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Weihnachten, für den Großteil der Menschen das Fest der Liebe, der Besinnung, der Freude und der Gemeinschaftlichkeit; doch es gibt auch einige, für die ist es ein »Fest« des Hasses, des Neides und der Kaltblütigkeit. Und diese Menschen nehmen Weihnachten zum Anlass, sich an ihren Mitmenschen zu rächen, sie zu hintergehen, sie zu betrügen oder manchmal auch aus dem Weg zu räumen …
Zu »Der Schneemann sieht alles«: Der hochbetagte Alwin Timmen, Patriarch der Familie, »lädt« wie alle Jahre seine Anverwandten zum Weihnachtsfest ein, besser gesagt: Er zitiert sie heran. Seinen Enkel Heiner, der Anwalt ist, beauftragt er bei dieser Gelegenheit, alles in die Wege zu leiten, um sein gesamtes Vermögen in eine Stiftung umzuwandeln. Damit würde er seine Nachkommen, bei denen er den Stand eines tyrannischen Ekelpakets hat, enterben. Er schikaniert und demütigt sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit und erfreut sich sogar daran.
Plötzlich tritt das ein, was jeder insgeheim erhofft: Der alte Herr verstirbt unverhofft. Schnell stellt sich heraus, dass er keines natürlichen Todes gestorben ist und alle anwesenden Familienmitglieder ein Tatmotiv haben …
In diesem Band sind folgende Weihnachtskrimis enthalten:
»… steh’n die Mörder vor der Tür!« – von Wilfried A. Hary
Der vierte Weihnachtsmann – von Rainer Keip
Es gab auch gute Tage – von Sanela Egli
Niemand schießt auf den Weihnachtsmann! – von Tomos Forrest
Der Schneemann sieht alles – von Hans-Jürgen Raben
Katharina Ledermacher und das mörderische Weihnachtsfest – von Bernd Teuber nach Motiven von Richard Hey
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Wilfried A. Hary, Tomos Forrest, Hans-Jürgen Raben,
Rainer Keip, Sanela Egli, Bernd Teuber, Richard Hey
Ein kriminelles Weihnachtsfest
- Band 1 -
6 Weihnachtskrimis
Copyright © by Authors/Bärenklau Exklusiv
Cover: © by Kathrin Peschel nach Motiven, 2021
Korrektorat: Kerstin Peschel
Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
»… steh’n die Mörder vor der Tür!«
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
Der vierte Weihnachtsmann
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
Es gab auch gute Tage
Niemand schießt auf den Weihnachtsmann!
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
Der Schneemann sieht alles
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
Epilog
Katharina Ledermacher und das mörderische Weihnachtsfest
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
Weitere Weihnachtsbände sind erhältlich:
Weihnachten, für den Großteil der Menschen das Fest der Liebe, der Besinnung, der Freude und der Gemeinschaftlichkeit; doch es gibt auch einige, für die ist es ein »Fest« des Hasses, des Neides und der Kaltblütigkeit. Und diese Menschen nehmen Weihnachten zum Anlass, sich an ihren Mitmenschen zu rächen, sie zu hintergehen, sie zu betrügen oder manchmal auch aus dem Weg zu räumen …
Zu »Der Schneemann sieht alles«: Der hochbetagte Alwin Timmen, Patriarch der Familie, »lädt« wie alle Jahre seine Anverwandten zum Weihnachtsfest ein, besser gesagt: Er zitiert sie heran. Seinen Enkel Heiner, der Anwalt ist, beauftragt er bei dieser Gelegenheit, alles in die Wege zu leiten, um sein gesamtes Vermögen in eine Stiftung umzuwandeln. Damit würde er seine Nachkommen, bei denen er den Stand eines tyrannischen Ekelpakets hat, enterben. Er schikaniert und demütigt sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit und erfreut sich sogar daran.
Plötzlich tritt das ein, was jeder insgeheim erhofft: Der alte Herr verstirbt unverhofft. Schnell stellt sich heraus, dass er keines natürlichen Todes gestorben ist und alle anwesenden Familienmitglieder ein Tatmotiv haben …
***
In diesem Band sind folgende Weihnachtskrimis enthalten:
»… steh’n die Mörder vor der Tür!« – von Wilfried A. Hary
Der vierte Weihnachtsmann – von Rainer Keip
Es gab auch gute Tage – von Sanela Egli
Niemand schießt auf den Weihnachtsmann! – von Tomos Forrest
Der Schneemann sieht alles – von Hans-Jürgen Raben
Katharina Ledermacher und das mörderische Weihnachtsfest – von Bernd Teuber nach Motiven von Richard Hey
***
von Wilfried A. Hary
»Advent, Advent, ein Lichtlein brennt. Erst brennen zwei, dann drei, dann vier, dann steh’n die Mörder vor der Tür!«, murmelte Phillip Weinhaus grimmig vor sich hin.
Er musste nicht auf den Kalender sehen, um zu wissen: Es war wieder mal so weit. Ein Tag vor Weihnachten.
Sagte man nicht Heilig Abend dazu? Zumindest zum Ende dieses Tages. Für ihn allerdings war das schon lange nicht mehr ein Heiliger Abend. Denn es war genau der Abend, an dem er damals seine Eltern und seine Geschwister verloren hatte, halt seine ganze Familie. Ausgelöscht von Mörderhand.
Von möglicherweise mehreren Tätern, laut Polizeibericht, obwohl das aus Sicht der Polizei niemals völlig sicher gewesen war. Weil man niemals einen Mörder hatte überführen können.
Damals hatte es noch keine DNA-Nachweise gegeben, und Fingerabdrücke hatten der oder die Täter erfolgreich vermieden.
Einbrecher, hieß es. Ja, man neigte am Ende tatsächlich eher zu der Annahme, dass es sich doch um mehrere gehandelt haben könnte. Dafür gab es eigentlich nur ein einziges Indiz: Wieso hatten alle in ihren Betten getötet werden können, nacheinander, ohne dass auch nur eines der potenziellen Opfer darauf aufmerksam geworden wäre? Als hätten die Täter gleichzeitig zugeschlagen?
Ein einzelner Täter hätte das wohl schwerlich schaffen können, nach Meinung eines Teils der ermittelnden Beamten. Aber das war auch so ziemlich das einzige Ergebnis ihrer jahrelangen Ermittlungen gewesen.
Phillip Weinhaus, der einzige Überlebende, hatte vom wahrhaft dürftigen Ermittlungsergebnis erst im Nachhinein erfahren. Man hatte ihn in einem Hospiz untergebracht, geführt von frommen Schwestern. Als eines unter all den sogenannten Waisenkindern – obwohl er beinahe die einzige echte Waise gewesen war, weil von den meisten anderen Kindern mindestens ein Elternteil noch gelebt hatte – war er ein Sonderling geblieben: wortkarg und kaum jemals an Kontakten interessiert.
Dass er dadurch nicht zwangsläufig Opfer von allerlei Hänseleien geworden war, wie es in jenem sogenannten Waisenhaus zum Alltag gehört hatte, in dem außerhalb der Beobachtungszeiten durch die frommen Schwestern das Gesetz des Stärkeren maßgebend gewesen war, hatte er … eben seiner eigenen Stärke zu verdanken.
Ein von Natur aus kräftig gewachsener Bursche, der während seiner gesamten Kindheit stets viel älter gewirkt hatte als er in Wirklichkeit gewesen war. Beim gewaltsamen Tod seiner Eltern und seiner beiden Geschwister hatte er wie mindestens acht Jahre alt ausgesehen anstatt nur fünf. Ein wahrlich kräftig gewachsener Bursche, der sich grundsätzlich nichts gefallen ließ. Weder im Kindergarten noch danach im Waisenhaus oder gar in der Schule.
