komparsen E-Book

Joachim Nowotny

4,8

Beschreibung

Ja, der Krambach. Ein Mensch unter uns. Als er seine Chance erhält, will er es ihnen zeigen, seinem kühl kalkulierenden Chef und den Zauderern und Vorsichtigen, denen er begegnet. Und zwar mit einer großen menschlichen Komödie. Was aber geschieht, ist eher tragisch zu nennen. Es ereignet sich nicht auf den Brettern, die die Welt bedeuten, sondern in einem seltsamen Dorf, gleich nebenan, und widerfährt Menschen unmittelbar neben uns. Sie leben im Ausnahmezustand, denn der Tagebau rückt Stunde um Stunde näher. Er wird ihrem Bleiben am angestammten Platz ein sicheres Ende setzen. Ihm sehen sie entgegen, wie man in die Tiefe der Zeit schaut. Und ihre Aufmerksamkeit ist abgelenkt, gerade in jenen Augenblicken, in denen ein Kind ihrer bedarf. Ihm ist mit halber Aufmerksamkeit und mit Proklamationen nicht zu helfen, es benötigt die sorgende Hand, die ohne Hintergedanken und ganz aus dem Gefühl für die kreatürliche Not des anderen gereicht wird. Sie kommt zu spät. — Dass Krambach sein Stück nie schreiben wird, ist das kleinere Übel. Er hat auf der Bühne des Lebens versagt.

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Impressum

Joachim Nowotny

Letzter Auftritt der Komparsen

Novelle

ISBN 978-3-86394-193-2 (E-Book)

Das Buch erschien erstmals 1981 im Mitteldeutschen Verlag Halle - Leipzig.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Vorspann

Berichte dieser Art darf niemand fordern; sie schreibt man aus eigener Not. Die Reise trug zwar eindeutig dienstlichen Charakter, aber ihr Ergebnis steht im himmelschreienden Missverhältnis zum Auftrag. Was auf ein heiteres Spiel hinauslaufen sollte, geriet zu blutigem Ernst. Die Untersuchungen sind freilich noch nicht abgeschlossen. Vermutlich wird man sich auf die alles verwischende Formel vom Unfall mit tödlichem Ausgang einigen. Tatsächlich gab es kurz vor dem tragischen Ende eine Verkettung nicht mehr beeinflussbarer Umstände. Die Voraussetzungen für eine Rettung mochten geschaffen worden sein. Aber der Balken war schmal und der Junge außer sich. Zwischen der Hand, die ihm gereicht wurde, und seiner, die Hilfe endlich annehmen wollte, fehlten wenige Zentimeter. Sie dürften in den Protokollen eine wichtige Rolle spielen, beschreiben sie doch jene schicksalhafte Lücke, über die sich die juristische Verantwortung allzu leicht verflüchtigen kann. Um so schwerer wiegt die moralische. Ich gestehe, dass ich noch unmittelbar vor der Katastrophe den Impuls spürte, auch ihr entkommen zu wollen. Am Unglücksort - nun spreche ich auch schon vom Unglück - ereignete sich eine Art Slapstikszene, deren Verlauf jede Flucht ermöglicht hätte. Ich war als letzter auf den Schauplatz gekommen, denn der Städter in mir bedurfte einer größeren Ernüchterung, als sie vom Klang eines Martinshorns ausgeht. Das Große Haus, in dem ich mich sonst tagsüber aufhalte, befindet sich mitten auf dem verkehrsreichen Karlsplatz. Die elektronisch erzeugten Notschreie gehören beinahe zum Alltag; man lässt sich von ihnen nicht mehr aus der Arbeit reißen und fühlt sich noch stark dabei. Gearbeitet habe ich auch damals im Vorwerk. Freilich muss man mit der Spezifik meines Berufes vertraut sein, wenn man jenes rasche, kurzschrittige Auf- und Abgehen im ehemaligen Krautzschen Schlafzimmer als Arbeit begreifen will. Ich dachte konzentriert über mein Stück nach. Noch war keine Zeile geschrieben, und doch glaubte ich mich auf der Spur zu einer Idee, mit deren Hilfe sich der szenische Vorgang einem heiteren Grundgestus unterordnen ließ, was meinem Dienstreiseauftrag durchaus entsprach. Erst als das Horn schwieg und die rotierende Warnleuchte einen blitzenden Reflex auf dem Oberlicht der Fensterscheibe hervorrief, erwachte ich jäh aus dem, was ich bis zu diesem Zeitpunkt für allein wichtig hielt. Ich lief über den flachen Hügel, der das Vorwerk vom Dorf trennt, und sah im Laufen schon die schreckliche Konsequenz meiner Bemühungen. Sah also Pongo auf dem Balken, der aus dem Schallloch des Kirchturms ragte, sah die tödliche Tiefe unter ihm und die Leute, die vor dem niedergetretenen Zaun standen und wie gebannt in die Höhe starrten, sah den Kordon der Polizei-, Feuerwehr- und Sanitätswagen, sah schließlich auch mich, der ich drauf und dran war, die unsichtbare Schranke zwischen jenen, die befugt, und denen, die es nicht sind, zu durchbrechen, um zu retten, falls noch etwas zu retten war. Doch ein älterer Polizist trat mir in den Weg.

