Eine Experten-Revue in 89 Nummern - Hans Magnus Enzensberger - E-Book

Eine Experten-Revue in 89 Nummern E-Book

Hans Magnus Enzensberger

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Beschreibung

Wie kommt es, dass der Mensch, dieses schwache Wesen, sich zum Herrscher über die Erde aufgeschwungen hat? Andere Tiere sind kräftiger, können besser schwimmen und fliegen, vermehren sich weniger umständlich, brauchen nicht so lange, bis sie erwachsen sind. Der Mensch aber, so der Autor, hat das Zeug zum Experten! Doch was ist seine Spezialität, worin ist er der Beste? Da muss man schon sehr genau hinsehen. Egal, ob wir es mit einem leidenschaftlichen Busfahrer zu tun haben, einem Kometenjäger, einem Spezialisten für Mausefallen oder Plastiktüten, einem Hochstapler oder Zahlentheoretiker – dem Dämon der Arbeitsteilung verdanken wir unseren vorläufigen Sieg auf diesem Planeten, unsere Verrücktheiten und unsere Niederlagen.

In neunundachtzig gewöhnlichen und spektakulären Varianten entfaltet Enzensberger ein geistreiches Panorama menschlicher Überlebensstrategien. Seine Beispiele reichen von der Antike bis in die Gegenwart, von der Erfindung der Spirale und des Alphabets bis zur Kunst, Kanaldeckel zu verschönern.

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Seitenzahl: 326

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Cover

Titel

3Hans Magnus Enzensberger

Eine Experten-Revue in 89 Nummern

Mit einem Dialog zwischen der Natur und einem Unzufriedenen: Vom Dämon der Arbeitsteilung

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2019

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2019.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2019.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-76113-7

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

5Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Der Dämon der Arbeitsteilung. Ein Dialog zwischen der Natur und einem Unzufriedenen (im Ton der »Operette morali« von Giacomo Leopardi)

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11Der Dämon der Arbeitsteilung

Ein Dialog zwischen der Natur und einem Unzufriedenen (im Ton der »Operette morali« von Giacomo Leopardi)

Der Unzufriedene Du hast uns Menschen, ganz wie es deine Art ist, sehr stiefmütterlich behandelt.

Die Natur Worüber beklagst du dich? Ich merke, daß auch du nicht aus der Art schlägst. Du ärgerst dich, du murrst, und am liebsten würdest du mich beschimpfen.

Der Unzufriedene Weil du eine Rabenmutter bist. Warum hast du uns keine Flügel, keine Schnäbel, keine Flossen gegeben? Wir können uns nicht wehren wie die Löwen, weil wir keine Tatzen und keine Klauen haben. Und was ist, wenn es schneit und regnet?

Die Natur Ich kann dir einen Mantel leihen, und damit du nicht naß wirst, habe ich sogar einen Schirm für dich mitgebracht.

Der Unzufriedene Den Menschen einen Pelz oder wenigstens ein Fell mitzugeben hast du wohl vergessen. Deshalb müssen wir uns mit diesen lächerlichen Kleidern bedecken. Immerzu diese lästigen Hüte, Handschuhe, Schals, Mützen, Stiefel ‌…! Jeden Abend und jeden Morgen gibt es ein Hemd oder eine Jacke auf- und wieder zuzuknöpfen.

Die Natur Dazu bist du wohl zu faul, mein Freund? Komm, wir machen einen Spaziergang. Das wird dir guttun.

Der Unzufriedene Du möchtest also, daß ich mich anstrenge. Aber der Mensch kommt nur stolpernd voran. Warum haben wir nur zwei Beine? Kannst du mir das erklären? Jeder Hase hat es leichter. Alle möglichen Tiere sind schneller als wir, und sie haben weniger Sorgen.

12Die Natur Aha! Was für Sorgen?

Der Unzufriedene Ich werde jeden Tag älter. Das weißt du doch. Außerdem habe ich Kinder. Jede Maus macht sich nach ein paar Tagen selbständig. Wir dagegen brauchen Windeln, Babysitter, Lehrer und Schulen. Das ist sehr langweilig.