Er erinnerte sich zwar kaum mehr an das Aussehen seiner Familie, die er auf so tragische Weise verloren hatte, aber doch an jene Szene, als die Bande dieses Kilians ihm aufgelauert hatte. Ausgerechnet ihm, dem Waisenknaben. Im wahrsten Sinne des Wortes. Nämlich auch was seine persönlichen Besitztümer während seiner Zeit im Waisenhaus betraf, die man ganz einfach aufzählen konnte, ohne auch nur eine einzige Zahl bemühen zu müssen, außer der Null! Und ausgerechnet ihm lauerte die Bande auf? Wie sie es schon so oft mit anderen Kindern gemacht hatten, die keine Chance gegen die Übermacht haben konnten?
Wenn die Opfer sich dann versuchten zu beschweren, scheiterten sie abermals, und jeglicher Verrat wurde von der Bande doppelt und dreifach geahndet.
Dieser Killian war nämlich nicht nur stark und gewalttätig und konnte sich hundertprozentig auf seine Mitläufer verlassen, sondern stammte aus besonderem Hause: Sein Vater war der berühmte Rechtsanwalt Dr. Peter West gewesen, der inzwischen schon längst nicht mehr lebte.
Angeblich hatte er niemals auch nur einen Prozess verloren, und der Prozesse gab es viele während der Laufbahn dieses Anwaltes. Wahrscheinlich viel zu viele, denn am Ende starb er durch Herzinfarkt. Wohl dank der permanenten Überarbeitung. Ohne jemals zu erfahren, dass sein verhätschelter Sohn Kilian, dessen gewalttätigen Neigungen er stets vor der ganzen Welt erfolgreich geleugnet hatte, anschließend erst recht auf die schiefe Bahn geriet und die Jahre danach meist hinter Gittern verbrachte.
Inzwischen hoffentlich bis an sein Lebensende, wie Phillip Weinhaus sich wünschte, obwohl es ihn eigentlich nicht wirklich interessierte.
Denn nur eines hatte ihn jemals interessiert, zumindest seit seine Familie ausgelöscht worden war: Die Täter zu finden und zur Strecke zu bringen!
Nur deshalb hatte er dies alles ertragen: die Zeit im Waisenhaus der nur dem Ruf nach so frommen Schwestern, die verhasste Schule, schließlich das Studium auf der Polizeiakademie, diesen Dienst als Polizist seitdem, den er sogar dermaßen hasste, dass er sich jeden Tag aufs Neue fragte, ob es sich wirklich gelohnt hatte, einen solchen Weg einzuschlagen.
Die Antwort war jedes Mal dieselbe: Natürlich hatte es sich gelohnt.
Zwar jetzt noch nicht, aber spätestens dann, wenn er endlich die Täter dingfest gemacht hatte – die Täter von damals!
Denn eben das war sein erklärtes und vor allem einziges Ziel in diesem Leben.
Daran hatte auch ein Kilian mit seiner Bande nichts ändern können. Was hatte er damals überhaupt von ihm gewollt? Geld und Besitztümer waren ja wohlgemerkt keine vorhanden gewesen.
Ach ja, jetzt fiel es ihm wieder ein:
Er hatte ihn als Mitläufer gewinnen wollen. Besser gesagt: Sie hatten ihn dermaßen verprügeln wollen, dass ihm nichts anderes mehr übriggeblieben wäre.
Falsch gedacht. Oder anders herum gesagt: An den Falschen geraten! Denn Phillip Weinhaus hatte zwar keinerlei kämpferische Ausbildung genossen in diesem zarten Alter von erst sieben Jahren, als es geschehen war, doch er hatte Instinkte besessen, die ihn leiteten und ihn bei Bedarf zu einem Schläger werden ließen, wie es sich Kilian und seine Bandenmitglieder nicht in ihren schlimmsten Albträumen hätten vorstellen können.
Phillip hörte erst auf, sie zu verprügeln, als sie mit blutenden Nasen sich auf dem Boden wälzten und um Gnade bettelten.
Sicherlich hatte mehr als nur die Nasen geblutet, doch Phillip hatte es nicht gekümmert. Wie ihn sowieso überhaupt niemals etwas kümmerte, was nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit seinem erklärten Ziel stand.
Und nun schon wieder ein solcher Tag, der unweigerlich als Heiliger Abend endete … Ja, wieder so ein Tag, den Phillip insgeheim jedoch stets »den Tag, der unweigerlich als Abend der Mörder endet« nannte. Was erst dann aufhören würde, wenn er endlich sein Ziel erreicht hatte.
Und er war hundertprozentig sicher, dass es sich tatsächlich damals um mehrere Täter gehandelt hatte. Genauer gesagt um insgesamt zwei Täter.
Während nämlich einer seine Eltern umgebracht hatte, mit blitzschnellen, präzisen Stichen mittels eines spitzen Gegenstandes – wahrscheinlich eines Dolches – in den Hals der beiden, sodass sie nicht mehr schreien, sondern nur noch bis zum endgültigen Schwinden ihrer Sinne röcheln konnten, hatte der andere die beiden Schwestern erledigt, nur zwei Zimmer weiter.
Die beiden hatten sich dieses Zimmer geteilt.
Und auch sie waren so gestorben, eben mit gezielten Stichen in den Hals, was sie an ihrem eigenen Blut ersticken ließ. Obwohl bis heute niemand hatte herausfinden können, wieso die Einbrecher das überhaupt getan hatten. Für die Einbrecher war die Beute nämlich alles andere als ergiebig ausgefallen. Sie hatten zwar das Wenige an Bargeld und Schmuck mitgenommen, das vorhanden gewesen war, aber dafür einen vierfachen Mord zu begehen?
Außerdem hatte es sonst in der ganzen Gegend kein vergleichbares Verbrechen gegeben, ja, eigentlich im ganzen Land. Nichts deutete also darauf hin, dass es sich um Profis gehandelt hatte, die so etwas öfter durchführten. Eher vielleicht um im wahrsten Sinne des Wortes blutige Amateure, die solches nur ein einziges Mal taten – und dabei dennoch so präzise diesen äußerst brutalen Tötungsakt beherrscht hatten wie eben … geübte Profis.
Das machte jedenfalls so etwas wie das Erstellen eines Täterprofils praktisch unmöglich. Wenn man noch nicht einmal ausreichend begreifen konnte, was denn nun wirklich das Motiv für diese Tat des Grauens gewesen war.
Und dann auch noch an Heilig Abend! Deutlich vor Mitternacht, aber immer noch eben … Heilig Abend.
Ein purer Zufall?
Was sonst?
Kein begreifbares Motiv, keine nachvollziehbare Vorgehensweise, kein Tatzeitpunkt, der auch nur im Entferntesten einen Sinn zu ergeben schien …
Und doch hatten sie dermaßen gezielt und gnadenlos zugeschlagen. Wirklich gnadenlos, denn das geringste Zögern hätte möglicherweise zumindest einem der Opfer eine Chance gegeben zu überleben.
Um danach in aller Ruhe das Haus zu durchsuchen, eben nach dem wenigen Geld und dem wenigen Schmuck.
Phillip Weinhaus wusste das natürlich hundertprozentig genau. Logisch, denn er war ja damals als erst Fünfjähriger mit dabei gewesen. Sozusagen mitten im Geschehen. So nahe dabei, dass es näher überhaupt nicht mehr gegangen war.
