Im Hier und Jetzt der Ewigkeit – Science-Fiction-Sonderedition: Vier Romane in einem Band - Hans-Jürgen Raben - E-Book

Im Hier und Jetzt der Ewigkeit – Science-Fiction-Sonderedition: Vier Romane in einem Band E-Book

Raben Hans-Jürgen

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Beschreibung

In dieser Sonderedition zeigen vier Autoren auf über 1100 Seiten zu unterschiedlichen Zeiten auf grandiose, fiktionale Weise, was mit unserer Welt geschehen kann, wenn wir nicht behutsam, gar sensibel mit ihr umgehen, oder wenn Menschen der Meinung sind, sie wären über alle Gesetze in Wirtschaft, Politik und der Natur erhaben und dadurch überdies die Gesellschaft spalten, und am Ende sogar so weit gehen, dass ein Untergang, eine Auslöschung der Menschheit fast nicht mehr zu verhindern ist …

Lassen Sie sich in diese vier wunderbaren, außergewöhnlichen Geschichten entführen:
› DER GESPALTENE PLANET von Hans-Jürgen Raben. In diesem Band zeigt der Autor, was durch Diskriminierung und Ausgrenzung mit unserer Gesellschaft passieren kann, wenn ein Riss durch die Menschheit geht, der weder vor Ländergrenzen, Religion noch Hautfarbe Halt macht.
› IM JAHR 95 NACH HIROSHIMA von Richard Hey. Für diesen Roman erhielt Hey den Kurt-Lasswitz-Preis verliehen.
› IN PURPURNER FINSTERNIS von Michael Georg Conrad. Dieser Roman ist laut SF-Lexikon »einer der besten Romane des wilhelminischen Zeitalters!«
› DIE INSEL DER WAHRHEIT von Alfons Winkelmann. Von diesem Roman wird gesagt: »Dan Brown würde vermutlich vor Neid erblassen.«

In dieser Sonderedition sind folgende Romane enthalten: › Der Gespaltene Planet – Ein Krieg der Geschlechter – von Hans-Jürgen Raben
› Im Jahr 95 nach Hiroshima – von Richard Hey
› Die Insel der Wahrheit – von Alfons Winkelmann
› In purpurner Finsternis; eine Roman-Improvisation aus dem dreißigsten Jahrhundert – von Michael Georg Conrad in einer überarbeiteten Neuauflage von Ines Schweighöfer

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Ähnliche


 

 

 

 

Hans-Jürgen Raben / Alfons Winkelmann /

Richard Hey / Michael Georg Conrad

 

 

Im Hier und Jetzt der Ewigkeit

 

 

 

Science-Fiction-Sonderedition

 

 

Vier Romane in einem Band

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

 

Copyright © by Authors/Bärenklau Exklusiv

© der überarbeiteten Romanfassung von »In purpurner Finsternis« Ines Schweighöfer

Cover: © by Kathrin Peschel nach Motiven, 2023

Korrektorat: Bärenklau Exklusiv

 

Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang

 

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Alle Rechte vorbehalten

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

Im Hier und Jetzt der Ewigkeit 

Der Gespaltene Planet 

Erster Teil 

– Dämmerung – 

1. Kapitel 

2. Kapitel 

3. Kapitel 

4. Kapitel 

5. Kapitel 

Zweiter Teil 

– Nacht – 

6. Kapitel 

7. Kapitel 

8. Kapitel 

9. Kapitel 

Dritter Teil 

– Morgen – 

10. Kapitel 

11. Kapitel 

12. Kapitel 

Einige Jahrzehnte später – Nordamerikanische Union 

Im Jahr 95 nach Hiroshima 

1. Kapitel 

2. Kapitel 

3. Kapitel 

4. Kapitel 

5. Kapitel 

6. Kapitel 

7. Kapitel 

8. Kapitel 

9. Kapitel 

10. Kapitel 

11. Kapitel 

12. Kapitel 

Die Insel der Wahrheit 

Vorwort 

… à cause du monde et à cause de la musique 

Anfang und Ende 

1. Kapitel 

2. Kapitel 

3. Kapitel 

4. Kapitel 

5. Kapitel 

6. Kapitel 

7. Kapitel 

8. Kapitel 

9. Kapitel 

10. Kapitel 

11. Kapitel 

12. Kapitel 

13. Kapitel 

14. Kapitel 

15. Kapitel 

16. Kapitel 

17. Kapitel 

18. Kapitel 

19. Kapitel 

20. Kapitel 

21. Kapitel 

22. Kapitel 

23. Kapitel 

24. Kapitel 

25. Kapitel 

26. Kapitel 

27. Kapitel 

28. Kapitel 

29. Kapitel 

Ende und Anfang 

In purpurner Finsternis 

Vorwort 

1. Kapitel 

2. Kapitel 

3. Kapitel 

4. Kapitel 

5. Kapitel 

6. Kapitel 

7. Kapitel 

8. Kapitel 

9. Kapitel 

10. Kapitel 

11. Kapitel 

12. Kapitel 

13. Kapitel 

14. Kapitel 

15. Kapitel 

16. Kapitel 

17. Kapitel 

18. Kapitel 

19. Kapitel 

20. Kapitel 

21. Kapitel 

22. Kapitel 

23. Kapitel 

24. Kapitel 

25. Kapitel 

Nachwort 

 

Das Buch

 

 

In dieser Sonderedition zeigen vier Autoren auf über 1100 Seiten zu unterschiedlichen Zeiten auf grandiose, fiktionale Weise, was mit unserer Welt geschehen kann, wenn wir nicht behutsam, gar sensibel mit ihr umgehen, oder wenn Menschen der Meinung sind, sie wären über alle Gesetze in Wirtschaft, Politik und der Natur erhaben und dadurch überdies die Gesellschaft spalten, und am Ende sogar so weit gehen, dass ein Untergang, eine Auslöschung der Menschheit fast nicht mehr zu verhindern ist …

 

Lassen Sie sich in diese vier wunderbaren, außergewöhnlichen Geschichten entführen:

› DER GESPALTENE PLANET von Hans-Jürgen Raben. In diesem Band zeigt der Autor, was durch Diskriminierung und Ausgrenzung mit unserer Gesellschaft passieren kann, wenn ein Riss durch die Menschheit geht, der weder vor Ländergrenzen, Religion noch Hautfarbe Halt macht.

› IM JAHR 95 NACH HIROSHIMA von Richard Hey. Für diesen Roman erhielt Hey den Kurt-Lasswitz-Preis verliehen. 

› IN PURPURNER FINSTERNIS von Michael Georg Conrad. Dieser Roman ist laut SF-Lexikon »einer der besten Romane des wilhelminischen Zeitalters!« 

› DIE INSEL DER WAHRHEIT von Alfons Winkelmann. Von diesem Roman wird gesagt: »Dan Brown würde vermutlich vor Neid erblassen.«

 

 

In dieser Sonderedition sind folgende Romane enthalten:

 

› Der Gespaltene Planet – Ein Krieg der Geschlechter – von Hans-Jürgen Raben 

› Im Jahr 95 nach Hiroshima – von Richard Hey 

› Die Insel der Wahrheit – von Alfons Winkelmann 

› In purpurner Finsternis; eine Roman-Improvisation aus dem dreißigsten Jahrhundert – von Michael Georg Conrad in einer überarbeiteten Neuauflage von Ines Schweighöfer 

 

 

***

 

 

Im Hier und Jetzt der Ewigkeit

 

Science-Fiction-Sonderedition

 

 

Vier Romane in einem Band

 

 

 

Der Gespaltene Planet

– Ein Krieg der Geschlechter –

 

 

von Hans-Jürgen Raben

 

 

 

ERSTER TEIL

– DÄMMERUNG –

 

 

ZWEITER TEIL

– NACHT –

 

 

DRITTER TEIL

– MORGEN –

 

 

***

 

 

Erster Teil

– Dämmerung –

 

 

»Ihr werdet den Tag noch erleben, an dem die Welt, die ihr kennt, endet.«

(George Baker)

 

 

 

1. Kapitel

 

 

Die letzten Dekaden des vorigen Jahrhunderts – Vergangenheit.

 

Der Zeitungsverkäufer war heute freundlicher als sonst. »Wird ein schöner, heißer Tag«, sagte er und ließ das Wechselgeld auf den Zahlteller fallen. Robert Kinsley sah ihn überrascht an und klemmte die New York Times unter den Arm. Er konnte sich nicht erinnern, dass der Verkäufer jemals ein Wort zu ihm gesagt hätte, und daher antwortete er nur mit einem zustimmenden Brummen. Seit ziemlich genau vier Jahren kaufte er hier jeden Morgen seine Zeitung.

Kinsley blinzelte in den Himmel. Der Zeitungsverkäufer würde mit seiner Bemerkung recht behalten. In New York bedeutete dies neben der Hitze oft eine unerträgliche Schwüle. Die Verbrechensrate würde in den Abendstunden hochschnellen, und im Feierabendverkehr würde es mehr Unfälle als gewöhnlich geben.

Kinsley ging die paar Schritte zum Eingang der Subway-Station hinüber. Er hatte sich einen kraftvoll federnden Gang angewöhnt, seit er kurz davorstand, in seiner Firma eine leitende Position zu übernehmen. Er bildete sich ein, damit eine dynamischere Ausstrahlung zu besitzen. Ebenso legte er Wert auf ein gepflegtes Äußeres; seriös, nicht zu modisch, aber mit einer dezenten Eleganz. Als Richtschnur bevorzugte er jeweils ein Herrenjournal des Vorjahres und den Rat eines flüchtigen Bekannten, der als Chefeinkäufer für ein großes Warenhaus tätig war. Sein Modeverhalten entsprach seiner Mentalität: absichern nach mehreren Seiten, zurückgreifen auf das Erprobte, das Bewährte; Vermeiden von Experimenten, deren Ausgang ungewiss war. Kinsley war in der Regel zufrieden mit sich. Sympathie, Vertrauen, Dynamik – das war es, was heutzutage zählte. Der nächste Schritt nach oben sollte nicht der letzte in seiner Karriere sein.