»Wer sind Sie?«

Ich war eingehüllt in die halb geliebte, halb verachtete Sicherheit meiner Kluft aus stumpfgelber Cordhose und graugrüner Kutte und spürte doch die Dringlichkeit der Frage auf der bloßen Haut.

»Krambach«, sagte ich über die Schulter hinweg.

Der Mann hielt mich am Ärmel fest; ich entzog mich seinem Griff, blieb aber in einer Art halb gekrümmter Demutsgebärde stehen. Ich verfluchte meinen Bart, mit dem ich versuche, meinem breiten Biedermannsgesicht wenigstens den Anflug von Kunst dienender Askese zu geben; hier konnte er mir schaden.

»Krambach«, sagte der Polizist und machte Anstalten, meinen Ärmel wieder zu ergreifen.

»Ja«, sagte ich, »genau! Ich bin nicht zum Spaße hier. Ich bin Dramaturg, verstehen Sie, Dramaturg beim Städtischen Theater. Ich suche ein Stück.«

Als ich es aussprach, wusste ich, dass es das Dümmste war, was man in solchen Augenblicken zu seiner Legitimation sagen kann. Aber nun war es heraus; nicht von ungefähr entsprach es der Rolle, die ich hier gespielt hatte und in der ich so grausam durchfallen sollte. Der Polizist zog seine Hand fast ruckartig von mir; er trat einen Schritt zurück und sah sich Hilfe suchend nach jemandem um. Aber alles, was Augen hatte, blickte auf Pongo. Wir mussten unsere Szene allein zu Ende bringen. Ich, indem ich sein Misstrauen ignorierte, er, indem er sich ein Alibi verschaffte.

»Gehören Sie dazu?«

Er wies auf die Leute vom Vorwerk. Auf Bruno und Kitty, auf Gundel, auf das Gastwirtsehepaar, auf Josef und Guste, auf den Lehrer Krautz. Mit einem kommentarlosen Nein hätte ich aller Verantwortung enthoben sein können. Nein, ich gehörte wahrhaftig nicht zu ihnen, schon gar nicht in jenem Sinne, in dem man ein Schicksal teilt. Ich war erst wenige Tage im Dorf und hatte bis zum Wahrnehmen des Notsignals vor, es in wenigen Tagen wieder zu verlassen. Sie aber wollten oder mussten bleiben bis zum Ende der Frist, die ihnen gesetzt war. Und wenn sie dann doch gehen würden, beendeten sie keine Dienstreise, sondern gingen trotz aller Hilfe in ein neues, ungewisses Leben. Ich war ihr Gast in einer Zeit gewesen, in der sie Gäste keineswegs gebrauchen konnten. Sie hatten meinen Einbruch in die harte Welt ihrer einsamen Entschlüsse geduldet, weil es ihnen an Kraft gebrach, das Hausherrenrecht wahrzunehmen, und weil ihnen der Boden, den sie mir hätten verweigern können, unaufhaltsam entglitt, ja, schon nicht mehr gehörte. Dieser Umstand verwischte die Unterschiede zwischen uns; er hob sie aber keineswegs auf. Jetzt, wo der Tod neben Pongo auf dem Balken saß, war die Verlockung groß, sie zu betonen. Und doch sagte ich:

»Ja. Ja, ich gehöre zu ihnen.«

Der Polizist gab mir den Weg frei. Auf seinem Gesicht erschien für einen Augenblick der Widerspruch jener Genugtuung, mit der der Mensch einen Kiesel aus dem Weg räumt, wenn es ihm schon nicht gelingt, den schweren Stein zu bewegen. Ich sah auch das. Sah mich zu den Leuten treten und meinen Augen die Richtung ihrer Blicke geben. Und wenn ich nun einen Bericht schreibe, dann nicht, um meiner Dienstpflicht zu genügen, sondern um dieses Ja zu begründen. Es war das erste spontane Bekenntnis einer Schuld, die ich mir ganz und gar bewusst machen will. Erst dann werde ich wieder arbeitsfähig sein.