Nein, halt, das stimmte nicht ganz, denn wirklich noch näher … und er wäre zumindest dem Mörder seiner Eltern aufgefallen. Aber das war er eben nicht. Sonst würde er sich jetzt nicht mehr daran erinnern können wie an nichts anderes, was jemals in seinem Leben passiert war. Weil sich Tote üblicherweise nämlich an überhaupt nichts mehr erinnern konnten …
Wann immer es möglich war, verbrachte Phillip Weinhaus Heilig Abend in jenem Haus, in dem die grausigen Ereignisse sein ganzes weiteres Leben maßgeblich bestimmt hatten: In seinem Elternhaus. Seit es ihm möglich geworden war, also nach seinem Zwangsaufenthalt im Waisenhaus, was ihm im Nachhinein vorkam, als wäre er wegen einer Tat im Gefängnis gewesen, die nicht er, sondern zwei andere begangenen hatten. Zwei wohlgemerkt, die man bis heute nicht hatte ausfindig machen können.
Alles war unverändert geblieben. Noch nicht einmal den Staub hatte er jemals entfernt, der sich im Verlauf der vielen Jahre hier angehäuft hatte.
Er wanderte ruhelos im ganzen Haus umher, während ihn die Erinnerungen an jenen Abend heimsuchten, gegen die er sich nicht wehren konnte, was niemand wusste wohlgemerkt, weil er sich noch niemals jemandem offenbart hatte. Niemand ahnte es auch nur, was den smarten Chef der Mordkommission umtrieb, wieso er überhaupt Polizist geworden und sogar in diese leitende Stellung emporgestiegen war.
Niemals hatte er auch nur ein Sterbenswörtchen über jene Erlebnisse verloren. Obwohl die Erinnerungen an seine Eltern und seine Schwestern einerseits total verblasst waren, blieb andererseits das Ereignis selbst stets präsent.
Alles war wahrhaft glasklar in seinem Gedächtnis geblieben, wie eingebrannt für die Ewigkeit.
Nicht nur, dass er völlig unfähig war, es zu vergessen: Er wollte das auch nicht vergessen! Niemals sollten diese Dinge sich im Dunkel der Erinnerungslosigkeit verlieren wie alles andere, was er als unwichtig erachtete. Ja, niemals.
Zumindest eben bis es ihm endlich gelungen war, das Verbrechen von damals zu sühnen. Wie auch immer: Entweder auf die Art, wie man es von ihm als Polizist erwartete, oder …?
Er wusste nicht, welche Alternativen ihm noch bevorstehen würden. Darüber machte er sich auch gar keine Gedanken. Es würde kommen, wie es kommen musste. Falls er dabei durchdrehte und die endlich dingfest gemachten Täter persönlich zu Strecke brachte, um dadurch seine Polizeilaufbahn für immer zu beenden … Es war ihm egal. Weil er nur für dieses Ziel überhaupt lebte. Mochte mit ihm danach passieren was passieren mag. Wen kümmerte es? Am wenigsten ihn selbst.
Sogar die mögliche Enttäuschung bei allen, die ihn als Chef der Mordkommission wertschätzten, interessierte ihn nicht, wenn sie dann herausfinden mussten, weshalb er überhaupt diese Aufgabe bei der Mordkommission übernommen hatte, nämlich ausschließlich aus zugegebenermaßen höchst eigennützigen Gründen.
Er wanderte durch das Haus, betrat das ehemalige Schlafzimmer seiner Eltern und spielte in Gedanken alles durch, was geschehen war. Wieder und wieder. Beginnend damit, dass er an diesem Tag sich höchst unwohl gefühlt hatte. Kränklich, um genauer zu sein. Womöglich hatte er einfach nur zu viele Süßigkeiten gegessen, die es zur Weihnachtszeit im Haus seiner Eltern stets überreichlich gegeben hatte.
Aber eigentlich war das im Nachhinein sowieso unwichtig. Interessant daran war lediglich die Tatsache, dass er dadurch im Bett seiner Eltern hatte übernachten dürfen, zwischen ihnen, in der sogenannten Besucherritze, wie seine Mutter zu sagen pflegte. Ja, daran konnte er sich hundertprozentig erinnern.
Und überhaupt war die Bescherung am Heilig Abend damals früher beendet worden als sonst üblich. Aus Rücksicht auf sein Unwohlsein.
Seine Eltern hatten sogar mit dem Gedanken gespielt, ihn ins Krankenhaus zu bringen, in die Notaufnahme. Daran glaubte er sich zumindest vage zu erinnern. Hätten sie es nur getan. Vielleicht hätten sie dadurch überlebt, weil sie zum Tatzeitpunkt dann gar nicht im Haus gewesen wären.
Aber hatte es sich wirklich um einen gewöhnlichen Einbruch gehandelt? Das war bis heute eine der zentralen Fragen, die niemand jemals überzeugend genug beantworten konnte. Immerhin waren die Täter gezielt in die Schlafzimmer eingedrungen, hatten jeden getötet, den sie gesehen hatten, um erst danach das Haus zu durchsuchen und dabei einiges an Verwüstung anzurichten.
Jeden, den sie gesehen hatten … Ihn, den kleinen Phillip hatten sie nicht sehen können, denn er hatte als Kind in der Regel sehr unruhig geschlafen. Niemals war er in der gleichen Stellung erwacht, in der er eingeschlafen war. In diesem Falle war er sogar tief unter die Decken gerutscht, so tief, dass ihn die Mörder nicht hatten sehen können.
Und weil sie ohne zu zögern zugestochen hatten, war ihnen der kleine Phillip erst recht entgangen, der zwar wach geworden war, aber als er beinahe im Blut seiner Eltern zu ertrinken drohte, hatte er sich erst recht ganz ruhig verhalten.
Das erste und einzige Mal, dass er stocksteif vor Entsetzen gewesen war. Ein solches Gefühl hatte er niemals wieder zugelassen. Selbst nicht gegenüber einer Übermacht wie der Kilian-Bande.
Lieber wäre er umgekommen, als dass er nicht sogleich in den Gegenangriff übergegangen wäre, geschweige denn, dass er jemals auch nur im Entferntesten auf die Idee gekommen wäre, die Flucht anzutreten.
Etwas, was seine Kollegen sehr an ihm schätzten, weil er niemals in bedrohlichen Situationen gekniffen hätte, und als Polizist erlebte man genügend bedrohliche Situationen. Da gehörte es gewissermaßen zum Alltag.
Dies alles nur, weil er ein einziges Mal gekniffen hatte. Als Fünfjähriger. Weshalb er sich irgendwie eine Mitschuld am Tod seiner Eltern und seiner Geschwister gab. Obwohl ihm sein Verstand natürlich sagte, dass er doch sowieso gegen zwei erwachsene Täter keine Chance gehabt hätte.
Der schlimmste Augenblick damals war der Augenblick des Erwachens gewesen.
Wohlgemerkt, nicht die dumpfen Geräusche und das durch die Decken, die über ihm lagen, gedämpfte Röcheln der sterbenden Eltern hatten ihn aufgeweckt, sondern die Stimmen der Täter. Der eine Täter, der seine Eltern umgebracht hatte und der andere, der nach der Tötung seiner Geschwister ebenfalls in das Elternschlafzimmer gekommen war. Ihre Stimmen hatten sich in sein Gedächtnis eingebrannt, und wann immer ihm seitdem jemand begegnet war, hatte er versucht zu erkennen, ob diese Stimmen zu dem passten, was er zu hören bekam.
Wieso hatte er die Täter dennoch niemals identifizieren können? Wieso? War es denn möglich, dass ihm niemals auch nur einer dieser beiden Täter persönlich begegnete?
Es blieb ihm unerklärlich.
