Tödliche Strömung – Acht Kriminal-Romane, Novellen und Kurzgeschichten in einem Band - Hans-Jürgen Raben - E-Book

Tödliche Strömung – Acht Kriminal-Romane, Novellen und Kurzgeschichten in einem Band E-Book

Raben Hans-Jürgen

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Beschreibung

Die Wasserschutzpolizei wird durch einen unbekannten Beobachter auf eine Gestalt aufmerksam gemacht, die im großen Fenster der Elbphilharmonie zu schweben scheint. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass es sich um den ermordeten Markus Holler, den Erben einer kleinen Reederei, handelt, der von seinen Peinigern gefoltert und an dieser Stelle so drapiert wurde, als blicke er auf eine ganz bestimmte Stelle auf der Elbe, wo sich vor einem Jahr ein tödliches Unglück ereignet hatte.
Hauptkommissar Cornelius Brock geht schnell von Rache aus, da Holler damals jenes Boot gesteuert hat, welches den Unfall verursacht hatte. Einige Zeit später taucht eine zweite Leiche auf, die in Verbindung zum Mord an Holler steht. Wie passt dieses zweite Opfer in die Gleichung der Rache? Keine leichte Aufgabe für Brock, Licht ins Dunkel der Ermittlungen zu bringen, denn je mehr er und sein Team herausfinden, desto verworrener scheint der ganze Fall zu werden und bringt die Ermittler am Ende selbst in Lebensgefahr …

Folgende Kriminal-Romane, Krimi-Novellen und Krimi-Kurzgeschichten sind in diesem Band vereint:
› Tod über der Elbe - Ein Fall für Brock – von Hans-Jürgen Raben
› Der Storch bringt nicht nur Kinder – ein Küsten-Krimi von Rainer Keip
› Tod im Korallenmeer – von Hans-Jürgen Raben
› Tödliche Strömung – von John F. Beck und Ines Schweighöfer
› Die Tote im Hafenbecken – von Wolfgang Menge
› Friesenmord auf Helgoland – von Tomos Forrest
› Eine Tote in Tonndorf – ein Hamburg-Krimi von Horst Bieber
› Festung des Todes – von Hans-Jürgen Raben

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Ähnliche


 

 

 

 

Hans-Jürgen Raben / Horst Bieber /

John F. Beck und Ines Schweighöfer

Rainer Keip / Wolfgang Menge /Tomos Forrest

 

 

Tödliche Strömung

 

Acht Kriminalromane, Novellen und

Kurzgeschichten in einem Band

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

 

Copyright © by Authors/Xebusch-Verlag 

Cover: © by Xebusch-Verlag, 2023

 

Verlag: Xebusch. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang

 

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Alle Rechte vorbehalten

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

Tödliche Strömung 

Tod über der Elbe 

1. Kapitel 

2. Kapitel 

3. Kapitel 

4. Kapitel 

5. Kapitel 

6. Kapitel 

7. Kapitel 

8. Kapitel 

9. Kapitel 

10. Kapitel 

Der Storch bringt nicht nur Kinder 

Prolog 

1. Kapitel 

2. Kapitel 

3. Kapitel 

4. Kapitel 

5. Kapitel 

6. Kapitel 

7. Kapitel 

8. Kapitel 

9. Kapitel 

10. Kapitel 

11. Kapitel 

12. Kapitel 

13. Kapitel 

Tod im Korallenmeer 

Tödliche Strömung 

Die Tote im Hafenbecken 

1. Kapitel 

2. Kapitel 

3. Kapitel 

4. Kapitel 

5. Kapitel 

6. Kapitel 

7. Kapitel 

8. Kapitel 

9. Kapitel 

10. Kapitel 

11. Kapitel 

12. Kapitel 

13. Kapitel 

14. Kapitel 

15. Kapitel 

16. Kapitel 

17. Kapitel 

18. Kapitel 

19. Kapitel 

20. Kapitel 

21. Kapitel 

22. Kapitel 

23. Kapitel 

24. Kapitel 

25. Kapitel 

26. Kapitel 

27. Kapitel 

28. Kapitel 

29. Kapitel 

30. Kapitel 

31. Kapitel 

32. Kapitel 

33. Kapitel 

Friesenmord auf Helgoland 

1. Kapitel 

2. Kapitel 

3. Kapitel 

4. Kapitel 

5. Kapitel 

6. Kapitel 

7. Kapitel 

8. Kapitel 

9. Kapitel 

10. Kapitel 

11. Kapitel 

12. Kapitel 

13. Kapitel 

14. Kapitel 

Eine Tote in Tonndorf 

Prolog 

1. Kapitel 

2. Kapitel 

3. Kapitel 

4. Kapitel 

5. Kapitel 

6. Kapitel 

7. Kapitel 

8. Kapitel 

9. Kapitel 

10. Kapitel 

11. Kapitel 

12. Kapitel 

13. Kapitel 

14. Kapitel 

15. Kapitel 

16. Kapitel 

17. Kapitel 

18. Kapitel 

19. Kapitel 

20. Kapitel 

21. Kapitel 

22. Kapitel 

23. Kapitel 

24. Kapitel 

25. Kapitel 

Epilog 

Festung des Todes 

1. Kapitel 

2. Kapitel 

3. Kapitel 

4. Kapitel 

5. Kapitel 

6. Kapitel 

7. Kapitel 

8. Kapitel 

9. Kapitel 

10. Kapitel 

11. Kapitel 

12. Kapitel 

13. Kapitel 

14. Kapitel 

15. Kapitel 

Weitere Krimi-Anthologien sind erhältlich: 

 

Das Buch

 

 

 

Die Wasserschutzpolizei wird durch einen unbekannten Beobachter auf eine Gestalt aufmerksam gemacht, die im großen Fenster der Elbphilharmonie zu schweben scheint. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass es sich um den ermordeten Markus Holler, den Erben einer kleinen Reederei, handelt, der von seinen Peinigern gefoltert und an dieser Stelle so drapiert wurde, als blicke er auf eine ganz bestimmte Stelle auf der Elbe, wo sich vor einem Jahr ein tödliches Unglück ereignet hatte.

Hauptkommissar Cornelius Brock geht schnell von Rache aus, da Holler damals jenes Boot gesteuert hat, welches den Unfall verursacht hatte. Einige Zeit später taucht eine zweite Leiche auf, die in Verbindung zum Mord an Holler steht. Wie passt dieses zweite Opfer in die Gleichung der Rache? Keine leichte Aufgabe für Brock, Licht ins Dunkel der Ermittlungen zu bringen, denn je mehr er und sein Team herausfinden, desto verworrener scheint der ganze Fall zu werden und bringt die Ermittler am Ende selbst in Lebensgefahr … 

 

Folgende Kriminal-Romane, Krimi-Novellen und Krimi-Kurzgeschichten

sind in diesem Band vereint:

› Tod über der Elbe - Ein Fall für Brock – von Hans-Jürgen Raben

› Der Storch bringt nicht nur Kinder – ein Küsten-Krimi von Rainer Keip

› Tod im Korallenmeer – von Hans-Jürgen Raben

› Tödliche Strömung – von John F. Beck und Ines Schweighöfer

› Die Tote im Hafenbecken – von Wolfgang Menge

› Friesenmord auf Helgoland – von Tomos Forrest

› Eine Tote in Tonndorf – ein Hamburg-Krimi von Horst Bieber

› Festung des Todes – von Hans-Jürgen Raben

 

 

***

 

 

 

 

Tödliche Strömung

 

 

Acht Kriminal-Romane, Novellen und Kurzgeschichten

 

von Hans-Jürgen Raben / Horst Bieber /

John F. Beck und Ines Schweighöfer

Rainer Keip / Wolfgang Menge /Tomos Forrest

 

 

 

Tod über der Elbe

- Ein Fall für Brock -

 

 

von Hans-Jürgen Raben

 

 

ein Hamburg-Krimi

 

 

 

Alle Namen, Personen und Taten, Firmen und Unternehmen, sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären also rein zufällig.

 

 

***

 

 

1. Kapitel

 

Es klingelte.

Hauptkommissar Cornelius Brock tastete schlaftrunken nach dem Wecker, ohne die Augen zu öffnen. Missmutig drückte er auf die Oberseite des Störenfrieds, um ihn auszustellen.

Es klingelte weiter.

Er verdrängte die letzten Traumfetzen aus seinen Gedanken und bemühte sich, die Augen aufzukriegen. Er hasste es, früh aufstehen zu müssen, besonders am Sonntag.

Sonntag?

Da sollte der Wecker überhaupt nicht klingeln!

Brock stemmte sich hoch und blickte zum Nachttisch. Das Telefon klingelte. Das konnte um diese Zeit nur eines bedeuten: Er wurde gebraucht. Und das wiederum hieß, dass es sich um etwas sehr Unerfreuliches handelte.

Er nahm den Hörer auf und meldete sich.

Eine hektische Stimme erklang am anderen Ende. »Hauptkommissar! Sie werden dringend in der Elbphilharmonie erwartet.«

»In der Elbphilharmonie?«, blaffte Brock. »Da wollte ich zwar immer schon mal hin, aber nicht am Sonntagmorgen. Was gibt es denn?«

»Das müssen Sie selber gesehen haben«, antwortete Horst Spengler, Brocks Assistent im Dienstrang eines Kommissaranwärters. »Ich habe Ihnen einen Streifenwagen geschickt. Der müsste in Kürze bei Ihnen sein.«

Brock wohnte in einem Mehrfamilienhaus in der Alsterdorfer Straße. Eine helle und freundliche Dreizimmerwohnung in der ersten Etage mit einem Balkon. Das ältere Ehepaar, dem das Haus gehörte, wohnte im Erdgeschoss. Ihr Mieter durfte den Garten mitbenutzen, eine Möglichkeit, die Brock noch nie wahrgenommen hatte. Eine Garage gab es nicht, nur einen Stellplatz auf dem Grundstück. Von Brocks Wohnung war es nicht weit bis zu seinem Arbeitsplatz bei der Mordkommission im Polizeipräsidium.