Die Natur Wenn das so ist, wie du sagst, wie kommt es dann, daß eure Art es so weit gebracht hat? Wenn mich nicht alles täuscht, seid ihr doch zu den Herren dieses Planeten aufgestiegen.

Der Unzufriedene Aha! »Die Krone der Schöpfung«! Daß ich nicht lache über diesen Spruch. Als wüßtest du nicht, daß zahllose andere Kreaturen ein zäheres Leben haben als wir. Und zwar sind es gerade die unscheinbarsten, die allen Katastrophen trotzen; die Fliegen, die Flöhe und die Ameisen.

Die Natur Weißt du, was der heilige Augustinus von Hippo gesagt hat?

Der Unzufriedene Woher soll ich das wissen?

Die Natur »Gott hat die Fliegen erfunden, um die Menschen für ihre Überheblichkeit zu bestrafen.«

Der Unzufriedene Laß mich bloß zufrieden mit den Kirchenvätern! Die können uns den Buckel herunterrutschen. Halte dich lieber an die Mücken, von denen du was verstehst. Je winziger, desto bessere Aussichten haben sie. Erdbeben, Stürme, Vulkanausbrüche – alles das, was unsereinen erschreckt, kann keinem Floh etwas anhaben. Hundert Millionen Jahre mehr oder weniger, was schert das die Eintagsfliege! Und die Mikroben erst! Die waren ja schon immer da.  

Die Natur Ohne diese Zwerge im Bauch wärst du schon lange verhungert.

Der Unzufriedene Das stimmt. Aber, liebe Mutter, du schuldest mir immer noch eine Erklärung.

Die Natur Wofür?

Der Unzufriedene Wie kommt es, daß wir uns auf diesem 13Planeten zum Herrscher über andere Lebewesen aufgeschwungen haben, obwohl wir so schwach und hinfällig sind?

Die Natur Das kann ich dir sagen.

Der Unzufriedene Wahrscheinlich meinst du den Geist, der uns beseelt. Oder ist es die Vernunft? Die Religion? Die Wissenschaften und die Künste?

Die Natur Ach was! Es liegt nur am Dämon der Arbeitsteilung.

Der Unzufriedene Du sprichst in Rätseln.

Die Natur Für all die Mängel, die du mir vorwirfst, habe ich die Menschheit mit diesem Geist entschädigt.

Der Unzufriedene Das ist sicher wieder einer deiner Tricks.

Die Natur Dir kann ich es wohl nie recht machen. Dabei ist mir eine Idee eingefallen, auf die eine Pflanze und ein Tier nie gekommen wären. Für die Arbeitsteilung solltest du mir dankbar sein, statt herumzumäkeln.

Der Unzufriedene Laß hören.

Die Natur Es ist ganz einfach. Jeder von euch kann nämlich irgend etwas, aber keiner kann alles. Und deswegen müßt ihr euch die Mühen teilen, die euer Los sind. »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot verdienen«: So heißt es doch in eurem Lieblingsbuch. An diesem Fluch kann auch ich nichts ändern.

Der Unzufriedene So, du bildest dir also ein, du hättest die Teilung der Arbeit erfunden? Das ist doch weiß Gott nichts Neues! Die Ameisen und die Bienen haben sich schon immer darauf verstanden. Ich weiß Bescheid, weil ich gehört habe, daß es bei diesen Völkern Arbeiter, Drohnen, Krieger und Königinnen gibt. Die einen kümmern sich um die Fortpflanzung, andere um die Fütterung, den Nachwuchs oder die Verteidigung gegen ihre Feinde. Sogar Gärtner und Bauarbeiter soll es bei denen geben.

Die Natur Was für ein Dummkopf du bist! Wärst du eine 14Ameise, müßtest du deiner Lebtage ein und dasselbe machen. Du hättest keine Wahl, keine Abwechslung. Sei froh, daß mein Dämon dir im Nacken sitzt. Er sorgt dafür, daß du dir aussuchen kannst, was du treiben willst. Tausende von Berufen, Gewerben, Künsten, Fächern, Disziplinen ‌… Jeder einzelne von euch kann etwas, wovon die anderen nichts verstehen. Auch du, mein Lieber.