1. Kapitel

Der Auftrag an sich war eine Zumutung. Das soll keine Schutzbehauptung sein, denn als ich ihn annahm, wusste ich, was ich tat. Seine Formulierung erwuchs, wie bei vielen seiner Art, aus den Unwägbarkeiten unseres Metiers. Niemand hatte einen solchen Verlauf der Spielplankonferenz erwartet. Auf ihr ging es um die Premieren und Uraufführungen der Sprechbühne für die nächste Spielzeit. Ich durfte an ihr teilnehmen, sozusagen auf der letzten Bank. Vom Absolventen der Hochschule und heurigen Hasen erwartete man wohl respektvolle Aufmerksamkeit, doch keine Meinung. Wenn man über die Fünfundzwanzig hinaus ist, fällt es einem freilich schwer, diese Rolle zu spielen. Indes, ich hatte gelernt, ein Bein über das andere zu schlagen und solche Vorgänge von der heiteren Seite zu nehmen. Es gab reichlich Gelegenheit zu ironischer Betrachtung.

Schon die Teilnahme des Intendanten. Er war ein erfolgreicher Opernmann. Sein Ruf gründete sich auf beachtliche Inszenierungen für die Musikbühne; erst kürzlich hatte er den »Tristan« an einem renommierten britischen Haus einstudiert. Jedermann tolerierte, dass er sich bei allen nicht die Oper betreffenden Fragen vertreten ließ. So hatte auch keiner mit seiner Anwesenheit auf jener Konferenz gerechnet, auf der es einzig und allein um das Schauspiel ging. Der Chefdramaturg, ein Mann von fahriger Fülle, dessen rastlosen Einsatz angesichts mannigfaltiger Zumutungen ich schaudernd bewunderte, dampfte vor Aufregung bei seiner wort- und gestenreichen Rede, er ließ sich seine kläglichen Pointen durch ein gnädiges Nicken seitens des Intendanten bestätigen und nahm, vom Pult stolpernd, und drei Stühle zwischen ihm und sich freilassend in der ersten Reihe wieder Platz. Auch die Vertreter der Öffentlichkeit, denen das Spektakel eigentlich galt, fühlten sich hochgeehrt. Der Sekretär der Bezirksleitung hob ausdrücklich die Übernahme eines bewährten, gleichwohl problemreichen Gegenwartsstückes aus dem Repertoire einer hauptstädtischen Bühne hervor. Der Kulturbund äußerte Genugtuung über die Neueinstudierung des »Nathan«, auch wenn das Lessing-Jahr vorbei sei. Die FDJ lobte den Mut, mit dem man sich an die deutsche Erstaufführung eines sowjetischen Jugendstückes wage, der Sprecher der Anrechtsbesucher wies auf die hohe Publikumswirksamkeit jener Zwitter hin, in denen sich Sprechtheater mit Formen des Musicals verband; er äußerte die Überzeugung, dass man auch diesmal den guten Geschmack bei der Darbietung spätbürgerlich-frivoler Geschichten nicht verfehlen werde. Als man hierauf zu murmeln begann, trat der Intendant höchstpersönlich und sicher programmwidrig ans Pult. Es wurde augenblicklich still; man war von dem Mann gewöhnt, dass er auch ernsthaften Disputen eine launige Note zu geben vermochte.

Er freue sich, begann er, freue sich wirklich außerordentlich über die allgemeine Zustimmung, die der Plan in der Öffentlichkeit gefunden habe. Aber er wolle doch die Gelegenheit wahrnehmen und in aller Bescheidenheit fragen, ob jemand den Umstand bedenke, dass man schließlich zu einer Beratung zusammengekommen sei. Beratung. Er wiederholte das Wort. Das aber hieße doch wohl nichts anderes, als dass man Rat erbete. Rat von den hier anwesenden Anwälten des Publikums. Der verehrte Kollege Chefdramaturg habe schließlich mit seinen Spielplaninformationen eine Art Vorschlag unterbreitet. Ihn gälte es zu diskutieren, nicht nur zustimmend, auch im Hinblick auf Veränderung. Es sei doch wohl keine unbillige Erwartung seinerseits, wenn er auf Kritik gehofft habe, die das Theater u. U. veranlassen könne, seinen Planvorschlag zu überdenken.