Er warf einen Blick auf die andere Seite des Bettes. Doch dort war niemand. Sie hatten am Vorabend den Geburtstag eines Kollegen gefeiert, und Brock war sich nicht sicher, wie das Ganze geendet hatte. Glücklicherweise nicht mit einem unerwarteten Besucher in seinem Bett. Er dachte kurz darüber nach, wann ein solches Ereignis zum letzten Mal stattgefunden hatte.

Ist lange her, schoss es ihm durch den Kopf. 

»Ich komme«, krächzte er in den Hörer und schwang die Füße auf den Boden. Ein leichter Schwindel erfasste ihn, und er überlegte, ob das bei seinem Alter von vierzig Jahren normal war.

Er brauchte zehn Minuten im Bad und warf sich anschließend in seine Freizeitklamotten. Zuletzt steckte er die Brieftasche mit seinem Ausweis ein. Erst kurz vor der Tür bemerkte er, dass er die Schuhe vergessen hatte.

Eigentlich hatte er sich darauf gefreut, nach dem Frühstück zu joggen und anschließend eine Jazz-Aufnahme aus seiner umfangreichen Sammlung von Vinyl-Platten auf den Plattenteller zu legen und entspannt die Musik zu genießen.

Als er aus der Haustür trat, wartete der Streifenwagen schon. Er durchquerte die paar Meter durch den Vorgarten und warf sich wortlos auf den Rücksitz. Die uniformierten Kollegen waren so rücksichtsvoll, ihn während der Fahrt nicht zu behelligen, und Brock verlor sich wieder in seinem so abrupt unterbrochenen Traum, in dem es wie so oft um seine geschiedene Frau ging.

Sie hatten die hübsche Wohnung in der Alsterdorfer Straße vor vier Jahren zusammen angemietet. Es dauerte nur zwei Jahre, bis sie feststellten, dass sie nicht zueinander passten. Das heißt, seine Frau hatte das festgestellt. Sie hatten sich freundschaftlich voneinander getrennt und sahen sich immer noch gelegentlich. Nach dem Auszug seiner Frau hatte Brock die Wohnung behalten. Er empfand sie eine Zeit lang kalt und leer, doch inzwischen fühlte er sich dort wieder wohl. Die Wohnung war zu seinem Rückzugsort geworden, und auch die Vermieter im Erdgeschoss waren so rücksichtsvoll, ihn nicht zu belästigen.

Dennoch empfand er einen gewissen Schmerz, wenn er an die gemeinsame Zeit dachte, und er fragte sich, ob es jemals wieder so werden könnte.

»Wir sind da, Herr Hauptkommissar«, riss ihn die Stimme des Fahrers aus seinen Gedanken.

Der Streifenwagen stoppte auf dem kleinen Platz direkt vor dem riesigen Bau der Elbphilharmonie. Brock erkannte einige Polizeifahrzeuge. Auch der Gerichtsmediziner war bereits eingetroffen.

Jetzt, Mitte Juni, war es trotz der frühen Stunde bereits taghell. Der Himmel strahlte in einem sanften Blau, und nur wenige faserige Cirruswölkchen waren zu sehen. Es würde ein schöner Tag werden, und in wenigen Stunden würde es hier vor Touristen wimmeln.

Die während der Bauphase so geschmähte Philharmonie war zu einem absoluten Anziehungspunkt für Touristen geworden und hatte schon Millionen von Besuchern angezogen.

Der Blick von der Besuchergalerie über die Stadt und den Hafen war allerdings auch spektakulär.

Brock starrte an der Fassade hoch. Er hatte sich ursprünglich auch nicht für den Bau begeistern können, doch jetzt empfand er einen gewissen Stolz darauf, dass seine Heimatstadt ein neues Wahrzeichen besaß.

»Guten Morgen, Herr Hauptkommissar!«

Sein Assistent stand vor ihm, zwei Becher Kaffee in der Hand. Brock nahm einen davon dankend entgegen. Schließlich hatte er noch nicht gefrühstückt. Dunkel erinnerte er sich, dass Spengler in der letzten Nacht Bereitschaftsdienst gehabt hatte. Das erklärte sein frühes Erscheinen.

Er trug über seinen dunkelblauen Jeans ein offenes Hemd und eine beige Popeline Jacke. Rentnerjacken nannte Brock sie insgeheim. 

»Was haben wir?«, fragte er mit rauer Stimme.

»Kommen Sie hoch, ich zeige es Ihnen. Sie werden es nicht glauben.«

Der Hauptkommissar nahm einen Schluck aus dem Kaffeebecher. Das Getränk war lauwarm und besaß einen leichten Geschmack von Spülwasser. Angewidert verzog er das Gesicht. Er legte Wert auf einen guten Kaffee zum Frühstück. In seiner Abteilung hatte er auf eigene Kosten einen teuren Kaffeeautomaten angeschafft. Doch erst als er auch den Kaffee dazu besorgte, schmeckte er, wie er ihn mochte.

Sie identifizierten sich bei dem uniformierten Polizisten, der den Eingang bewachte. Er trug ihre Namen sorgfältig auf einer Liste ein.

Brock warf einen Blick auf die Liste. »Erstaunlich, dass unser Doktor schon anwesend ist. Normalerweise kommt er doch als Letzter.«

Spengler beugte sich zu ihm herüber und raunte: »Er kommt direkt vom Fischmarkt. Hat wohl mit seinen Freunden durchgemacht. Stellen Sie ihm keine Fragen. Er ist ziemlich angesäuert.«

Brock sah seinen Assistenten misstrauisch an, doch der meinte es offenbar ernst.

Auf dem Vorplatz hatten einige Uniformierte inzwischen Flatterband gespannt. Brock deutete auf die Garageneinfahrt. »Da darf auch keiner rein oder raus, bis wir hier fertig sind!«

Spengler zupfte an seinem Ärmel, und sie gingen zu der endlos langen Rolltreppe, die nach oben führte.

Brock war schon einmal hier gewesen. Mit einer kurzfristigen Freundin, wie er sich erinnerte. Einer sehr kurzfristigen, eigentlich nur für eine Nacht und den folgenden Tag, einen Sonntag. Er hatte sie bei einem Abendessen mit Kollegen aus verschiedenen Städten kennengelernt. Sie stammte aus Köln und wollte unbedingt die Elbphilharmonie sehen.

Damals waren viele Menschen hier gewesen, die den gleichen Wunsch verspürten. Sie waren auf der Außengalerie herumspaziert und hatten Hamburg von oben betrachtet.

Ihr Abschied war unspektakulär gewesen. Sie hatten beide gewusst, dass sich die gemeinsamen Stunden nicht wiederholen würden.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, ganz allein auf dieser Rolltreppe zu fahren.

»Es ist das große Fenster unterhalb der Plaza«, meldete sich Spengler zu Wort. »Es befindet sich im ursprünglichen Speicherbau, auf dem das moderne Konstrukt errichtet ist. Wir sind gleich da.«

»Ich weiß, wo das ist«, knurrte Brock. Die Müdigkeit hing ihm immer noch in den Knochen, und für einen Augenblick verspürte er das dringende Bedürfnis nach seinem Bett oder nach einem vernünftigen Frühstück.

Sie hatten das Ende der Rolltreppe erreicht. Dort stand ein weiterer Uniformierter und reichte ihnen Plastikbeutel, die sie über die Schuhe streifen konnten, um den Tatort nicht zu verunreinigen.

Spengler schritt eilig vor ihm her. Dann standen sie wenige Meter vor dem besagten Fenster, und Brock wurde schlagartig wach.

So etwas hatte er in der Tat noch nicht gesehen!

Mit dem Fenster hatten sich die Architekten einen besonderen Effekt einfallen lassen. Es war so in die große Öffnung eingepasst worden, dass es direkt mit der umgebenden Mauer abschloss. Dadurch war das Glas kaum zu erkennen, und man hatte den Eindruck, man könnte mit einem weiteren Schritt ins Freie treten und in die Tiefe stürzen. Viele Besucher hielten deshalb respektvollen Abstand von der Scheibe. Die Illusion war ziemlich überzeugend.

Insofern schien es, als würde der Mann in der Luft schweben, Arme und Beine weit ausgebreitet. Sein Kopf war schräg an die Scheibe gesunken.

Brock trat ein paar Schritte näher, um sich zu überzeugen, dass es real war, was er da sah.

Der Mann war offensichtlich tot. Seine Hände und Füße waren an merkwürdige Geräte gefesselt, die Brock erst aus der Nähe identifizieren konnte.

»Das sind industrielle Saugheber, mit denen Glasscheiben transportiert werden«, erklärte Doktor Fischer, der neben dem Toten stand und breit grinste.

Brock musterte den Pathologen. Er war Mitte fünfzig und machte diesen Job schon sehr lange. Er war außerordentlich gewissenhaft und übersah selten etwas. Vor Gericht war er für jeden Staatsanwalt ein Geschenk. Er ließ sich von keinem Verteidiger aus der Ruhe bringen.

Fischer war heute nicht wie üblich in einen weißen Overall gekleidet, sondern trug ein zerknittertes Sakko über verbeulten Jeans. Sein Hemd war mit Rotweinflecken verschmutzt, und die Krawatte hing auf Halbmast. Ein seltener Anblick!

Brock wandte sich wieder dem Mann an der Scheibe zu. »Die Dinger können einen Mann tragen?«

»Jeder einzelne von diesen Saughebern kann das«, sekundierte Spengler.

Brock betrachtete den Mann von allen Seiten.

»Er ist doch wirklich tot, oder?«, erkundigte er sich vorsichtshalber.

»Vermutlich schon seit gestern«, beruhigte ihn Doktor Fischer.