Der Unzufriedene Und was ist bisher dabei herausgekommen? Eine unglaubliche Bescherung! Wirrwarr, Ehrgeiz und Hinterlist und sonst gar nichts.

Die Natur Der Dämon garantiert euch, daß jeder von euch einen Platz, eine Nische findet, in der er überleben kann.

Der Unzufriedene Wo? In einem Palast oder in einem Slum? Deinem Hirngespinst haben wir nichts anderes zu verdanken, als daß es von jeher nur Herren und Knechte, Reiche und Arme gegeben hat.

Die Natur Krieger und Priester, Jäger und Bauern, Medizinmänner und Erfinder und so weiter und so immer fort. Daher kommt es auch, daß jeder von euch, auch wenn man es ihm nicht ansieht, ein Experte ist.

Der Unzufriedene Unsinn!

Die Natur Fragt sich nur, was seine Spezialität ist. Willst du ein paar Beispiele hören? Was macht einen guten Einbrecher aus, einen erfolgreichen Spekulanten, einen erfahrenen Henker?

Der Unzufriedene Das sind ja sehr erbauliche Karrieren!

Die Natur Mein Dämon interessiert sich nicht für die Moral. Was er mit euch treibt, ist jenseits von Gut und Böse. Übrigens gehen die meisten von euch ganz harmlosen Beschäftigungen nach. Bedenk nur, was einen Virtuosen der Faulheit auszeichnet! Auch dazu braucht es Talent, Geschick, Intelligenz und Beharrlichkeit. Andere sind so eifrig auf ihr Können fixiert, daß ich darüber nur den Kopf schütteln kann. Die meisten sind eher aus Versehen, zufällig, aus einer Laune heraus, ja fast gegen ihren Willen zu Experten geworden. Deshalb muß man 15schon sehr genau hinsehen, um herauszufinden, worauf sie sich besser als alle anderen verstehen.

Der Unzufriedene Ich halte nicht soviel wie du von diesen angeblichen Spezialisten. Die meisten haben einen Sparren und jagen ganz blödsinnigen Projekten nach. Der eine sammelt nutzlose Dinge, der andere angebliche Kunststücke, der dritte entziffert vergilbte Handschriften, und irgendeiner will sicher die Sternschnuppen am Himmel zählen.

Die Natur Das ist wahr. Aber ich entsinne mich, daß es Menschen gibt, die gewissermaßen noch darüber hinausgehen, indem sie sich über den Dämon der Arbeitsteilung Gedanken machen.

Der Unzufriedene Wer kann das gewesen sein? Und was haben diese Leute herausgefunden?

Die Natur Ich kann mir eure Namen nicht mehr merken. Ihr vermehrt euch ja schneller als die Katzen und die Mäuse! Ich denke nicht daran, eine Liste von euren Gelehrten anzulegen.

Der Unzufriedene Erzähl mir wenigstens, was diese Leute behaupten.

Die Natur Du meinst die Experten für das Expertentum?

Der Unzufriedene Ja. Vielleicht kennen die sich in unserem Tohuwabohu besser aus als ich.

Die Natur Meinetwegen. Der eine war, glaube ich, ein Holländer, der andere ein Schotte, und der dritte, der mir einfällt, war ein Deutscher. Und der erste hat etwas geschrieben, was dir gefallen müßte: nämlich eine Fabel über den »unzufriedenen Bienenstock«.

Der Unzufriedene Das hört sich ganz vernünftig an.

Die Natur Das Böse, behauptet er, sei die feste Basis, das Leben und die Stütze aller Gewerbe und Beschäftigungen – und der wahre Ursprung aller Künste und Wissenschaften. Wenn das Böse aus der Welt verschwände, müßte die menschliche Gesellschaft verderben oder gänzlich untergehen.