Hätte er sich ansonsten wenigstes daran erinnert, was die beiden damals überhaupt miteinander gesprochen hatten … Dabei hatten sie die Stimmen gesenkt, als hätten sie vermeiden wollen, von den Toten belauscht zu werden. Äußerst seltsam und genauso unerklärlich wie alles, was mit dem vierfachen Mord zusammenhing. Bis heute.
Oder lag es vielleicht daran, dass er sich irrte? Dass er die Stimmen zwar unauslöschlich im Kopf behalten hatte, aber halt nur so dumpf, wie sie geklungen hatten? Möglicherweise hatten die beiden ja auch noch Masken getragen, was ihre Stimmen zusätzlich verzerrt hatte?
Und noch einmal: Wieso hatten sie so leise miteinander gesprochen?
Was die Sprache der beiden betraf, war er sich wiederum ziemlich sicher: Das war eindeutig Deutsch gewesen, also keine Fremdsprache. Obwohl die einzelnen Worte für ihn als erst Fünfjährigen dennoch keinen Sinn ergeben hatten. Nicht nur, weil sie lediglich gedämpft an seine Ohren gelangt waren. Deshalb hatte er sich die Worte selbst nicht merken können. Lediglich der Klang dieser Stimmen war ihm wach im Gedächtnis geblieben.
Im Laufe der Jahre, als er bereits im Polizeidienst gewesen war, hatte er allerlei Experimente angestellt. Er hatte Mitschnitte von Verhören genommen und sie in der Art gedämpft, dass sie beinahe so klangen wie die Stimmen damals. Einfach, um sie vielleicht auf diese Weise erkennen zu können.
Es hatte niemals einen brauchbaren Treffer gegeben. Niemals! Also konnte zumindest ausgeschlossen werden, dass die Täter von damals jemals wegen eines anderen Verbrechens in seiner Behörde verhört worden waren.
Zwei weitere mögliche Erklärungen fielen ihm dazu allerdings als erfahrenem Kriminalisten ein:
Erstens, es handelte sich um Täter von außerhalb. Dann war es logisch, dass er niemals ihre Stimmen hatte wiedererkennen können, weil er kaum jemals über die Grenzen seiner Heimatstadt hinausgekommen war. Weil er sich noch nicht einmal einen Urlaub gönnte. Weil er während der Urlaubszeit lieber hier im Haus umherwanderte, um immer wieder all diese Gräuel neu zu durchleben.
Beispielsweise das Grauen, im Blut seiner eigenen Eltern zu baden, bis beinahe zum Ertrinken, ohne auch nur einen Mucks von sich zu geben, paralysiert vom Entsetzen, weil er genau gewusst hatte, dass wirklich Schlimmes passiert war. Die Angst, die von diesen dumpfen Stimmen ausgelöst worden war. Die Dunkelheit danach, als sie endlich gegangen waren …
Er hatte keine Ahnung, wie lange es überhaupt gedauert hatte, bis er es endlich gewagt hatte, unter den blutgetränkten Decken hervorzukriechen, an die Luft, die vom Gestank des Todes geschwängert gewesen war.
Es war dunkel gewesen, außer einem kleinen Notlicht, das seine Eltern immer in die Steckdose gesteckt hatten, wenn er bei ihnen geschlafen hatte. Weil ihn Dunkelheit stets mit Angst erfüllt hatte. Weil er vielleicht von Geburt an schon geahnt hatte, was geschehen würde?
Er stand jetzt wieder vor diesem Bett und fragte sich erneut, was die zweite Möglichkeit war, die er als Erklärung in Betracht ziehen musste, weil er niemals in seinem Leben diese Stimmen ein weiteres Mal zu Gehör bekommen hatte:
Es handelte sich um Täter, die als friedliche Bürger unerkannt unter allen andere lebten und noch nicht einmal durch einen simplen Strafzettel jemals auffielen.
Eine Möglichkeit, die geradezu absurd anmutete, wenn man die Brutalität der Tat berücksichtigte. Kein Einbrecher brach nur einmal im Leben irgendwo ein – und dann auch noch in ein Haus, in dem erwartungsgemäß sowieso nicht viel zu holen war. Und wenn dann doch, gingen die Täter nicht gezielt in die Schlafzimmer, um alle Bewohner dieses Hauses auf solche Weise regelrecht abzuschlachten, sogar Kinder wie Phillips Schwestern! Um sich erst im Anschluss um mögliche Beute zu kümmern.
Phillip hatte viele Akten gewälzt, eigentlich sämtliche Akten, die für ihn zugänglich waren. Ja, wirklich, es gab niemals auch nur einen ähnlichen Fall. Und er studierte sorgfältiger als jeder seiner Kollegen das regelmäßig erscheinende Bundeskriminalblatt, das natürlich nicht öffentlich verbreitet wurde, sondern lediglich auf Dienststellen, um auf Tatvorgänge hinzuweisen. Damit man vergleichen konnte, um mögliche Zusammenhänge zu erkennen.
Mehrfach hatte er sogar gezielte Nachfragen an andere Behörden gestellt, die allerdings ebenfalls zu keinem Ergebnis geführt hatten.
Kein Wunder, dass die Kollegen von damals niemals zu einem gültigen Schluss hatten kommen können, wenn sogar er nach wie vor daran dermaßen kläglich scheiterte.
Allerdings führte das nicht dazu, dass er jemals auf den Gedanken kam, vielleicht doch noch aufzugeben. Nein, niemals auch nur im Entferntesten! Es war seine Lebensaufgabe. Er hatte damals nur deshalb überlebt, um diese Tat irgendwann zu sühnen.
Zwar war er dieses eine Mal vor so vielen Jahren feige gewesen, doch nur deshalb, um eben als Erwachsener nachzuholen, wozu er damals noch zu klein und zu schwach gewesen war.
Die Polizei hatte ihn blutüberströmt zwischen den Leichen seiner Eltern sitzend vorgefunden. Sie hatten ihn in die Obhut von Kinderärzten gegeben. Er war psychologisch betreut worden. Dies alles hatte er klaglos über sich ergehen lassen, aber nicht nur klaglos, sondern vor allem wortlos. Und tatsächlich, bis heute war niemals auch nur ein Sterbenswörtchen über diesen Vorfall über seine Lippen gekommen. Er tat ganz so, als hätte es diese Gräueltat niemals gegeben.
Trotz der Spuren, die immer noch zu sehen waren. Das uralte, getrocknete Blut, das die Matratzen total durchnässt hatte. Matratzen, die immer noch da waren, die niemals jemand ausgetauscht hatte. Weil er der einzige Überlebende gewesen war, hatte sich niemand um das Haus gekümmert.
Behördlich war lediglich geregelt worden, dass er dies alles geerbt hatte. Seine Eltern hatten zwar außer dem Haus nicht so arg viel hinterlassen, aber es hatte zumindest genügt, das Haus niemals verkaufen zu müssen und ihm dennoch die Ausbildung zu ermöglichen bis hin zum fertigen Polizisten.
Phillip war deswegen unendlich dankbar und sah dies alles als eine Art Glück im Unglück an. Egal wie sehr er eigentlich den Dienst hasste: War es denn nicht traumhaft, dass er zum Polizisten hatte werden dürfen, dann auch noch ausgerechnet zum Chef der Mordkommission, um damit die größtmögliche Chance zu erhalten, endlich die Tat aufzuklären, die sein ganzes Leben dermaßen beherrschte?
Irgendwann hatte sich Phillip Weinhaus auf das staubige Sofa im Wohnzimmer gesetzt und war eingeschlafen. Sein Telefon weckte ihn.