»Also wurde er an einer anderen Stelle umgebracht. Todesursache?«

»Er hat ein Hämatom an der rechten Kopfseite und eine Stichwunde im Nacken. Woran er genau gestorben ist, wird die Autopsie ergeben.«

Brock betrachtete einen der Saugheber. Die Hände und Füße des Toten waren an die breiten Tragegriffe gefesselt.

»Ist das ein Bergsteigerseil?«

Fischer schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Das wird die Spurensicherung klären können. Die sollten übrigens bald hier sein.«

Aus der Nähe sah Brock, dass der Kopf des Mannes mit durchsichtigem Paketband an der Scheibe fixiert war. Er ging seitlich dicht an ihn heran. Die Augen des Toten waren geöffnet und schimmerten milchig.

»Was sieht er sich dort unten an?«, fragte er wie zu sich selbst. »Hat jemand zufällig einen Laserpointer dabei?«

»Ich habe einen im Auto«, sagte Spengler. »Bin gleich zurück!«

Brock winkte den Streifenpolizisten heran, der ein paar Schritte näher gekommen war und die Szene neugierig betrachtete.

»Wer hat den Toten so früh am Morgen eigentlich entdeckt?«, fragte Brock.

»Das waren die Kollegen von der Wasserschutzpolizei«, erklärte der Uniformierte. »Na, ja, eigentlich war es ein Mann in einem Privatboot, der den Kollegen aufgefallen war, weil er die Elbphilharmonie durch ein Fernglas betrachtete. Dann haben sie es auch gesehen.«

Er deutete auf den Toten. »Also … das hier.«

»Sehr interessant«, murmelte Brock. »Was macht denn ein Mann in einem Boot um diese Zeit auf der Elbe?«

»Das haben sich die Kollegen von der Wasserschutzpolizei auch gefragt. Doch als sie dann den Gekreuzigten entdeckten …«

»… hatten sie Wichtigeres zu tun«, ergänzte Brock den Satz.

Außer Atem war Spengler inzwischen wieder zurück. Er reichte Brock einen Laserpointer, wie man ihn zur Feststellung von Schussbahnen benutzte.

Der Hauptkommissar schaltete das Gerät ein und hielt es neben den Kopf des Mordopfers, sodass der Laserstrahl in die Richtung zeigte, in der die Augen des Toten blickten. Der dünne Strahl verlor sich rasch im hellen Licht des Morgens.

»Da ist nur Wasser«, stellte Brock verblüfft fest.

»Die Elbe«, fügte Spengler eifrig hinzu.

Der vernichtende Blick, der ihn traf, ließ den Kommissaranwärter förmlich zusammenschrumpfen.

Brock gab seinem Assistenten den Laserpointer zurück. »Dann schauen Sie mal, ob Sie mehr erkennen.«

Spengler versuchte ebenfalls sein Glück. »Mitten auf die Elbe. Ein Stück weiter liegt die Cap San Diego.«

Der Streifenpolizist hatte sich indessen ebenfalls an die Scheibe bewegt. Sein Blick folgte dem dünnen Laserstrahl.

»Das ist auch ungefähr die Stelle, an der die Wasserschutzpolizei den Mann auf dem Boot angetroffen hat.«

»Ich würde nachher gern mit dem Mann sprechen«, sagte Brock.

Niemand antwortete. Brock starrte von einem zum anderen.

»Er ist wohl nicht mehr da«, bequemte sich der Uniformierte schließlich zu einer Antwort.

»Was heißt denn das?«

»Na, ja, die Kollegen haben sich nicht weiter um ihn gekümmert. Sie haben bei uns angerufen, und wir waren als Erste am Tatort. Wir mussten zunächst jemanden finden, der uns Zutritt verschaffte. Als wir bei diesem Fenster waren, haben wir das besagte Boot nicht mehr gesehen.«

Brock wandte sich an seinen Assistenten. »Machen Sie unseren Freunden bei der Wasserschutzpolizei die Hölle heiß. Ich will alles wissen, was es über diesen geheimnisvollen Fremden zu erfahren gibt. Und wenn wir schon dabei sind, finden Sie heraus, ob an dieser Stelle der Elbe irgendetwas vorgefallen ist. Es gibt bestimmt einen Grund, weshalb der Mann dorthin sieht.«

Er drehte sich zu Doktor Fischer um. »Wissen wir, wer der Tote ist?«

»Nein. Niemand hat ihn bisher angefasst. Ich selbst habe nur kurz den Zustand der Leiche geprüft, um sicher zu gehen, dass der Mann wirklich tot ist.«

Brock zupfte dünne weiße Handschuhe aus seiner Tasche, streifte sie über und tastete die Kleidung des Mannes ab. Er trug schwarze Hosen, ein graues Sakko über einem hellblauen Hemd mit offenem Kragen – keine Schuhe. In der Brusttasche steckte eine Ledermappe, die der Hauptkommissar vorsichtig herauszog. Alle anderen Taschen waren leer.

Brock schlug die Mappe auf. Sie war ebenfalls leer – bis auf einen Personalausweis.

»Markus Holler«, las er vor. »Zweiunddreißig Jahre alt, wohnhaft in Hamburg. Da wollte jemand, dass wir erfahren, wer der Tote ist. Alles andere wurde entfernt.«

Der Streifenpolizist verzog sich wieder auf seinen Posten, als von der Rolltreppe her Stimmen zu hören waren.«

»Die Spurensicherung ist angekommen«, erklärte Spengler unnötigerweise.

Brock trat einen Schritt von der Leiche zurück. »Ich frage mich, ob ein einzelner Täter unseren Toten auf diese Weise an der Glasscheibe befestigen konnte.«

»Ich schätze, dass Holler zwischen siebzig und fünfundsiebzig Kilo wiegt«, sagte Doktor Fischer. »Ein großer und kräftiger Mann schafft das durchaus. Die Saugheber waren sicher schon vorher am Körper befestigt. Sehen Sie, er hängt etwas schräg. Der Täter hat zuerst seinen rechten Arm hochgezogen und den Heber aktiviert, dann den linken. Er brauchte dazu noch nicht mal eine Leiter.«

»Wie hat er den Toten hergeschafft?«, murmelte Brock. »Das Gebäude ist nachts doch sicher geschlossen. Es gibt Kameras, nehme ich an.«

»So ganz geschlossen ist es nicht«, entgegnete Spengler. »Über uns gibt es ein Hotel und außerdem Privatwohnungen. Der Zugang zu den Musiksälen ist natürlich gesperrt, doch für jemanden, der sich auskennt, dürfte es kein Problem sein, sich beispielsweise über die Garage Zutritt zu verschaffen.«

Brock spürte plötzlich, wie sein Magen knurrte. Er hoffte, dass es außer ihm niemand hörte. Das wäre an diesem Ort etwas peinlich gewesen.

»Setzen Sie unsere Kollegen an, die Möglichkeiten zu überprüfen, wie man ungesehen zu diesem Fenster kommen kann und zu welcher Zeit das möglich wäre. Sie sollen alles eventuelle Bildmaterial sichten und alle Leute befragen, die heute Nacht im Gebäude waren, einschließlich des Hotelpersonals.«

»Die Gäste auch?«

»Der Nachtportier wird wissen, wer zu ungewöhnlicher Stunde gekommen oder gegangen ist. Deren Namen will ich auch!«

Spengler entfernte sich in Richtung Rolltreppe. »Wird alles erledigt!«

Brock drehte sich zu Doktor Fischer um, der immer noch die Leiche anstarrte und dabei den Kopf schüttelte.

»Das ist wirklich ungewöhnlich«, murmelte er. »Da glaubt man, man hat alles gesehen, und dann das …«

Brock war neben ihn getreten. Er sah gedankenverloren auf die Elbe hinunter. Die nur leicht gekräuselte Wasserfläche glitzerte im Sonnenlicht.

»Was willst du uns dort unten zeigen?«, fragte er leise.

Die Leute von der Spurensicherung hatten sich hinter ihm versammelt und betrachteten verblüfft den Toten. So etwas war auch für sie neu.

»Können wir anfangen?«

Brock drehte sich zu der jungen Frau um, die in ihrem weißen Overall vor ihm stand. Er nickte.

»Sie bekommen die Ergebnisse der Obduktion so schnell wie möglich«, sagte der Mediziner.

»Ihr Schlusswort könnten Sie auch mal ändern«, knurrte der Hauptkommissar und verließ den Tatort.

 

*

 

Kommissaranwärter Horst Spengler sah den jungen Wasserschutzpolizisten, der sich als Detlef Schwenke vorgestellt hatte, streng an. »Erzählen Sie alles noch mal von vorn.«

Sie befanden sich in einem hässlichen Büro, das mit ziemlich alten Möbeln ausgestattet war. Der Beamte war nervös und knetete seine Finger ununterbrochen. Nachdem Spengler sich vorgestellt hatte, stand er vor ihm und sah auf ihn herunter.

»Unsere Schicht hatte gerade begonnen. Wir hatten unseren Liegeplatz verlassen und waren mit dem leichten Hafenstreifenboot auf Patrouille.«

»Das ist mir soweit klar«, unterbrach Spengler mit einem Versuch, die sarkastischen Bemerkungen seines Chefs zu imitieren, was ihm jedoch nicht vollständig gelang.

»Na, ja, wir wollten als Erstes das Kreuzfahrtterminal kontrollieren und standen querab zur Elbphilharmonie …«

»Querab? Was heißt das?«

Der junge Beamte sah Spengler entschuldigend an. »Das bedeutet rechtwinklig zur Längsrichtung des Schiffes.«

»Aha«, nickte Spengler, doch man sah ihm an, dass er die Definition nicht ganz begriffen hatte.

