Ein Mann von Ehre - Jeffrey Archer - E-Book
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Ein Mann von Ehre E-Book

Jeffrey Archer

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Beschreibung

Adam Scott hat nie den wahren Grund erfahren, warum sein Vater unehrenhaft aus der British Army entlassen wurde – bis zu dessen Tod. Teil des übersichtlichen Erbes ist ein vergilbter Brief. Als Adam ihn öffnet, setzt er damit eine Kette tödlicher Ereignisse in Gang, die die Grundfesten der freien Welt erschüttern könnte. Adams Wissen darf auf keinen Fall in die falschen Hände gelangen. Ehe er sich’s versieht sind KGB, CIA und selbst seine eigenen Landsleuten hinter ihm her. Quer durch Europa führt die Jagd. Adam sieht die Chance gekommen, den Namen seiner Familie reinzuwaschen. Er muss nur lange genug am Leben bleibt …

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Das Buch

Adam Scott hat nie den wahren Grund erfahren, warum sein Vater unehrenhaft aus der British Army entlassen wurde – bis zu dessen Tod. Teil des übersichtlichen Erbes ist ein vergilbter Brief. Als Adam ihn öffnet, setzt er damit eine Kette tödlicher Ereignisse in Gang, die die Grundfesten der freien Welt erschüttern könnte. Adams Wissen darf auf keinen Fall in die falschen Hände gelangen. Ehe er sich’s versieht, sind KGB, CIA und selbst seine eigenen Landsleuten hinter ihm her. Quer durch Europa führt die Jagd. Adam sieht die Chance gekommen, den Namen seiner Familie reinzuwaschen. Er muss nur lange genug am Leben bleibt …

Der Autor

Jeffrey Archer, geboren 1940 in London, verbrachte seine Kindheit in Weston-super-Mare und studierte in Oxford. Archer schlug zunächst eine bewegte Politiker-Karriere ein. Weltberühmt wurde er als Schriftsteller, »Kain und Abel« war sein Durchbruch. Mittlerweile zählt Jeffrey Archer zu den erfolgreichsten Autoren Englands. Seine historischen Reihen »Die Clifton-Saga« und »Die Warwick-Saga« begeistern eine stetig wachsende Leserschar. Archer ist verheiratet, hat zwei Söhne und lebt in London, Cambridge und auf Mallorca.

JEFFREY ARCHER

Ein Mann von Ehre

Roman

Aus dem Englischen von Heinrich Rast

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Originalausgabe A MATTEROFHONOUR erschien erstmals 1986 bei Hodder and Stoughton Ltd. Erstmals im Deutschen erschienen 1987 bei Paul Zsolnay Verlag WienDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Neuausgabe 12/2023

Copyright © 1986 by Jeffrey Archer

Copyright © 1987 der deutschsprachigen Ausgabe by Paul Zsolnay Verlag Wien

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Thomas Brill

Umschlaggestaltung: DASILLUSTRAT, München unter Verwendung von Motiven von Sven Hansche / Shutterstock.com und Sam Edwards / iStockphoto

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-21795-2V001

www.heyne.de

Für Will

Erster Teil

Kreml, Moskau19. Mai 1966

1

Kreml, Moskau

19. Mai 1966

»Es ist eine Fälschung!«, sagte der russische Parteichef, ohne den Blick von dem exquisiten kleinen Gemälde zu wenden, das er in der Hand hielt.

»Unmöglich«, erwiderte sein Kollege vom Politbüro. »Die Zaren-Ikone vom heiligen Georg mit dem Drachen hängt seit mehr als fünfzig Jahren unter strengster Bewachung im Winterpalast in Leningrad!«

»Sehr richtig, Genosse Zaborski. Nur haben wir eben seit fünfzig Jahren eine Fälschung bewacht. Allem Anschein nach hatte der Zar das Original schon längst weggeschafft, als die Rote Armee in Sankt Petersburg einmarschiert ist und den Winterpalast stürmte.«

Der Chef des Staatssicherheitsdienstes rutschte nervös auf seinem Stuhl herum, während das Katz-und-Maus-Spiel weiterging. Nach all den Jahren an der Spitze des KGB hatte Zaborski auf der Stelle erfasst, wem diesmal die Rolle der Maus zufiel, als um vier Uhr morgens das Telefon geklingelt hatte und ihm ausgerichtet worden war, der Generalsekretär fordere ihn dringend auf, sich bei ihm im Kreml zu melden – und zwar sofort.

»Wie können Sie so sicher sein, dass es eine Fälschung ist, Leonid Iljitsch?«, erkundigte sich der zwergenhaft kleine Mann.

»Weil, mein lieber Zaborski, während der letzten achtzehn Monate das Alter sämtlicher Kunstschätze im Winterpalast mit Hilfe der Radiokarbonmethode bestimmt worden ist; und dieses wissenschaftliche Verfahren macht jedes weitere Gutachten unnötig.« Genüsslich breitete Breschnew sein neu erworbenes Wissen vor dem Kollegen aus. »Und dabei stellte sich heraus, dass dieses Bild, das wir für eines der Meisterwerke unserer Nation hielten, fünfhundert Jahre später als Rubljews Original gemalt worden ist.«

»Aber von wem und zu welchem Zweck?«, fragte der Vorsitzende des Staatssicherheitsdienstes ungläubig.

»Von den Experten höre ich, dass es sich wahrscheinlich um die Arbeit eines Hofmalers handelt«, erklärte der sowjetische Parteichef, »der nur wenige Monate vor der Revolution den Auftrag erhalten hatte, die Kopie anzufertigen. Es hat den Kustos des Winterpalastes schon immer beunruhigt, dass bei diesem Bild die traditionelle Silberkrone des Zaren fehlt, die bei allen anderen Meisterwerken auf der Rückseite des Rahmens angebracht war«, fügte Breschnew hinzu.

»Ich habe angenommen, dass die Silberkrone von irgendeinem Souvenirjäger entfernt wurde, noch bevor wir in Sankt Petersburg einmarschiert sind.«

»Nein«, bemerkte der Generalsekretär trocken. Nach jedem Satz hoben sich seine buschigen Augenbrauen. »Nicht die Silberkrone des Zaren ist entfernt worden, sondern das Bild selbst.«

»Was hat der Zar dann bloß mit dem Original gemacht?«, murmelte der Vorsitzende, fast so, als richtete er die Frage an sich selbst.

»Das möchte ich auch gern wissen«, sagte Breschnew und stützte die Hände rechts und links von dem kleinen Bild auf, das noch immer vor ihm lag. »Und Sie, Genosse, sind ausersehen, die Antwort auf diese Frage zu finden.«

Zum ersten Mal wirkte der Vorsitzende des KGB verunsichert. »Aber haben Sie irgendwelche Anhaltspunkte, von denen ich ausgehen kann?«

»Sehr wenige«, gab der Generalsekretär zu. Er schlug eine Akte auf, die er aus der obersten Schublade seines Schreibtisches gezogen hatte, und fixierte die eng getippten Aufzeichnungen mit der Überschrift »Die Bedeutung der Ikone in der Geschichte Russlands«. Irgendjemand war die ganze Nacht über aufgeblieben, um einen Zehn-Seiten-Bericht zu verfassen, den der Parteichef bis jetzt nur hatte überfliegen können. Breschnew überblätterte rasch die ersten drei Seiten; sein eigentliches Interesse begann bei der vierten Seite. Er las laut vor: »›Zur Zeit der Revolution betrachtete Zar Nikolaus II. Rubljews Meisterwerk offensichtlich als einen Passierschein, der ihm den Weg in die Freiheit und in den Westen sichern sollte. Anscheinend ließ er eine Kopie anfertigen, die er an der Wand seines Arbeitszimmers zurückließ, dort, wo ursprünglich das Original gehangen hatte.‹« Der russische Parteichef blickte auf: »Davon abgesehen haben wir kaum Anhaltspunkte.«

Der Chef des KGB sah verwirrt drein. Er zerbrach sich nach wie vor den Kopf darüber, aus welchem Grund Breschnew wollte, dass der Staatssicherheitsdienst sich mit dem Diebstahl eines Kunstwerks befasste. »Und wie wichtig ist es, dass wir das Original finden?«, fragte er in dem Bemühen, einen weiteren Hinweis zu erhalten.

Leonid Breschnew blickte starr auf den KGB-Chef hinunter. »Nichts könnte wichtiger sein, Genosse«, lautete die unerwartete Antwort. »Und ich stelle Ihnen sämtliche Mittel zur Verfügung, personeller wie finanzieller Art, die Sie für nötig erachten, um die Zaren-Ikone ausfindig zu machen.«

»Aber wenn ich Sie beim Wort nehme, Genosse Generalsekretär«, stammelte der KGB-Chef und bemühte sich, seinen Unglauben zu verbergen, »gebe ich vielleicht weit mehr aus, als das Bild wert ist.«

»Das ist gar nicht möglich«, sagte Breschnew. Er legte eine kleine Pause ein, um die Wirkung der folgenden Worte zu steigern. »Weil ich nämlich nicht hinter der Ikone selbst her bin.« Er drehte dem Vorsitzenden des Staatssicherheitsdienstes den Rücken zu und blickte aus dem Fenster. Es hatte ihn schon immer gestört, dass er nicht über die Kremlmauern hinweg auf den Roten Platz sehen konnte. Er wartete noch einige Augenblicke, bevor er erklärte: »Mit dem Erlös aus dem Verkauf eines solchen Kunstwerkes hätte Zar Nikolaus nur ein paar Monate, allerhöchstens ein Jahr lang seinen gewohnten Lebensstil finanzieren können. Nein, nein, nicht die Ikone selbst, sondern das, was er – wie wir glauben – in der Ikone versteckt hatte, hätte ihm und seiner Familie Sicherheit bis ans Ende ihrer Tage garantiert.«

Auf der Fensterscheibe vor dem Generalsekretär bildete sich ein kleiner, kreisrunder Kondensfleck.