16Der Unzufriedene Na bitte! Ich hatte also ganz recht mit meinem Verdacht. Einen schönen Dämon hast du uns auf den Hals gehetzt!

Die Natur Warte nur, mein Guter. Es kommt noch viel schlimmer. Mein Holländer – wie heißt er noch gleich – hat auch verstanden, warum es Arme und Reiche geben muß. Wenn die Sklaverei einem freien Volk nicht paßt, wer soll denn dann für die Sicherheit des Eigentums garantieren und für den Wohlstand des Landes sorgen? Dann müssen eben die Armen die schwere Arbeit übernehmen. Ich weiß sogar noch einen Vers, den dieser Holländer gereimt hat: »Stolz, Luxus und Betrügerei / muß sein, damit ein Volk gedeih'.«

Der Unzufriedene Und was sagt dein Schotte dazu?

Die Natur Der ist nicht so dreist, aber auch nicht so amüsant wie der Mann mit dem Bienenstock. Er ist immer seriös, verständig und ein wenig hartleibig. Aber dafür kann er tadellos rechnen. Sein Lob der Arbeitsteilung fällt nicht dämonisch aus, sondern ganz nüchtern. Seine fixe Idee war die Stecknadel.

Der Unzufriedene Wie ist er darauf gekommen?

Die Natur Stell dir vor, wie lange es dauert, bis ein einzelner Arbeiter eine Nadel zustande bringt. Stundenlang. Er hatte einen besseren Vorschlag.

Der Unzufriedene Nur um ein paar Stecknadeln zu fabrizieren?

Die Natur Dazu muß man eine ganze Mannschaft ins Brot setzen. Der erste soll nur den Draht ziehen, der nächste zwickt ihn ab, der dritte spitzt zu, und der letzte setzt den Kopf auf die Nadel. Bingo! Schon geht es hundertmal schneller, die Näherinnen werden noch fleißiger, und alle sparen eine Menge Geld.

Der Unzufriedene Aha. Die Schotten sollen ja besonders genau sein und etwas gegen die Verschwendung haben.

Die Natur Nicht nur die. Alle, die Geschäfte machen. So geht es eben in dem zu, was ihr das Wirtschaftsleben nennt.

17Der Unzufriedene Wenn es aber den Arbeitern zu dumm wird, werden sie sich zusammenrotten. Dann lassen sie ihr Werkzeug fallen und streiken.

Die Natur Genau das sagt auch dieser deutsche Philosoph, der überhaupt ein gefährlicher Mensch gewesen sein soll.

Der Unzufriedene Das sagst du nur, weil er auf deinen Dämon schlecht zu sprechen war.

Die Natur Damit war er nicht der einzige. Gib es ruhig zu, du bist auch kein Anhänger der Arbeitsteilung.

Der Unzufriedene Diese Gabe ist ein ganz gemeines Heftpflaster, mit dem du uns trösten willst, damit wir uns mit deinen Fehlern und Versäumnissen abfinden sollen. Ich vermute, daß der Philosoph deine boshafte Idee durchschaut hat.

Die Natur Zumindest war er schlau genug, zu begreifen, daß ein Verbrecher nicht nur Schaden anrichtet. Er sah nämlich ein, daß es keine Polizei gäbe ohne Delinquenten. Die Juristen wären arbeitslos. Die Richter, Staatsanwälte und Henker würden ihren Arbeitsplatz einbüßen. Ohne Diebe gäbe er keine Schlösser und keine Geldschränke. Ohne brutale Eroberer keine Imperien, keine Kolonien und keinen Weltmarkt. Wenn diese unternehmungslustigen Experten nicht die ganze Erde erforscht hätten, würden die Weltmächte heute noch auf den Affenbrotbäumen hocken und sich von ihren trockenen Früchten ernähren.

Der Unzufriedene Und dir wäre das ganz und gar nicht recht.