»Dann entdeckten wir das Boot. Das heißt, gesehen haben wir es schon vorher. Doch ich bemerkte, dass es bewegungslos im Strom lag. Ein Mann stand hinter dem offenen liegenden Steuerpult und hatte ein Fernglas auf die Elbphilharmonie gerichtet. Ich habe unserem Bootsführer ein Zeichen gegeben, doch er hatte ebenfalls alles gesehen und hielt bereits auf das fremde Boot zu. Es war noch sehr früh am Morgen, und private Boote sind da eher selten zu sehen.«

»Was geschah dann?«

»Mit bloßen Augen konnte ich nicht erkennen, worauf der Mann blickte. Also nahm ich auch ein Glas und entdeckte ziemlich schnell, dass an dem großen Fenster der Elbphilharmonie eine Person klebte. Inzwischen hatte uns der Mann auf dem Boot gesehen. Wir gingen längsseits, und unser Polizeiobermeister fragte ihn, was er da mache. Er sagte, dass er zufällig die Person am Fenster bemerkt habe, als er auf dem Rückweg zu seinem Liegeplatz war. Wir haben sofort die Zentrale informiert und Kurs auf die Philharmonie genommen.«

Auf Spenglers Stirn erschien eine tiefe Falte. »Um den Mann auf dem Boot haben Sie sich nicht weiter gekümmert?«

Der junge Beamte hob die Schultern. »Er konnte kaum etwas mit der Sache zu tun haben. Also ließen wir ihn dort zurück.«

»Großer Fehler!«, knurrte Spengler. »Wir glauben, dass der Unbekannte durchaus etwas mit dem Mord zu tun haben könnte, doch dank Ihrer mangelnden Weitsicht wissen wir nicht, wer er ist.«

»Mord?«

»Glauben Sie, da hat sich einer freiwillig an die Scheibe geklebt?«

Schwenke schwieg und senkte den Kopf.

»Wir können das Boot bestimmt finden«, sagte er schließlich. »Ich weiß, wie es aussieht. Auf dem Fluss ist es schwer, ein Schiff zu verstecken. Es war nach einer Frau benannt.«

»Nach einer Frau?«, wiederholte Spengler überrascht. »Welche Frau?«

»Ich meine einen weiblichen Vornamen, es war irgendwas mit A. Anja oder Anna. Vielleicht auch Alina oder Anke.«

»Das ist doch ein Anfang. Es wird doch ein Schiffsregister geben, in dem die Namen aller Boote verzeichnet sind.«

Schwenke nickte. »Ja, das gibt es. Wir werden das überprüfen.«

Spengler richtete sich zu seiner vollen Größe von ein Meter siebzig auf. Er war der festen Überzeugung, dass damit auch seine Autorität wuchs. Dann wurde ihm bewusst, dass seine Freizeitkleidung – Jeans, leichte Jacke, Sneakers – diesem Anspruch nicht gerecht wurde. Er schätzte korrekte Kleidung sehr, doch für den nächtlichen Bereitschaftsdient hatte er sich nicht die Zeit für eine entsprechende Auswahl genommen.

»Außerdem sollten Sie sofort damit beginnen, das Boot zu suchen. Wir müssen es unbedingt finden, es hängt mit unserem Fall zusammen.«

»Jawohl, Herr Spengler. Ich werde meinen Vorgesetzten informieren.«

»Kommissaranwärter Spengler, wenn ich bitten darf.«

»Jawohl, Herr Kommissaranwärter!«

Er drehte sich um und marschierte zur Tür. Dann fuhr er plötzlich wieder herum, als ihm einfiel, worüber sein Chef gegrübelt hatte.

»Sagen Sie, diese Stelle in der Elbe, an der Sie das Boot angetroffen haben, ist da mal irgendetwas passiert?«

Der junge Beamte zog seine Stirn in Falten und dachte offensichtlich nach. Dann hellte sich sein Gesicht auf.

»Ja, jetzt, wo Sie danach fragen … Da war wirklich mal was. Letztes Jahr beim Hafengeburtstag hat es etwa an dieser Stelle einen Unfall gegeben. Eine kleine Privatjacht hat ein Motorboot gerammt. Dabei ist jemand ums Leben gekommen. Ein Mann, glaube ich.«

»Wo sind die Unterlagen darüber?«, fragte Spengler scharf und freute sich schon auf Brocks Gesicht, wenn er ihm die Neuigkeit mitteilte.

»Die müssten auf unserem Revier sein.«

»Sorgen Sie für Kopien. Aber heute noch!«

Der junge Beamte nickte nur müde. Seinen Sonntagsdienst hatte er sich anders vorgestellt.

 

 

2. Kapitel

 

Das prachtvolle Haus an der Elbchaussee war gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts gebaut worden und hatte die wechselvollen Stürme der Zeit nahezu unbeschadet überstanden. Es lag an einem Abhang zur Flussseite und besaß dadurch einen unverbaubaren Blick über die Elbe und den Hafen.

Die Elbchaussee war eine der berühmtesten Straßen der Hansestadt. Sie verband Altona mit Blankenese und galt als bevorzugte Wohnlage. Es gab schöne alte Villen, Parks und Nobelrestaurants. Von manchen Stellen aus hatte man einen herrlichen Blick über den Fluss und den Hafen.

Die Villa war zur Straße durch dichte Hecken und einen jahrzehntealten Baumbestand abgeschirmt und damit neugierigen Blicken entzogen. Zusätzlich gab es eine etwa mannshohe Mauer, unterbrochen von einem Gittertor aus Schmiedeeisen. Vom Tor führte ein gepflasterter Weg zu den abseits liegenden Garagen. Davor waren einige zusätzliche Stellplätze angelegt. Der Weg endete an einem breiteren Platz vor dem Haupteingang.

Eine leicht geschwungene Freitreppe führte zu einem säulengeschmückten Vorbau. Von dort ging es in die große Empfangshalle, die das Zentrum des Gebäudes bildete.

Aus dem Speiseraum auf der rechten Seite drang das Gewirr mehrerer Stimmen unterschiedlichen Geschlechts. Geschirr klapperte, Besteck klirrte.

Am Kopfende einer langen Tafel saß Anton Holler, der Patriarch der Familie und gleichzeitig ihr unangefochtenes Oberhaupt. An einem Sonntag im Monat pflegte er die Familie zu einem sogenannten Brunch zu versammeln, einer Mischung aus Frühstück und Mittagessen. Erscheinen war für alle Pflicht, und so waren auch heute alle zusammengekommen.

Anton Holler betrachtete sich selbst als erfolgreichen Geschäftsmann, und das war er auch. Er hatte die Reederei, die er von seinem Vater übernommen hatte, zu einem konkurrenzfähigen Unternehmen gemacht. Eine gewisse Eitelkeit konnte man ihm durchaus nachsagen. Aus seinem Alter machte er gegenüber Dritten ein Geheimnis, obwohl jeder wusste, dass er die siebzig bereits überschritten hatte. Zugegeben: Man sah es ihm nicht an. In seiner ganzen Erscheinung wirkte er deutlich jünger.

Anton Holler trug wie immer seinen dreiteiligen Anzug mit Einstecktuch. An der Weste war eine schwere goldene Kette befestigt, an der eine goldene Taschenuhr hing, die er vor vielen Jahren von seinem Vater bekommen hatte, als er in die Geschäftsführung der Firma einstieg.

Eines Tages würde sein Sohn sie bekommen. Wieso war er heute eigentlich nicht hier? Der Platz zu Hollers Linken war leer. Nun, er wird sicher gleich erscheinen. Markus verpasste das monatliche Treffen der Familie fast nie. 

Anton Holler musterte die Gäste an seiner Tafel. Rechts von ihm saß seine Frau Elisabeth, die aufmerksam den Tisch überprüfte, ob alles in Ordnung war. Sie war jünger als er, was man ihr deutlich ansah. Sie war nicht seine erste große Liebe gewesen, aber die glücklichste, und das hatte sich in den vielen Jahren, seit sie verheiratet waren, nicht geändert.

Seine erste Ehe war ihm wie ein Rausch vorgekommen, aber das Glück hatte nicht lange angehalten. Sie hatten sich nach zwei Jahren wieder getrennt. Aus seiner jetzigen Ehe mit Elisabeth waren drei Kinder hervorgegangen, und sie waren das Wichtigste in seinem Leben.

Neben seine Frau hatte Tim Platz genommen, der einzige Sohn seines Bruders und damit sein Neffe. Sein Bruder war vor einigen Jahren gestorben, und sie hatten seinen Sohn bei sich aufgenommen, als er noch ein Teenager war. Inzwischen war er ein breitschultriger und groß gewachsener junger Mann mit fast schwarzen Haaren und hellen wachen Augen. Er trug ein buntes Oberhemd mit offenem Kragen, ein Outfit, das Anton Holler gerade noch durchgehen ließ. Tim arbeitete in seiner Reederei in der Lagerverwaltung.

Dieses Lager im Hafen war ein Relikt aus der Vergangenheit. Es wurde im Prinzip nicht mehr gebraucht, und es gab dort nur wenige Angestellte. Doch Tim erzählte ihm immer, dass der alte Bau immer noch wichtig war, um dort bestimmte Güter der Frachtschiffe zwischenzulagern. Nun, Tim schien seine Sache gut zu machen, also ließ er ihn gewähren. Manchmal allerdings hatte er den Verdacht, dass sein Neffe die Bedeutung dieses Lagerhauses etwas übertrieb.

Anton Hollers Blick schweifte zur anderen Seite des Tisches. Dort saß seine Tochter Maria mit ihrem Ehemann. Zwischen ihnen ihr dreijähriger Sohn Erik, dessen Kopf gerade eben über die Tischkante ragte. Sie unterhielten sich mit ihrem Sprössling, dem irgendetwas nicht passte. Holler war von der Hochzeit Marias mit einem Anwalt nicht unbedingt begeistert gewesen, doch seinen einzigen Enkel liebte er abgöttisch.

Dann war da noch sein jüngster Sohn Daniel, der gerade achtzehn geworden war. Er hatte mit Mühe und Not und der Hilfe einiger Nachhilfelehrer die Mittlere Reife geschafft. Seitdem jobbte er gelegentlich in der Reederei des Vaters. Arbeit konnte man es kaum nennen. Er starrte angestrengt auf sein Smartphone, das an seiner Hand festgewachsen schien.