Erstaunt betrachtete er das Display. Seine Dienststelle rief ihn in dieser Nacht an? Ausgerechnet in der Nacht nach Heilig Abend? Wo doch nun wirklich jeder wusste, dass er dann unter keinen Umständen gestört werden wollte?
Also, wenn das nicht überaus brisant sein sollte …
Mürrisch meldete er sich.
Die aufgeregte Stimme einer seiner Leute: Kommissar Gregor Restling.
»Bitte, Chef, es ist wirklich äußerst dringend. Sonst hätte ich niemals versucht, Sie zu erreichen. Über Festnetz ging es leider nicht. Deshalb habe ich verbotenerweise auf Ihrem privaten Mobiltelefon angerufen.«
»Um was geht es denn?«, unterbrach Phillip Weinhaus den Redeschwall.
Kommissar Restling beruhigte sich tatsächlich. Es klang relativ gefasst, als er erklärte:
»Eine grausige Tat! Eine ganze Familie wurde ausgelöscht, ausgerechnet an Heilig Abend. Nur die Tochter hat es überlebt, weil sie bei ihrem Freund gewesen war. Sie hatte das Haus direkt nach der Bescherung verlassen, hatte eigentlich die ganze Nacht über bei ihm bleiben wollen. Irgendetwas hat sie jedoch unruhig gemacht, wie sie aussagt, weshalb sie mitten in der Nacht heimgekehrt war.«
»Und sie hat die Leichen gefunden?«
»Ja, übel zugerichtet. Die Eltern und ihre zwei jüngeren Geschwister. Die Tochter ist jetzt in psychologischer Betreuung. Das arme Ding wird das wohl niemals wieder in diesem Leben vergessen können.«
»Gut und schön, aber das ist doch nun wirklich nicht das erste Verbrechen in dieser Stadt. Was erscheint Ihnen an diesem Fall denn dermaßen besonders, dass Sie mich extra deswegen unbedingt anrufen müssen?«
»Der Tathergang, Chef! Denn alle Opfer wurden mit einem einzigen präzisen Stich in den Hals getötet. Sie sind quasi an ihrem eigenen Blut erstickt, in ihren Betten. Man stelle sich vor: Nicht nur die Eltern, sondern auch zwei der Kinder. Wer tut denn so etwas?«
Phillip Weinhaus konnte nicht antworten. Er war stocksteif vor Entsetzen. So klar war der Anblick seiner toten Eltern noch niemals vor seinem geistigen Auge erschienen, weil er sich stets dagegen gewehrt hatte. Zwar hatte er niemals wieder die Szenenabfolge auf der vergeblichen Suche nach möglichen Hinweisen vergessen wollen, aber die starren Augen der beiden, die in die Ewigkeit zu sehen schienen, all das Blut, die vor Todesangst verzerrten Mienen …
Ein ächzender Laut brach sich Bahn über seine Lippen.
»Chef?«, rief es aus dem Telefon.
Mehrmals, von Mal zu Mal besorgter klingend, ehe er wieder in der Lage war, zu antworten:
»Und Sie meinen tatsächlich, ein solcher Tathergang sei einmalig?«
»Ja – äh, Chef, das meine ich!«, bestätigte Kommissar Restling ahnungslos.
Wie sehr du dich irren kannst!, dachte Phillip Weinhaus insgeheim. Das ist alles schon dermaßen lange her, dass ich anscheinend der Einzige bin, der sich überhaupt noch daran erinnern kann.
Laut jedoch sagte er:
»Gibt es Spuren, die auf einen Einbruch hindeuten?«
»Ja, die gibt es in der Tat. Das ganze Haus wurde anschließend durchsucht. Also wohlgemerkt nach der Bluttat! Aber nach Aussage der überlebenden Tochter war wohl nicht viel zu finden gewesen. Ihre Familie ist alles andere als reich, müssen Sie wissen.«
»Ihre Schlussfolgerung mithin?«
»Nun, wenn ich mir dieses eher vorsichtige Urteil erlauben darf, jetzt schon, am Anfang der Ermittlungen: Der Einbruch ist nur vorgetäuscht! Der oder die Täter sind in das Haus nur deshalb eingedrungen, um gezielt die Familie auszulöschen. Ich schlage daher vor, die Tochter erst einmal in Schutzhaft zu nehmen, falls die psychologische Betreuung dies zulässt. Auf jeden Fall müssen wir …«
Phillip Weinhaus unterbrach auch diesen Redeschwall frühzeitig:
»Gibt es schon einen Verdacht?«
»Mehr noch als das!«, versprach daraufhin Kommissar Restling zur Überraschung seines Chefs. »Das ist auch genau der Grund, wieso ich eigentlich anrufe. Also nicht nur wegen der besonders grausigen Umstände, wie ich meine, sondern weil wir einen Generalverdächtigen haben – gewissermaßen.«
»Name?«
Phillip Weinhaus wusste im Nachhinein gar nicht mehr zu sagen, woher er überhaupt die Kraft schöpfte, genau diese Frage zu stellen.
Und Kommissar Restling antwortete auch diesmal prompt:
»Kilian West!«
Der Name kreiste im Gehirn seines Chefs, der vergeblich versuchte, danach zu greifen. Weil er es eigentlich gar nicht begreifen wollte.
Kilian West?
Es pochte mächtig hinter seinen Schläfen, dass ihm beinahe das Telefon aus der Hand geglitten wäre. Hätte er nicht gesessen, wäre er jetzt wohl zu Boden gestürzt, denn ein Schwindel packte ihn, der nur schwer zu bändigen war.
»Kilian West?«, ächzte er irgendwann ungläubig.
»Ja, gewiss, Chef!«, bestätigte sein Kommissar ungerührt.
»Aber wenn es derselbe ist, den ich jetzt meine, dann sitzt der doch hinter Gittern? Hat er denn nicht als letztes Urteil lebenslänglich bekommen?«
»Nein, da erinnern Sie sich wohl nicht richtig, Chef, sorry, aber dieser Kilian West hatte nur lebenslänglich auf Bewährung. Das heißt also mit anderen Worten: Wenn er sich gut führt, muss er eben doch nicht bis zum Ende seines Lebens hinter Gittern bleiben.«
»Dann … dann wurde er inzwischen entlassen?«
»Das zwar nicht, Chef, aber er bekam Heimaturlaub. Weil halt Weihnachten ist und er sich die letzten Jahre ganz tadellos verhalten hat. Daher geschah die Tat ausgerechnet an Heilig Abend. Nach Weihnachten muss er nämlich wieder einsitzen – und vor Weihnachten war er halt noch nicht in der Lage gewesen, diese Morde zu begehen.«
»Aber wieso sollte er denn überhaupt die paar Tage Freigang ausgerechnet für einen solch blutigen vierfachen Mord nutzen?«
»Um sich zu rächen! Er hätte damit also ganz klar ein Motiv. Denn der Tote heißt Suleiman Dunjagg.«
Er sprach den Namen so aus, als wäre er etwas ganz Besonderes, doch sein Chef grübelte vergeblich darüber nach, was es mit diesem Namen auf sich hatte.
Der Kommissar half ihm auf die Sprünge:
»Aber, Chef, das war doch damals der Kronzeuge gegen Kilian West, weswegen er eben lebenslang bekommen hatte.«
»Lebenslang auf Bewährung!«, berichtigte Phillip Weinhaus automatisch.