An dieser Stelle der Rede knackte neben mir ein Stuhl. Ich saß durchaus nicht allein in der letzten Reihe. Neben mir erhob sich die hagere Gestalt von Hinnerk Lorenz, genannt der Eiserne Heinrich, seines Zeichens stellvertretender Chefdramaturg, doch auf eine Weise kaltgestellt, die ihn, wäre Raum für eine allerletzte Reihe gewesen, sogar noch hinter mich verbannt hätte. Er hatte sich bei dem Wort Kritik so heftig aufgerichtet, dass die Lehne ächzend reagierte. Das Geräusch erfüllte für den Bruchteil einer Sekunde den Raum, denn alle anderen waren in eine atemlose Erstarrung verfallen.

Der Intendant übersah mit einem Blick die Wirkung seines Spiels; er fiel nun in einen fast österreichisch anmutenden Tonfall, indem er versicherte, er wolle selbstredend niemanden erschrecken. So bemerke er auf den Zügen des verehrten Kollegen Chefdramaturgen doch eine jähe Blässe, sie könne natürlich auch von der Notwendigkeit der Kur sprechen, die der gute Mann noch vor Beendigung der laufenden Spielzeit in Anspruch nehmen wolle.

An dieser Stelle wagte jemand aus den Reihen der Gäste einen dümmlichen Lacher. Als hätte er darauf gewartet, nahm ihn der Intendant auf; er strich sich das wehende Silberhaar über das rosige Haupt und wandte sich lächelnd seinem schwitzenden Untergebenen zu. Nichts für ungut, Kollege, man wisse schließlich allenthalben, welche Mühe es mache, innerhalb eines Stadttheaters Schauspiel zu betreiben. Er habe den Plan auch nicht ernsthaft zur Disposition stellen wollen, denn, nicht wahr (und hier sprach er wieder zu allen), was im April nicht längst endgültig unter Dach und Fach sei, das habe keine Chance, in der nächsten Saison zur Bühnenreife zu gedeihen; insofern wisse auch jeder Anwesende, dass alle Entscheidungen längst gefallen seien, getroffen werden mussten im Interesse der Sache, und zwar unter Heranziehung aller Erfahrung und Wahrnehmung der ganzen Verantwortung vor der Gesellschaft.

Was die Konferenz anbelange, so sei sie freilich nicht unnütz, sondern Ausdruck des vertrauensvollen Miteinanders, sei gute Tradition und Nachweis für ordentlich geleistete Arbeit.

Er hatte zu reinem Bühnendeutsch und verbindlichem Ernst zurückgefunden. Die Leute lehnten sich beruhigt zurück; die Bewegung fiel bei denen am deutlichsten aus, die wach genug gewesen waren, das heikle Spiel, das da mit ihnen getrieben wurde, zu begreifen. Auch Lorenz senkte die Schultern. Es gab Applaus.

Mich erfüllte sarkastische Genugtuung. Glaubte ich doch, dem Intendanten endlich auf die Schliche gekommen zu sein. Nicht anders inszenierte er seine Opern. Immer trieb er den dramatischen Vorgang auf eine atemlos befürchtete Spitze, auf einen Gipfel der Frivolität; doch kurz vor dem Höhepunkt, hinter dem alles in Banalität umschlagen würde, brach er ab und schwenkte in die herkömmlichen Sehgewohnheiten des Publikums ein. Es applaudierte ihm um so williger und heftiger, als es sich vor dem Schlimmsten bewahrt sah.