»Was um alles in der Welt könnte so viel wert sein?«, fragte der KGB-Chef.

»Erinnern Sie sich, Genosse, was der Zar einst Lenin versprach, wenn er ihn am Leben ließe?«

»Ja, aber es hat sich doch herausgestellt, dass das ein Bluff war, weil überhaupt kein Dokument in der …« Er hielt gerade noch inne, bevor er den Satz zu Ende gesprochen hatte: Weil überhaupt kein Dokument in der Ikone versteckt gewesen war.

Zaborski stand schweigend da; das triumphierende Lächeln auf Breschnews Gesicht entging ihm.

»Na, endlich ist der Groschen gefallen. Wissen Sie, Genosse, das Dokument war tatsächlich die ganze Zeit über in der Ikone verborgen; nur hatten wir die falsche Ikone.« Der russische Parteichef wartete ein Weilchen, bevor er sich umdrehte und seinem Kollegen ein Blatt Papier reichte. »Das ist die schriftliche Aussage des Zaren, in der er angibt, was wir in der Ikone vom heiligen Georg mit dem Drachen finden würden. Es wurde aber in der Ikone damals nichts gefunden – woraus Lenin folgerte, dass es sich nur um einen lächerlichen Bluff des Zaren handelte, um seine Familie vor der Hinrichtung zu retten.«

Zaborski las mit Bedacht die handgeschriebene Aussage durch, die der Zar wenige Stunden vor seiner Hinrichtung unterzeichnet hatte. Seine Hände begannen zu zittern, auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen, lange bevor er den letzten Absatz erreichte. Er sah zu dem kleinen Gemälde hinüber, das, kaum größer als ein Buch, noch immer mitten auf dem Schreibtisch des Parteichefs lag.

»Seit Lenins Tod«, fuhr Breschnew fort, »hat niemand der Behauptung des Zaren Glauben geschenkt. Heute aber bestehen kaum noch Zweifel, dass wir, falls wir das Original des Kunstwerks aufspüren können, auch in den Besitz des versprochenen Dokuments gelangen.«

»Und angesichts der Autorität derer, die es unterzeichnet haben, könnte niemand unseren rechtmäßigen Anspruch in Frage stellen«, sagte Zaborski.

»So ist es, Genosse Vorsitzender«, antwortete Breschnew. »Ich bin zuversichtlich, dass wir die Vereinten Nationen und den Internationalen Gerichtshof auf unserer Seite hätten, sollten uns die Amerikaner unser Recht bestreiten wollen. Ich fürchte nur eins – dass die Zeit gegen uns arbeitet.«

»Wieso?«, fragte der Vorsitzende des Staatssicherheitsdienstes.

»Werfen Sie doch mal einen Blick auf das Ablaufdatum in der Erklärung des Zaren. Dann werden Sie verstehen, wie wenig Zeit uns bleibt, unseren Teil des Abkommens zu erfüllen«, sagte Breschnew.

Zaborski blickte auf das Datum, das in der Handschrift des Zaren hingekritzelt war: 20. Juni 1966. Er reichte Breschnew das Schriftstück zurück, während ihm die Ungeheuerlichkeit der Aufgabe bewusst wurde, die ihm sein Vorgesetzter gestellt hatte.

Leonid Iljitsch Breschnew setzte seinen Monolog fort. »Wie Sie also erkennen, Genosse Zaborski, bleibt uns bis zu dem Stichtag nur ein Monat. Wenn es Ihnen jedoch gelänge festzustellen, wo die Ikone geblieben ist, könnten wir Präsident Johnsons gesamte Verteidigungsstrategie mit einem Schlag durchkreuzen. Dann wären die Vereinigten Staaten nur noch ein Bauer auf dem russischen Schachbrett.«

2

Appleshaw, England

Juni 1966

»Und meinem geliebten einzigen Sohn, Captain Adam Scott, MC, vermache ich den Betrag von fünfhundert Pfund.«

Adam hatte mit einer armseligen Erbschaft gerechnet und blieb kerzengerade sitzen, als der Anwalt über seine Lesebrille hinweg in die Runde blickte.

Der alte Advokat hinter dem riesigen Schreibtisch der Kanzlei hob den Kopf und blinzelte dem gut aussehenden jungen Mann vor ihm zu. Das machte Adam ganz nervös; er fuhr sich durch sein dichtes, schwarzes Haar. Aber Mr. Holbrookes Blick war bereits wieder zu den Papieren zurückgewandert, die vor ihm lagen.

»Und meiner geliebten Tochter Margaret Scott vermache ich den Betrag von vierhundert Pfund.« Ein leichtes Grinsen konnte Adam da nicht zurückhalten. Bis in die kleinsten Details seines letzten Willens war Vater Chauvinist geblieben.

»Dem Hampshire Country Club«, leierte Mr. Holbrooke weiter, ohne sich durch Miss Scotts relative Benachteiligung im Mindesten beeindruckt zu zeigen, »fünfundzwanzig Pfund für die Mitgliedschaft auf Lebenszeit.« Endlich bezahlt, dachte Adam. »Dem Verein Old Contemtibles fünfzehn Pfund. Und der Pfarrkirche von Appleshaw zehn Pfund.« Für die Mitgliedschaft auf Ewigkeit, dachte Adam. »Wilf Proudfoot, unserem treuen Halbtags-Gärtner, zehn Pfund; und Mrs. Mavis Cox, unserer Haushaltshilfe, fünf Pfund. Meiner geliebten Frau Susan schließlich vermache ich unser Haus und den Rest des Vermögens.«

Bei dem Satz hätte Adam am liebsten laut aufgelacht: Selbst wenn die Aktienpapiere und die Golfschläger aus der Vorkriegszeit verkauft würden, das restliche Vermögen des Vaters würde kaum mehr als nochmals tausend Pfund ausmachen.

Aber Mutter war durch und durch Soldatenfrau, sie würde bestimmt nicht klagen. Sie klagte nie. Wenn der liebe Gott selbst, und nicht der Papst in Rom, Menschen heiligspräche, gäbe es vielleicht einmal neben Maria und Elisabeth die heilige Susan aus Appleshaw.

Pa, wie Adam ihn immer nannte, hatte sein Leben lang höchste Maßstäbe gesetzt, für sich selbst und die ganze Familie. Vielleicht bewunderte Adam ihn deshalb noch immer so uneingeschränkt. Manchmal fühlte er sich beim Gedanken an das Vorbild des Vaters seltsam fehl am Platz in diesen leichtlebigen Sechzigerjahren.

In der Erwartung, dass sich die Prozedur ihrem Ende näherte, begann Adam unruhig auf seinem Stuhl herumzurutschen: Je früher sie alle diese kalte, schäbige kleine Kanzlei verließen, desto besser.

Mr. Holbrooke blickte noch einmal kurz auf und räusperte sich plötzlich so feierlich, als bliebe zu verlautbaren, wer den Goya oder die Habsburg-Diamanten geerbt hatte. Er schob die Halbbrille den Nasenrücken hoch und schaute noch einmal auf die letzten Absätze des Testaments seines verstorbenen Klienten. Die drei überlebenden Mitglieder der Familie Scott saßen schweigend da. Was kann er wohl noch zu sagen haben?, fragte sich Adam.

Was auch immer es sein mochte – der Advokat hatte dieses letzte Legat offensichtlich eingehend studiert, denn er rezitierte wie ein Schauspieler, der seine Rolle kennt, und musste den Text nur ein einziges Mal zurate ziehen.

»Außerdem hinterlasse ich meinem Sohn«, Mr. Holbrooke legte eine Pause ein, »den beiliegenden Briefumschlag.« Holbrooke hielt ihn hoch. »Ich hoffe nur, dass er ihm mehr Glück bringen wird als mir. Sollte er sich entschließen, den Umschlag zu öffnen, dann nur unter der Bedingung, dass er niemals irgendeinen anderen Menschen etwas über dessen Inhalt wissen lässt.«

Adam fing den Blick seiner Schwester auf. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Offenbar war sie so verblüfft wie er. Adam schaute zu seiner Mutter hinüber; sie schien erschrocken. War es Angst oder Sorge, die sich in ihrem Gesicht spiegelte? Adam konnte sich nicht darüber klar werden. Wortlos überreichte Mr. Holbrooke dem einzigen Sohn des Colonels den vergilbten Briefumschlag.

Alle blieben sitzen; niemand wusste so recht, was zu tun war. Endlich schloss Mr. Holbrooke die dünne Mappe mit der Aufschrift »Colonel Gerald Scott, DSO, OBE, MC«, schob seinen Stuhl zurück und trat langsam auf die Witwe zu. Er schüttelte ihr die Hand, und sie sagte: »Vielen Dank« – eine, wie Adam fand, eher lächerliche Artigkeit, denn wirklich verdient hatte an der ganzen Transaktion eigentlich nur Mr. Holbrooke im Namen der Anwaltskanzlei Holbrooke, Holbrooke & Gascoigne. Adam stand auf und stellte sich neben seine Mutter.

»Kommen Sie mit zu uns zum Tee, Mr. Holbrooke?«, fragte sie.

»Das wird mir leider nicht möglich sein, verehrte gnädige Frau …«, hob der Anwalt an. Adam hörte einfach nicht weiter zu: Das Honorar war Holbrooke wohl nicht hoch genug, um auch noch die Zeit zu opfern, die mit einer Einladung zum Tee verbunden gewesen wäre.