Er rümpfte angewidert die Nase, als ihm aus dem dunklen Schacht diese undefinierbare Mischung von Gerüchen entgegenschlug, die das Benutzen von öffentlichen Verkehrsmitteln für ihn immer zur Qual machte. Die New Yorker Subway besaß zumindest einen Rekord im internationalen Vergleich: Sie war die schmutzigste.

Kinsley bemühte sich, Abstand von den anderen Menschen zu wahren. Er mochte es nicht, angerempelt oder auch nur gestreift zu werden. Aus dem gleichen Grund verabscheute er Kaufhäuser mit ihren hin und her drängenden Menschenpulks, den überfüllten Rolltreppen und der ständigen Berieselung von Lautsprecherdurchsagen.

Links von ihm stand eine Menschentraube, alle in Lederjacken. Schwarz, glänzend und gespickt mit Silbernägeln. Diese Rockertypen werden immer aufdringlicher, dachte er flüchtig, ehe er merkte, dass es ausschließlich Mädchen und junge Frauen waren. Sie trugen die Haare kurz und sahen, außer ihrer Kleidung, überhaupt nicht nach »Hells Angels« oder etwas Ähnlichem aus. In ihrer Mitte aber war ein Mann, und es schien, als müsste er sich gegen die Mädchen wehren. So genau war es in dem Gedränge nicht zu erkennen, und Kinsley beherzigte die New Yorker Devise, dass man sich besser nicht in die Angelegenheiten anderer Leute einmischte.

Donnernd lief der Zug in den Bahnhof ein, und ein Schwall stickiger Luft streifte sein Gesicht. Für einen Moment war er abgelenkt und ließ sich von der Woge treiben, die zu den geöffneten Türen spülte. Plötzlich ertönte hinter ihm ein entsetzlicher Schrei, der sofort wieder abbrach und in einem Gurgeln endete. Kinsley erschrak und blieb erstarrt stehen.

Die Lederjackentruppe hatte sich aufgelöst. Er sah, wie sich die schwarzglänzenden Gestalten eilig auf verschiedene Waggons verteilten. Auch andere hatten den Schrei gehört und sich umgedreht. Aber scheu wandten sie den Kopf und hasteten in die Abteile. Die Türen schlossen sich knallend, und der Zug fuhr an. Sekunden später waren nur noch die roten Rücklichter im Tunnel zu sehen, bis auch sie hinter der nächsten Kurve verschwanden.

Kinsley war nun ganz allein auf dem Bahnsteig. Allein mit dem Mann, den er eben noch in der Gruppe der Mädchen gesehen hatte. Er lag verkrümmt auf dem Betonboden und röchelte. Ich komme zu spät, dachte Kinsley, gleich darauf bewegten sich seine Füße direkt auf den Mann zu. Es geht dich nichts an, hämmerte es in seinem Schädel. Die anderen haben sich auch nicht darum gekümmert … 

Er kniete bei dem Mann nieder und versuchte, ihn auf die Seite zu drehen. Er war etwa im gleichen Alter wie Kinsley selbst, also Anfang Dreißig. Er trug leichte, aber teure Sommerkleidung, die ihn jünger aussehen ließ.

Kinsley zuckte zurück, als er eine klebrige Flüssigkeit an seinen Fingern spürte. Entsetzt starrte er auf seine Hand. Sie war mit Blut beschmiert. Jetzt erst sah er die sich langsam ausbreitende Blutlache unter dem Mann, der verzweifelt versuchte, sich hochzustemmen.

»Helfen Sie mir!«, stöhnte er. Dabei krallte er sich mit der rechten Hand an Kinsleys Schulter fest. Seine Augen wurden schon glasig. Kinsley hatte zwar noch nie einen Toten gesehen, aber er begriff, dass es gleich so weit sein würde. Diese Vorstellung erschütterte ihn. Er wich einen Schritt zurück und befreite sich von der Hand des Sterbenden, der auf den Beton zurückglitt und unkontrolliert zuckte.

»Diese verdammten Weiber!«, flüsterte der Mann. »Jetzt haben sie es doch geschafft!« Er drehte den Kopf zu Kinsley. »Sie müssen aufpassen. Da geht etwas vor … die Frauen, wissen Sie … sie wollen uns … warnen Sie …« Ein Blutschwall schoss aus seinem Mund und erstickte die letzten Worte. Dann fiel sein Kopf zur Seite, und er lag still. Kinsley spürte, dass ihm schlecht wurde.

Er blickte hoch und sah andere Menschen, die in einem lockeren Kreis um ihn und den Toten herumstanden. In den Gesichtern stand neben der üblichen Sensationsgier auch das nackte Entsetzen vor dem, was jeden Bürger dieser Stadt unsichtbar begleitete.

Zwei Polizisten drängten rücksichtslos durch die Menge, die nur mürrisch zur Seite wich. Kinsley bemerkte die blauen Uniformen kaum, die neben ihm auftauchten. Auf seiner Stirn standen Schweißtropfen. Erst als er angesprochen wurde, kam ihm zu Bewusstsein, dass in den Uniformen Frauenkörper steckten. Er erinnerte sich, gelesen zu haben, dass seit einiger Zeit auch Frauen im normalen Streifendienst der Polizei eingesetzt waren. »Die letzten männlichen Bastionen werden genommen«, hatte ein Kommentator dazu bemerkt. Inzwischen war es eine Selbstverständlichkeit, denn Frauen konnten mit Schlagstock und Revolver ebenso gut umgehen wie ihre männlichen Kollegen, und meistens hatten sie auch weniger Hemmungen, es zu tun.

»Ich habe Sie etwas gefragt!«, drang eine Stimme an sein Ohr.

Er zuckte verwirrt zusammen. Die Stimme klang irgendwie lauernd. Er sah die Polizistin an. Sie hatte ein ebenmäßiges Gesicht mit harten blauen Augen. Das Haar war kurz und verschwand fast gänzlich unter der Uniformmütze. »Ich … ich habe Sie nicht verstanden.«

»Waren Sie dabei, als es geschah? Haben Sie den Täter gesehen? Es muss doch eben erst passiert sein. Befindet sich der Betreffende vielleicht noch auf dem Bahnsteig? Oder haben Sie selbst …?«

»Nein, nein. Ich …«

Die zweite Polizistin hatte sich zu dem Toten hinabgebeugt und richtete sich jetzt wieder auf. Sie schüttelte den Kopf. »Nichts mehr zu machen. Es sieht nach Messerstichen aus. Man hat den Mann regelrecht zerfetzt. Das ist ein Fall für die Mordkommission.«

Die beiden drehten den Kopf Kinsley zu. Sie kamen ihm vor wie bleiche Monde, die vor seinen Augen schwammen. Ein Zug fuhr ein und übertönte jedes Geräusch, sodass er die Frage nicht verstand, die man an ihn richtete. Der Kreis der Neugierigen zerbröckelte wie Eis in der Sonne. Niemand war scharf darauf, neugierige Fragen der Polizei zu beantworten. Kurze Zeit später waren sie wieder allein auf dem Bahnsteig.

»Es war eine Bande von Frauen«, sagte Kinsley klar und deutlich, als der Lärm der Bahn verebbt war.

Die beiden Polizistinnen warfen sich einen raschen Blick zu. »Frauen?«, sagte die erste gedehnt. »Sie müssen sich irren. Das Messer ist keine Waffe für eine Frau.«

Er machte eine hilflose Handbewegung. »Aber ich habe es gesehen. Sie trugen Lederkleidung.«

Die beiden sahen sich wieder bedeutungsvoll an. Die Polizistin mit den blauen Augen deutete anklagend mit dem Finger auf ihn. »Lederkleidung, aha! Sie haben das mit einer Rockerbande verwechselt. Dort sitzen die Messer locker, das weiß man doch. Es waren sicher viele Menschen auf dem Bahnsteig, was haben Sie schon sehen können?«

Kinsley spürte eine leichte Wut in sich. Schließlich war er dabei gewesen! Nun gut, er hatte nicht gesehen, wie man den armen Kerl niedergestochen hatte, aber das war unwichtig, denn der Tote war schließlich nicht zu übersehen. Die dunkelrot glänzende Blutlache war faserartig in verschiedene Richtungen zerlaufen. Irgendjemand war hineingetreten und hatte blutige Fußspuren bis zur Bahnsteigkante hinterlassen. Die Szenerie hatte etwas Unwirkliches an sich, aber Kinsley konnte wieder klar denken, und mit alttestamentarischer Überzeugung sagte er: »Es waren Frauen.«

»Es könnte nicht zufälligerweise ein Unfall gewesen sein?«, fragte Blauauge mit ziemlicher Hinterhältigkeit in der Stimme. »Könnten Sie beschwören, dass es so geschehen ist, wie Sie sagen?«

»Nun, ich … äh …«

»Sehen Sie, Sie haben nur vage Anhaltspunkte. Ich glaube, Sie wären kein sehr guter Zeuge. Vor Gericht kämen Sie damit nicht durch.«

»Vor Gericht?« Das Erschrecken in Kinsleys Stimme war nicht zu überhören.

Blauauge lächelte belustigt. »Natürlich. Man wird Verdächtige verhaften und anklagen. Sie wird man als Zeuge hören, und der Richter wird Sie fragen, ob Sie die Täter wiedererkennen, und dann werden Sie schwören müssen, nichts als die Wahrheit zu sagen, und von Ihrer Aussage wird es abhängen, ob vielleicht Unschuldige auf Lebenszeit ins Gefängnis gehen müssen.«

»Es ging alles sehr schnell«, gab Kinsley zu.