Im Hochgefühl der Entdeckung war mir ein Mann entgangen, der sich offenbar noch während des Beifalls erhoben hatte und eine Weile in der Mitte stand, ehe er bemerkt wurde. Schließlich wandte man sich ihm zu, teils belustigt, teils befremdet. Der Mann war mittelgroß und mittelbraun; er trug eine verwaschene Windbluse und Turnschuhe. Er zeigte trotz seines Aufzuges kein Anzeichen von Verwirrung, auch nicht, als es still um ihn wurde. Vielleicht kannte er die herrschenden Regeln nicht, vielleicht waren sie ihm gleichgültig. Auf jeden Fall war er naiv oder listig genug, die Rede des Intendanten, die ja die Konferenz beschließen sollte, für bare Münze zu nehmen. Er habe, begann er trocken und ohne jede verbindliche Färbung in der Stimme, ehrlich gesagt, auf ein Wort gewartet, das ihm ermögliche, seinen Auftrag loszuwerden. Dass es gefallen sei, danke er dem Vorredner. Er selbst sei ein Vertreter eines Vertreters; im Werk grassiere die Grippe, auch die Kulturkommission sei von ihr betroffen. Die Brigade, der er angehöre, stelle Ersatzteile für ein Produkt her, das beinahe jedermann benötige, dessen Qualität aber vom Weltstand weit entfernt sei. Deutlicher müsse er wohl nicht werden. Die Defekte häuften sich, die Reparaturbetriebe seien überlastet, die Bevölkerung bombardiere die staatlichen Organe mit Eingaben, der Wirtschaftsrat untersuche die Situation und verfasse Berichte für die Bezirksleitung, es habe Kommissionen gegeben, die schließlich feststellten, dass der Weltstand auch in absehbarer Zukunft nicht erreichbar sei. Man müsse wie bisher weiterwursteln und die Reparaturkapazität erhöhen. Vor allem gälte es, endlich genügend Ersatzteile bereitzustellen. Ob die Anwesenden ahnten, worauf das hinausliefe? Auf seine Brigade nämlich. Sie schaffe es nicht, seit Monaten nicht, sie könne es nicht schaffen, weil außer dem Plan nichts gestiegen sei, weder der Arbeitskräftefonds noch die Qualität des Materials oder der Grad der Mechanisierung. Den letzten aber beißen die Hunde. Und der Letzte, das sei nun mal seine Brigade. Sie habe nichts zu lachen, seit Monaten nicht. Und wenn er sich den Spielplan ansehe, dann würde sie es auch nicht können, wenn sie ins Theater ginge. Kurz und gut: Ihm fehle das heitere Stück unserer Tage. Man habe schließlich ein Recht auf Entspannung, wenn einem tagsüber die Probleme bis zum Halse stünden. Das wolle er im Auftrag seiner Kollegen hier gesagt haben.

Er setzte sich so unauffällig selbstverständlich, wie er sich erhoben haben mochte. Saß und kreuzte die Turnschuhe mit einer Entschiedenheit, die anzeigte, dass er kein weiteres Wort sagen würde.

Es war der Chefdramaturg, der die peinvolle Starre, in die das Auditorium versunken war, zuerst überwand. Er hatte keinerlei Konzept für das, was er sagen wollte, es hielt ihn einfach nicht auf dem Platz. Nun, sagte er, es gälte sich zunächst zu bedanken für die Meinungsäußerung des Kollegen, den man noch nie hier gesehen habe, der aber gleichwohl zur Belebung der beinahe schon abgeschlossenen Diskussion beigetragen habe. Dank also. Und die Versicherung, alles zu tun, was seitens des Theaters zu tun sei, angesichts der geäußerten Bedürfnisse, wobei freilich bemerkt werden müsse, dass man auch in der Vergangenheit allerlei im heiteren Genre getan habe, es sei nur an die Inszenierung der Komödie des bekannten Dramatikers (hier stockte er, weil ihm offenbar unter dem Eindruck der Spannung der Name entfallen war), also an »Das Nest im Heu« erinnert; das Stück habe immerhin zweihundert Aufführungen erlebt, deren letzte gar vom Fernsehen übertragen worden sei, obwohl man den Stoff vorher bereits erfolgreich verfilmt hatte. Man stehe in ständiger Verbindung mit dem Autor. Leider sähe man noch kein neues Stück; nichts sei schließlich schwerer herzustellen als geistvoller Spaß, als gehaltvolle Heiterkeit, als beziehungsreicher Humor, als ...

Er setzte sich und schwieg abrupt. Die letzte Replik hing im Raum und verbesserte die Situation nicht. Die Beklemmung wuchs. Der Intendant schwieg betont und zeigte so an, dass er seine Rolle als abgespielt betrachtete.

Schließlich sprach der Sekretär der Bezirksleitung, gleich vom Platze aus. Obwohl der Kollege aus dem Großbetrieb komplizierte ökonomische Fragen angesprochen habe, die man am rechten Ort ausdiskutieren solle, möchte er sich doch seiner Schlussfolgerung anschließen. Es gäbe ein legitimes Recht der Werktätigen auf niveauvolle Unterhaltung. Das heitere Gegenwartsstück gehöre ohne Einschränkung dazu. Diese Feststellung wolle er, der im Übrigen den Verlauf der Beratung positiv einschätze, dem Theater als Aufgabe für die Zukunft zurücklassen.