»Ja, richtig, wie auch immer: Er hat sich eben nicht nur an dem gerächt, den er für einen Verräter hält, sondern gleich an der ganzen Familie. Als wollte er damit ein besonders blutiges Exempel statuieren.«
Phillip Weinhaus war noch immer schwindlig. Die Gedanken durcheilten seine Gehirnwindungen wie ein Sturmwind, der alles umzublasen drohte, vor allem seine Fassung. Er unterbrach die Verbindung einfach, weil er nicht mehr konnte. Dann erst ließ er all dem Luft, was ihn dermaßen erfüllte, als würde er im nächsten Augenblick regelrecht platzen: Er schrie aus Leibeskräften, und es war ihm völlig egal, dass man das wohl in der halben Straße hören konnte. Es musste ganz einfach sein. Der Druck musste abgelassen werden, ehe er ihn umbrachte.
Anschließend sprang er auf und sah wie gehetzt umher.
Die gleiche Vorgehensweise wie damals!, hämmerte es in ihm. Immer wieder.
Bis ein neuer Gedanke auftauchte:
Aber wieso?
Ja, das war entscheidend:
Wieso?
Dieser Kilian West, das war genau derselbe, der ihm damals nach der Schule mit seiner Bande aufgelauert hatte. Phillip hatte sie gnadenlos verprügelt. Anschließend hatten sie lieber einen Bogen um ihn gemacht. Und umgekehrt hatte dieser Kilian Phillip Weinhaus auch nicht mehr großartig interessiert. Nicht nach dieser Begegnung.
Warum sollte er denn auch? Dieser Kilian würde ihn künftig in Ruhe lassen, und mehr wollte er doch gar nicht. Einfach in Ruhe gelassen werden, damit er sich voll und ganz auf seine Ziele konzentrieren konnte: Gut lernen, um die Grundlagen für seine spätere Laufbahn als Polizist zu schaffen, um als solcher endlich das nachholen zu können, was die Kollegen Tatermittler damals nicht geschafft hatten.
Und jetzt das!
Und ausgerechnet denselben Kilian West hatte man als Verdächtigen festgenommen? Weil man bei ihm ein Tatmotiv sah?
Aber wieso war er dann genauso vorgegangen wie damals? Und damals, das hatte Kilian West niemals sein können, denn obwohl er älter war als Phillip Weinhaus, war er damals höchstens sieben oder acht Jahre alt gewesen; ergo unmöglich, dass er damals eine solche Tat hätte verüben können.
Nicht nur, weil die Stimmen der Täter die Stimmen von erwachsenen Männern gewesen waren. Davon war er sozusagen zu tausend Prozent überzeugt.
Kilian West!
Unruhig ging er auf und ab. Das beständige Läuten seines Telefons ließ ihn endlich innehalten. Er hatte es die ganze Zeit über ignoriert, doch jetzt musste er endlich antworten. Sonst kam er womöglich noch in Erklärungsnot gegenüber seinen eigenen Leuten.
»Was ist denn los, Chef?«, klang die besorgte Stimme aus dem Gerät, nachdem er sich zurückgemeldet hatte.
»Keine Ahnung. Manchmal spinnt das Ding. Aber jetzt geht es anscheinend wieder«, behauptete Phillip Weinhaus ungerührt. »Und ich lege jetzt trotzdem wieder auf, weil ich sofort kommen werde.«
»Ja, Chef, aber Moment noch: Wir sind hier im Präsidium. Kilian West sitzt im Vernehmungszimmer. Oder wollen Sie erst noch zum Tatort? Die Spurensicherung ist noch vor Ort.«
»Nein, ich komme unmittelbar ins Präsidium!«, entschied Phillip Weinhaus, ohne darüber nachdenken zu müssen.
Und dann hatte er doch noch eine Frage:
»Wieso sagten Sie, dass die überlebende Tochter beschützt werden müsste, obwohl Sie andererseits die Meinung vertreten, den Täter möglicherweise bereits zu haben?«
»Weil er das unmöglich allein gemacht haben kann – jedenfalls meiner Meinung nach. Es müssen mindesten zwei gewesen sein, die gleichzeitig in zwei verschiedenen Räumen des Hauses zugeschlagen haben – oder besser gesagt zugestochen!«
»Und was sagt Kilian West selbst eigentlich zu den Anschuldigungen, immerhin ein vierfacher Mörder zu sein?«
»Er beteuert stur seine Unschuld. Ist ja logisch.«
»Und falls er tatsächlich unschuldig sein sollte? Oder gibt es außer dem möglichen Tatmotiv noch sonst etwas, was Sie mir noch nicht gesagt haben?«
»Äh, nein, noch nicht.«
Phillip Weinhaus brach einfach wieder ab und eilte hinaus zu seinem Wagen.
Unterwegs dachte er an die Beschreibung der Tatermittler von damals zurück. Hatten nicht auch sie sogleich einen Verdächtigen festgenommen? Das alles hatte Phillip Weinhaus ja erst viele Jahre später erfahren, als Polizist, durch Einsicht in die umfangreiche Aktensammlung.
Die Parallelen wurden immer verblüffender: Auch damals hatte es jemanden mit relativ eindeutigem Tatmotiv gegeben. Sein Name war Gregor Bäcker gewesen. Und er hatte ebenfalls zur Tatzeit eingesessen und nur aufgrund besonders guter Führung Weihnachtsurlaub bekommen.
Gregor Bäcker, der Sohn des reichsten Mannes der Stadt. Aber nicht nur deshalb stadtbekannt, sondern vor allem wegen seiner gewalttätigen Neigungen. Immer wieder hatte er dingfest gemacht werden müssen. Am Ende wegen Mordes an einem Familienvater, der ihm einfach nur in einer Kneipe zu fortgeschrittener Stunde krumm gekommen war. Unter Zeugen wohlgemerkt.
Allerdings hatten sämtliche Zeugen am Ende gekniffen und behauptet, sie hätten nichts mitbekommen. Außer einem, der sich vom Reichtum des Täters nicht hatte abschrecken lassen, auch nicht von möglichen Drohungen: Der Vater von Phillip Weinhaus nämlich!
Also war Gregor Bäcker als Hauptverdächtiger festgenommen worden. Man hatte ihn nach allen Regeln der Kunst verhört. Aber nichts war ihm nachzuweisen gewesen. Zumal er von seiner Familie ein eindeutiges Alibi bekommen hatte.
Da die Täter keinerlei Hinweise hinterlassen hatten, die möglicherweise auf sie hätten deuten können, hatte Gregor Bäcker wieder auf freien Fuß gesetzt werden müssen. Beziehungsweise, man hatte ihn wieder eingesperrt, damit er den Rest seiner Haftstrafe hatte abbüßen können. Ohne einen weiteren Freigang wohlgemerkt, weil der Verdacht eben immer noch geblieben war.
Die Ermittler hatten sich damals redlich bemüht, irgendeinen Zusammenhang zu finden, der auf eine mögliche Mittäterschaft hinwies. Natürlich war auch die reiche Familie des Täters nicht von Verhören verschont geblieben, obwohl man das mit gegebener Vorsicht hatte machen müssen.
Bei dieser Gelegenheit fiel Phillip vor allem eines auf: Zwar hatte er sämtliche Tonaufzeichnungen, die er hatte vorfinden können, überprüft, um möglicherweise eine dieser Stimmen wiederzuerkennen, doch eine Stimme war nicht mit dabei gewesen: Die von Gregor Bäcker!
Als wäre dessen Verhör damals gar nicht mitgeschnitten worden. Oder als hätte man den Mitschnitt später einfach gelöscht, weil er sowieso von jeglichem Verdacht zumindest offiziell hatte befreit werden müssen.