»Wir brauchen Sie dann nicht mehr«, mischte sich die andere ein. »Sie sind wahrscheinlich schon zu lange aufgehalten worden. Geben Sie uns Ihre Personalien, danach können Sie den nächsten Zug nehmen!«

»Weshalb brauchen Sie meine Personalien? Ich bin hier ganz zufällig vorbeigekommen. Sie sagen doch selbst, dass meine Aussagen unbrauchbar sind.«

Er spürte, dass eine unbestimmte Angst ihm die Kehle zuschnürte. Sein Magen meldete sich, und ihm wurde bewusst, dass er sich jetzt bereits sehr stark verspätet hatte. Das würde man ihm ankreiden. Manche Kollegen warteten nur darauf, ihm ein Bein zu stellen. Diese blöde Geschichte konnte seine Karriere ruinieren! Seine Hände begannen zu zittern. Er fingerte nach seinem Führerschein. »Wenn Ihnen das reicht?«

Blauauge schrieb die Daten in ein schwarzes Notizbuch und gab ihm das Papier zurück. »Wenn wir noch Fragen haben, werden wir uns an Sie wenden. Die Mordkommission wird sich um alles Weitere kümmern.«

Ein Zug lief ein, und hastig strebte Kinsley zur nächsten geöffneten Tür. Er sank in einen Sitz und schloss dankbar die Augen, als die Bahn anruckte. Erst als die Lichter des Bahnhofes verschwunden waren, klappte er seine Zeitung auf. Es dauerte ein paar Sekunden, ehe sich seine Augen daran gewöhnten, die tanzenden Buchstaben an einer Stelle festzuhalten und zu entziffern. Es gab keinen Zweifel, er war ziemlich nervös. Mit dieser Art von Dynamik konnten sich seine Vorgesetzten sicher nicht anfreunden.

Sein Blick flog über die Schlagzeilen und blieb rechts unten hängen.

GEWALTKRIMINALITÄT: IMMER MEHR FRAUEN UNTER DEN TÄTERN.

Er konnte sich nicht auf den Artikel konzentrieren, da sich immer wieder das Bild des Ermordeten über die Zeilen schob, und so wanderte sein Blick zu einer anderen Schlagzeile: ZWEI DRITTEL ALLER EHEN INNERHALB DES ERSTEN JAHRES GESCHIEDEN.

Er schüttelte den Kopf. Dieses Phänomen war ihm fremd, denn er war Junggeselle. Zwar hatte er schon mehrfach mit dem Gedanken gespielt, eine Frau zum Standesamt zu führen, aber in seiner Bekanntschaft gab es niemanden, den er für einen solch endgültigen Schritt für geeignet hielt. Es kam hinzu, dass sich die Frauen nicht gerade um ihn rissen, oder, um es anders auszudrücken, er hatte es ziemlich schwer, Bekanntschaften mit dem anderen Geschlecht zu schließen. Nicht, dass es ihm sonderlich viel ausgemacht hätte – aber es war andererseits zu bedenken, dass alle leitenden Angestellten in seiner Firma verheiratet waren, und das ließ vermuten, dass Karriere und Ehe in einem ursächlichen Zusammenhang standen.

Kinsley faltete die Zeitung zusammen und legte sie neben sich auf den Sitz. Er hatte zum ersten Mal in vier Jahren keine Lust, sie zu lesen.

 

*

 

»Ich glaube, es ist mehr eine Art Seuche.« George Baker schlug sich auf die Schenkel und lachte. Sein Gesicht glänzte wie eine Speckschwarte, und sein Bauch hüpfte auf und ab. Er hielt sein leeres Glas einem vorbeieilenden Kellner entgegen, der es wortlos wieder füllte. Er war Lohnkellner und wurde dafür bezahlt, Gläser zu füllen. Er brauchte sie nicht zu zählen, und es war auch nicht seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Gäste nüchtern das Haus verließen. Eine Party bei Vanessa Reeves hatte noch nie jemand nüchtern verlassen.

»Willst du damit sagen, dass es sich um einen Virus handelt?« David Ingham drehte das Glas in seinen Händen und musterte eine künstlich gefärbte Blondine, die in einem trägerlosen Abendkleid an ihm vorüberschwebte – nicht ohne ihm dabei einen glutvollen Blick zuzuwerfen, oder das, was sie dafür hielt. David war Filmproduzent, und jedes Mädchen im Raum wusste es. Was die meisten nicht wussten: dass er sich aus Mädchen nichts machte.

»Ich finde es überhaupt nicht komisch«, sagte Robert Kinsley. Er machte sich nicht viel aus Partys, wusste aber, dass sie für sein weiteres Fortkommen unerlässlich waren. Glücklicherweise gab es bei Vanessa immer ein paar Leute, mit denen es sich zu unterhalten lohnte, zumindest so lange, bis ein ausreichender Grad an Trunkenheit erreicht war.

»Wenn ich Seuche sage, meine ich, dass es rapide um sich greift. Ich weiß, wovon ich rede.« Baker nahm schlürfend einen tiefen Schluck aus seinem Glas. In seiner Jugend musste es gravierende Erziehungsmängel gegeben haben. Er sprach nie darüber, aber jeder wusste, dass er sich aus sehr bescheidenen Verhältnissen nach oben gekämpft hatte. Heute gehörten ihm ein Tiefbauunternehmen, eine Spedition und eine Einzelhandelskette. Außerdem kontrollierte er ein Reinigungsunternehmen und besaß wesentliche Anteile an einem lokalen Fernsehsender, an den wiederum eine kleine Schallplattenproduktionsfirma gekoppelt war. Es hieß, dass er auch Kontakte zum organisierten Verbrechen unterhielt, eine Vermutung, die er nie dementiert hatte.

»Es ist kein Virus, David, es ist viel schlimmer. Einen Virus könnte man bekämpfen, indem man Penicillin spritzt oder etwas Ähnliches. Aber es sind doch die Frauen selbst, die mehr und mehr durchdrehen. Ihr braucht euch nur umzusehen, dann wisst ihr, was ich meine. Mister Kinsley hat doch eben sein Erlebnis erzählt. Es passt haargenau in die Art von Entwicklung, die ich befürchte. Es ist etwas im Gange, meine Freunde.«

Ingham lächelte schwach. Er war mit Baker eng befreundet, was manchen erstaunte, denn sie schienen auf den ersten Blick nicht das Geringste miteinander gemein zu haben. Allerdings besaßen sie geschäftliche Interessen, die für einen Außenstehenden reichlich undurchsichtig waren. Jedenfalls ergänzten sich Inghams Filmsternchen mit Bakers Plattenstars und seinen Fernseheinflüssen in ganz idealer Weise. Es war jedem, der die beiden kannte, klar, dass es hinter den Kulissen mehr geben musste, als vordergründig erkennbar war, aber dies war kein Thema, das zu diskutieren lohnte. Sie lebten alle in einem freien Land, wo jeder genau die Freiheit besaß, die er sich nahm, und einige hatten eben etwas heftiger zugegriffen als andere.

Robert Kinsley sah von einem zum anderen. »Wir kennen uns noch nicht so gut«, sagte er schließlich, »aber ich möchte Sie dennoch fragen, was Sie von meiner Geschichte halten. Sie müssen zugeben, dass das Ganze ziemlich merkwürdig ist. Ich habe im ersten Augenblick an eine Verschwörung gedacht, obwohl ich keine Ahnung habe, gegen wen sich die Verschwörung richten sollte. Mittlerweile glaube ich schon, dass ich mir alles nur einbilde, dass ich wegen des schrecklichen Erlebnisses aus einer Mücke einen Elefanten mache. Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll.«

Baker deutete mit dem Finger auf Kinsley. »Sie haben ganz recht: Es ist eine Verschwörung, und sie richtet sich gegen uns, gegen die Männer. Stören Sie sich nicht daran, wenn David lächelt. Er hat von Frauen keine Ahnung, er nimmt sie kaum zur Kenntnis. Deswegen sieht er natürlich nicht, was um uns vorgeht. Es gibt harmlose Dinge und einige, die mich frösteln lassen. Ich habe mir neulich die Mühe gemacht, in allen meinen Firmen die Positionen der Frauen herauszusuchen, und wissen Sie, was ich festgestellt habe? Sie sind überall auf dem Vormarsch, und in manchen Bereichen haben sie bereits die entscheidenden Posten besetzt. Sie machen es mit allen Tricks und manchmal auch mit Druck. Meine Fernsehgesellschaft wollte vor einigen Wochen eine Sendung bringen, die sich mit diesen Erscheinungen beschäftigt. Die Sendung ist jedoch sabotiert worden. Weder erfolgte jemals eine Übertragung, noch ist der Film seither auffindbar. Das sind nur Beispiele, aber sie sind typisch.«

»Das beweist überhaupt nichts«, meinte Ingham leichthin. »Wenn dem so wäre, hätte ich etwas merken müssen.«

»Hättest du auch, wenn du dich für Frauen interessieren würdest. Du produzierst Filme, und ich bin dein Kunde, denn ich gehe verdammt gern ins Kino. Und auch dort ist mir in letzter Zeit einiges aufgefallen. Es gibt immer mehr weibliche Regisseure und immer mehr Themen, die sich mit der Rolle der Frau beschäftigen, und zwar in einer Art und Weise, die mir überhaupt nicht gefällt. Die Männer werden mehr oder weniger als Halbidioten dargestellt, die auf ziemlich plumpe Weise versuchen, die Frauen zu unterdrücken, wobei ihre Funktion sich eigentlich darauf beschränkt, zum Fortbestand der Rasse einen bescheidenen Beitrag zu liefern. Und das Schlimme ist: Wir sind wirklich Idioten, denn in den Kinos lachen die Männer herzlich über solche Filme. Es sollte mich nicht wundern, wenn alles von irgendwoher gesteuert würde.«

Ingham wiegte den Kopf. »Ich gebe dir recht, was die Filme angeht. Aber nehmen wir die Musikbranche. Sieh dir deine eigenen Produkte an. Selbst die härtesten Rockgruppen werden von Frauen geleitet, und auch die Texte der Songs sind nicht gerade promännlich. Jedoch halte ich dies alles nicht für eine Verschwörung, sondern für eine Zeiterscheinung, die vorübergeht, wie es bei solchen Trends immer der Fall war. Das Wort Emanzipation ist schließlich schon recht lange im Gespräch. Ich darf dich an die verschiedenen Wellen der sechziger und siebziger Jahre erinnern. Ein Protest jagte den nächsten. Auf der ganzen Welt herrschte Unruhe. Mittlerweile hat die Situation sich doch normalisiert. Die Frauen haben sich überall nach vorn gekämpft und die volle Gleichberechtigung erstritten.«

»Gleichberechtigung steht ihnen auch zu«, mischte sich ein Mann ein, der vor einigen Minuten hinzugetreten war. Sein durchschnittliches Äußeres prädestinierte ihn dazu, übersehen zu werden. Gedrungene Gestalt, farblose Augen, schütteres Haar, Alter um die Vierzig. Er sprach ein korrektes Schulenglisch.