Man erhob sich sichtlich erleichtert und strömte, süchtig nach frischer Luft, aus dem Konferenzraum. Ich geriet in den Wirbel der Drängenden und verlor den Mann in den Turnschuhen aus den Augen. Ich bedauerte es; er hatte mir imponiert.

Sein Auftritt mochte indes mehr bewirkt haben, als die Schlusssätze der Beratung vermuten ließen. Zunächst spürte ich nichts davon. Ich saß in meinem Arbeitsraum im Intendanzgang unter einer flackernden Neonröhre und versuchte, das Konzept für das Programmheft zum »Nathan« zu formulieren. Programmhefte waren mein Schicksal, seit ich dem Theater angehörte. Die Stunden des frühen Nachmittags vergingen. Ich überlegte, ob man dem Appell zur Toleranz aktuelle Aussagen palästinensischer Flüchtlinge oder iranischer Schahgegner entgegenhalten konnte, was immerhin bedeutet hätte, dass man sich auf dem vom Stück angenommenen Territorium bewegte, und davon zeugen würde, dass Toleranz nicht von guten Vorsätzen abhängig ist. Ich überschlug die Chancen, die der Vorschlag beim Chefdramaturgen haben könnte und war noch zu keinem Ergebnis gekommen, als plötzlich das Telefon klingelte. Ich fuhr zusammen, denn solange ich hier saß, hatte es noch nie geklingelt. Als ich dann die knarrende Stimme des Eisernen Heinrichs vernahm, der mich zu sich befahl, war die Verwirrung komplett.

Hinnerk Lorenz war der dienstälteste Mann im Intendanzgang. Er residierte im größten und zugleich repräsentativsten Raum. Ihn hatte er Ende der fünfziger Jahre bezogen, als er, von der Parteischule kommend, dem damaligen Chefdramaturgen, einem windigen Burschen, als politisches Gewissen beigegeben worden war. Der Mann ging bald darauf über die damals noch grüne Grenze. Lorenz widmete sich mit unbeirrbarem Ehrgeiz der Bewegung Schreibender Arbeiter. Es galt, sie für die Bedürfnisse des Sprechtheaters zu formieren. So veranlasste er einen Buchdrucker, die Geschichte einer Brigadeauseinandersetzung zu Szenen für ein Produktionsstück umzuarbeiten. Saß mit ihm nächtelang und diskutierte über die Bedeutung der sozialistischen Demokratie und die Rolle der Staatsmacht. Zerbrach dabei, wie man mir unter der Hand erzählte, drei Stühle, weil er die Angewohnheit besaß, sich im heißen Disput heftig gegen die Lehne zu werfen. Beharrte unnachgiebig auf der Richtigkeit seiner theoretischen Erkenntnisse, auch wenn der Drucker aus der unmittelbaren Anschauung andere Erfahrungen ins Feld führte. Scheiterte zunächst schmählich, weil ihn die ästhetische Seite des Stückes nicht, aber auch gar nicht interessierte. Weil er von der Bühne herab agitieren, im platten Sinne überzeugen wollte und gerade das für neues Theater hielt. Weil sich die Schauspieler auch nach der Androhung härtester Maßregelungen weigerten, die hölzernen Dialoge zu sprechen. Gab aber nicht klein bei, sondern organisierte hartnäckig den Erfolg, den man damals das Beispiel nannte. Holte sich einen jungen Mann von der Hochschule, einen zur Fülle neigenden fahrig-schüchternen Menschen, der zu lenken war. Veranlasste ihn, als erste dramaturgische Arbeit, die Szenen zu einem spielbaren Stück umzuformen. Zerbrach noch einmal drei Stühle, als er das Ergebnis las. Verfolgte die Proben mit nicht nachlassendem Misstrauen. Tilgte noch am Tag der Uraufführung einen Satz, mit dem sich eine im Stück vorkommende Angestellte lächelnd über die mäßige Qualität des Betriebsessens ausließ. Nahm den höflich gespendeten Beifall des Premierenpublikums mit unbewegtem Gesicht hin. Kaufte sich erst an jenem Tag ein Stuhlkissen, an dem die zentrale Presse Stück und Ensemble ausdrücklich als beispielgebend hervorhob. Zeigte keine Reaktion, als der eigentliche Urheber des Erfolgs, der schreibende Drucker, zur Verleihung des Preises für künstlerisches Volksschaffen nicht erschien, sondern ostentativ hinter der Laube seines Kleingartens Holz spaltete. Nahm die Urkunde in Empfang und hängte sie an die Wand seines großen Zimmers. Dort hing sie noch heute als Beweis dafür, dass nicht alles, was man mir erzählt hatte, Legende war.