Sie verließen die Kanzlei. Sobald Adam seine Mutter und Schwester bequem im Fond des kleinen Morris Minor sitzen sah, klemmte er sich hinter das Lenkrad. Er hatte unmittelbar vor Mr. Holbrookes Kanzlei geparkt, mitten auf der Hauptstraße; in den Straßen von Appleshaw gab es keine gelben Randstreifen mit Halteverbot – noch nicht, dachte Adam. Er hatte kaum die Zündung angelassen, als seine Mutter nüchtern feststellte: »Von dem Wagen werden wir uns auch trennen müssen, weißt du. Bei den heutigen Benzinpreisen kann ich mir Autofahren nicht mehr leisten.«

»Darüber sollten wir uns ein andermal Gedanken machen«, meinte Margaret tröstend, aber ihr Tonfall gab zu erkennen, dass sie ihrer Mutter recht gab. Sie wandte sich, um rasch das Thema zu wechseln, an Adam: »Ich frage mich bloß, was in dem Briefumschlag ist.«

»Zweifellos detaillierte Instruktionen, wie ich meine fünfhundert Pfund anlegen soll«, sagte er scherzend, um die Stimmung zu heben.

»Sei nicht so respektlos gegenüber dem Toten«, tadelte ihn seine Mutter mit dem gleichen ängstlichen Gesichtsausdruck wie zuletzt in der Anwaltskanzlei. »Ich habe euren Vater angefleht, diesen Umschlag zu vernichten«, fuhr sie plötzlich fast flüsternd fort.

Adam spitzte die Lippen, als ihm aufging, dass es sich offenbar um den Briefumschlag handelte – das Kuvert, auf das sein Vater damals, vor vielen Jahren, angespielt hatte, als Adam Zeuge der einzigen Auseinandersetzung zwischen seinen Eltern geworden war, die er jemals erlebt hatte. An die erhobene Stimme und die zornigen Worte des Vaters konnte er sich allzu gut erinnern; es war wenige Tage nach seiner Rückkehr aus Deutschland gewesen.

»Ich muss ihn aber öffnen! Siehst du das denn nicht ein?«, hatte Pa mit Nachdruck erklärt.

»Niemals«, hatte die Mutter erwidert. »Nach all den Opfern, die ich dir gebracht habe, bist du mir wenigstens das schuldig.«

Seit der Auseinandersetzung waren über zwanzig Jahre vergangen, und das Thema war nie wieder berührt worden. Er selbst hatte den Vorfall nur ein einziges Mal im Gespräch mit seiner Schwester erwähnt, aber auch sie hatte über den Anlass der elterlichen Auseinandersetzung nicht das Mindeste gewusst.

Adam trat bei der T-förmigen Kreuzung am Ende der Hauptstraße auf die Bremse. Er bog rechts ab, ließ das Dorf hinter sich zurück und fuhr etwa zwei Kilometer weiter über eine kurvenreiche Landstraße, bis er anhielt, aus dem Wagen sprang und das Gittertor aufstieß, hinter dem durch gepflegten Rasen ein Weg zu einem kleinen, strohgedeckten Haus führte.

»Solltest du nicht nach London zurückkehren?«, erkundigte sich seine Mutter, kaum dass sie das Wohnzimmer betreten hatten.

»Ich habe keine Eile, Mutter. Da gibt es nichts, was nicht bis morgen warten könnte.«

»Ganz wie du willst, mein Lieber. Nur brauchst du dir um mich keine Gedanken zu machen«, versicherte sie ihm. Sie schaute zu dem hochgewachsenen jungen Mann auf, der sie so unglaublich an Gerald erinnerte. Vom leichten Knick der Nase einmal abgesehen, war er seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten – das gleiche dunkle Haar, die gleichen tiefbraunen Augen, das gleiche offene, ehrliche Gesicht, er hatte sogar die gleiche freundliche Art gegenüber jedem Menschen, mit dem er zu tun hatte. Vor allem aber verbanden sie die gleichen hohen moralischen Ideale – die Ideale, denen sie ihre momentane betrübliche finanzielle Lage zu verdanken hatten. »Außerdem habe ich ja Margaret, die sich um mich kümmert.«

Adam drehte sich nach seiner Schwester um; er überlegte, wie sie mit der heiligen Susanna von Appleshaw jetzt wohl zurechtkommen würde.

Margaret hatte sich vor Kurzem mit einem Börsenmakler aus der City verlobt; die Hochzeit war wegen des Trauerfalls zwar verschoben worden, doch Margaret würde gewiss bald ihr eigenes Leben führen wollen. Das Häuschen, das ihr Verlobter sich mit einer ersten Anzahlung gesichert hatte, lag Gott sei Dank nur fünfundzwanzig Kilometer von Appleshaw entfernt.

Nach dem Tee und einem langen traurigen Monolog der Mutter über die Tugenden ihres leidgeprüften Mannes räumte Margaret das Geschirr fort und ließ Mutter und Sohn allein. Sie hatten ihn – jeder auf seine Weise – sehr geliebt; Adam litt unter dem bedrückenden Gefühl, Pa nie deutlich gezeigt zu haben, welche Hochachtung er für ihn empfand.

»Ich hoffe nur, dass du eine gute Stellung finden wirst – nachdem du die Offizierslaufbahn aufgegeben hast«, sagte Adams Mutter leicht nervös, weil sie sich erinnerte, welche Schwierigkeiten ihr Mann nach dem Abschied vom Militär gehabt hatte.

»Es wird schon wieder alles werden, Mutter«, antwortete er. »Das Foreign Office hat mich zu einem zweiten Bewerbungsgespräch eingeladen«, fügte er hinzu, in der Hoffnung, sie damit beruhigen zu können.

»Nun ja, mit den fünfhundert Pfund, die du geerbt hast, stehst du ja vielleicht nicht mehr gar so unter Druck«, meinte sie. Adam warf ihr ein liebevolles Lächeln zu. Wann hatte sie wohl das letzte Mal einen Tag in London verbracht? Allein sein Beitrag für die Miete der Wohnung in Chelsea betrug vier Pfund pro Woche, und ab und zu musste er ja auch mal essen. Sie sagte mit einem Blick zur Uhr auf dem Kaminsims: »Du solltest dich wirklich auf den Weg machen, mein Lieber. Wenn ich daran denke, dass du mit dem Motorrad im Dunkeln unterwegs sein könntest, werde ich ganz unruhig.«

Adam gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich rufe dich morgen an«, versprach er. Auf dem Weg zur Haustür steckte er den Kopf in die Küche und rief seiner Schwester zu: »Ich gehe jetzt. Den Scheck über fünfzig Pfund schicke ich dir.«

»Wieso?«, fragte Margaret und blickte erstaunt vom Spülbecken auf.

»Nimm’s als meinen Beitrag zur Gleichberechtigung der Frau.« Er konnte die Küchentür gerade noch rechtzeitig zuknallen, um dem Geschirrtuch zu entkommen, das auf ihn zuflog.

Adam brachte seine BSA auf Touren und fuhr die A 303 hinunter, durch Andover weiter in Richtung London. Da um diese Tageszeit der Verkehr im Londoner Umkreis hauptsächlich stadtauswärts nach Westen floss, würde er für den Rückweg zur Wohnung in der Ifield Road relativ wenig Zeit brauchen.

Adam hatte sich entschlossen, den Briefumschlag erst in der Abgeschiedenheit seines Zimmers zu öffnen. So aufregend war sein Leben in letzter Zeit nicht gewesen, um auf einen kleinen feierlichen Akt zu verzichten. Und er hatte schließlich gewissermaßen den größten Teil seines Lebens darauf gewartet, das Geheimnis des Briefumschlags zu erfahren, den er nun geerbt hatte.

Die Geschichte der Familientragödie hatte Adam von seinem Vater oft genug gehört – »Es geht eben darum, ob du ein Mann von Ehre bist oder nicht«, hatte er jedes Mal zum Schluss gesagt und das Kinn vorgereckt und die Schultern gestrafft. Ihm hatten fast sein ganzes Leben lang verächtliche Bemerkungen von Männern, die ihm nicht das Wasser reichen konnten, und Seitenblicke von Offizieren gegolten, die sorgsamst darauf bedacht waren, möglichst selten mit ihm zusammen gesehen zu werden. Miese Kerle mit miesem Charakter: Adam hatte seinen Vater viel zu gut gekannt, um es für möglich zu halten, dass an dem Verdacht des ungeheuerlichen Verrats, von dem gemunkelt wurde, auch nur das Geringste dran sein konnte. Adam fühlte mit einer Hand nach dem Brief in der Innentasche seiner Jacke – wie ein kleiner Junge, der am Tag vor seinem Geburtstag das Päckchen abtastet, um an der Form den Inhalt des Geschenks zu erraten. Was immer in dem Umschlag stecken mochte – Adam war fest davon überzeugt, dass es jetzt nach Vaters Tod niemandem etwas bringen würde, aber deswegen ließ seine Neugierde nicht nach.

Was er im Lauf der Jahre an genauen Tatsachen erfahren hatte, war wenig genug: Ein Jahr vor seinem fünfzigsten Geburtstag hatte Vater 1946 sein Abschiedsgesuch eingereicht. Die Times hatte Pa als brillanten Taktiker gewürdigt, der im Krieg höchste Tapferkeit bewiesen habe: Sein Abschied sei eine persönliche Entscheidung, die den Korrespondenten der Times überrascht, seine nächsten Angehörigen erstaunt, sein Regiment schockiert hatte; alle, die ihn kannten, hatten erwartet, dass er innerhalb weniger Monate zum General befördert worden wäre.