»Das ist richtig«, sagte Kinsley. »Ich glaube, wir kennen uns noch nicht.«

»Ich bitte um Entschuldigung, mein Name ist Wagner, Paul Wagner. Ich bin Kaufmann und aus geschäftlichen Gründen in New York. Ein Geschäftsfreund hat mich heute Abend hierher mitgenommen.« Er deutete vage in das Gewühl der Party.

Kinsley nickte. Er wandte sich Baker zu. »Ich bin der Ansicht, dass die sogenannte Gleichberechtigung ihren Charakter verloren hat und sich allmählich in eine Benachteiligung des Mannes umkehrt. Man braucht sich nur gründlich in der Welt umzusehen. Noch nie hat es so viele Frauen an der Macht gegeben wie heute. Großbritannien, Israel, Portugal, Kanada, Indien, Argentinien, Jugoslawien – um nur einige zu nennen. Und in unserem eigenen Land? In wenigen Wochen haben wir Wahlen, und zum ersten Mal in der Geschichte der Vereinigten Staaten bewirbt sich eine Frau um die Präsidentschaft.«

»Es geht mich zwar direkt nichts an«, sagte Wagner, »aber ich glaube, dass eine Frau in diesem Land keine Chance hat. Es ist der wichtigste Posten, den die westliche Welt zu vergeben hat. Amerika weiß das und wird entsprechend reagieren.«

»Ich hoffe, Sie behalten recht«, murmelte Kinsley.

Ingham machte eine abfällige Handbewegung. »Diese Frau wird die Wahl nicht gewinnen. Amerikas Frauen können nicht so dumm sein und die Verantwortung für die Nation einer ihrer Geschlechtsgenossinnen übertragen.«

»Ich wäre in dieser Beziehung nicht so sicher, David«, sagte eine rauchige, sehr weibliche Stimme. Die Köpfe der Männer ruckten wie von Bindfäden gezogen herum.

Vanessa Reeves. Die Gastgeberin. Sie lächelte strahlend, wie eine aus der Zahnpastareklame. »Habt ihr schon wieder das leidige Thema von der verletzten männlichen Eitelkeit zu fassen? In diesem Falle bringe ich euch Verstärkung. Dieser reizende junge Mann besitzt nicht nur eine tiefe russische Seele, sondern ist auch von der Überlegenheit alles Männlichen überzeugt. Alexej Jakowlew!«

Der Angesprochene verbeugte sich militärisch knapp. Er war das, was man landläufig gutaussehend nannte. Sein Anzug entsprach nicht ganz der letzten Mode, saß aber wie angegossen. In seinen Augen lag ein wachsamer Zug, der aber von seinem Lächeln verdeckt wurde. Er war noch recht jung und besaß offenbar gute Manieren.

»Sie sind Exilrusse?«, erkundigte sich Baker träge.

»Nein, ich bin Mitglied der sowjetischen UN-Delegation.« Sein Englisch war fast perfekt. Er schien nicht beleidigt zu sein.

»Ein richtiger Kommunist?« Baker war ehrlich erstaunt und drehte sich zu Vanessa um. »Du hast neuerdings merkwürdige Freunde.«

Ingham stieß ihn in die Seite. »Benimm dich! Es sind Vanessas Gäste. Mister Jakowlew, Sie sind uns willkommen.«

Der Russe verbeugte sich erneut. »Danke. Ich weiß, dass Amerikaner freundliche Leute sind. Sie haben nur einen Fehler: Sie gehorchen ihren Frauen zu sehr. Dafür gibt es nur eine Erklärung. Die amerikanischen Frauen sind sehr schön.« Er blickte Vanessa an.

Vanessa Reeves war zweifellos eine Schönheit. Ihr Alter war eines ihrer bestgehüteten Geheimnisse, aber wer sie nicht näher kannte, schätzte sie nicht älter als Mitte Dreißig ein. Sie war natürlich fast zehn Jahre älter, aber selbst jüngeren Männern blieb bei ihrem Anblick manchmal fast das Herz stehen – und das lag nicht nur an den Errungenschaften der modernen Kosmetikforschung. Hinzu kam ein unglaublicher Charme, der sie als Gastgeberin so beliebt machte. Ihre Partys zogen interessante Leute an wie das Licht die Motten. Es handelte sich auch nicht um langweilige Cocktail-Partys im Stehen, sondern um feuchtfröhliche Festivitäten, die in sehr heiterer Stimmung zu enden pflegten. Allerdings war es noch niemals vorgekommen, dass sich jemand danebenbenommen hatte. Er wäre auch nie wieder eingeladen worden.

Baker und Ingham gehörten schon seit Längerem zum Kreis der Ausgewählten. Kinsley war erst zum zweiten Mal dabei. Einer seiner Freunde, der heute nicht anwesend war, hatte ihm die Einladung vermittelt, und es war ihm rasch gelungen, Gesprächspartner zu finden. Er hatte bisher noch nicht herausbekommen, wovon Vanessa Reeves lebte. Offenbar war sie nicht verheiratet und besaß genügend Geld. Vermutlich war sie Witwe oder geschieden. Wie auch immer – einmal im Monat gab sie eine Party, die zu den gesellschaftlichen Ereignissen New Yorks zählte. Unter ihren Gästen hatte es Senatoren und Gouverneure gegeben, Künstler und Millionäre, aber auch ganz normale Sterbliche, wie Kinsley zum Beispiel, der sich nicht erklären konnte, was ihm zu einer zweiten Einladung verholfen hatte. Er nahm es hin wie ein Gottesgeschenk, denn es hatte wenig Sinn, sich darüber Gedanken zu machen.

»Du siehst bezaubernd aus wie immer«, sagte Ingham. Um seine Lippen lag ein spöttischer Zug. Natürlich wusste auch Vanessa, dass er ihren Reizen gegenüber von außerordentlicher Zurückhaltung war. Dies führte hin und wieder zu einem Wortwechsel, der einem Florettfechten nicht unähnlich war, wobei keiner der beiden so weit ging, dass der andere eventuell sein Gesicht verlor. Es handelte sich um eine intellektuelle Auseinandersetzung zum Vergnügen der übrigen Gäste.

Vanessa schien heute milde gestimmt; sie nickte leicht mit dem Kopf. »Du bist reizend wie immer, David. Ich hoffe, es gefällt euch auf meiner Party. Ich freue mich, dass auch Sie gekommen sind, Mister Kinsley. Sie wissen, dass ich gerne nette Leute um mich habe. Es wird heutzutage immer schwieriger, sie zu finden.«

Sie drehte den Kopf und winkte eine Frau heran, die schräg hinter ihr gestanden hatte. »Ich möchte euch außerdem Laura Stanwick vorstellen. Sie ist zum ersten Mal hier, obwohl ich sie schon länger kenne. Laura, dies sind meine alten Freunde George Baker und David Ingham. Das ist Mister Kinsley, der auch erst zum zweiten Mal hier ist. Ganz neu Mister Wagner, und das ist Mister Jakowlew.«

Sie verbeugten sich und schüttelten die Hände. Baker stoppte den Kellner und griff ein Champagnerglas vom Tablett, das er ihr mit einer vollendeten Geste überreichte. Sie nahm es mit einem leichten Kopfnicken, verzog aber keine Miene dabei.

Kinsley spürte eine unangenehme Erinnerung, als er sie ansah. Plötzlich wusste er es: die Augen. Sie waren von der gleichen Kälte und Härte wie die der Polizistin. Als sie ihn anblickte, beschleunigte sich sein Puls. Es war absolut albern, sagte er sich, aber die automatischen Reaktionen seines Körpers konnte er nicht steuern.

Laura Stanwick war keine Schönheit, aber sie besaß eine eigentümliche Ausstrahlung, die den Betrachter faszinierte. Kinsley fühlte sich angezogen, aber gleichzeitig abgestoßen. Sie mochte Ende Vierzig sein und tat nichts, um ihr Alter zu verheimlichen. Sie war gepflegt, schien Kosmetika aber nur dezent zu verwenden. Das Erstaunlichste aber war ihre Kleidung. Sie trug die Uniform eines Obersten der amerikanischen Luftwaffe.

»Ich sehe, ihr seid überrascht«, sagte Vanessa. »Ich muss zugeben, dass es mir ähnlich ging. Aber ich habe mir gesagt, dass heute nichts Ungewöhnliches dabei ist, wenn eine Frau einen hohen Offiziersrang besitzt. Schließlich ist das Gesetz über den Militärdienst von Frauen schon einige Jahre alt. Wir müssen uns wohl daran gewöhnen, dass selbst in der Air Force die Vorherrschaft der Männer zu Ende ist.«

Baker machte den Mund auf und zu wie ein Karpfen, der nach Luft schnappt. Ingham runzelte die Stirn, als denke er angestrengt nach, und Kinsley versuchte, seinen klopfenden Herzschlag zu dämpfen.