Die Natur Mein Lieber, nichts könnte mir gleichgültiger sein! In meinem Alter fällt es mir schwer, mich mit eurem Treiben zu beschäftigen. So wichtig, wie ihr euch einbildet, sind mir die Menschen nicht. Ich habe schon so viel mit angesehen, daß ich mir nicht alles merken kann. Mein Gedächtnis läßt mich allmählich im Stich. Wie haben die Saurier ausgesehen? Waren sie buntscheckig? Haben sie gebrüllt? Nur ein paar Knochen sind von ihnen übriggeblieben.

18Der Unzufriedene Du hörst dich fast so unzufrieden an wie ich.

Die Natur Wenn du es nicht weitererzählst, will ich dir ein Geständnis machen. Manchmal langweile ich mich.

Der Unzufriedene Das kann ich mir nicht vorstellen.

Die Natur Ach, mein Kleiner! Ich verzeihe dir deine Wutausbrüche. Ich weiß, daß manche Kinder mit dem Fuß aufstampfen, wenn ihnen etwas nicht paßt. Daß du dich beschwerst, ist doch immerhin ein Lebenszeichen. Mach nur so weiter! Mir gefällt es, wenn du auf mich schimpfst.

Der Unzufriedene Wirklich?

Die Natur Du unterhältst mich. Monologe sind mir zuwider. Ein wenig mit einem Wicht wie dir zu streiten ist immer noch besser, als wenn eine Mutter bloß vor sich hin murmelt.

19I

Gleichgewicht, Äquilibrium, Balance ist auf dieser Welt nicht die Regel, sondern die unwahrscheinliche Ausnahme. Zu viele Kräfte am Werk. Störungen, Perturbationen von Planeten und Fixsternen bis zur Quantenwelt, vom Wetter bis zur Geistes- und Gemütsverfassung. Ganz zu schweigen von den Tücken der Gravitation.

Zum Glück gibt es einen Schweizer Künstler aus Toggenburg, der Mädir Eugster heißt. Ein feuriger, solarer Charakter, nicht mehr der Jüngste, aber drahtig und gelenkig wie ein Jüngling. Zusammen mit Lena Roth hat er 1978 das Straßen- und Kindertheater Rigolo gegründet. Sein berühmtestes Werk bezeichnen Rezensenten als »Installation«. Aber es handelt sich nicht um eine Klempner- noch um eine Elektrikerarbeit; und obwohl seine Gruppe als Swiss Nouveau Cirque oder mit André Heller oder mit dem Cirque du Soleil auf Tournee ging, ist ihr Spektakel weit von einer Zirkusnummer entfernt. Auf der ganzen Welt hat der Sanddorn-Balanceakt in Tausenden von Vorstellungen Millionen von Zuschauern in Trance versetzt. Am ehesten paßt auf diese unvergleichliche Arbeit noch der Begriff der Performance.

Egal, wie man seine Expertise nennt; jedenfalls ist Eugster ein Philosoph des Gleichgewichts, der mit der Schwerkraft spielt, als wäre sie ein universelles, riesiges Mikado.

Er beginnt mit einer Vogelfeder. Dann hebt er langsam mit der Hand dreizehn Rippen einer Sanddornpalme vom Boden auf, zuerst die kleinste, die ungefähr 50 Zentimeter mißt, dann, der Reihe nach, die anderen, bis zur größten, die mindestens zweieinhalb Meter lang ist, und legt sie alle nacheinander auf seinen Kopf. Zu hören ist dabei das Klavierkonzert Nr. 6 in B-Dur von Mozart, gespielt von Clara Haskil.

20Die letzte Rippe hebt er, auf den Fußboden gestützt, mit der freien Hand hoch, bis das ganze fragile Mobile auf seinem Scheitel ruht. Am Ende nimmt er das unterste, das kleinste Teil weg, und das ganze schwebende Gerüst stürzt krachend ein. Die Zuschauer empfinden die Zerstörung des Kunstwerks als Erlösung.

Der Meister zeigt uns, wie instabil und unwahrscheinlich jeder Gleichgewichtszustand ist. (Das gilt besonders für menschliche Gesellschaften.) Er spottet der Schwerkraft und verharrt wortlos vor den atemlosen Zuschauern.