Weil der Colonel sein Regiment so plötzlich und ohne Erklärung verlassen hatte, kamen bald Geschichten auf, die absonderlichsten Gerüchte schossen ins Kraut. Der Colonel erklärte auf Fragen lediglich, er habe genug vom Krieg, es sei an der Zeit, endlich mal, bevor es zu spät sei, Geld zu verdienen, damit seine Frau und er für den Lebensabend versorgt seien. Damals schon stießen solche Aussagen meist auf Skepsis; und ihre Glaubwürdigkeit wurde nicht eben dadurch erhärtet, dass der Colonel es nur zum Geschäftsführer des lokalen Golfclubs und sonst zu nichts brachte.

Nur dank der Großzügigkeit seines inzwischen verstorbenen Großvaters, des Generals Sir Pelham Westlake, hatte Adam auf dem berühmten Internat Wellington College bleiben und der Familientradition entsprechend eine militärische Laufbahn einschlagen können.

Nach erfolgreichem Schulabschluss bekam Adam einen Platz an der Königlichen Militärakademie in Sandhurst, wo er sich mit großem Fleiß dem Studium der Militärgeschichte, Taktik und Strategie widmete. An den Wochenenden stürzte er sich in den Sport – auf Rugby und Squash; am erfolgreichsten war er allerdings bei diversen Rennwettkämpfen querfeldein. Zwei Jahre lang sahen die keuchenden Kadetten von Cromwell und Dartmouth ihn immer nur lehmbespritzt von hinten; Adam wurde am Ende sogar Sieger bei den Militärmeisterschaften in dieser Disziplin. Er wurde auch Sieger im Mittelgewicht, obwohl ihm in der ersten Runde des Finales ein nigerianischer Kadett das Nasenbein brach; der Nigerianer machte nur den Fehler, den Boxkampf danach bereits für gewonnen zu halten.

Adam verließ Sandhurst 1956 als neuntbester Absolvent, wurde aber – was niemanden überraschte – wegen seiner Führungseigenschaften und seines vorbildlichen Verhaltens außerhalb des Hörsaals mit dem Sword of Honour ausgezeichnet. Von dem Zeitpunkt an war Adam fest überzeugt, dass er in die Fußstapfen seines Vaters treten und eines Tages das Kommando des Regiments übernehmen würde.

Das Royal-Wessex-Regiment nahm den Sohn seines früheren Chefs auf, sobald dieser das Offizierspatent erhalten hatte. Von den Soldaten wurde Adam bald hoch geschätzt; bei den Offizieren, die sich nicht um Gerüchte kümmerten, war er beliebt. Bei den Übungen im Feld war niemand ein so fähiger Taktiker wie er, und bei den ersten Fronteinsätzen zeigte sich sofort, dass er vom Vater auch die Tapferkeit geerbt hatte. Doch als das Kriegsministerium sechs Jahre später in der London Gazette die Namen der Subalternoffiziere veröffentlichte, die zum Captain befördert wurden, befand sich kein Lieutenant Scott auf der Liste. Seine Altersgenossen waren überrascht, die älteren Offiziere des Regiments hüllten sich in Schweigen. Und schließlich musste Adam sich eingestehen, dass es ihm nicht gestattet werden würde wiedergutzumachen, was seinem Vater vorgeworfen worden war – was auch immer es gewesen sein mochte.

Zum Captain wurde Adam erst befördert, nachdem er sich im malaiischen Dschungel beim Nahkampf gegen die unaufhörlichen Angriffswellen chinesischer Soldaten hervorgetan hatte. Dann nahmen ihn die Kommunisten gefangen und steckten ihn in ein Lager, wo er Einsamkeit und Qualen von einer Grausamkeit durchlitt, auf die ihn die gründlichste Ausbildung nicht hätte vorbereiten können. Acht Monate später gelang ihm die Flucht – bei der Rückkehr zur Front erfuhr er, dass ihm »posthum« die höchste Tapferkeitsauszeichnung verliehen worden war. Als Captain Scott im Alter von neunundzwanzig Jahren sein Stabsexamen ablegte, anschließend aber an der Generalstabsakademie nicht aufgenommen wurde, gab er endgültig jede Hoffnung auf, einmal Regimentskommandeur zu werden. Er reichte einige Wochen danach seinen Abschied ein; Erklärungen, er habe diesen Schritt getan, um mehr Geld zu verdienen, hätte ihm aber auch niemand abgenommen.

Adam diente seine letzten Monate beim Regiment ab, als seine Mutter ihm mitteilte, der Vater habe nur noch wenige Wochen zu leben. Adam beschloss, ihm seinen Abschied vom Militär zu verschweigen; er wusste, dass Pa nur sich selbst die Schuld dafür gegeben hätte. Und so hatte der Vater nun wenigstens sterben können, ohne erfahren zu müssen, wie sehr noch das Leben seines Sohnes von dem geheimnisvollen Stigma geprägt war.

Beim Erreichen der Londoner Vororte musste Adam, wie so oft in letzter Zeit, erneut an die drängende Frage denken, wie er eine gut bezahlte Arbeit finden sollte. Seit sieben Wochen war er arbeitslos, doch in dieser Zeit hatte er häufiger mit dem Filialleiter seiner Bank als mit potenziellen Arbeitgebern gesprochen. Sicher, das Foreign Office hatte ihn zu einem zweiten Vorstellungsgespräch gebeten; aber die Mitbewerber, die er beim ersten Termin kennengelernt hatte, waren beeindruckende Leute, und im Unterschied zu ihnen hatte er kein Universitätsstudium vorzuweisen. Trotzdem schien ihm das erste Gespräch recht günstig verlaufen zu sein, und er war sogar bald darauf hingewiesen worden, das Foreign Office habe schon viele ehemalige Offiziere übernommen. Als Adam am Vorsitzenden des Auswahlkomitees dann auch noch das Abzeichen eines hohen Ordens für militärische Tapferkeit auffiel, kam ihm die Vermutung, dass er vielleicht gar nicht für eine Schreibtischtätigkeit in Betracht gezogen wurde.

Adam tastete noch einmal nach dem Brief in der Innentasche seines Jacketts, als er mit seinem Motorrad in die King’s Road einbog, und ertappte sich bei dem lieblosen Wunsch: Hoffentlich ist Lawrence noch nicht von der Arbeit in seiner Bank zurück. Nicht, dass Adam sich hätte irgendwie beklagen können, im Gegenteil: Es war außerordentlich großzügig von seinem alten Schulfreund gewesen, ihm in seiner geräumigen Wohnung für nur vier Pfund pro Woche ein so nettes Zimmer unterzuvermieten.

»Du kannst mir ja mehr zahlen, wenn du erst einmal Botschafter bist«, hatte Lawrence gesagt.

»Du redest schon wie ein Mietwucherer«, hatte Adam erwidert und den Mann, den er während der gemeinsamen Schulzeit auf dem Wellington College bewundert hatte, breit angegrinst. Lawrence war so ganz anders als er, denn ihm schien alles nur so zuzufliegen: gute Examen, Jobs, sportliche Erfolge und Frauen – Frauen ganz besonders. Es hatte niemanden überrascht, als er einen Studienplatz am Balliol College in Oxford bekommen und sein Studium der Politik- und Wirtschaftswissenschaften dann mit Auszeichnung abgeschlossen hatte. Als Lawrence anschließend eine Stellung in einer Bank annahm, blieb freilich allen fast die Spucke weg. Es war das erste Mal, so kam es jedenfalls allen vor, dass Lawrence sich auf etwas einließ, das eigentlich unter seinem Niveau lag.

Adam stellte sein Motorrad in unmittelbarer Nähe zur Ifield Road ab. Er würde es verkaufen müssen, falls er die Position im Foreign Office nicht bekommen sollte – so wie seine Mutter ihr Auto verkaufen musste. Auf dem Weg nach Hause warf ihm ein Mädchen beim Vorübergehen einen interessierten Blick zu; er bemerkte es nicht einmal. Auf der Treppe nahm er drei Stufen auf einmal, erreichte im Nu den fünften Stock, und als er den Schlüssel ins Schloss steckte, rief von drinnen eine Stimme: »Die Tür ist doch nur eingeklinkt!«

»Mist!«, brummte Adam leise.

»Wie war’s?«, wollte Lawrence wissen, als Adam ins Wohnzimmer trat.

»In Anbetracht der Umstände ganz erträglich«, antwortete Adam, dem nichts einfiel, was er sonst noch hätte sagen können. Er lächelte verlegen. Lawrence hatte seine Banker-Montur bereits ausgezogen. Er trug Blazer und Flanellhose. Ein wenig kleiner und gedrungener als Adam, mit drahtigem blondem Haar und einer mächtigen, gewölbten Stirn, schien er mit seinen grauen, prüfenden Augen jede Situation gleich zu erfassen.

»Ich habe deinen Vater bewundert«, sagte Lawrence. »Er hat alle Menschen so behandelt, als ob sie ihm ebenbürtig wären.« Adam konnte sich noch genau erinnern, wie nervös er gewesen war, als er Lawrence auf einem Elternsprechtag im Wellington College seinem Vater vorgestellt hatte; doch die beiden hatten sich sofort angefreundet. Lawrence hatte allerdings nie viel auf Gerüchte gegeben.

»Mit deiner Erbschaft kannst du jetzt wahrscheinlich Privatier werden«, meinte Lawrence dann in etwas leichterem Ton.

»Nur wenn die fragwürdige Bank, bei der du arbeitest, innerhalb weniger Tage aus fünfhundert fünftausend Pfund machen kann.«

»Zurzeit ist das eher schwierig – Harold Wilson hat doch gerade erst verkündet, dass Löhne wie Preise eingefroren werden sollen.«

Adam schaute mit einem Lächeln hinüber. Obwohl er inzwischen über Lawrence hinausgewachsen war, erinnerte er sich noch gut an die Zeit, als sein Freund ihm wie ein Riese vorgekommen war.