»Sie brauchen keine Haltung anzunehmen, wenn Sie mit mir sprechen«, sagte der Oberst (Oder heißt es die Oberstin?, dachte Kinsley). »Schließlich gehören Sie nicht zu meinen Untergebenen.« Um ihre Mundwinkel lag zum ersten Mal ein leichtes Lächeln. »Es ist merkwürdig, aber wenn ein Mann eine Uniform sieht, strafft er seine Haltung, wobei es keine Rolle spielt, ob er gedient hat oder nicht. Waren Sie in der Armee?«

Nacheinander schüttelten sie den Kopf. »Ich war untauglich«, sagte Baker. Ingham grinste, denn er wusste genau, dass es seinen Freund einige Mühe gekostet hatte, den Grad seiner Untauglichkeit vor den zuständigen Behörden zu beweisen. »Vietnam ging zu Ende, als ich eingezogen werden sollte, und so blieb es mir erspart«, fügte er hinzu.

»Ich brauchte nicht, weil ich einen Sehfehler habe«, ergänzte Kinsley. »Das hat jedenfalls der Arzt behauptet. Er hat mir eine Brille verpasst, die ich nicht brauche, und war vom Gegenteil nicht zu überzeugen. Ich kann sehr gut sehen, aber es half nichts. Man hat mich nicht genommen.«

Laura Stanwick musterte ihn prüfend. »Das kommt vor. Es gibt überall Versager, nicht nur in der Armee. Wir bemühen uns, solche Fehlentscheidungen zu verhindern, aber man kann nicht alles nachprüfen.«

»Entschuldigen Sie, wenn ich so direkt frage«, warf Baker ein, »sind Sie beim Sanitätskorps oder bei einer Verwaltungseinheit? Ich habe noch nie von Frauen bei der Luftwaffe gehört.«

Sie sah ihn starr an. »Ich befehlige eine Raketenstellung mit Interkontinentalgeschossen, und ich bin bei Weitem nicht die einzige Frau bei der Air Force, die eine verantwortliche Position innehat. Das haben mehrere Kolleginnen meines Jahrgangs in West Point geschafft. Drei davon sind bereits General. Strategisches Bomberkommando, Fernlenkwaffen und DIA.«

»DIA?«, fragte Kinsley erstaunt.

Ingham wandte den Kopf. »Defense Intelligence Agency. Ein militärischer Nachrichtendienst, der die einzelnen Organisationen der Teilstreitkräfte zu koordinieren hat.«

»Sehr richtig, Mister Ingham«, stimmte Oberst Stanwick zu. »Sie kennen sich aus.«

»Kommt in einem meiner Filme vor«, entgegnete er abwehrend.

Ihr leichtes Lächeln war weggewischt. »Sie sollten das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Es handelt sich um eine ernste und wichtige Sache. Ich jedenfalls nehme sie ernst.«

»Oh, das tun wir auch«, beschwichtigte Baker. »Eine Raketenstellung befehligen Sie? Das muss interessant sein.«

»Es ist ziemlich langweilig, aber es verlangt hohe Verantwortung und ständige Einsatzbereitschaft von uns. In meiner Einheit gibt es zahlreiche Frauen unterschiedlicher Dienstgrade. Ich bin der Überzeugung, dass die Frauen dem ständigen psychischen Druck besser gewachsen sind als Männer. Es gibt zwar ein kompliziertes Sicherheitssystem, aber letztlich können sie mit einem Knopfdruck das atomare Inferno auf der Erde loslassen. Dieses Bewusstsein verlangt eine hohe psychische Stabilität.«

»Und Sie glauben, dass Frauen in dieser Beziehung stabiler sind als Männer?«, fragte Ingham ungläubig.

Sie nickte. »Unbedingt. Das zeigen nicht nur die wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern auch die praktischen Erfahrungen der letzten Jahre.«

Vanessa Reeves trat wieder zu der Gruppe. »Laura, meine Liebe, ich hoffe, ihr habt euch gut unterhalten. Aber jetzt muss ich dir noch ein paar andere interessante Leute vorstellen.« Sie zog sie am Ärmel, und die Frau Oberst verabschiedete sich mit einem knappen, militärischen Kopfnicken.

Baker tupfte sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn. »Was sagt man denn dazu? Ich fürchte allmählich, dass wir schon viel weiter sind, als ich bisher angenommen habe. Eine Frau befehligt Interkontinentalraketen! Wohin soll das führen?«

»Bei uns in Deutschland gibt es noch keinen weiblichen General«, sagte Paul Wagner nach einer Pause. »Das werden wir auch zu verhindern wissen. Es muss ein paar Domänen geben, die den Männern vorbehalten bleiben. Der Krieg – ich meine, die Verteidigung – gehört unbedingt dazu.«

Baker starrte Jakowlew an. »Das Gespräch muss Ihnen gefallen haben.« Er beugte sich vor. »Sie sind doch Spion, oder? Die russische Botschaft in Washington steckt voller Spione.«

Für einen Augenblick herrschte Schweigen, dann ergriff Ingham das Wort. »Sie müssen meinen Freund entschuldigen. Er ist immer sehr direkt, aber er meint es nicht so. Natürlich wissen wir, dass nicht alle Russen Spione sind.«

Jakowlew hatte sein verbindliches Lächeln nicht verloren. »Mein Land braucht keine Spione. Wir kämpfen für die Erhaltung des Weltfriedens und müssen uns hin und wieder gegen die Angriffe des imperialistischen Klassenfeinds zur Wehr setzen.«

»Die brauchen wirklich keine Spione«, meinte Wagner lachend. »Der Himmel hängt voller Satelliten. Die können von dort unsere Zeitung mitlesen. Wahrscheinlich tun sie’s auch.«

»Wer?«, fragte Kinsley irritiert.

Wagner hob die Schultern. »Na, alle. Wir belauern und beobachten die Russen, und die beobachten uns. Ist es nicht so, Mister Jakowlew?«

Der Russe lächelte sanft. »Ich verstehe nichts von Politik, die der Vorbereitung eines Überfalls dient. Ich setze mich für die Verständigung unter den Völkern ein.«

»Klingt gut«, sagte Baker. »Das haben Sie natürlich auswendig gelernt. Aber viel lieber ist mir, dass auch Sie den verdammten Weibern nicht über den Weg trauen. Wie ist es in Ihrem Land?«

»Frauen gibt es bei uns in allen Positionen. Wir haben die volle Gleichberechtigung verwirklicht – im Gegensatz zu den westlichen Demokratien, wo sie nur scheinbar existiert.«

»Dann gibt es vielleicht bei Ihnen den großen Knall zuerst. Denn Sie haben auch solche Typen an den Knöpfen wie die da.« Angewidert zeigte Baker auf Laura Stanwick, die in einer anderen Personengruppe stand.

Ingham blickte versonnen der Uniform nach, die jetzt im Gewühl der anderen Gäste verschwand. »Ich muss zugeben, dass mir diese Frau auch nicht ganz geheuer ist. Aber andererseits bedeutet es nichts, wenn sie Raketenstellungen befehligt. Die Einsatzbefehle kommen immer noch von anderer Stelle. Es gibt schon lange Frauen in der Armee. Weshalb sollen sie nicht Offiziere werden? Wir haben nun mal die Gleichberechtigung in allen Berufen.«

»Und was ist, wenn Kinsley mit seinen Befürchtungen recht hat? Wenn der nächste Präsident eine Frau ist?«, ereiferte sich Baker. »Dann machen die mit uns, was sie wollen! In unserem Land hat die Frau in der normalen amerikanischen Familie immer schon das Kommando gehabt. Wer hat schon gewagt, gegen die Frauenvereine vorzugehen? Die Frauen haben Wahlen entschieden und unsere Politiker gelenkt, und jetzt stehen sie zum ersten Mal davor, direkt die Schalthebel der Macht zu ergreifen.«

»Ich stimme Ihnen zu«, sagte Kinsley. »Der Vorfall, den ich selbst erlebt habe, hat mir zu denken gegeben. Sie brauchen nur die Zeitungen zu lesen; überall stoßen Sie auf Informationen, die ein ganz bestimmtes Bild ergeben. Ich glaube langsam tatsächlich an eine Art Verschwörung, obgleich es mir absolut unglaubwürdig erscheint. Eine weltweite Verschwörung dieses Ausmaßes kann es nicht geben.«

»Es muss ja nicht gesteuert sein. Es ist doch häufig so, dass parallele Entwicklungen stattfinden.« Baker besorgte sich ein volles Glas und nippte hastig daran, wobei ein paar Tropfen auf seinen neuen Maßanzug spritzten. Er nahm es mit Gleichmut hin. »Selbst in den Entwicklungsländern kann man die Tendenzen verfolgen. Zwanzigtausend Frauen demonstrierten in Teheran und zwingen den Premierminister zum Rücktritt. Seit Jahren geht eine Welle von Protesten durch Japan. Ein hoch entwickeltes Industrieland, in dem die Frau bisher eine Nebenrolle spielte, ändert sein Gesicht, in Europa ist der Prozess am weitesten fortgeschritten. Wir erfahren nur zu wenig, da die wichtigsten Medien von Frauen kontrolliert werden. Ich möchte nicht wissen, was sich hinter den Kulissen abspielt. Wir haben geschlafen, und jetzt wird uns die Rechnung präsentiert.«

»George, du übertreibst«, meinte Ingham. »Aber du tust das sehr eindrucksvoll. Wenn du nicht eine so unmögliche Figur hättest, könntest du Schauspieler werden.«

Baker schwieg unwillig, aber gleich darauf lachte er. »Kippen wir uns lieber einen hinter den Knorpel. Wir haben uns schon viel zu lange über die verdammten Weiber unterhalten. Schade, dass du nicht dazu beitragen kannst, es ihnen so richtig zu besorgen, dann würden ihnen die Flausen schon vergehen.« Sie lachten beide schallend.