Das war eigentlich gar nicht unüblich. Das Einzige, was dabei unüblich erschien, war die Tatsache, dass es doch auch andere Verhöre gegeben haben müsste. Dieser Gregor Bäcker war doch mehrfach verurteilt worden. Er war also auch mehrfach verhört worden. Verhöre, deren Mitschnitt nicht so einfach wieder gelöscht wurden.
Eigentlich!
Andererseits musste Phillip Weinhaus einräumen, dass die Geldmittel der Polizei stets dermaßen begrenzt waren, dass man allein schon aus diesem Grund alte Aufnahmen einfach mit neuen Aufnahmen überspielt hatte. Um erstens Platz zu sparen und zweitens nicht ständig neue Tonbänder kaufen zu müssen, weshalb letztlich eben nur die schriftlich fixierten Protokolle geblieben waren.
Eine Beschränkung, die es im digitalen Zeitalter zwar nicht mehr gab, aber in früheren Zeiten durchaus gängige Praxis gewesen waren. Zumal ja Gregor Bäcker all seine Haftstrafen brav abgesessen hatte und nach seiner letzten Entlassung offiziell niemals wieder straffällig geworden war.
Wohl allein schon deshalb nicht, weil kurz darauf sein Vater gestorben war und er das milliardenschwere Unternehmen hatte übernehmen müssen.
Phillip Weinhaus kommentierte es grimmig in Gedanken so, wie er es laut niemals ausgesprochen hätte, zumindest nicht vor Zeugen:
Der Kriminelle blieb kriminell, aber unter dem Deckmäntelchen der Geschäftstüchtigkeit. Ein Typ, der nach wie vor über Leichen geht, jedoch nur noch im übertragenen Sinne, um den Reichtum seiner Familie auf Kosten aller anderen zu mehren.
Kein Wunder, dass man niemals mehr eine Aufzeichnung der Stimme zu Ohren bekommen hatte. Ein mächtiger Mann wie Gregor Bäcker ließ keine Aufzeichnungen aus einer Zeit bestehen, in der er noch ein stadtbekannter Krimineller gewesen war. Er hatte wohl dafür gesorgt, dass solche Spuren für immer getilgt wurden.
Etwas, das man natürlich niemals hätte nachweisen können.
Aber auch als Firmenboss trat er niemals öffentlich auf. Er hielt keine Ansprachen, blieb stets im Hintergrund, wo er lediglich die Fäden zog, jedoch niemals offiziell in Erscheinung trat.
Vielleicht auch deshalb, weil er befürchten musste, der damals erst fünfjährige Phillip, den er beim Auslöschen der ganzen Familie übersehen hatte, und heutige Chef der Mordkommission könnte vielleicht doch irgendwann seine Stimme wiedererkennen. Um ihn als eindeutigen Täter von damals zu entlarven?
Allerdings sprach eines total dagegen, denn dann hätte man diesen Kilian ebenso sofort wieder auf freien Fuß setzen müssen: Falls Gregor Bäcker abermals der Täter gewesen wäre, hätte er zwar kein erkennbares Motiv gehabt, aber Kilian West, derjenige mit Motiv, hätte es halt nicht gewesen sein können.
Wieso hätte Kilian West überhaupt auch nur auf die Idee kommen können, den Tatvorgang von damals zu imitieren?
Nun, dafür hätte er zumindest von diesem Tatvorgang etwas wissen müssen. Und wenn selbst die zuständigen Polizisten im Morddezernat sich nicht mehr daran erinnerten …
Phillip Weinhaus hörte auf, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Klar war derzeit nur, dass er sich niemals konkreter mit Gregor Bäcker beschäftigt hatte. Nicht nur, weil diesem sowieso nichts hatte nachgewiesen werden können. Vor allem vielleicht deshalb, weil man an diesen auch als Chef der Mordkommission nicht so leicht herankam. Der saß nämlich sicher in seiner Villa auf dem höchsten Hügel der Stadt, wo er über diese Stadt wie ein mittelalterlicher König herabsehen konnte, gesichert in einer Art moderner Burg, wie im Mittelalter wohl keine einzige Burg auf der ganzen Welt gesichert gewesen war.
»Hallo Kilian!«, sagte Phillip Weinhaus, als er den Vernehmungsraum betrat.
»Du erkennst mich tatsächlich wieder?«, tat Kilian West überrascht.
»Natürlich nicht, mein alter Schulfreund«, antwortete Phillip im Plauderton, als wollte er sich wirklich nur über alte Zeiten unterhalten.
Kilian West lehnte sich misstrauisch zurück.
»In Ordnung, ich verstehe: Du weißt ja, wer ich bin, auch wenn du mich nicht wiedererkennst. Also bist du immer noch nachtragend wegen damals?«
»Ich und nachtragend? Weswegen denn? Immerhin habe ich euch ziemlich verprügelt. Ein Wunder, dass dein berühmter Vater das niemals geahndet hat. Kann es sein, dass er gar nichts davon erfuhr?«
»Egal, was du von mir denkst, Phillip, aber ich bin halt nicht der Typ, der Freunde verrät.«
»Aha? Und deshalb wirst du dich wohl auch standhaft weigern, uns zu sagen, wer dir beim Einbruch ins Haus von Suleiman Dunjagg geholfen hat?«
»Wie bitte? Kommst du mir jetzt auch noch mit dieser Leier? Reicht es nicht, dass schon deine Leute mich deswegen so gewaltig genervt haben? Wieso hätte ich dort überhaupt einbrechen sollen?«
»Na, um dich halt bei ihm und gleich auch noch bei seiner ganzen Familie dafür zu rächen, dass du durch seine Aussage ins Gefängnis gekommen bist.«
»Das nennt man heutzutage übrigens nicht mehr Gefängnis, sondern Strafvollzugsanstalt«, belehrte Kilian West ihn und zeigte ein breites Grinsen.
Phillip Weinhaus lachte unecht. Er legte die Akte, die er die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte, auf den Vernehmungstisch und setzte sich dem Festgenommenen gegenüber.
Kurz sah er nach links, zum großen Spiegel, der von dieser Seite her undurchsichtig war. Seine Zeugen standen auf der anderen Seite.
Er winkte ihnen zu und bat:
»Schaltet bitte einmal die Überwachung aus! Komplett wohlgemerkt!«
»Überwachung?« Kilian West warf erschrocken einen Blick in die Runde.
»Gib dir keine Mühe, Kilian, du wirst die Kameras nicht entdecken. Die sind gut versteckt.«
»Aber da ist doch überhaupt keine Kamera.«
»Sagte ich doch soeben: Sie sind zu gut versteckt, als dass man sie erkennen könnte.«
»Aha? Und wieso lässt du sie jetzt ausschalten? Ich protestiere dagegen und wünsche endlich meinen Rechtsanwalt zu sprechen.«
»Der ist bereits unterwegs, aber das hat man dir ja schon gesagt. Und wir beide brauchen ihn vorläufig gar nicht, denn das hier ist überhaupt keine Vernehmung, sondern einfach nur ein ganz unverbindliches Gespräch unter alten Freunden, die sich über all die Jahre, die inzwischen vergangen sind, leider aus den Augen verloren haben. Niemand bedauert das übrigens mehr als ich.«
»Obwohl du dich hier als Chef der Mordkommission aufspielst und mich wie einen billigen Kriminellen behandelst?«
Phillip Weinhaus lachte abermals.