»Schon wieder zu spät, Scott«, pflegte Lawrence zu sagen, wenn Adam im Korridor der Schule an ihm vorbeihastete, und Adam hatte den Tag herbeigesehnt, an dem auch er einmal alles so locker und überlegen im Griff haben würde. Oder war Lawrence einfach von Natur aus so perfekt? Seine Anzüge wirkten stets frisch gebügelt, seine Schuhe frisch gewienert, sein Haar war nie unordentlich. Und dabei machte er den Eindruck, als koste ihn das keinerlei Mühe. Adam konnte es nicht begreifen, wie Lawrence das schaffte.

Adam hörte die Badezimmertür aufgehen. Er warf Lawrence einen fragenden Blick zu.

»Das ist Carolyn«, flüsterte Lawrence. »Sie wird über Nacht bleiben … glaube ich.«

Eine hochgewachsene, schöne Frau trat ein, der Adam ein schüchternes Lächeln zuwarf. Das lange, blonde Haar wippte ihr auf den Schultern; was jeden Mann schwach machen musste, war jedoch ihre Figur. Wie machte Lawrence das bloß?

»Hättest du nicht Lust, mit uns essen zu gehen?«, fragte Lawrence, während er einen Arm um Carolyns Schultern legte, eine Spur zu begeistert. »Ich habe da ein neues italienisches Restaurant an der Fulham Road entdeckt. Es hat kürzlich erst eröffnet.«

»Vielleicht komme ich später nach«, meinte Adam. »Ich muss mir erst noch ein paar Dokumente von heute Nachmittag ansehen.«

»Ach, halt dich doch nicht mit unbedeutenden Details deiner Erbschaft auf. Komm mit und gib alles bei einer Spaghettischlacht aus.«

»Oh, là, là, Sie haben einen Haufen Pinkepinke geerbt?«, fragte Carolyn mit hoher, schriller Stimme. Es hätte wohl niemanden überrascht zu erfahren, dass sie gerade zur Debütantin des Jahres gewählt worden war.

»Halb so wild«, entgegnete Adam. »Beim Minus auf meinem Konto bleibt gar nicht viel übrig.«

Lawrence lachte. »Na schön, du kannst ja nachkommen, wenn du ausgerechnet hast, dass es für einen Teller Spaghetti reicht.« Er zwinkerte Adam zu – der übliche Wink: Sieh zu, dass du nicht in der Wohnung bist, wenn wir zurückkommen; oder bleib wenigstens auf deinem Zimmer und tu so, als würdest du schlafen.

»Ja, kommen Sie doch nach«, gurrte Carolyn; es klang ganz so, als meinte sie es wirklich. Der Blick ihrer haselnussbraunen Augen blieb an Adam haften, als Lawrence sie entschlossen zur Tür führte.

Adam verharrte regungslos, bis Carolyns durchdringende Stimme nicht mehr vom Treppenhaus zu hören war. Erst dann zog er sich zufrieden in sein Zimmer zurück und sperrte sich ein. Er ließ sich in den einzigen bequemen Sessel fallen, den er besaß, und zog den Umschlag, den ihm sein Vater hinterlassen hatte, aus der Brusttasche. Das Kuvert gehörte zu jener schweren, teuren Sorte Briefpapier, das Pa immer verwendet hatte und bei Smythson in der Bond Street zu kaufen pflegte – fast zum doppelten Preis, den er im nächstgelegenen Laden der W.-H.-Smith-Kette gezahlt hätte. »Captain Adam Scott, MC«, stand in der sauberen wie gestochenen Handschrift seines Vaters auf dem Umschlag.

Behutsam öffnete Adam das Kuvert. Ihm zitterte leicht die Hand, als er einen Brief in der unverkennbaren Handschrift des Vaters und ein zweites, kleineres Kuvert herausnahm. Es war offensichtlich älteren Datums; das Papier war vergilbt und in einer ihm unbekannten Schrift, in verblasster Tinte von undefinierbarer Farbe, an »Colonel Gerald Scott« adressiert. Adam legte es neben sich auf das kleine Tischchen, entfaltete den Brief seines Vaters und begann zu lesen. Der Brief war undatiert.

Mein lieber Adam!

Im Laufe der Jahre wirst Du viele Erklärungen für meinen plötzlichen Abschied vom Regiment gehört haben. Die meisten waren sicherlich absurd und einige verleumderisch, aber im Interesse aller Beteiligten habe ich es vorgezogen, meine Meinung für mich zu behalten. Doch glaube ich, Dir eine ausführliche Erklärung zu schulden, und dazu soll dieser Brief dienen. Wie Du weißt, war ich vom Februar 1945 bis Oktober 1946 – unmittelbar vor meinem Abschied vom Dienst – in Nürnberg stationiert. Nach vierjährigem, fast ununterbrochenem Fronteinsatz war mir das Kommando über jene britische Abteilung übertragen worden, in deren Aufgabenbereich die Bewachung der hohen Nazis fiel, die auf ihren Kriegsverbrecherprozess warteten. Die Gesamtverantwortung lag bei den Amerikanern, aber ich lernte die Gefangenen doch recht gut kennen, und nach etwa einem Jahr konnte ich einige von ihnen sogar ertragen – vor allem Heß, Dönitz und Speer. Ich habe oft darüber nachgedacht, wie die Deutschen wohl uns behandelt hätten, wenn die Sache anders ausgegangen wäre. Solche Überlegungen waren damals verpönt. All jene, die sich noch nie viel Gedanken gemacht hatten, kamen immer gleich mit dem Vorwurf der »Fraternisierung«.

Unter den hohen Nazis, mit denen ich täglich Kontakt hatte, befand sich auch Reichsmarschall Göring, den ich jedoch im Unterschied zu den drei vorhin Erwähnten von Anfang an verabscheute. Ich fand ihn arrogant, hochfahrend, und er schien sich für die Barbarei, die er im Namen des Krieges begangen hatte, nicht im Mindesten zu schämen. Er gab mir übrigens auch kein einziges Mal Anlass, meine Meinung über ihn zu ändern. Manchmal wunderte ich mich, wie ich in seiner Gegenwart die Selbstbeherrschung zu wahren vermochte.

Am Abend vor seiner Hinrichtung bat Göring mich um eine persönliche Unterredung. Es war ein Montag, und ich kann mich an jedes Detail erinnern, als hätte das Gespräch erst gestern stattgefunden. Sein Gesuch wurde mir übermittelt, als ich die Wache von den Russen übernahm – ihr verantwortlicher Offizier war Major Wladimir Koski; Koski übergab mir das Schreiben persönlich. Sobald ich die Wachmannschaft inspiziert und den üblichen Papierkram erledigt hatte, suchte ich den Reichsmarschall zusammen mit dem diensthabenden Korporal in seiner Zelle auf. Göring stand stramm neben seinem kleinen, niedrigen Bett und salutierte, als ich eintrat. Beim Anblick der kargen Zelle mit den grau gestrichenen Ziegelwänden schauderte mir jedes Mal.

»Sie haben um meinen Besuch gebeten?«, fragte ich. Ich konnte es nie über mich bringen, ihn mit Rang und Namen anzureden.

»Ja«, antwortete er. »Nett von Ihnen, dass Sie gekommen sind, Colonel. Ich möchte nur meinen letzten Wunsch äußern – den Wunsch eines Mannes, der zum Tode verurteilt worden ist. Könnte der Korporal uns wohl einen Augenblick allein lassen?«

Da ich annahm, dass es sich um eine intime Angelegenheit handelte, bat ich den Korporal, draußen zu warten. Ich muss gestehen, ich hatte nicht die geringste Ahnung, was jemand, der nur noch wenige Stunden zu leben hatte, auf dem Herzen haben konnte. Als die Tür wieder geschlossen war, salutierte Göring noch einmal und überreichte mir den Briefumschlag, der sich jetzt in Deinem Besitz befindet. Er sagte nur: »Seien Sie so gut und öffnen Sie ihn erst morgen nach meiner Hinrichtung.« Und er fügte noch hinzu: »Ich kann nur hoffen, dass es Sie für jegliche Vorwürfe entschädigen wird, die Ihnen später gemacht werden könnten.« Ich konnte damals nicht wissen, worauf er anspielte; ich vermutete, dass er seelisch irgendwie die Fassung verloren hatte. In den letzten Tagen ihres Lebens hatten sich mir viele Gefangene anvertraut; und einige standen eindeutig am Rande des Wahnsinns.

Adam hielt inne, um darüber nachzudenken, wie er sich unter solchen Umständen verhalten hätte. Er beschloss weiterzulesen; er wollte sehen, ob sein Vater gehandelt hatte, wie er es sich vorstellte.

Allerdings klangen die letzten Worte, die Göring dann noch an mich richtete, kaum wie die eines Verrückten. Er sagte schlicht: »Seien Sie versichert: Es ist ein Meisterwerk. Sie sollten seinen Wert auf keinen Fall unterschätzen.« Er zündete sich eine Zigarre an, genauso wie jemand, der es sich nach einem guten Essen im Club gemütlich macht. Jeder von uns hatte seine eigene Theorie darüber, wer ihm die Zigarren hineinschmuggelte. Wir fragten uns auch, was wohl von Zeit zu Zeit hinausgeschmuggelt worden war.