Anton Holler fehlte jedes Verständnis für den unwiderstehlichen Drang der jungen Leute, sich pausenlos mit einem solchen Gerät zu beschäftigen. Zu seiner Zeit hatte es so etwas zum Glück noch nicht gegeben. Wie auch immer man die Bedeutung der modernen Technik einschätzte – Daniel war sein Sorgenkind. Der Junge hatte bisher noch keine Vorliebe für irgendeinen Beruf erkennen lassen. Vielleicht musste man ihm noch Zeit lassen!

Der Platz am anderen Ende der Tafel war frei geblieben. Niemand aus der Familie hatte es je gewagt, ihn einzunehmen und sich dem Patriarchen der Familie damit genau gegenüberzusetzen.

Es klingelte!

Anton Holler sah erstaunt hoch. Wer wagte es, die Familie während dieser nahezu heiligen Handlung zu stören?

Elena, die griechische Haushaltshilfe, erschien in der Tür und blickte zum Hausherrn hinüber. »Da ist ein Herr von der Polizei, der Sie sprechen möchte.«

Anton hob die Hand. »Ich mache das schon. Alle bleiben sitzen.«

Er ging zur Tür hinaus, ließ sie aber geöffnet. In der Empfangshalle stand ein Mann in Freizeitkleidung. Er hielt ein Lederetui mit einem Ausweis hoch.

»Hauptkommissar Cornelius Brock«, stellte er sich vor.

»Ich nehme an, es geht um meinen Sohn. Was hat er ausgefressen?«

»Können wir irgendwo ungestört reden?«

Anton Holler stutzte. Ein Schatten zog über sein Gesicht. »Folgen Sie mir.«

Sie betraten das Esszimmer, und Brock ließ seinen Blick über die an einer langen Tafel Versammelten gleiten, wobei er ihre Gesichter registrierte. Er besaß ein ungewöhnlich gutes Gedächtnis für Personen und würde sie von nun an jederzeit wiedererkennen. Nach wenigen Schritten bemerkte Brock eine Berührung an seinem Bein. Er sah nach unten und entdeckte einen vielleicht dreijährigen Knirps, der vor ihm stand.

»Hast du eine Schtole?«, nuschelte er.

Brock ging in die Knie, um auf Augenhöhe zu kommen. »Was soll ich haben?«

Ein jüngerer Mann war vom Tisch aufgestanden und kam dazu, wohl der Vater des Kleinen. Er grinste. »Das ist mein Sohn Erik. Er will wissen, ob Sie eine Pistole haben.« 

Brock stand auf, hob seine leichte Jacke an und drehte sich um seine Achse. »Keine Schtole!«

Der Hauptkommissar trug selten seine Dienstwaffe. Sie ruhte in einem abgeschlossenen Fach seines Schreibtisches und wurde praktisch nur herausgenommen, wenn er zu einer der vorgeschriebenen Schießübungen musste. Er besaß noch eine private Waffe, die in einem kleinen Tresor in seiner Wohnung lag. Er hatte sie am Anfang seiner Laufbahn erworben, als er es noch notwendig fand, sich seinem Beruf entsprechend auszustatten. Inzwischen war er kein Freund von Schusswaffen mehr, und er hoffte, nie eine benutzen zu müssen.

Allerdings wunderte er sich, wieso der kleine Stöpsel wusste, was eine Pistole war, bevor er ihren Namen aussprechen konnte.

»Kommen Sie!«, drängte Holler und ging voran. Brock folgte ihm in ein Arbeitszimmer mit holzgetäfelten Wänden und schweren Eichenmöbeln, die aussahen, als würden sie noch zur Erstausstattung des Hauses gehören. In der Luft hing ein Geruch von Tabak.

Brock bemerkte, dass an den Wänden einige merkwürdig aussehende Waffen hingen: Bögen, eine Lanze, Keulen. Hinter der Glasfront eines schmalen Schrankes befanden sich zwei teuer aussehende Gewehre. Fein ziselierte Metallteile, poliertes Holz, eindeutig eine hervorragende Handwerksleistung.

»Das sind englische Jagdgewehre. Sie stammen von meinem Vater, der ein begeisterter Jäger war. Eine Purdey und eine Holland & Holland. Soweit ich weiß, sind das so ziemlich die teuersten Jagdwaffen, die man kaufen kann. Ich konnte der Jagd nie etwas abgewinnen und habe daher noch nie einen Schuss daraus abgegeben. Ich lasse sie nur regelmäßig bei einem Büchsenmacher warten und reinigen.« 

In einer Vitrine, wie man sie aus Museen kannte, lagen Dolche von teilweise seltsamer Gestalt. Einer hatte eine blitzende Klinge in Wellenform.

Anton Holler lehnte an seinem Schreibtisch und folgte Brocks Blick. »Das ist ein malaiischer Kris«, erläuterte er. »Eine gefährliche Waffe. Das Ding daneben mit der gebogenen Klinge ist ein Gurkha Dolch aus dem neunzehnten Jahrhundert. Er wird heute noch unverändert hergestellt.« 

Brock sah fragend hoch.

»In meiner Jugend bin ich einige Jahre zur See gefahren. Damals haben mich exotische und antike Waffen fasziniert, und wenn ich welche kriegen konnte, habe ich sie mitgebracht.«

»Interessantes Hobby«, murmelte Brock.

»Also, was gibt es?«, knurrte Anton Holler. »Sie sind ja nicht gekommen, um meine Waffen zu bewundern.«

»Sie sollten sich lieber setzen«, sagte Brock und ließ sich selbst in einem der englischen Ledersessel nieder. Holler folgte seinem Beispiel. »Jetzt reden Sie schon!«

Brock hasste diese Aufgabe. Seine Chefin hatte ihn ermahnt, den Hinterbliebenen eines Mordopfers die Nachricht schonend beizubringen. Wie sollte man einem Vater schonend beibringen, dass sein Sohn tot war? Eine solche Mitteilung traf immer brutal ins Herz, gleichgültig, wie sorgsam man sie überbrachte.

»Wir haben Ihren Sohn Markus in der Elbphilharmonie aufgefunden«, begann Brock.

»Was hat er denn da gemacht?«, wunderte sich sein Vater. »Für Musik hatte er noch nie viel übrig. Fußball, ja, das war seine Welt! Aber Musik …«

»Er ist nicht freiwillig dort gewesen«, fuhr Brock fort und ermahnte sich dabei selber, nicht länger um den heißen Brei herumzureden. »Man hat ihn ermordet und dann dort abgelegt.«

Holler saß stocksteif in seinem Sessel, die Hände um die Lehnen gekrampft. Seine Kiefer mahlten leicht.

»Wie?«, fragte er schließlich mit dumpfer Stimme.

Brock hatte schon vorher beschlossen, ihm nicht die ganze Wahrheit zu erzählen. »Er befand sich hinter einem Fenster mit Blick auf die Elbe. Die genaue Todesursache wird noch ermittelt.«

Schweigen breitete sich im Raum aus. Nur eine alte Standuhr tickte. Aus dem Esszimmer drang der gedämpfte Lärm von Geschirr und Gesprächsfetzen.

»Wer hat das getan?«

»Das wissen wir noch nicht. Doch wir werden es herausfinden, das verspreche ich Ihnen.«

Holler war in seinem Sessel zusammengesunken. Jetzt schimmerte eine Träne in seinem Auge.

»Soll ich …?«, fragte Brock und deutete auf die Tür zum Esszimmer.

Holler schüttelte den Kopf. »Das werde ich selbst übernehmen. Gehen Sie jetzt.«

»Sie müssen morgen Ihren Sohn identifizieren. Oder jemand anders aus Ihrer Familie. Kommen Sie bitte am Nachmittag in die Rechtsmedizin. Die befindet sich im UKE, im Universitäts-Klinikum Eppendorf.«

Ein langsames Nicken. »Ich werde dort sein.«

 

*

 

Horst Spengler machte an diesem Tag seinen zweiten Besuch bei der Wasserschutzpolizei, nachdem er noch einmal in der Elbphilharmonie gewesen war, um die Überwachungsaufnahmen abzuholen und den Abtransport der Leiche zu beaufsichtigen. Die Spurensicherung hatte den Tatort noch nicht freigegeben, was einen mittlerweile eingetroffenen Manager des Hauses ziemlich missmutig stimmte.

Spengler hatte sich außerdem in der Garage umgesehen. Gleich hinter dem Eingang zum Foyer hatte er eine Sackkarre entdeckt, die dort bestimmt nicht hingehörte. Er vermutete sofort, welchem Zweck sie gedient haben mochte. Er ließ die Karre von der Spurensicherung einsammeln und bat um eine gründliche Überprüfung.

Die Garage war zu dieser Stunde noch weitgehend leer. Nur einige Fahrzeuge befanden sich auf den Stellplätzen. Spengler notierte sich vorsichtshalber sämtliche Kennzeichen. Möglicherweise war der Tote mit einem dieser Fahrzeuge transportiert worden. Doch bevor sie sich damit näher befassen konnten, mussten sie zunächst die Besitzer ermitteln. Vielleicht ergab sich hierbei bereits eine Spur.

Im Revier der Wasserschutzpolizei wurde er von Detlef Schwenke schon erwartet. Der junge Beamte hatte vor Eifer leicht gerötete Wangen. Die Vorstellung, an der Aufklärung eines wichtigen Mordfalles mitzuarbeiten, hatte seine Fantasie offenbar stark beflügelt.

Spengler indessen spürte nur, dass er in seinem Magen ein deutliches Hungergefühl verspürte. Er hatte außer dem Frühstück im Stehen nichts weiter gegessen, und er hoffte, dass es hier in der Nähe eine geöffnete Imbissbude gab.

»Was haben Sie ermittelt?«, fragte er.