21II

Angst ist das Geschäftsmodell der Hersteller von besonderen Schränken, Fächern und Schlüsseln. Ihr Versprechen ist, daß die Käufer vor Räubern und Dieben sicher sind. Irgendeine Truhe, ein Versteck oder wenigstens eine Matratze hatten zweifellos schon unsere Ahnen aus lauter Angst vor Verlusten im Haus.

Die ersten Tresore wurden wahrscheinlich in England erfunden und gebaut. Messrs. Charles und Jeremiah Chubb in Wolverhampton wurde 1835 ein erstes Patent für einbruchsichere Schränke erteilt, und später ließ sich Mr. Henry Brown die Herstellung eines feuerfesten Behälters aus Schmiedeeisen zur Aufbewahrung von Papieren hinter Schloß und Riegel verbriefen. Denn nicht nur den Verlust von Wertsachen befürchteten die Besitzer; auch Staatsdiener und Geschäftsleute wollten ihre eigenen Dokumente nicht einbüßen. Umgekehrt schreckten sie vor der Spionage nicht zurück und brauchten Experten, um die Geheimnisse ihrer Gegner auszuspähen.

Das Wettrüsten zwischen denen, die etwas behalten, und den anderen, die es ihnen wegnehmen wollten, brachte komplizierte Strategien hervor. Gesetzgeber, Fabrikanten und Versicherungen erdachten immer neue Verordnungen, Prüf- und Güteklassen.

Gewichte bis zu tausend Kilogramm und Bodenverankerungen erschwerten den Transport der Beute. Karborundpartikel in Betonfüllungen und Rohre mit Stahlkugeln bereiteten den Einbrechern Kopfzerbrechen. Sie verlegten sich auf bessere Methoden und Werkzeuge wie Schweißbrenner und Diamantbohrkronen.

Gute Geldschränke können ins Geld gehen. Die Preise für 22Luxus-Tresore aus der Schweiz beginnen bei viertausend Euro. Dafür gehen sie auf die individuellen Wünsche des Schatzbildners ein und verlangen den Einbrechern Verfahren ab, die den Inhalt dermaßen in Mitleidenschaft ziehen, daß er für die Täter wertlos wird.

Leichtere Safes werden gern am Tatort entwendet und an einem geeignet erscheinenden Ort dann in Ruhe aufgebrochen. Es nützt wenig, sie mit Möbelstücken zu verschrauben.

Die Tür wird durch Spezialscharniere getragen und durch ein Riegelwerk gesichert. Das Doppelbart-Schloß hat den Vorzug, daß nur bestimmte Personen Zugriff zum Tresor haben. Aber Vorsicht! Keinesfalls sollte der Schlüssel in Schreibtischschubladen, Nachtkästchen, unter Matratzen oder anderen für Einbrecher leicht zu findenden Orten aufbewahrt werden!

Kombinationsschlösser werden als Drei- oder Vier-Scheibenschlösser angeboten. (Ohne Fachchinesisch ist dabei nichts zu machen.) Ihr Vorteil ist die Unabhängigkeit von einem mechanischen Schlüssel. Allerdings kann der Zahlencode an Personen weitergereicht werden, die mit den Dieben unter einer Decke stecken.

Außerdem sind solche Schlösser leider teuer. Die Tresorbesitzer sind für ihren Geiz zu tadeln. Sie haben gespart. Deswegen sind die Preise um mehr als die Hälfte gesunken.

Der Laie sollte nicht versuchen, den Wert seines Tresors nach äußerlichen Merkmalen zu beurteilen. Er wird ermahnt, daß nur die Plakette mit dem richtigen Prüfsiegel Sicherheit verspricht.