Ich steckte den Brief in meine Rocktasche und trat zu dem Korporal auf den Korridor hinaus. Gemeinsam kontrollierten wir anschließend die anderen Zellen, um uns zu vergewissern, dass alle Gefangenen auch in dieser Nacht sicher hinter Schloss und Riegel saßen. Nach der Inspektion kehrte ich in mein Büro zurück. Da ich überzeugt war, dass weiter nichts Dringendes zu erledigen war, machte ich mich daran, meinen Tagesrapport zu schreiben. Den Briefumschlag behielt ich in der Tasche meiner Uniformjacke, mit dem festen Vorsatz, ihn gleich nach Görings Hinrichtung am nächsten Morgen zu öffnen.

Ich prüfte eben noch einmal die Tagesbefehle, als der Korporal ohne anzuklopfen zu mir ins Zimmer stürzte. »Göring, Sir, Göring!«, schrie er völlig außer sich. Das panische Entsetzen, das ihm ins Gesicht geschrieben stand, ersparte mir jede Frage. Wir rannten zur Zelle des Reichsmarschalls zurück.

Göring lag, das Gesicht nach unten, auf seinem Feldbett. Ich drehte ihn um. Er war bereits tot, wie ich feststellte. In dem darauffolgenden Durcheinander habe ich Görings Brief völlig vergessen. Die Autopsie, die einige Tage danach durchgeführt wurde, ergab, dass der Reichsmarschall an Gift gestorben war. Und das Gericht kam zu dem Schluss, dass die Zyankalikapsel, die in seinem Körper gefunden worden war, in einer seiner Zigarren versteckt gewesen sein musste.

Da ich Göring als Letzter, allein, ohne Zeugen gesehen hatte, reichte schon ein bisschen Getuschel, und im Zusammenhang mit seinem Tod wurde mein Name genannt. An solchen Anschuldigungen ist selbstverständlich nicht das Geringste wahr. Ich hatte nie auch nur einen Augenblick gezweifelt, dass das Nürnberger Tribunal in diesem Fall ein korrektes Urteil gefällt und dass Göring es verdient hatte, für seine Rolle im Krieg gehenkt zu werden.

Die ständigen Beschuldigungen hinter meinem Rücken – ich hätte die Zigarren eingeschmuggelt und Göring möglicherweise absichtlich zu einem leichten Tod verholfen – kränkten mich dermaßen, dass ich den einzigen ehrenhaften Ausweg aus diesem Dilemma darin sah, sofort mein Abschiedsgesuch einzureichen, um nicht weiter Schande über mein Regiment zu bringen. Als ich dann gegen Ende des Jahres nach England zurückkehrte und mich endgültig entschloss, die Uniform an den Nagel zu hängen, stieß ich wieder auf den Briefumschlag. Und als ich Deiner Mutter den genauen Hergang des Vorfalls schilderte, flehte sie mich an, das Kuvert zu vernichten; sie war der Ansicht, dass die ganze Sache unserer Familie schon genug Unheil gebracht hätte, und selbst wenn das Kuvert irgendeinen Hinweis enthielte, wer Göring zu seinem Selbstmord verholfen hatte, würde das ihrer Meinung nach auch niemandem mehr nützen. Ich erklärte mich bereit, ihren Wunsch zu erfüllen.

Obwohl ich den Brief nie geöffnet habe, brachte ich es dann aber doch nie über mich, ihn zu vernichten, da ich Görings letzte Worte mit dem Hinweis auf ein Meisterwerk nicht vergessen konnte. Und so versteckte ich den Brief schließlich zwischen meinen Personaldokumenten.

Da die vermeintlichen Sünden der Väter auch den Kindern angerechnet werden, sollten Dich, glaube ich, Bedenken dieser Art nicht beeinflussen. Wenn also irgendein Gewinn aus dem Inhalt dieses Briefes gezogen werden kann, so bitte ich Dich nur um eines, nämlich dass vor allem Deine Mutter davon profitieren soll; in dem Fall darf sie jedoch niemals erfahren, woher dieser Wohlstand kommt.

Ich habe Deine Entwicklung all die Jahre hindurch mit beträchtlichem Stolz verfolgt und bin fest davon überzeugt, dass ich es Dir überlassen kann, die richtige Entscheidung zu treffen.

Solltest Du irgendwelche Zweifel hegen, ob Du den Briefumschlag öffnen sollst oder nicht, so vernichte ihn, ohne lange zu überlegen. Solltest Du ihn aber öffnen und erfahren, dass er Dich nur in eine unehrenhafte Sache verwickeln könnte, so entledige Dich seiner und verschwende keinen weiteren Gedanken daran.

Möge Gott Dir beistehen!

Dein Dich liebender Vater

Gerald Scott

Adam las den Brief ein zweites Mal und war von dem Vertrauen gerührt, das der Vater ihm entgegengebracht hatte. Ihm stockte das Herz bei dem Gedanken daran, wie das Leben des Vaters durch das ewige Getuschel und die Sticheleien kleinkarierter, missgünstiger Kollegen ruiniert worden war – derselben Männer, die auch seiner Karriere in der Armee ein verfrühtes Ende zu setzen vermocht hatten. Nach der dritten Lektüre faltete Adam den Brief ordentlich zusammen und steckte ihn wieder in den Umschlag.

Er hob das zweite Kuvert vom Tischchen. »Colonel Gerald Scott«, hatte jemand in schwungvollen, inzwischen verblassten Buchstaben quer darüber geschrieben.

Adam zog einen Kamm aus seiner Brusttasche, schob ihn in eine Ecke des Umschlags und schlitzte das Kuvert behutsam auf. Er zögerte einen Augenblick, bevor er zwei gänzlich vergilbte Blätter herausnahm. Das eine schien eine Art Dokument zu sein, das andere ein Brief mit dem Namen des Reichsmarschalls Hermann Göring unter dem Wappen des Dritten Reiches. Adams Hände begannen schon beim Lesen der ersten Zeilen zu zittern.

Sehr geehrter Herr Oberst Scott!

Der Brief war auf Deutsch verfasst.

3

Als die schwarze Tschaika-Limousine vom Spasskaja Baschnja kommend auf den Roten Platz fuhr, standen zwei Kreml-Wachtposten in Khakiuniform stramm und präsentierten das Gewehr. Ein schrilles Pfeifen ertönte; es sicherte Juri Efimowitsch Zaborski auf der Rückfahrt zum Dscherschinskij-Platz freie Fahrt.

Mit einem kräftigen Antippen der Krempe seines Filzhuts erwiderte Zaborski mechanisch den Gruß; in seinen Gedanken war er ganz woanders. Während der rumpeligen Fahrt über das Kopfsteinpflaster warf er nicht einen Blick auf die lange Menschenschlange, die sich vom Lenin-Mausoleum bis an den Rand des Roten Platzes erstreckte. Er hatte eine erste Entscheidung zu treffen, und sie war zweifelsohne auch die wichtigste: Welchem seiner führenden Mitarbeiter sollte er die Aufgabe anvertrauen, die Suche nach der Zaren-Ikone zu leiten? Sein Wagen überquerte den Roten Platz, fuhr an der grauen Fassade des GUM-Kaufhauses und die Ulica Kujbyschewa entlang, während er darüber nachdachte.

Dass überhaupt nur zwei Kandidaten in Frage kamen, hatte für den Vorsitzenden des Staatssicherheitsdienstes bereits wenige Augenblicke nach dem Abschied von seinem Vorgesetzten festgestanden. Zu schaffen machte ihm die Entscheidung, welchen von beiden er bevorzugen sollte. Waltschek oder Romanow? Unter normalen Umständen hätte er sich damit mindestens eine Woche Zeit gelassen, doch für Breschnew musste die Sache bis spätestens am 20. Juni abgeschlossen sein, und da war keine Zeit zu verlieren. Er musste seine Entscheidung treffen, bevor er sein Büro erreichte. Der Wagen fuhr unter einer weiteren grünen Ampel durch, ließ das Kultusministerium hinter sich zurück und bog in den Tscherkassij Bolschoi Perjulok mit seinen imposanten grauen Blocks ein. Er hielt sich auf der Innenspur, die eigens für hohe Parteifunktionäre reserviert war. In England, so hatte Zaborski gehört – und der Gedanke amüsierte ihn –, sei eine ähnliche Extraspur für Omnibusse in Planung.

Vor dem Hauptplatz des KGB blieb der Wagen ruckartig stehen. Es hatte Zaborski keineswegs geholfen, dass sie drei Kilometer in weniger als vier Minuten bewältigt hatten. Der Fahrer sprang aus dem Wagen, lief auf die andere Seite und öffnete für seinen Chef die hintere Tür, aber Zaborski rührte sich nicht. Der Mann, der sonst nie seine Meinung änderte, hatte diese während der Fahrt zum Dscherschinskij-Platz bereits zweimal geändert. Für die aufwendigen, mühevollen Kleinarbeiten konnte er sich auf zahllose Bürokraten und Akademiker stützen, doch er brauchte jemanden mit einem besonderen Gespür, um sie zu leiten und ihm Bericht zu erstatten.

Sein Berufsinstinkt riet ihm zu Juri Waltschek, der sich seit Jahren als verlässlicher und vertrauenswürdiger Diener des Staates bewährt hatte. Waltschek war außerdem einer der dienstältesten Abteilungschefs im KGB. Langsam, aber systematisch und zuverlässig, war er ein volles Jahrzehnt erfolgreich als Agent im Außendienst tätig gewesen, bevor er sich schließlich auf einen Schreibtischposten zurückgezogen hatte.

Alex Romanow, der erst vor Kurzem Abteilungschef geworden war, hatte dagegen im Außendienst immer wieder Ansätze zu wahrer Brillanz gezeigt, sie aber oft genug durch mangelndes persönliches Urteilsvermögen zunichtegemacht. Mit seinen neunundzwanzig Jahren war er nicht nur der Jüngste, sondern fraglos auch der Ehrgeizigste unter den Favoriten des KGB-Vorsitzenden.