»Ich habe mit meinen Kollegen gesprochen, und wir waren uns einig, dass es sich bei dem fraglichen Boot heute Morgen um ein etwa fünf Meter langes Motorboot der Firma Quicksilver handelte. Es mochte sich aber niemand festlegen, welches Modell genau es war. Es waren sich alle einig, dass die Lackierung blau-weiß gewesen ist. Jedenfalls kommen laut dem Register drei Boote mit dieser Lackierung infrage. Eines – Anika – gehört einem Barkassenbesitzer im Hafen, ein anderes – Antje – hat einen Liegeplatz in Moorfleet. Das dritte Boot mit dem Namen Anna gehört einem Anwalt und liegt im Jachthafen bei Wedel. 

Schwenke reichte ihm ein Blatt Papier. »Hier habe ich die genauen Angaben aufgeschrieben.«

Spengler nahm das Blatt gnädig entgegen. »Haben Sie sonst noch etwas herausgefunden?«

Der Beamte nickte eifrig und deutete auf einen Aktenordner, der vor ihm auf dem Tisch lag. »Hier sind die Unterlagen von dem Unfall auf der Elbe im letzten Jahr. Es gibt sogar Videomaterial davon. Die Kollision der Boote wurde zufällig von einer Fernsehkamera aufgenommen. Man hat uns freundlicherweise damals eine Kopie überlassen, die Sie ebenfalls in den Unterlagen finden. Ich hoffe, das hilft Ihnen weiter. Sie müssen nur noch eine Quittung unterschreiben, dann können Sie alles mitnehmen.«

»Das haben Sie gut gemacht«, lobte Spengler großzügig.

Sein Handy klingelte. Brock. Wer sonst?

»Ich bin auf dem Rückweg von der Elbchaussee und fahre jetzt ins Präsidium. Wir treffen uns dort.«

Bevor Spengler antworten konnte, war die Verbindung bereits unterbrochen.

»Bin auf dem Weg«, sagte er trotzdem ins Leere.

 

*

 

Das Büro, in dem an normalen Tagen rege Geschäftstätigkeit herrschte, war heute, am Sonntag, nahezu leer. Cornelius Brock saß vor seinem Computer und starrte lustlos auf den Bildschirm, auf dem das Logo der Polizei zu sehen war.

Die Tür flog auf, und sein Assistent erschien, ein großes Sandwich in der Hand, von dem er genussvoll abbiss. Unter dem linken Arm trug er einen dicken Umschlag.

»Entschuldigung, Chef, aber ich musste dringend in die Kantine, sonst wäre ich glatt verhungert.«

»Ist sie heute geöffnet?«, fragte der Hauptkommissar erstaunt.

»Nur die Automaten.«

»Dann erzählen Sie mal. Was haben Sie herausgefunden?«

Spengler setzte sich umständlich und zog aus dem Umschlag einen Aktenstapel. Obenauf lagen zwei Speichersticks.

Einen reichte er Brock. »Das ist die Aufzeichnung der Garagenausfahrt der Elbphilharmonie. Bevor wir uns das ansehen, noch eine Bemerkung. Ich habe in der Garage eine Transportkarre entdeckt, die dazu gedient haben könnte, die Leiche in das Foyer zu schaffen. Die Spurensicherung untersucht die Karre gerade. Ich hoffe, dass wir daran Spuren entdecken. Es stehen noch Autos in der gleichen Etage, deren Kennzeichen ich notiert habe.«

Brock nickte. »Sehr vernünftig!«

»Wenn wir davon ausgehen, dass der Täter mit einem Fahrzeug gekommen ist, mit dem er den Toten transportiert hat, müsste er die Garage sehr früh am Morgen wieder verlassen haben, also noch bevor wir eingetroffen sind.«

Brock schob den Stick in die Buchse seines Computers. »Dann sehen wir uns mal an, wer das Gebäude verlässt.«

Als er die Datei startete, erkannten sie schemenhaft die Garagenausfahrt. Es war noch dunkel, und nur ein paar trübe Lampen erhellten das grau-schwarze Bild.

Sie starrten gemeinsam auf den Monitor, doch es geschah absolut nichts.

»Läuft die Datei?«, fragte Spengler schließlich.

Brock funkelte ihn an. »Natürlich! Es passiert jedoch nichts.«

Er wählte einen schnelleren Vorlauf, doch das Bild blieb wie es war, völlig unbeweglich. Nur die Helligkeit änderte sich, als der Tag begann. Das Bild wurde klarer und farbiger, doch kein Fahrzeug verließ die Garage oder fuhr hinein. Irgendwann verriet ihnen der Zeitstempel, dass die Aufnahme bei zehn Uhr endete.

»Entweder hat er kein Auto benutzt, oder der Wagen ist noch drin«, stellte Brock fest. »Bevor wir überlegen, wie wir weitermachen, zeigen Sie mir, was Sie sonst noch haben.«

Spengler zog eine Mappe von seinem Stapel. »Das ist die Liste mit den Namen der Hotelgäste. Es wird etwas dauern, alle zu überprüfen. Jedenfalls hat der Nachtportier berichtet, dass in der fraglichen Zeit keiner der Gäste gekommen oder gegangen ist. Das Hotel hat eine eigene Garage, aber von dort kann man durchaus in die öffentliche Garage gelangen. Trotzdem müsste derjenige am Nachtportier vorbei.«

»Na, schön. Was noch?«

»Ich habe herausgefunden, was auf der Elbe passiert ist. Sie wissen schon, an der Stelle, auf die der Tote geblickt hat.«

»Spannen Sie mich nicht auf die Folter.«

Brock starrte auf die Reste des Sandwiches, das Spengler in der Hand hielt. Er spürte allmählich selbst ein ziemliches Hungergefühl. Doch er wollte sich nicht die Blöße geben, jetzt ebenfalls zur Kantine zu laufen, um sich dort etwas zu holen. Außerdem war ihm nicht nach einem Essen aus dem Automaten. Alle Arten von Fastfood waren ihm verhasst.

»Es hat letztes Jahr während des Hafengeburtstages an dieser Stelle ein Unglück gegeben. Eine Motorjacht hat ein kleines Motorboot gerammt und versenkt. Dabei ist ein Mann gestorben. Die Wasserschutzpolizei hat ermittelt, wenig später jedoch die Ermittlungen eingestellt und den Fall zu den Akten gelegt, da es sich um einen Unfall handelte. Ich habe hier die komplette Akte.«

Spengler reichte ihm den ersten Ordner, und der Hauptkommissar schlug ihn auf. Schon nach einer knappen Minute hob er den Kopf und sah seinen Assistenten ungläubig an.

»Wissen Sie, wer die Motorjacht gesteuert hat?«

Spengler schüttelte den Kopf. »Ich hatte noch keine Gelegenheit, mir die Unterlagen anzusehen.«

»Das war ein gewisser Markus Holler!«

Jetzt sah Spengler ungläubig drein. »Unser Opfer?«

»Ja. Der Mann in dem kleinen Boot, der ums Leben gekommen ist, hieß Frank Altmann, wohnhaft in Altona. Er wurde zweiunddreißig Jahre alt. Holler wurde erst mal festgenommen, aber ein teurer Anwalt holte ihn gleich wieder aus der Haft. Zeugen beschrieben, dass er das kleine Boot einfach übersehen haben musste, als er in Richtung Landungsbrücken fahren wollte. Immerhin hat man ihm den Bootsführerschein für eine gewisse Zeit abgenommen. Da ist mit Sicherheit irgendein Deal gelaufen.«

Spengler überlegte kurz. »Dann ist das Motiv für den Mord wohl klar. Es handelt sich um einen Racheakt.«

»Sieht so aus, doch wir sollten keine vorschnellen Schlüsse ziehen.«

»Dann sehen wir uns das Ganze doch an!« Triumphierend hielt Spengler den zweiten Stick hoch. »Eine Fernsehkamera hat den Vorfall gefilmt.«

Brock tauschte die Speichermedien aus, und sie blickten gespannt auf den Monitor. Sie sahen über die ganze Breite der Elbe. Im Vordergrund war ein Teil des Museumsschiffs Cap San Diego zu sehen, dann glitt der Blick über den City Sporthafen auf die andere Seite der Elbe, wo sich ein Theater befand. Die Elbphilharmonie war knapp außerhalb des Kamerawinkels. Auf dem Fluss waren viele unterschiedliche Boote zu sehen, wie es bei jedem Hafengeburtstag der Fall war. 

Plötzlich schwenkte die Kamera ein Stück herum. Der Kameramann musste etwas gesehen haben. Und dann sahen sie es auch!

Aus der Norderelbe kam mit hoher Geschwindigkeit eine Motorjacht geschossen, pflügte durch das leicht kabbelige Wasser auf ein kleines Boot zu und rammte es schräg von hinten. Das größere Boot schob sich halb über das kleinere, das in zwei Hälften auseinanderbrach.

Inzwischen hatte der Kameramann das Zoom eingeschaltet, und die Szene rückte schlagartig näher heran. Der Mann, der am Steuer des kleinen Bootes gestanden hatte, verschwand unter dem Rumpf des anderen.

Die Motorjacht hatte die Maschine gestoppt und fuhr rückwärts. An der Unfallstelle trieben Trümmerteile. Von dem Mann war nichts mehr zu sehen.

»Noch mal von vorn«, murmelte Brock und drückte die entsprechenden Tasten. Beim nächsten Mal sahen sie sich das Band zu Ende an. Als ein Boot der Wasserschutzpolizei heranrauschte, schwenkte die Kamera in eine andere Richtung. Noch vier Mal ließ Brock das Video laufen.

Plötzlich stoppte er. »Das war kein Unfall!«

»Was haben Sie gesehen?«

Brock deutete auf den Bildschirm. »Hier! Sehen Sie die Bugwelle. Ich spiele den Film in Zeitlupe ab.«

»Die Bugwelle ändert ganz leicht ihre Richtung«, stellte Spengler verblüfft fest.