Dafür stand Lorenz freilich selber. Nie hatte ich jemanden an seine Tür klopfen sehen. Nie erlebt, dass er sich zu Wort meldete. Er war anwesend. Saß gewöhnlich hinten, aber sehr aufrecht. Wer seiner vom Zipperlein nur wenig gebeugten, straffen Hagerkeit zufällig auf dem Gang begegnete, der trat unwillkürlich zur Seite, obwohl Raum genug für drei war. ich fragte mich in dem halben Jahr meiner Zugehörigkeit zum Theater immer wieder, was er eigentlich tat. Die Leitung des Hauses befand sich längst in den Händen jüngerer Leute, selbst der von ihm einstmals protegierte Dramaturg hatte ihn überholt und war sein Vorgesetzter geworden. Es blieb mir ein Rätsel, wie man gleichzeitig so überflüssig und so gefürchtet sein kann.

Nun, ich hatte nicht vor, das Kaninchen zu spielen. Ich klopfte, trat ein, setzte mich und kreuzte die Beine. Lorenz studierte offenbar ein Manuskript. Er ließ mich hängen. Vielleicht sollte ich mich mit dem Inventar des Zimmers vertraut machen. Tatsächlich, da sah ich, direkt über seinem militärisch gezogenen Scheitel, die Urkunde. Daneben einen Bücherschrank, die Klassiker in Reih und Glied hinter Glas. Auf dem Schreibtisch die Gipskopie einer römischen Büste. Sonst makellose Sauberkeit und spartanische Leere.

Ich versuchte, die Haltbarkeit des Stuhles, auf dem er saß, zu taxieren, um der Beklemmung mithilfe einiger ironischer Betrachtungen zu entkommen. Ich selbst drückte eine Art Hocker. Zurücklehnen konnte ich mich nicht.

Lorenz hob endlich den Blick aus dem Hefter. Er fixierte mich, als sähe er mich zum ersten Mal, und ging übergangslos zum Angriff auf meine ausgestellte Lässigkeit über.

Ob ich vom Verlauf der Spielplanberatung gehört habe? Ob ich die Beschlüsse der Leitung kenne? Ob ich zur Kenntnis genommen hätte, dass der Chefdramaturg schon morgen seine Kur antrete und er, Lorenz, inzwischen seine Geschäfte führen werde? Ob von mir Vorstellungen hinsichtlich der Erstellung (er sagte wirklich Erstellung) eines heiteren Stückes für den kommenden Spielplan zu erwarten seien. Ob er mit mir rechnen könne, wenn es gälte, Sofortmaßnahmen zu ergreifen.

In meiner Verwirrung habe ich abwechselnd genickt oder den Kopf geschüttelt, vermutlich jeweils an der falschen Stelle. Ich zog meine Füße unwillkürlich unter den Hocker und geriet so in die Pose fast unterwürfiger Aufmerksamkeit, die mich bis in meine Albträume verfolgt und regelmäßig unter der Wucht heftiger Schamgefühle erwachen lässt. Lorenz ritt indes unbeeindruckt Attacke auf Attacke. Er musste doch wissen, wer auf der Spielplanberatung neben ihm gesessen hatte, dass man mich an den Beschlüssen der Leitung nicht beteiligte, dass man jeden Vorschlag von meiner Seite wie die brave Erledigung einer Hausaufgabe behandelte, dass mit mir deshalb zu rechnen war, weil ich Anweisungen auszuführen hatte.

Er habe hier, fuhr er knarrend fort, die Einsendung eines Landlehrers aus den späten fünfziger Jahren. Szenen aus dem Dorfleben für einen Wettbewerb, den das Theater seinerzeit ausgeschrieben habe, um die Gegenwart auf die Bühne zu holen. Das Ergebnis dürfte mir bekannt sein. Wenn man auch im Hause kaum noch davon spreche, so sei doch das Stück »Kleine Leute - große Leute« in die Theatergeschichte eingegangen und zweifellos Lehrstoff an der Hochschule gewesen. Die Entscheidung sei damals zugunsten dieser Arbeit ausgefallen, weil man hierorts mit einem Publikum aus industriellen Ballungsgebieten rechnen müsse. Die Szenen aus dem Landleben seien aber nicht weniger interessant gewesen. Große Konflikte von der heiteren Seite gesehen. Er habe immer bedauert, dass man die Angelegenheit nicht weiter verfolgen konnte ...