Zaborski stieg aus, ging über den Gehsteig zum Tor, das bereits für ihn geöffnet worden war, und begab sich gemessenen Schrittes über den Marmorfußboden zu den Fahrstühlen. Am Lift warteten schweigend einige Männer und Frauen, die aber keine Anstalten machten, dem KGB-Vorsitzenden zu folgen, als er den kleinen Fahrkorb betrat, der ihn ruhig und langsam zu seinem Büro hinauffuhr. Wie immer musste er auch diesmal an den unvergleichlich schnelleren amerikanischen Lift denken, den er kennengelernt hatte. »Die Amis können ihre Raketen starten, bevor Sie überhaupt Ihr Büro erreichen«, hatte ihn schon sein Vorgänger gewarnt. Als im obersten Stockwerk vor ihm das Gitter hochgezogen wurde, hatte er sich entschieden: Waltschek war der richtige Mann.

Ein Sekretär half ihm aus dem langen, schwarzen Mantel und nahm ihm den Hut ab. Zaborski trat entschlossen an seinen Schreibtisch. Die zwei angeforderten Akten lagen schon für ihn bereit. Er setzte sich und begann mit der Lektüre von Waltscheks Akte. Kaum hatte er sie abgeschlossen, herrschte er seinen Sekretär an, der diensteifrig neben ihm stand: »Holen Sie Romanow.«

Genosse Romanow lag flach auf dem Rücken, den linken Arm unter dem Kopf, den Trainer und Gegner über sich, der, die Rechte an Romanows Kehle, zu einem Kniehebel ansetzte. Der Trainer führte ihn makellos aus. Romanow stöhnte, als er dumpf auf dem Boden aufschlug.

Ein Aufseher eilte auf die beiden zu und beugte sich flüsternd zum Trainer, der daraufhin widerstrebend seinen Schüler losließ. Leicht benommen richtete sich Romanow auf, verneigte sich vor seinem Lehrer, zog ihm mit einer einzigen raschen Bewegung des linken Beins und des rechten Arms urplötzlich die Beine unter dem Leib weg, sodass der Mann im Nu flach auf dem Boden der Sporthalle lag, und sauste ins Büro zum Telefon. Der Hörer lag neben dem Apparat.

Die junge Frau, die den Anruf entgegengenommen hatte und ihm den Hörer reichte, ignorierte er. »Ich bin nach dem Duschen gleich bei ihm«, hörte sie ihn nur sagen. Sie fragte sich oft, wie Romanow wohl unter der Dusche aussähe. Wie alle jungen Frauen im Büro hatte sie ihn im Turnsaal immer wieder bewundert. Über ein Meter achtzig groß, mit langem, wehendem blondem Haar – er sah aus wie ein Filmstar aus dem Westen. Und dann diese Augen. »Durchdringend blau«, hatte die Freundin geschwärmt, mit der sie den Schreibtisch teilte.

»Er hat eine Narbe auf seinem …«, hatte ihr dieselbe Freundin einmal anvertraut.

»Woher weißt du das?«, hatte sie wissen wollen, aber daraufhin hatte die Freundin nur gekichert.

Der KGB-Vorsitzende hatte Romanows Personalakte inzwischen zum zweiten Mal aufgeschlagen, um erneut sorgfältig alle Details zu prüfen. Nach der Lektüre verschiedener Eintragungen vertiefte er sich in die abschließende Zusammenfassung – ein Resümee, das Romanow sicher nie zu sehen bekäme, falls er nicht selbst einmal KGB-Vorsitzender würde.

Alexander Petrowitsch Romanow, geboren am 12. März 1937 in Leningrad. Vollmitglied der Partei seit 1958. Vater: Peter Nikolajewitsch Romanow, diente 1942 an der Ostfront, lehnte es nach seiner Heimkehr im Jahr 1945 ab, der Kommunistischen Partei beizutreten. Aufgrund verschiedener Berichte über staatsfeindliche Aktivitäten, die von seinem Sohn geliefert wurden, zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Am 20. Oktober 1948 im Gefängnis gestorben.

Zaborski blickte auf und lächelte; ja, Alex Romanow war ein Kind des Staates.

Großvater: Nikolai Alexandrowitsch Romanow, Großkaufmann und einer der reichsten Grundbesitzer von Petrograd. Am 11. Mai 1918 erschossen bei dem Versuch, vor den Truppen der Roten Armee zu fliehen.

Zwischen dem aristokratischen Großvater und dem Vater, der nicht Parteigenosse werden wollte, hatte die Revolution stattgefunden.

Den Romanowschen Ehrgeiz hatte Alex, wie er sich gern nennen ließ, freilich geerbt. Mit neun Jahren war er der Pionierorganisation der Partei beigetreten. Mit elf war er an einer Fachschule in Smolensk aufgenommen worden – sehr zum Missvergnügen einiger unterer Parteifunktionäre, die der Meinung waren, derartige Privilegien sollten einzig und allein den Söhnen treuer Parteimitglieder vorbehalten bleiben. Im Unterricht zeichnete sich Romanow von Anfang an aus – zur Bestürzung des Direktors, der gehofft hatte, am Beispiel Romanows die Darwinschen Theorien über die natürliche Auslese widerlegen zu können. Mit vierzehn Jahren gehörte Alex bereits zur Parteielite und wurde Komsomol-Mitglied. Mit sechzehn gewann er die Lenin-Medaille für Sprachen und den Jugendsportpreis, und trotz aller Versuche des Direktors, die Leistungen des jungen Romanow herabzusetzen, war der Mehrheit des Schulausschusses klar, was in Romanow steckte; man sorgte dafür, dass er auch die Universität besuchen durfte. Als Student zeichnete er sich weiterhin vor allem in den Fremdsprachen aus. Er spezialisierte sich auf Englisch, Französisch und Deutsch. Natürliches Talent und harte Arbeit sicherten ihm erste Plätze in praktisch allen Fächern, die er belegte.

Zaborski griff nach dem Telefon. »Wo bleibt Romanow?«, fragte er barsch.

»Er hat sein Morgentraining in der Sporthalle absolviert, Genosse Vorsitzender«, antwortete der Sekretär. »Aber er ging sich sofort umziehen, als er hörte, dass Sie ihn sprechen wollen.«

Der Vorsitzende hängte ein. Sein Blick kehrte zur Akte zurück. Dass man Romanow zu jeder Tageszeit in der Sporthalle antreffen konnte, war nicht verwunderlich: Die überragenden sportlichen Fähigkeiten dieses Mannes waren weit über den Geheimdienst hinaus bekannt.

In seinem ersten Studienjahr hatte Romanow mit Feuereifer sein sportliches Training fortgesetzt; er wäre sogar für die UdSSR bei den Olympischen Spielen angetreten, hätte der Trainer nicht quer über einen seiner Berichte mit dicken Lettern geschrieben: »Dieser Student ist zu groß, um für olympische Wettkämpfe ernsthaft in Betracht gezogen zu werden.« Romanow hörte auf seinen Trainer, wechselte zu Judo über und wurde bereits zwei Jahre später, 1958, für die COMECON-Spiele in Budapest nominiert; nach weiteren zwei Jahren schätzten seine Konkurrenten sich glücklich, wenn sie ihm auf seinem unaufhaltsamen Weg ins Finale nicht in die Quere kamen und nicht gegen ihn antreten mussten. Nach seinem Sieg bei den sowjetischen Meisterschaftskämpfen in Moskau verpasste ihm die westliche Presse uncharmanterweise den Beinamen »die Axt«. Die Männer, die bereits Pläne für seine weitere Zukunft schmiedeten, hielten es für klüger, ihn nicht für die Olympischen Spiele aufzustellen.

Als Romanow sein Universitätsstudium nach fünf Jahren mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, trat er in den Diplomatischen Dienst ein.

Zaborski erreichte in der Akte nun die Stelle, die seine erste Begegnung mit dem selbstsicheren jungen Mann vermerkte. Der KGB konnte alljährlich die jungen Leute, die ihm außergewöhnlich begabt erschienen, vom Diplomatischen Dienst abwerben. Romanow drängte sich als Kandidat natürlich geradezu auf. Zaborski hatte eine Grundregel: Er warb niemanden an, der den KGB nicht für die absolute Elite hielt – aus unwilligen Kandidaten wurden nie gute Agenten; es war gelegentlich sogar vorgekommen, dass sie absprangen, um für die Gegenseite zu arbeiten. Bei Romanow war die Sache klar gewesen: Er hatte sich nie etwas anderes gewünscht, als KGB-Offizier zu werden. Während der folgenden sechs Jahre absolvierte er seinen Turnus an den russischen Botschaften in Paris, London, Prag und Lagos. Als er nach Moskau zurückkehrte – er war ins Hauptquartier des KGB berufen worden –, wusste er sich als erfahrener Agent auf Botschaftsempfängen genauso sicher zu bewegen wie in der Sporthalle.

Zaborski las die Kommentare, die er während der letzten Jahre selbst hinzugefügt hatte – sie betrafen vor allem die Veränderungen, die im Laufe seiner Zugehörigkeit zum persönlichen Stab von Zaborski an Romanow sichtbar geworden waren. Nach seiner erfolgreichen Agententätigkeit hatte Romanow den Rang eines Majors erreicht. Die zwei roten Punkte neben seinem Namen markierten erfolgreiche Einsätze: Da war die Sache mit dem Geiger gewesen, der versucht hatte, über Prag in den Westen zu fliehen; und dann gab es da den Fall des Generals, der sich eingebildet hatte, das nächste Oberhaupt eines kleinen afrikanischen Staates zu werden. Was Zaborski an diesen Leistungen seines Protegés am meisten beeindruckte, war der Umstand, dass die westliche Presse im ersten Fall die Tschechen, im zweiten die Amerikaner verantwortlich gemacht hatte.