Brock nickte. »Die große Jacht hat den Kurs geändert. Ihr Steuermann wollte das kleine Boot mit voller Absicht treffen. Es war also kein Unfall, sondern …«

»… Mord«, ergänzte Spengler.

Sie sahen sich an.

»Das Motiv Rache wird damit immer wahrscheinlicher«, gab der Hauptkommissar zu. »Allerdings frage ich mich, warum der Mörder fast ein Jahr gewartet hat.« 

Er sah auf seine Uhr. »Heute können wir nicht mehr viel erreichen. Ich bin morgen früh in der Gerichtsmedizin, anschließend muss ich unsere Chefin ins Bild setzen. Sobald Anton Holler seinen Sohn identifiziert hat, werde ich mich mit seiner Familie ausführlich unterhalten. Sie kümmern sich um die infrage kommenden Boote. Überprüfen Sie die Besitzer. Denn ich möchte so schnell wie möglich wissen, wer heute Morgen so viel Interesse an unserem Toten gezeigt hat.«

»Soll ich die Wasserschutzpolizei über unsere neuen Erkenntnisse informieren«, fragte Spengler.

Brock hob die Hand. »Damit warten wir noch. Zunächst brauchen wir noch mehr Informationen. Selbst wenn wir jetzt den vermutlichen Grund für den Mord an Markus Holler kennen, sollten wir auch wissen, aus welchem Grund er im letzten Jahr diesen … diesen …«

»Frank Altmann«, sekundierte Spengler eifrig.

»Genau. Also aus welchem Grund hat Holler diesen Altmann umgebracht? Wir sollten mehr über seinen Hintergrund rauskriegen.«

»Sie meinen, ich sollte …?«

Brock grinste. »Sie haben es wieder mal erfasst!«

 

 

3. Kapitel

 

In den Kellern der Gerichtsmedizin herrschte nach der bereits gestiegenen Außentemperatur eine angenehme Kühle. Cornelius Brock wusste jedoch, dass es nicht lange dauern würde, bis daraus Frösteln werden würde. Der Aufenthalt in diesen Räumen gehörte nicht gerade zu seinen angenehmsten Pflichten. Doch sie ließ sich leider nicht umgehen.

Doktor Bernd Fischer, der Pathologe, stand bereits am Seziertisch. Brock blieb in einigem Abstand stehen. Er hielt sich ein Taschentuch vor die Nase, denn die Lüftung konnte den Geruch nicht vollständig verdrängen.

»Sie können ruhig näherkommen, der tut Ihnen nichts mehr!«, rief Fischer ihm zu.

»Danke, doch ich kann von hier aus genügend sehen.«

Brock versuchte, sich nur auf den Pathologen zu konzentrieren und die Leiche aus seinem Gesichtsfeld auszublenden. Fischer trug einen langen weißen Kittel mit einigen Flecken, deren Herkunft Brock lieber nicht wissen wollte. Unter dem Kittel war eine merkwürdig karierte Hose zu sehen. Die Füße des Arztes steckten in durchsichtigen Plastiküberzügen.

»Sind das Golfschuhe?«, fragte Brock verwundert.

Fischer sah an sich hinunter und grinste. »Wenn ich mit diesem Patienten fertig bin, fahre ich auf den Golfplatz. Das ist der Ersatz für den halben Sonntag, den ich gestern in Ihrer Gesellschaft verbracht habe. Außerdem ist am Montag nicht viel auf dem Platz los. Ich stehe mit meinem Spiel noch am Anfang, und es ist frustrierend, wenn man ständig von Golfern überholt wird, die einem mitleidig zulächeln.«

Brock nickte verständnisvoll und wandte rasch den Blick ab, als Fischer irgendetwas Glitschiges aus dem Körper hob und auf eine Waage legte.

»Können Sie mir schon etwas Hilfreiches über den Toten sagen?«

»Ich habe mir als Erstes das Hämatom angesehen. Er ist von dem berühmten stumpfen Gegenstand getroffen worden. Ich bin allerdings sicher, dass es sich um eine Art Rohr von etwa fünf Zentimeter Durchmesser gehandelt hat. Der Hieb damit war kräftig, aber nicht tödlich. Immerhin hat er gereicht, eine tiefe Wunde zu verursachen und den Mann für einige Zeit ins Reich der Träume zu schicken. Ich habe allerdings festgestellt, dass dieser Hieb eine ganze Weile vor der Stichwunde stattfand.«

»Gut. Was hat ihn getötet? Der Stich im Nacken?«

Der Pathologe runzelte die Stirn. »Dieser Stich hat Holler in der Tat getötet. Ich habe jedoch keine Ahnung, welche Waffe dafür verantwortlich war. Ich würde sagen, es war eine Art langer Dolch mit einer zweischneidigen Klinge, die von der Spitze zum Schaft hin rasch breiter wurde. Ich habe schon einige Stichwunden gesehen, aber eine solche noch nie.«

»Sie meinen, es war eine eher exotische Waffe?«

Brock dachte sofort an die Sammlung seltener und antiker Waffen, die er bei Anton Holler gesehen hatte. Er konnte sich jedoch nicht erinnern, etwas gesehen zu haben, das der Beschreibung des Pathologen ähnelte. Er musste unbedingt einen zweiten Blick auf die Sammlung werfen.

»Wenn Sie mir das Ding zeigen, kann ich Ihnen sagen, ob es die Mordwaffe war. In meinem Bericht wird die Rede von einer unbekannten Stichwaffe sein. Außerdem kann ich Ihnen sagen, dass es keine schwache Person war, die dem Opfer den Dolch in den Nacken gerammt hat. Die Wirbelsäule wurde durchstoßen, sodass unser Opfer sofort tot war. Dafür war ein ziemlicher Kraftaufwand nötig.«

»Wie sieht es mit dem Todeszeitpunkt aus?«

»Das hängt von vielen Faktoren ab. Ich würde mich auf die Nacht vom Freitag auf Samstag oder auf den frühen Samstagmorgen festlegen. Es sind noch nicht alle Tests abgeschlossen. Eines ist jedoch sicher. Der Mann war schon längere Zeit tot, als er an diesem Fenster befestigt wurde.«

»Ich warte auf Ihren Bericht und wünsche Ihnen eine erfolgreiche Golfpartie«, sagte Brock und wollte den Raum verlassen.

»Da wäre noch etwas.«

Brock drehte sich zu dem Pathologen um. »Ja?«

»Ich habe Spuren von Fesselungen an den Händen und Füßen entdeckt. Zwei frische Einstiche zeigen, dass man ihm etwas gespritzt hat, vielleicht Drogen oder Betäubungsmittel.«

»Das ist wohl nicht überraschend. Man hat ihn ruhig gestellt, bis man ihn getötet hat, um ihn an das Fenster zu kleben.«

Doktor Fischer schüttelte düster den Kopf. »Er wurde gefoltert. Ich habe Anzeichen entdeckt, dass man ihn einer Art Waterboarding unterzogen hat. Sie wissen schon, das ist …«

»Ich weiß, was das ist«, unterbrach ihn der Hauptkommissar. »Das gefällt mir überhaupt nicht. Es sieht danach aus, als hätte er etwas gewusst, was ein anderer unbedingt erfahren wollte. Unsere Rachehypothese müssen wir wohl noch mal überdenken.«

Brock verspürte allmählich ein leichtes Würgen und beeilte sich, aus dem Raum zu kommen. Draußen atmete er die frische Luft tief ein.

 

*

 

Zurück im Büro, wartete seine Vorgesetzte und zuständige Abteilungsleiterin bereits auf ihn: Erste Hauptkommissarin Birgit Kollmann. Sie war ebenso alt wie Brock, hatte ihre Karriere aber irgendwie an ihm vorbeigeführt. Sie besaß durchaus praktische Erfahrung, hatte ihre Ausbildung zur gleichen Zeit wie Brock gemacht und sich anschließend bei den hohen Tieren schnell beliebt gemacht. Nicht durch Speichelleckerei, wie es viele andere versuchten, sondern durch ihre Begabung, komplizierte Sachverhalte mittels PowerPoint-Software in anschauliche Grafiken, Tabellen und Übersichten zu verwandeln.

Ihre speziellen Präsentationen beschäftigten sich viel mit Effizienz, Kostenreduzierung und Personalplanung. Das kam oben gut an und war schon bis zum Präsidenten vorgedrungen.

In der Abteilung lautete ihr Spitzname PPK – so wie die Bezeichnung der Walther PPK, der früheren Dienstwaffe der Hamburger Polizei, die jetzt durch das moderne Modell Walther P99 ersetzt worden war. 

Birgit Kollmann war der Spitzname natürlich zu Ohren gekommen, und sie vermutete, dass damit ihre Präzision, ihre Genauigkeit und ihre Zielsicherheit gemeint waren. In Wirklichkeit stand das Kürzel ganz simpel für PowerPoint Kollmann. Das jedoch wollte ihr niemand verraten.

Sie stand in der Tür ihres abgetrennten Büros mit den verglasten Wänden und winkte Brock heran.

»Hallo, Birgit!«

Sie kannten sich schon seit der Ausbildung und begannen sich zu duzen, als sie eine Zeit lang den gleichen Rang hatten.

»Hallo, Conny!«

»Du weißt, dass ich diese Abkürzung nicht mag.«

Sie hob nur die Schultern, und er folgte ihr. Sie nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz, der mit Aktenstapeln vollgestellt war, und deutete auf einen der unbequemen Stühle, die davor standen.

Birgit Kollmann war schlank und groß. Sie hatte ein offenes Gesicht, das Vertrauen ausstrahlte, grüne Augen, in denen Humor aufblitzte, und eine etwas zu groß geratene Nase über vollen Lippen. Eine aschblonde Kurzhaarfrisur krönte das Ganze. Heute war sie konservativ gekleidet: grauer Rock, weiße Bluse, darüber eine kurze Jacke.