Robert Kinsley nagte an seiner Unterlippe. Es gab eine Menge, worüber er nachdenken musste. Als er aufblickte, hatte er das Gefühl, als mustere ihn Oberst Laura Stanwick sehr genau. In ihrer gut sitzenden, dunkelblauen Uniform stand sie nur ein wenig entfernt. Für einen Moment tauchten ihre Blicke ineinander, und Kinsley blickte verwirrt zur Seite.

Ihre Augen waren wie gefrorene Seen.

 

*

 

Die Nacht war warm. Asphalt und Häuserwände schienen die während des Tages aufgesogene Hitze langsam wieder abzustrahlen. Robert Kinsley wich einem Penner aus, der ihm entgegentorkelte.

Es war viel zu spät geworden, aber die Party hatte ihm Spaß gemacht. Natürlich hatte auch er zu viel getrunken, und er war an Alkohol in größeren Mengen nicht gewöhnt. Er spürte eine gewisse Leichtigkeit in sich und eine Unbeschwertheit, wie er sie lange nicht mehr gespürt hatte. Seine Gedanken schienen von merkwürdiger Schärfe und Klarheit, obwohl es ihm andererseits nicht gelang, einen Gedanken zu Ende zu bringen. Es war mehr ein durcheinanderwirbelndes Kaleidoskop von Eindrücken, die flüchtig auftauchten und dann wieder von neuen Einfällen überlagert wurden. Er gluckste vor sich hin und hätte am liebsten ein Lied angestimmt, aber dazu war seine innere Kontrolle noch nicht genügend ausgeschaltet.

Interessante Menschen waren ihm begegnet. Dafür war er dankbar, denn so etwas erweiterte den Horizont, war gut für die Karriere. Es konnte nie schaden, wichtige Leute zu kennen – abgesehen von Oberst Laura Stanwick, auf deren Bekanntschaft er gut verzichten konnte.

Mit dem Deutschen und dem Russen hatte er sich noch lange unterhalten. Wagner war häufiger in New York, seine Exportgeschäfte führten ihn hierher. Kinsley war nicht ganz sicher, was Wagner eigentlich importierte oder exportierte – aber das war nicht wichtig. Jedenfalls hatten sie ziemlich rasch festgestellt, dass sie in ihren Meinungen weitgehend übereinstimmten. Der Mord in der Subway-Station hatte Wagner tief erschüttert, und er war ebenfalls der Ansicht, dass man diese Geschichte nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte.

Sie waren sich einig, dass eine geheimnisvolle Entwicklung im Gang war, deren Ziel in der Übernahme der Macht durch die Frauen bestand. Das galt zumindest für die Vereinigten Staaten. Wagner sah die Lage in Europa nicht so dramatisch, in der Bundesrepublik Deutschland schon gar nicht. Amerikas treuester Verbündeter würde zur rechten Zeit eingreifen. Wagner fühlte sich als Patriot. Sie beschlossen, in Verbindung zu bleiben, und tauschten die Adressen aus. Kinsley hatte einen neuen Freund gefunden.

Der Russe, Alexej Jakowlew, war ein ganz anderer Mann. Kinsley spürte, dass unter seiner anerzogenen oder vorgetäuschten Fassade ein engagierter und sogar aufrichtiger Mensch steckte. Jakowlews Leben wurde von einem totalitären Staat bestimmt und gelenkt. Der Russe war mit Sicherheit ein glühender Anhänger seines Vaterlandes, aber noch nicht so weit indoktriniert, dass er das eigene Denken aufgegeben hätte.

Auch er war besorgt, dass irgendwelche neuen Kräfte im Geheimen nach der Macht griffen. Jakowlew schien über Informationen zu verfügen, die einem Mitglied der UN-Delegation nicht unbedingt zur Verfügung stehen mussten. Aber bei den Russen war man nie sicher, was sich wirklich hinter ihrer Person verbarg. Wie auch immer – Jakowlew flog am nächsten Tag nach Moskau zurück und würde für längere Zeit dort bleiben.

Die Straße wirkte zu dieser späten Stunde unbelebt, aber selbst in der Dunkelheit war der auf den Gehsteigen liegende Unrat nicht zu übersehen. Manchmal hatte er den Eindruck, dass New York unbewohnbar wurde, zumindest würde die Stadt eines Tages an ihrem eigenen Dreck ersticken.

Normalerweise hasste er den Stadtteil, in dem er wohnte. Es war nicht die richtige Gegend für einen Mann, der bald eine leitende Stellung übernehmen sollte. Aus diesem Grunde hatte er auch noch nie einen Arbeitskollegen zu sich nach Hause eingeladen. Heute war es ihm gleichgültig, und er freute sich auf seine Wohnung, in die er trotz allem immer wieder gern zurückkehrte. Sie bestand aus zwei großen Zimmern, einer Küche und einem modernen Bad und war überdies sehr billig.

Noch zwei Blocks, dann hatte er sein Haus erreicht. Die meisten Gebäude stammten aus den zwanziger Jahren und waren dementsprechend unmodern. Es gab Blocks, die ausschließlich von Schwarzen und Puerto Ricanern bewohnt wurden. Nicht, dass er etwas gegen sie gehabt hätte – aber manchmal wünschte er sich doch eine andere Wohngegend. Wenn er seine neue Position innehatte, bekam er ein höheres Gehalt, dann konnte er sich eine bessere Wohnung leisten, vielleicht auch einen neuen Wagen. Sein derzeitiges Modell war schon ziemlich alt, und er fuhr meist mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, eine Entscheidung, die ihm durch den Mangel an Parkplätzen erleichtert wurde.

Plötzlich merkte er, dass ihm ein Wagen folgte. Kinsley drehte den Kopf. Es war eine schwarze Limousine. Nein, er musste sich irren! Weshalb sollte ihm ein Wagen folgen? Es war eben nur ein langsam fahrender Wagen auf der anderen Straßenseite. Vielleicht ein später Zecher, der zum Abschluss des Abends ein williges Mädchen suchte. Hin und wieder sah man welche in den Hauseingängen.

Nur noch ein Block. Der Wagen hatte zu ihm aufgeschlossen und fuhr jetzt auf gleicher Höhe. Es war nicht zu erkennen, wie viele Leute in ihm saßen. Kinsley schüttelte den Kopf. Wozu auch? Schließlich brauchte ihn das nicht zu stören. Oder doch? Sollten es Gangster sein, die einsamen Spaziergängern auflauerten?

Er beschleunigte seine Schritte und lauschte auf ihr Echo, das hohl von den Häuserwänden widerklang. Er warf einen schrägen Blick zu dem Wagen hinüber. Es war ein neutrales Fahrzeug, ohne jede Auffälligkeit. Der Motor schnurrte leise im zweiten Gang. Auf der Straße war kein Mensch mehr zu sehen.

Noch ein paar Schritte bis zu seiner Haustür. Dort war er in Sicherheit. Kinsley tastete nach dem Schlüssel in seiner Tasche. Über dem linken Arm trug er einen leichten Mantel. Als vorsichtiger Mensch hatte er ihn mitgenommen, da er aus Erfahrung wusste, dass es bei solchem Wetter leicht einen plötzlichen Regenguss geben konnte. Er besaß nicht allzu viele Anzüge und verspürte keine Lust, in einem formlosen Sack ins Büro zu gehen. Er konnte sich gut vorstellen, wie sein Chef die Augenbrauen heben würde, eine Bewegung, die tiefstes Missfallen ausdrückte.

Kinsley streckte die Hand nach der Tür aus, als der Motor des Wagens auf der anderen Straßenseite aufheulte. Mit durchdrehenden Reifen schoss das schwere Fahrzeug direkt auf ihn zu. Er hob die Hand vor die Augen, um sich vor dem grellen Licht der Scheinwerfer zu schützen. Er stand da, völlig erstarrt, bis ihm klar wurde, dass ihn nur noch Sekundenbruchteile davor trennten, von einem zwei Tonnen schweren Ungetüm zermalmt zu werden.

Kinsley hatte nie gelernt, solchen Situationen zu begegnen, und er reagierte rein instinktiv. Wie von einer Feder losgeschnellt, warf er sich zur Seite. Der leichte Alkoholnebel in seinem Gehirn war schlagartig verschwunden. Er stolperte, verlor seinen Mantel und fing den Sturz mit den Armen ab. Es schmerzte trotzdem, als er zu Boden ging.

Der Wagen krachte gegen den Bordstein, kam schleudernd zum Stehen und hielt ihn mit den Scheinwerfern immer noch gefangen. Die Türen öffneten sich, und zwei Gestalten stürzten heraus.

Mit seltener Klarsichtigkeit begriff er, dass man ihn umbringen wollte, hier, auf dem schmutzigen Pflaster vor seiner Haustür. Er spürte die Entschlossenheit seiner gesichtslosen Feinde und die Aura des Todes, die sie umgab.

In dieser Sekunde ging etwas in ihm vor, eine Veränderung, die er nicht bewusst wahrnahm. Er fühlte sich jetzt nur noch wie ein in die Enge getriebenes Tier, das sich verzweifelt zur Wehr setzt. In Kinsley erwachten atavistische Urtriebe, und seine Reflexe übernahmen die Kontrolle seiner Muskeln.