Romanows größter Erfolg bedeutete jedoch die Rekrutierung eines Agenten im britischen Außenministerium, dessen anschließender Aufstieg in London Romanows eigene Karriere nur noch gefördert hatte. Romanows Ernennung zum Abteilungschef hatte niemanden überrascht, ihn selbst eingeschlossen, aber Zaborski hatte bald darauf gespürt, dass dem jungen Mann in Moskau der Nervenkitzel des Außendienstes fehlte.

Der KGB-Vorsitzende wandte sich der letzten Seite zu. Romanows Charakterbeschreibung fasste die Meinung der meisten Kommentatoren zusammen: Romanow, hieß es, war ehrgeizig, raffiniert, skrupellos, arrogant, aber nicht immer zuverlässig – es waren die gleichen Eigenschaften, die in fast allen Einzelbeurteilungen mit schöner Regelmäßigkeit genannt wurden.

In diesem Moment klopfte es laut und energisch an der Tür. Zaborski schloss die Akte. Erst dann drückte er auf einen Knopf unter dem Schreibtisch. Mit einem leisen Klicken sprang die Tür auf, und Alexander Petrowitsch Romanow konnte herein.

»Guten Morgen, Genosse Vorsitzender«, sagte der elegante junge Mann, der nun vor seinem Vorgesetzten strammstand.

Zaborski schaute zu dem Agenten auf, für den er sich entschieden hatte. Ihn durchzuckte ein Anflug von Neid – er beneidete Romanow um die Gaben, mit denen die Götter ihn, einen so jungen Menschen, so reichlich bedacht hatten. Aber dafür war es Zaborski gegeben, einen solchen Mann zum Besten des Staates einsetzen zu können.

Er starrte in die klaren blauen Augen und überlegte, dass Romanow, wäre er in Hollywood zur Welt gekommen, kaum Schwierigkeiten gehabt hätte, sich dort seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Sein Anzug schien von einem exklusiven Herrenschneider in der Savile Row zu stammen. Zaborski beschloss, über solche Regelwidrigkeiten hinwegzusehen, obgleich er versucht war, den jungen Mann zu fragen, wo dieser seine Hemden schneidern ließ.

»Sie haben mich gerufen?«, fragte Romanow.

Der Vorsitzende nickte. »Ich komme soeben aus dem Kreml«, sagte er. »Der Generalsekretär hat uns mit einer außerordentlich heiklen Aufgabe betraut, die für den Staat von enormer Wichtigkeit ist.« Zaborski legte eine Pause ein. »Sie ist so heikel, dass Sie nur mir persönlich Bericht erstatten werden. Sie können sich Ihre Mitarbeiter selbst auswählen, und wir werden Ihnen alle erforderlichen Mittel zur Verfügung stellen.«

»Ich fühle mich sehr geehrt«, erwiderte Romanow. Es klang ungewöhnlich aufrichtig.

»Geehrt werden Sie erst«, erwiderte der Vorsitzende, »wenn es Ihnen gelingt, die Zaren-Ikone aufzustöbern.«

»Aber ich dachte …«, setzte Romanow an.

4

Adam trat an sein Bett und nahm die Bibel vom Bücherbord, die ihm seine Mutter zur Konfirmation geschenkt hatte. Beim Aufschlagen löste sich eine Staubschicht oben vom Goldschnitt. Er steckte das Kuvert zwischen die Seiten der Offenbarung und stellte die Bibel auf das Bord zurück.

Danach schlenderte Adam in die Küche, machte sich ein Spiegelei und wärmte den Rest der Dosenbohnen vom Vortag auf. Als er das ungesunde Essen auf den Tisch stellte, musste er unwillkürlich an das exquisite Mahl denken, das Lawrence und Carolyn sicherlich gerade in dem neuen italienischen Restaurant genossen. Nach dem Essen und Abräumen kehrte Adam in sein Zimmer zurück und legte sich nachdenklich aufs Bett. Ob der Inhalt des vergilbten Briefumschlags endlich die Unschuld seines Vaters beweisen würde? Ein Plan begann in seinem Kopf Gestalt anzunehmen.

Als die alte Wanduhr in der Diele zehnmal schlug, schwang Adam die langen Beine über den Bettrand und nahm noch einmal die Bibel vom Wandbord. Mit einigem Bangen zog er den Briefumschlag heraus. Er knipste die Leselampe auf dem kleinen Schreibtisch an, faltete die zwei Blätter auseinander und breitete sie vor sich aus.

Das eine Schriftstück war offensichtlich ein persönlicher Brief Görings an Adams Vater, während das andere, ältere, eher wie ein offizielles Dokument aussah. Adam legte dieses zweite Papier zur Seite und ging den Brief Zeile für Zeile durch. Es war zwecklos.

Er riss ein unbeschriebenes Blatt von einem Notizblock, den er auf Lawrence’ Schreibtisch fand, und begann, den Text von Görings Brief zu kopieren. Nur die Anrede und das, was er für einen Abschiedsgruß oder eine Schlussfloskel hielt – hochachtungsvoll –, gefolgt von der großen, schwungvollen Unterschrift des Reichsmarschalls, ließ er weg. Er überprüfte seine Abschrift sorgfältig, dann steckte er das Original wieder in den verblichenen Umschlag. Er hatte eben begonnen, auch das offizielle Dokument zu kopieren, als er einen Schlüssel im Schloss klicken und gleich darauf Stimmen an der Wohnungstür hörte. Es klang ganz so, als hätten Lawrence und Carolyn mehr als nur die eine Flasche Wein getrunken, von der sie gesprochen hatten, und besonders Carolyns Stimme bewegte sich in so hohen Tonlagen, dass kaum mehr von ihr zu hören war als sich überschlagendes Gekicher.

Adam seufzte und knipste das Licht auf dem Schreibtisch aus; so würden sie nicht merken, dass er noch wach war. In der Dunkelheit kam ihm jedes Geräusch noch viel lauter vor. Einer der beiden war offenbar auf die Küche zugesteuert, denn kurz darauf hörte Adam die Kühlschranktür mit einem klatschenden Laut zuschlagen, und wenige Sekunden später hörte er einen Korken ploppen – vermutlich seine letzte Flasche Weißwein; die beiden konnten kaum so betrunken sein, dass sie sich schon über den Essig hermachten.

Widerwillig stand Adam auf und tastete sich, die Arme suchend vor sich ausgestreckt, auf das Bett zu. Als er gegen eine Ecke des Bettgestells stieß, ließ er sich lautlos auf die Matratze fallen. Ungeduldig wartete er darauf, dass endlich die Tür zu Lawrence’ Schlafzimmer geschlossen würde.

Er musste eingeschlafen sein, denn auf einmal hörte er nur noch das gleichmäßige Ticken der Uhr in der Diele. Adam leckte sich die Fingerspitzen und rieb sich die Augen, während er versuchte, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Er warf einen Blick auf die Leuchtziffern des Weckers: zehn nach drei. Sachte ließ er sich vom Bett gleiten – er fühlte sich ziemlich erschöpft und zerknittert – und tappte dann langsam auf seinen Schreibtisch zu; er prallte mit dem Knie gegen die Kante einer Kommode und stieß unwillkürlich einen lauten Fluch aus. Er fummelte nach dem Lichtschalter; als die Glühbirne aufleuchtete, musste er in der plötzlichen Helligkeit ein paarmal zwinkern. Der vergilbte Briefumschlag sah so unbedeutend aus – vielleicht war er es ja auch. Das offizielle Dokument lag noch immer ausgebreitet auf dem Tisch, neben dem Blatt mit den ersten paar Zeilen seiner handgeschriebenen Kopie.

Adam gähnte, als er sich daranmachte, noch einmal Wort für Wort zu studieren. Das Dokument war nicht so leicht zu kopieren wie der Brief, weil die Handschrift krakelig, steil und schmal war, so als hätte der Schreiber Papier für ein teures Luxusgut gehalten. Adam ließ die Adresse in der rechten oberen Ecke weg und drehte die unterstrichene achtstellige Zahl am Beginn des Textes um, ansonsten fertigte er jedoch eine genaue Transkription des Originals an.

Es war eine mühselige Arbeit, die erstaunlich viel Zeit in Anspruch nahm. Adam schrieb jedes Wort in Blockbuchstaben ab, und wenn er nicht ganz sicher war, ob er es richtig entziffert hatte, malte er die möglichen anderen Buchstaben als Alternative darunter; er wollte auf Anhieb jede denkbare Übersetzung parat haben.

»Du meine Güte, Sie arbeiten aber spät in die Nacht hinein«, flüsterte eine Stimme hinter ihm.

Adam schnellte herum. Er kam sich wie ein Einbrecher vor, der gerade ertappt wurde, als er die Hand nach dem Familiensilber ausstreckte.

»Schauen Sie doch nicht so ängstlich drein – ich bin’s nur!«, sagte Carolyn von der Zimmertür her.

Adam starrte die hochgewachsene Blondine an. So wie sie dastand – mit nichts am Leib als den weichen Pantoffeln und dem Pyjama von Lawrence, der ihr viel zu weit war und den sie nicht einmal zugeknöpft hatte –, sah sie noch verführerischer aus. Das lange, helle Haar fiel ihr unordentlich lose über die Schultern, und Adam begann zu verstehen, was Lawrence gemeint hatte; er hatte einmal behauptet, Carolyn könne ein Streichholz in eine dicke Zigarre verwandeln.

»Das Badezimmer ist am Ende des Flurs«, sagte Adam lahm.