»Ich habe die Fotos aus der Elbphilharmonie gesehen«, begann sie. »Das sieht nach einem interessanten Fall aus, und ich möchte gleich vorausschicken, dass uns hier allerhöchste Aufmerksamkeit zuteilwird.«

Sie hob einen Finger und deutete nach oben zur Decke. »Unser leitender Direktor ist offenbar ein guter Bekannter von Anton Holler.«

»Du hast dich ja schnell in die Akten vertieft!«, wunderte sich Brock.

»Nachdem ich vor einer Stunde den ersten Anruf bekommen habe, wie die Ermittlungen vorangehen. Ich habe zugesagt, dass wir gute Fortschritte machen. Stimmt das?«

»Der Flurfunk ist doch immer schneller als der offizielle Dienstweg«, stellte Brock fest.

»Also, was haben wir?«

Brock schilderte die bisherigen Erkenntnisse. Als er bei dem Zusammenprall der beiden Motorboote angekommen war, verfinsterte sich die Miene von Birgit Kollmann.

»Du willst im Gegensatz zu der damaligen Aufklärung des Falles behaupten, dass unser Opfer selbst ein Mörder ist?«

Brock nickte entschuldigend. Sie starrte ihn an.

»Wie sicher bist du?«

»Die Sachlage ist eindeutig. Sieh dir die Aufzeichnung an.«

Sie biss auf ihre Unterlippe, wie sie es immer machte, wenn ein Problem auftauchte, das nicht sofort lösbar war.

»Das wird Anton Holler nicht gefallen, und damit auch unserem Direktor nicht. Wir müssen uns sehr warm anziehen und dürfen keine Fehler machen.«

»Das ist mir schon klar«, bestätigte Cornelius Brock. »Ich werde als Nächstes prüfen, welche Beziehung zwischen Markus Holler und dem Opfer vom letzten Jahr bestand. Mit der Familie muss ich natürlich auch reden.«

»Aber bitte mit allergrößter Zurückhaltung!«

»Sicher. Du kennst mich doch.«

»Eben!«

 

*

 

Kommissaranwärter Horst Spengler gab die Kennzeichen der Fahrzeuge ein, die er in der Garage der Elbphilharmonie notiert hatte. Gleich beim zweiten Wagen gab sein Computer aufgeregte Zeichen von sich.

Der Passat war als gestohlen gemeldet worden!

Spengler vertiefte sich in die Angaben. Der Besitzer des PKWs, Dieter Schmitz, hatte sein Auto in der Nacht zum Samstag als gestohlen gemeldet. Er war der Besitzer einer Kneipe namens Elbklause. Sie befand sich in einer Seitenstraße der Elbchaussee in der Nähe des Fähranlegers Teufelsbrück. Er hatte seinen Laden gegen zwei Uhr geschlossen und da stand sein Wagen, der wie immer seitlich vom Haus geparkt war, nicht mehr an seinem Platz. 

Spengler griff zum Telefon und rief die Spurensicherung an. Sie versprachen, sich sofort um den Wagen zu kümmern und gründlich zu untersuchen. Dann lehnte er sich zurück und dachte nach.

Falls es sich um das Fahrzeug handelte, mit dem die Leiche transportiert worden war, würden Spuren zu finden sein. Weiter ließ es den Schluss zu, dass Markus Holler in der Nähe dieser Kneipe ermordet worden war. Na ja, zumindest war das eine Arbeitshypothese. Mit diesem Herrn Schmitz mussten sie sich unbedingt unterhalten.

Als Nächstes musste er sich die Boote vornehmen. Drei kamen nach Angabe der Wasserschutzpolizei infrage. Er versuchte, die Besitzer der Boote zunächst am Telefon zu erreichen.

Der Inhaber von Antje, das Boot, das im Hafen von Moorfleet lag, versicherte ihm, dass es sich zurzeit mit ausgebautem Motor auf einer kleinen Reparaturwerft befand. Er gab Spengler die Adresse und stellte ihm frei, sich das Quicksilver-Boot jederzeit dort ansehen zu können.

Er schob die Überprüfung der Angaben zunächst auf und kümmerte sich um das nächste Boot. Sein Name war Anna, und es sollte im Jachthafen bei Wedel liegen. Nach den Unterlagen gehörte es einem Anwalt, der im Stadtteil Nienstedten in der Nähe des Hirschparks wohnte. Sein Name war Kurt Berghoff.

Spengler rief die private Telefonnummer an.

»Berghoff«, meldete sich eine weibliche Stimme.

»Hier ist die Kriminalpolizei. Spengler ist mein Name.«

Ein leises Schluchzen unterbrach seine Vorstellung. »Ihr Kollege hat uns gestern schon unterrichtet.«

Spengler stutzte. »Worüber wurden Sie unterrichtet?«

»Über den Tod meines Bruders natürlich.« Das Schluchzen verstärkte sich.

Spengler schnallte es immer noch nicht. »Das tut mir leid. Wie heißt denn Ihr Bruder?«

Jetzt klang die Stimme wütend. »Das müssen Sie doch wissen! Markus Holler natürlich.«

Spengler wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Die überraschende Wendung hatte ihn ohne Vorwarnung getroffen.

»Ich … äh … wollte eigentlich Ihren Mann wegen seines Bootes …«

Jetzt kreischte die Stimme. »Wegen seines Bootes? Sind denn alle komplett verrückt geworden!«

Das Gespräch war unterbrochen. Spengler hielt den Hörer in der Hand und dachte nach. Insgeheim musste er ihr recht geben. Aus ihrer Perspektive war ein Anruf der Kriminalpolizei, bei dem es um ein Boot ging, in dieser Situation äußerst verwirrend.

Immerhin war er durch diesen Anruf auf eine Verbindung gestoßen, auf die er im Traum nicht gekommen wäre. Wenn Frau Berghoff die Schwester von Markus Holler war, dann war ihr Mann sein Schwager. Was also hatte das Boot des Schwagers nach dem Mord auf der Elbe zu suchen?

Hier half nur ein persönlicher Besuch mit einer Erklärung für seinen Anruf. Jetzt war es noch viel dringlicher, mit dem Mann zu reden. Doch vorher war es wohl ratsamer, sich mit dem Hauptkommissar zu unterhalten.

 

*

 

Cornelius Brock fand die Zufahrt zur Hollerschen Villa auf Anhieb. Er parkte seinen Dienstwagen vor den Garagen, direkt hinter einem silberfarbenen Jaguar, der ihm bei seinem ersten Besuch schon aufgefallen war. Er bewunderte kurz die elegante Linienführung, bevor er ausstieg.

Er wurde wieder in das Arbeitszimmer von Anton Holler geführt. Der Patron würde in wenigen Minuten hier sein, informierte ihn die Hausangestellte und ließ ihn allein.

Diesmal richtete er seine Aufmerksamkeit sofort auf die Vitrine mit den Messern und Dolchen. Eine merkwürdig geformte Waffe zog seinen Blick magisch an. Er beugte sich über die Vitrine, um den Dolch näher in Augenschein zu nehmen. Er war ihm bei seinem ersten Besuch noch nicht aufgefallen.

Die Klinge entsprach der Beschreibung des Pathologen; eine von der Spitze bis zum Griffstück immer breiter werdende keilförmige Waffe. Über der Parierstange befanden sich zwei übereinanderliegende parallele Metallgriffe, die an jeder Seite an einer circa zwanzig Zentimeter langen weiteren Stahlstrebe befestigt waren.

Anton Holler trat neben ihn. Brock hatte ihn nicht kommen hören.

»Das ist ein Kattar, ein indischer Faustdolch. Die Faust umfasst die beiden Griffstangen, während die seitlichen Streben dem Schutz der Hand und des Armes dienen. Damit wird der Dolch zu einer Verlängerung des Unterarms, und es können sehr starke Stöße damit ausgeführt werden. Diese Waffen wurden in Indien jahrhundertelang benutzt. Wenn Sie genau hinsehen, erkennen Sie, dass die Spitze etwas verdickt ist. Dadurch wurde es möglich, einen Kettenpanzer zu durchstoßen.« 

Dann wäre ein Knochen sicher kein Problem gewesen, dachte Brock und stellte sich vor, wie eine solche Stichwaffe mühelos Wirbelsäule und Rückenmark durchtrennte. 

»Ich würde mir die Waffe gern näher ansehen«, sagte Brock.

Holler ging zu seinem Schreibtisch und nahm einen kleinen Schlüssel aus einer Federschale.

»Wegen des Kleinen«, erklärte er entschuldigend und schloss die Vitrine auf.

Jeder in diesem Haus hätte also an die Waffe kommen können, registrierte Brock. 

Holler wollte in die Vitrine greifen, als Brock ihm in den Arm fiel. »Bitte nicht anfassen!«

Er zog ein Paar Baumwollhandschuhe an, die er immer bei sich trug, und hob den Faustdolch heraus. Er war schwerer als gedacht. Auf den ersten Blick war auf der Klinge nichts festzustellen. Das musste im Labor überprüft werden. Aus einer weiteren Tasche brachte er einen Beweismittelbeutel zutage und ließ die Waffe darin verschwinden.

»Sie bekommen eine Quittung«, sagte Brock.

Holler sah ihn sprachlos an.

»Gibt es irgendeinen Zusammenhang mit dem Mord an meinem Sohn?«, fragte er schließlich mit brüchiger Stimme.

Brock ging auf die Frage nicht ein. »War der Dolch die ganze Zeit über in der Vitrine oder wurde er von jemandem herausgenommen?«

Holler schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Ich überprüfe die Vitrine nicht jeden Tag.«

»Lassen Sie uns setzen. Ich habe noch ein paar Fragen.« Brock schob den Reeder zu einem der Sessel.

Holler schien geschockt von der Vorstellung, dass eine seiner seltenen Waffen möglicherweise zur Mordwaffe geworden war.

»Erzählen Sie mir doch ein wenig von Ihrem Geschäft«, versuchte Brock ihn abzulenken.