Die beiden dunkel gekleideten Gestalten näherten sich von zwei Seiten. In ihren Händen schimmerte es matt von poliertem Stahl. Die spitz zulaufenden Klingen der Stilette kamen auf ihn zu wie angreifende Schlangen. Kinsley sprang mit einem einzigen Satz auf die Beine, riss einen Arm hoch und blockierte den von rechts geführten Stoß. Der Schmerz des Aufpralls drang ihm bis ins Schultergelenk. Gleichzeitig schoss seine linke Faust nach vorn, wobei er instinktiv auf das blasse Oval des Gesichts, das ihm wie der einzige feste Punkt in der Dunkelheit erschien, zielte.

Es gab ein hässliches, brechendes Geräusch, und seine Faust fühlte sich an, als hätte er gegen eine Betonmauer geschlagen. Sein Gegner stöhnte und taumelte ein paar Schritte zurück. Das Stilett klirrte auf den Boden, direkt vor seine Füße.

Kinsely bückte sich und entging dadurch dem Angriff des anderen Gegners, dessen Stoß seinen Anzugstoff schlitzte, aber über ihn hinweg ins Leere ging. Kinsley kam wieder hoch, eine mörderische Wut im Bauch und den Willen, diese Sache durchzustehen.

Seine Finger schlossen sich um den Griff der schlanken, tödlichen Waffe, die Spitze genau auf den Gegner gerichtet. Einen Augenblick später führte er seinen Stoß, von rechts unten schräg nach links oben, in der Ideallinie eines erfahrenen Messerkämpfers, als hätte er zeit seines Lebens nichts anderes getan. Sein Angriff fiel mit dem zweiten seines Gegners zusammen.

Kinsley spürte einen harten Schlag gegen sein Handgelenk, hörte ein langgezogenes, pfeifendes Röcheln und zum zweiten Mal das Klirren eines Stiletts auf dem Pflaster. Es war nicht seine Waffe, denn die hielt er immer noch fest umklammert. Er spürte die schwere Last des Gegners auf seinem Arm und merkte plötzlich, wie eine warme Flüssigkeit über seine Hand rieselte. Hastig ließ er den Griff der Waffe los. Als hätte er damit den Faden einer Marionette abgetrennt, sackte der andere ohne einen Laut zu Boden. Die Klinge des Stiletts war unmittelbar unter dem Brustbein bis zum Heft in den Körper gedrungen.

Kinsley starrte entsetzt auf die am Boden liegende Gestalt. Er nahm kaum wahr, wie eine Autotür zufiel und ein Motor aufheulte. Der zweite Gegner hatte die Flucht ergriffen.

Zum zweiten Mal in seinem Leben sah Kinsley einen Toten. Diesmal gab es aber einen Unterschied. Er selbst hatte getötet! Er konnte sich nicht erklären, woher er so genau wusste, dass sein Gegner tot war. Er wusste es einfach. Seine Hand war blutig. Er wischte sie rasch an der Kleidung des anderen ab.

Langsam setzte sein Verstand wieder ein, und plötzlich trafen ihn die Erkenntnisse mit der Wucht von Hammerschlägen. Er betrachtete das Gesicht und die Figur des Toten – sein Gegner war eine Frau, fast noch ein Mädchen. Er hatte eine Frau erstochen. In welchen Wahnsinn war er da hineingeraten?

Polizei, zuckte der nächste Gedanke durch sein Hirn. Man würde ihn verhaften und unter Anklage stellen. Welcher Richter würde ihm abnehmen, dass er in Notwehr gehandelt hatte? Man würde ihn zweifellos verurteilen. Er war am Ende. Aus! Nichts mehr mit Karriere! Seine Freunde würden ihn verleugnen. Er würde den Rest seines Lebens im Gefängnis zubringen, und wenn man ihn eines Tages herausließe, würde er ein alter, gebrochener Mann sein.

Kinsley schüttelte in stummer Verzweiflung den Kopf. Nein, das hatte er nicht verdient. Es gab eine Verschwörung gegen ihn. Sie wollten ihn umbringen, und wenn das nicht gelang, würden sie andere Wege finden, ihn auszuschalten. Aber wer waren SIE? Er hatte niemandem etwas getan. Er besaß keine Feinde, jedenfalls konnte er sich das nicht vorstellen. Sollte es mit dem Mord in der Subway zusammenhängen? Wollte man einen unliebsamen Zeugen aus dem Weg räumen?

Es gab nur eine Möglichkeit: Flucht! Er musste aus dieser Stadt verschwinden. Man durfte ihn nicht mit dieser toten Frau in Verbindung bringen, und er musste vor seinen Feinden die Spuren verwischen. Um alles andere konnte er sich später kümmern. Vielleicht würde er seinen Job verlieren, aber das war immer noch besser, als das Leben zu verlieren.

Kinsley blickte sich hastig nach allen Seiten um. Es war immer noch kein Mensch auf der Straße zu sehen. Natürlich konnte er nicht sicher sein, dass ihn nicht doch jemand aus einem Fenster beobachtet hatte, aber eine Identifizierung bei dieser Beleuchtung musste schwierig sein. Er selbst hatte ja nicht einmal aus der Nähe erkannt, dass seine Gegner Frauen waren. Vielleicht war er irgendeiner terroristischen Organisation zu nahe gekommen, ohne es zu wissen. Heutzutage waren in vielen solchen Organisationen die Frauen tonangebend. Häufig waren sie brutaler und rücksichtsloser als ihre männlichen Kollegen.

Es wurde Zeit zu verschwinden. Einen Augenblick wehrte sich sein Gefühl noch dagegen, die Tote einfach liegenzulassen, aber dann sagte er sich, dass es ihr jetzt nichts mehr ausmachte. Wichtig war nur noch sein Entkommen.

Robert Kinsley hatte eine unwiderrufliche Entscheidung getroffen, eine Entscheidung, die sein Leben und vieles andere veränderte. Später, wenn er sich an diesen Tag erinnerte, würde er sich oft fragen, was anders geworden wäre, wenn er sich der Polizei gestellt hätte. War es Schicksal? Eine höhere Fügung? War er vorausbestimmt?

In dieser Nacht aber waren seine Probleme mehr diesseitiger Natur. Es ging um seine nackte Existenz.

 

*

 

Die Frau nahm einen Zipfel des Tuches in die Hand, zögerte aber noch einen Moment lang, ehe sie es beiseite zog. Ihre eckigen Bewegungen passten zu ihrem grobknochigen Körperbau. Sie war mittleren Alters. Ihr Haar, das bereits von grauen Strähnen durchzogen war, trug sie zu einem altertümlichen Dutt zusammengesteckt im Nacken. Das anthrazitgraue Kostüm unterstrich ihre augenscheinliche Farblosigkeit, wozu auch das kaum geschminkte Gesicht beitrug.

Mit einem heftigen Ruck glitt das Tuch zur Seite, und die Frau starrte auf den nackten Leichnam eines Mädchens von vielleicht fünfundzwanzig Jahren. Unterhalb des Herzens war eine blutverkrustete Stelle zu sehen. Die Augen der Toten waren geschlossen; das Gesicht wirkte entspannt. Die unnatürliche Blässe ließ es weicher erscheinen, als es im Leben gewesen war.

»Wer hat es getan?«, fragte die Frau mit leiser Stimme. »Wer hat unsere Schwester umgebracht?«

Sie hob den Kopf und blickte sich im Raum um. Er wirkte wie der Versammlungsraum einer Schule oder einer Gemeinde und war mit mehreren Dutzend Menschen gefüllt, die einen respektvollen Abstand zu der provisorischen Bahre hielten, auf die man die Tote gelegt hatte. Es waren ausschließlich Frauen verschiedener Altersgruppen, die weder in ihrem Aussehen noch in ihrer Kleidung etwas miteinander zu verbinden schien.

Eine jüngere Frau in Polizeiuniform trat ein paar Schritte vor. Ihre Augen waren sehr blau und sehr klar. »Es war ein Mann namens Robert Kinsley«, sagte sie. »Er sollte eliminiert werden, denn er könnte eine Gefahr für uns werden.«

»Jetzt ist er eine«, entgegnete die andere Frau und deckte das Tuch wieder sorgfältig über die Tote. »Warum sollte dieser Kinsley ausgeschaltet werden?«

»Er hat einen Zwischenfall beobachtet, den er nicht hätte sehen dürfen. Er ist der einzige Zeuge, und ihm war nicht beizubringen, dass er sich geirrt haben musste.«

»Ich verstehe. Ist das alles?«

»Nein. Wir haben ihn flüchtig überprüft. Er ist ein Typ, der solche Geschichten aufbauscht und weitererzählt. Er ist nur ein kleines Licht und will sich natürlich wichtigmachen. Unglücklicherweise finden solche Leute oft geneigte Zuhörer, die in die gleiche Kerbe hauen. Es kommt dann zu für uns unerfreulichen Diskussionen. Die Gefahr ist groß, dass es jemanden gibt, der die Fakten richtig bearbeitet und seine Schlüsse zieht. Wenn er dann noch in der Lage ist, geeignete Schritte in die Wege zu leiten und weitere Recherchen anzustellen, wächst für uns die Gefahr ganz erheblich. Wir mussten also handeln. Leider haben wir diesen Kinsley offenbar unterschätzt. Er hat es mit zwei gut ausgebildeten Mädchen aufnehmen können. Eine unserer Schwestern ist tot, die andere im Gesicht schwer verletzt. Von dem Mann war keine Spur mehr zu entdecken, als wir an den Tatort kamen. Wir haben sofort seine Wohnung durchsucht, aber dort war er auch nicht. Es sah nach einer überstürzten Flucht aus.«

Die ältere Frau nickte gedankenverloren. »Ich mache dir keinen Vorwurf, Schwester. Die Entscheidung war richtig, diesen Mann zu eliminieren. Euch trifft keine Schuld, wenn er fliehen konnte. Unsere Teams werden normalerweise mit einem einzelnen Mann fertig. Vielleicht waren die beiden zu unvorsichtig, oder dieser Kinsley ist doch erfahrener, als ihr glaubtet.«

»Was sollen wir tun?«

»Wir müssen ihn haben. Aber zunächst wollen wir uns um unsere tote Schwester kümmern. Es hat keinen Mord gegeben.«

»Aber sie ist doch …«

»Die Ärztin wird einen Totenschein mit der Diagnose Herzversagen ausstellen. Unsere Schwester hat an Kreislaufbeschwerden gelitten, wird sie bestätigen. Wir werden eine Feuerbestattung arrangieren, damit niemand auf den Gedanken kommt, sie eines Tages zu exhumieren.«

»Damit verschwindet aber auch jeder Beweis für die Schuld von Kinsley. Wie wollen wir ihn überführen, wenn es kein Opfer mehr gibt?«

Die Frau lächelte sanft. »Wir brauchen ihn nicht zu überführen. Seine Schuld ist bereits erwiesen, und das Urteil steht fest. Wir müssen ihn nur noch in die Hände bekommen und das Urteil vollstrecken. Diese Gefahr muss so schnell wie möglich beseitigt werden.«

Aus der Runde erhob sich zustimmendes Gemurmel. Zahlreiche Köpfe nickten beifällig.