Ich erinnerte mich: Einer der Dozenten hatte das Stück tatsächlich erwähnt. Als Beispiel für jene Form von stillen Theaterskandalen, die seinerzeit üblich waren. Obwohl hochdekoriert und in allen Zeitungen hervorgehoben, spielte es keine Bühne der Republik nach. Es verschwand in der Versenkung, als die Möglichkeiten, die Leute über ein nachdrücklich betriebenes Anrechtswesen ins Theater zu nötigen, erschöpft waren. Und ich erschrak vor der Gewissheit, einem Manne gegenüberzusitzen, der das alles anders sah. Der hartnäckig an der von ihm selbst geschaffenen Erfolgslegende festhielt, der die erste Gelegenheit, die sich ihm bot, nutzte, um dort fortzufahren, wo er seinerzeit bei nüchterner Betrachtung gescheitert war. Die Werktätigen verlangten heitere Gegenwartsstücke. Also muss man sie organisieren!

Er habe, fuhr Lorenz, meine aufeinandergepressten Kiefer missachtend, fort, diesem Lehrer ein Telegramm geschickt und ihm einen Besuch angekündigt. Was der Mann damals geschrieben habe, sei zwar von der Entwicklung überholt, aber wer einen solchen Blick für das Notwendige besäße, dem käme die Fähigkeit zur szenischen Gestaltung auch nach Jahren nicht abhanden. Außerdem dürfe man getrost davon ausgehen, dass das Leben auf dem Lande heute weit mehr Stoff für eine heitere Behandlung biete als je zuvor. Vermutlich verfüge der Mann über volle Schubladen.

Er sprach, ungeachtet der ausbleibenden Reaktion, weiter, erwähnte die Möglichkeit, dass sich der Lehrer zieren könne oder überlastet sei, dass man ihm aber angesichts des Ernstes der Situation, auf die schließlich der Sekretär der Bezirksleitung nachdrücklich hingewiesen habe, keine Möglichkeit zu Ausflüchten lassen solle, vielmehr ungesäumt nachstoßen müsse, auch wenn keine Reaktion auf das Telegramm erfolge.

Ich hörte seine Worte und hörte sie nicht. Ich spürte die Zumutung wachsen, die aus den gängigen Formulierungen aufstieg und die sich, einem alle Vernunft umhüllenden Nebel gleich, auf mich herabsenken würde, ich vergaß, über meine Art zu sitzen und zu reagieren, nachzudenken, ich wurde willenlos unter dem Blick dieses ungeheuer zielstrebigen Mannes, der es im Gegensatz zu mir gelernt hatte, seine Skrupel über Bord zu werfen, um manövrierfähig zu bleiben, der mir nun gleich einen Auftrag erteilen würde, von dessen Sinnlosigkeit ich überzeugt war, den ich gleichwohl auszuführen hatte. Denn er war befugt. Er durfte Weisungen geben. Der Mann in den Turnschuhen hatte ungeahnte Wirkung erzielt.

Mit letzter Anstrengung um einen Rest Selbstachtung bemüht, ergriff ich die Flucht nach vom. Ich stand abrupt auf und sagte:

»Gut, ich fahre.«

Damit setzte ich einen Prozess in Gang, dessen Ausgang vom schrillen Auf und Ab des Martinshorns begleitet war. Aber davon konnte damals keiner etwas ahnen.

»Gleich morgen«, erwiderte Lorenz.

Er lehnte sich sacht zurück; jetzt erst sah ich, dass die Stuhllehne aus elastischem Rohr bestand.

2. Kapitel

Man wird es mir kaum verübeln, wenn ich die Dinge am nächsten Morgen mit anderen Augen ansah. Der April zeigte seine bessere Hälfte; seit Tagen schien die Sonne aus zartblauem Himmel, die Büsche trieben grüne Spitzen, und die Amselhähne sangen ihre Lebenslust von den Fernsehantennen. Die Leute hoben auf dem Weg zur Arbeit ihre Nasen in den Wind und träumten von einer Reise. Mir allein war es vergönnt, eine solche anzutreten. Und nach allem, was einem der gesunde Menschenverstand sagt, lag es schon im Aberwitz des Auftrages, dass es sich um eine Vergnügungsreise handeln würde.