»Ich spiele mich nicht auf, alter Freund, und ich behandele dich auch nicht wie einen billigen Kriminellen. Wir beide wissen ganz genau, dass du der Mörder von Suleiman Dunjagg und seiner Familie bist. Zumindest einer der Mörder. Klar, dass du dies niemals zugeben wirst, aber ich frage mich, wieso du überhaupt ein solches Risiko eingegangen bist. Du hast Weihnachtsurlaub und dabei nichts Besseres zu tun, als ein mehrfacher Mörder zu werden?«
»Ich war bei meiner Familie. Schließlich habe ich Frau und Kind. Was denkst du, wo ein Häftling hingeht, wenn man ihm endlich einmal Heimaturlaub gewährt.«
»Zu seiner Familie?«
»Ganz genau!«
»Ich wusste ehrlich gesagt gar nicht, dass du inzwischen sogar eine richtige Familie hast. Vielleicht hättest du daran denken sollen, ehe du einen Unschuldigen umgebracht hast?«
»Ja, damals, da bin ich tatsächlich zum Mörder geworden. Leider. Niemand bereut das heute mehr als ich. Das kannst du mir ruhig glauben.
Und noch etwas: Erstens einmal, der war alles andere als unschuldig, damals, und zweitens: Ich habe ihn nicht einfach so umgebracht, sondern ich habe leider die Nerven verloren. Dieser Typ hatte mich bis aufs Messer provoziert, im wahrsten Sinne des Wortes.«
»Da habe ich im Vernehmungsprotokoll und auch in der Gerichtsakte allerdings etwas ganz anderes gelesen.«
»Wann denn das? Bevor du zu mir kamst?«
»Nein, dazu hätte nicht die Zeit gereicht. Ich wollte doch unbedingt mit dir sprechen, so ganz unter vier Augen und ohne Rechtsanwalt.
Und ohne Aufzeichnungen!«, fügte Phillip noch hinzu und wies dabei mit dem Zeigefinger in die Runde, wo Kilian West noch immer keine Kameras entdecken konnte.
Gab es sie denn wirklich? Oder bluffte sein ehemaliger Schulkamerad nur?
Wenn ja: Wieso eigentlich? Was beabsichtigte er mit diesem Theater?
»Um mich zu überführen oder was?«, vermutete Kilian West und legte wie lauernd den Kopf schief. »Eines Verbrechens, das ich garantiert gar nicht begangen habe? Für wie dumm hältst du mich eigentlich?«
»Oh, als ziemlich dumm halte ich dich, mein lieber Freund. Ganz und gar nicht wie dein verstorbener Vater. Dem Vernehmen nach war er ja nicht umsonst so tüchtig als Rechtsanwalt. Dumm kann er also gar nicht gewesen sein.
Aber natürlich habe ich deinen Prozess damals schon verfolgt. Immerhin als ein alter Freund, nicht wahr? Ich war noch Streifenpolizist gewesen. Es war also gar nicht so einfach für mich gewesen, an deine Akten heranzukommen.«
»Und trotzdem hast du es wohl genau wissen wollen?«
»Richtig, Kilian. Laut Aussage von allen Zeugen hat dir der Mann überhaupt nichts getan. Er hat nur zufällig in deine Richtung gesehen und dabei gelacht, weil sein Begleiter soeben einen Witz erzählt hatte. Anscheinend hast du gemeint, er würde über dich lachen und hast …«
»Die Zeugen haben das ausgesagt? Nun, wenn ich mich richtig erinnere, haben sie diese Aussage schleunigst revidiert.«
»Außer Suleiman Dunjagg, ja, der sich nicht hatte verbiegen lassen, weil er mutig genug gewesen war. Weder durch Drohungen noch durch sonstige Versuche, ihn umzustimmen: Suleiman Dunjagg, eigentlich ein Held, wenn man so will. Und das hat ihn ausgerechnet gestern, an Heilig Abend, das Leben gekostet. Ihn und seiner Familie.«
»Soweit die Theorie, aber in der Praxis sieht es halt leider völlig anders aus: Ich war bei meiner Familie, wie es sich gehörte. Und hier verschwende ich meine kostbare Zeit, die mir noch an Heimaturlaub verbleibt, und die ich lieber bei ihr verbringen würde.
Einmal ganz abgesehen davon, dass meine arme kleine Tochter wohl einen ziemlichen Schock bekommen hat, als plötzlich die Polizei bei uns auftauchte, um ihren geliebten und vor allem völlig unschuldigen Daddy schon wieder zu verhaften. Wissen deine Leute denn nicht, was so etwas bei einer kindlichen Seele anrichten kann?«
»Wieso diese Art des Mordes?«, schoss Phillip Weinhaus die Frage ab, die ihm die ganze Zeit über schon auf der Zunge brannte. Er hatte Kilian West nur ablenken wollen, um zu sehen, wie er auf diese Frage reagieren würde, wenn sie ihn völlig unvorbereitet traf.
Und seine Reaktion war zumindest für Phillip Weinhaus eindeutig: Er erschrak, überspielte es jedoch sogleich und brachte sogar ein breites Grinsen zustande.
»Ich weiß überhaupt nicht, wovon du da sprichst!«, behauptete er süffisant. »Wie sind denn diese armen, armen Leute überhaupt zu Tode gekommen? Los, sage es mir, kläre mich auf. Da ich es nicht war, kann ich es natürlich auch gar nicht wissen …«
»Keine Aussage mehr!« warnte jemand von der Tür her.
Phillip wandte sich um. Der Rechtsanwalt anscheinend, der gekommen war, um Kilian West zu vertreten.
Phillip Weinhaus stand auf.
»Verzeihen Sie, aber das war nur ein Plausch unter alten Freunden. Nicht wahr, Kilian? Wir kennen uns schon von der Schule, und natürlich bin ich persönlich überzeugt davon, dass er nur unschuldig sein kann. Denn der vierfache Mord geschah nach dem Vorbild einer Tat von vor vielen Jahren, als mein alter Freund Kilian noch ein kleines Kind gewesen war. Genauso wie ich selbst übrigens. Also handelt es sich wohl um dieselben Täter, also um die von damals.
Es liegt nun an Ihnen, die passenden Formulierungen zu finden, um ihn endlich wieder zu seiner Familie zurückgehen zu lassen. Ich denke mal, seine kleine Tochter wird sich sehr darüber freuen und vielleicht sogar auch seine Ehefrau.«
»Wie bitte?« Der Anwalt erschien fassungslos.
Phillip Weinhaus ließ ihn einfach stehen und ging hinaus.
In dem kleinen Nebenraum, der nur durch den von dieser Seite aus durchsichtigen Spiegel vom Vernehmungszimmer getrennt war, erwarteten ihn zwei ziemlich ratlos erscheinende Kollegen.
Vor allem Kommissar Gregor Restling schüttelte den Kopf und fragte:
»Im Ernst, Chef? Sie glauben wirklich, der sei unschuldig? Bei seinem Vorstrafenregister als Gewalttäter – immerhin bis hin zum Mord?«
»Natürlich nicht!«, antwortete Phillip Weinhaus ungerührt. »Aber solange wir nur ein mögliches Motiv haben und keine eindeutige Spur, die uns vor Gericht etwas nützen würde, müssen wir den Aussagen seiner Familie glauben.«
»Dann sollen wir ihn tatsächlich auf freien Fuß setzen?«
»Sobald sein Rechtsanwalt die Formalitäten erledigt hat, ja! Aber logischerweise nicht ohne Beobachtung.«
»Er wird wohl damit rechnen und sich bedeckt halten. Oder was versprechen Sie sich davon, Chef?«
»Ich verspreche mir davon, dass Sie diese Beobachtung so offensichtlich durchführen, dass er es unbedingt mitbekommt.«
»Ich verstehe nicht recht«, gab der Kommissar verdattert zu.
»Er darf sich unter keinen Umständen mit dem Mittäter in Verbindung setzen. Das wagt er nicht, wenn er sich beobachtet sieht.