»Schwestern«, sagte die Frau im Kostüm, »wir haben eine gute Freundin aus unserer Mitte verloren. Ich bitte euch, jetzt der Toten zu gedenken und sie in Erinnerung zu bewahren.«

Die Polizistin beugte sich vor und flüsterte. »Sollen wir alle unsere Freundinnen alarmieren? Vielleicht hat Kinsley die Stadt verlassen? Wir können eine Menge Verbündete einspannen. Den Apparat der Polizei kann ich derzeit noch nicht einsetzen.«

»Nur verlässliche Schwestern dürfen benachrichtigt werden. Es ist noch zu früh, alle zu informieren. Die Gefahr des Verrates ist zu groß. Wir sind noch nicht so weit – aber bald, sehr bald.« In den Augen der Frau lag ein fanatisches Leuchten.

»Wie bald?«, flüsterte die Polizistin.

»Wir werden es alle erleben, und die Überraschung wird für die anderen wie aus heiterem Himmel kommen. Nur noch ein wenig Geduld, dann werden sich all unsere Pläne erfüllen.«

Ein leichtes Seufzen ging durch den Raum, denn die letzten Worte waren lauter gesprochen worden. Die Frauen und Mädchen drängten an die Bahre und griffen nach dem Tuch. Lautlos bewegten sich ihre Lippen, und es sah aus, als sprächen sie alle den gleichen Schwur.

 

 

Einige Jahrzehnte später – Nordamerikanische Union, im März

 

Gegenwart.

 

Die Tage sind ruhiger geworden. Die alte Angst ist immer noch da, aber sie presst mir nicht mehr die Kehle zu. Ich frage mich nicht mehr, was sie mit mir anstellen werden. Vielleicht haben sie mich endlich vergessen. Dies ist zwar keine befriedigende Feststellung, aber sie beruhigt meine Nerven.

Es war eine lange Jagd bis zum heutigen Tag, und sie kann jederzeit wieder beginnen. Bisher habe ich sie immer um eine Nasenlänge geschlagen. All ihre Polizisten, ihre Computer und ihre Spitzel haben es nicht geschafft. Ich bin ihnen entkommen, weil ich wusste, dass sie mich töten würden, töten mussten!

Das Land, in dem ich im Untergrund lebe, ist totalitärer als alles, war es vorher an Diktaturen auf der Erde gegeben hat, und damit unterscheidet es sich nur um Nuancen von den übrigen Staaten der Welt. Nach den langen, dunklen Jahren haben sie jetzt schon wieder mehr Waffen angehäuft, als sie jemals einsetzen können. Sie belauern sich argwöhnisch und warten auf den Fehler, der es ihnen erlaubt, auf die Knöpfe zu drücken. Es ist der widersinnigste Konflikt der Weltgeschichte, und sie werden ihn eines Tages endgültig austragen – eines nicht allzu fernen Tages, fürchte ich.

Zugegeben, noch herrscht Gleichgewicht zwischen Männern und Frauen, die sich ihre eigenen Staaten geschaffen haben. Es gibt fast täglich kleine Scharmützel an den Grenzen, aber man beschränkt sich auf konventionelle Waffen. Seit die Medien zu voll kontrollierten Propagandamaschinen geworden sind, erfährt man keine Einzelheiten, aber aus den Siegesmeldungen beider Seiten lässt sich ein Bild machen.

Die gesichtslose Clique, die sich Regierung nennt, besitzt die absolute Macht. Der Staat sorgt für alles, vorwiegend für Gleichschaltung. Es gab Zeiten, zu denen ich gehofft hatte, dies alles verhindern zu können. Eine traurige Illusion.

Ich betrachtete mich als einsame Zelle des Widerstandes, hoffte, dass es mir gelingen würde, andere um mich zu sammeln. Doch immer wieder zerbrachen die Pläne unter den unerbittlichen Schlägen des Feindes, zerstoben die Träume von Neubeginn unter dem harten Griff der Macht. Was hatte ich dem je entgegenzusetzen?

Ich denke nicht mehr darüber nach, ob die Entwicklung, die wir alle kennen, zu verhindern gewesen wäre. Als wir endlich begriffen hatten, war die Entscheidung bereits gefallen. Wir sagten uns, dass sich nichts von heute auf morgen ändert, wagten uns aber nicht einzugestehen, dass der Prozess schon in sein letztes Stadium getreten war. Wir dachten so logisch – und merkten nicht, dass die eigene Logik uns bereits überholt hatte.

Wir haben in den falschen Kategorien gedacht. Rassenunterschiede und Klassenkämpfe, das Nord-Süd-Gefälle und Ideologien aller Art waren die Dogmen, aus denen die Auseinandersetzungen herzurühren hatten. Wir befanden uns immer im Krieg, hatten aber ganz vergessen, wem wir diesen Krieg eigentlich erklärt hatten. Lag es daran, dass unser Gegner seit Jahrtausenden die Waffen streckte? Wir hatten uns den falschen Gegner ausgesucht und uns davon blenden lassen, dass der Sieg so leicht war. Und wir haben nie das getan, was uns nach jedem Krieg normal erschiene: Frieden zu schließen.

O nein, wir haben den Besiegten weiter unterdrückt, versklavt und ausgebeutet und uns nie gefragt, ob ihm dies gefiele.

Wir hatten einfach vergessen, dass der längste Krieg der Weltgeschichte noch nicht zu Ende war …

 

 

 

2. Kapitel

 

 

Vergangenheit.

 

Fast alle Frauen trugen Kopftücher und die traditionelle Landestracht. Schweigend lasen sie das Plakat, das der Polizist an die Wand geklebt hatte.

 

BEKANNTMACHUNG:

Auf Anordnung des Präsidenten wird zunächst für eine Woche der Ausnahmezustand verhängt. Anlass dazu sind die Ausschreitungen der letzten Tage, die im Zusammenhang mit Demonstrationen verblendeter und aufgehetzter Frauen geschehen sind. Die Sicherheitskräfte sind angewiesen, bei jeder künftigen Zusammenrottung unnachsichtig von der Waffe Gebrauch zu machen. Unruhestifter und Rädelsführer werden ihre gerechte Strafe erhalten. Das türkische Volk und seine gewählte Regierung sind entschlossen, gewissen ausländischen Umstürzlern mit Entschiedenheit entgegenzutreten. Die Nation wird aufgefordert, Ruhe und Ordnung zu bewahren.

Ankara 27. Juli

 

Einige der Frauen weinten, und sie wussten nicht, welche Ausländer gemeint sein könnten.

 

*

 

Mit überwältigender Mehrheit beschloss das norwegische Parlament, die Einkommen der Frauen grundsätzlich nicht mehr zu besteuern, da dies der einzige Weg sei, wenigstens die materielle Diskriminierung der Frau auszugleichen. Ein neu gegründeter parlamentarischer Ausschuss wurde damit beauftragt, Gesetzentwürfe vorzubereiten, die sich mit der endgültigen Aufhebung der sozialen und gesellschaftlichen Diskriminierung der Frau befassten.

 

*

 

Alexej Michailowitsch Jakowlew rührte gedankenverloren in seinem Tee, der längst kalt war. Die Buchstaben in der aufgeschlagenen Akte vor ihm schienen zu tanzen. Er ließ den Löffel fallen und presste die Fingerspitzen gegen seine Stirn. Es war schwül im Zimmer.

Mit wenigen Schritten hatte er den winzigen Büroraum durchquert und öffnete die Fensterklappe. Schräg gegenüber konnte er den Eingang des riesigen Kinderkaufhauses sehen, durch dessen Glastüren ein ständiger Käuferstrom drängte. Er lächelte bitter: Spielzeug war rar in der Sowjetunion. Deshalb wurde jedes neue Angebot den Verkäuferinnen aus der Hand gerissen. Die Kleinen wurden eben gern verhätschelt; schließlich war die Kinderliebe der Russen sprichwörtlich. Aber das galt wohl nur für Kinder.

Jakowlew drückte den Kopf gegen die kühle Scheibe. Moskau war zu dieser Jahreszeit drückend heiß. Nur die ganz großen Bonzen besaßen eine Klimaanlage. Für einen kleinen Major des KGB war solcher Luxus unvorstellbar. Dort drüben lag das Bolschoi-Theater, versteckt hinter anderen Gebäuden. Eine Karte zu ergattern, bedeutete einen Festtag. Kunst, gekrönt von einem Essen in einem der wenigen Moskauer Restaurants, bei dem es natürlich Krimsekt, Kaviar und Ströme von Wodka geben musste. Seine Freundin war von diesen Dingen fasziniert. Er wusste nicht, ob sie ihn deswegen liebte, aber immerhin gab sie ihm das, was er brauchte – und das tat sie gut.