Dennoch behilft er sich gern mit einem Möbeltresor, obschon der mit dem Mauerwerk verschraubt werden muß. Selbst dann kann er mit einem Brecheisen in wenigen Minuten geräuscharm aufgehebelt werden. Auch bei einem Wandtresor reicht es nicht, daß er nur fachgerecht eingemauert ist. Man kann ihn zwar tarnen, indem man ihn mit einem Gemälde zudeckt. Aber was sagt dazu der Fachmann? Eines weiß er: Daß 23sich grundsätzlich jedes Wertbehältnis durch Unberechtigte öffnen läßt, wenn der Angreifer gut ausgerüstet ist und genügend Zeit hat.

Ein solcher Experte war bisher zur Hand: der 77jährige, verwitwete Gebrauchtwagenhändler Heinrich Wagmüller aus München. Er war so kompetent, daß er vom Bundeskriminalamt, vom FBI und von Scotland Yard zu Rate gezogen wurde. Über eigene Verlustängste war er erhaben. Das Seelenleben eines so obsessiven Menschen ist schwer zu erforschen.

Nach Wagmüllers Ableben bot sich dem Nachlaßverwalter in seinem sichtgeschützten Anwesen ein ungewohnter Anblick. Nicht nur in Wohnräumen und Garagen, sondern auch im trockengelegten Schwimmbecken hinter dem Haus fanden sich Hunderte von tonnenschweren Tresoren, ein Schatz, an dem der Witwer hing, seitdem er sich von seinen Geschäften zurückgezogen und begonnen hatte, immer mehr solcher Schatzkammern zu sammeln. Als das Amtsgericht sein Versteck öffnen ließ, weil auf öffentliche Anzeigen hin kein Erbe Ansprüche erhob, zeigte sich, daß die Geldschränke vollkommen leer waren.

24III

Eine ganz ähnliche Problematik warf die Sammlung des Dürener Papierexperten Heinz Schmidt-Bachem auf. Er war Buchhändler und hatte ein Papeterie-Geschäft, bis er beschloß, sich ganz und gar seinem Archiv zu widmen, in dem er im Lauf von dreißig Jahren mehr als hundertfünfzigtausend Objekte sammelte, und zwar hauptsächlich Plastiktaschen

Die Stadt Düren, die am Nordrand der Eifel liegt, beherbergt allerdings bereits ein Papiermuseum. Das führt sich darauf zurück, daß dort, dank des weichen Rur-Wassers, schon seit Ende des 16. Jahrhunderts Papier von höchster Güte erzeugt wurde. Mit den großen Fabrikantennamen der Stadt wie Schoeller und Hoesch verband sich auch die Hochzeit der heimischen Papierindustrie.

Befremdlich könnte daher die Wahl des Werkstoffs anmuten, den Schmidt-Bachem bevorzugt hat, weil der gegen die Tradition seiner Heimatstadt verstößt.

Doch das hat den Sammler nicht gestört. Er verstand Plastiktüten als »Kunst zum Nulltarif« und fand es skandalös, daß die Kulturhistoriker sie ignorierten. Dem half er schon mit seiner Dissertation ab, die er 2000 vorlegte. Sie heißt Von Düten und Plastiktüten. Studien zur Geschichte der Papier, Pappe und Kunststoffe verarbeitenden Industrie in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Papier und Folien verarbeitenden Industrie zur Herstellung von Tüten, Beuteln, Tragetaschen.

Gut ist vielleicht, daß es auch die Verpackungs-Rundschau gibt, das Organ des bdvi, will heißen des Bundes Deutscher Verpackungs-Ingenieure.

Wir erfahren aus einer anderen Schrift, Tüten, Beutel, Trage25taschen, daß die ersten serienmäßig produzierten Exemplare 1961 in Neuss ausgegeben wurden; daß ein paar Jahre später die Reiterbandtragetasche mit Griffen eingeführt wurde, bis die Doppelkrafttragetasche auf den Markt kam und sie ablöste. Seitdem gab es kein Halten mehr.

Dem Deutschen Historischen Museum in Berlin und dem Bonner Haus der Geschichte hat der Sammler angeboten, die Früchte seiner Kennerschaft zu stiften. Die verantwortlichen Referenten lehnten diese Offerte ohne einleuchtende Begründung ab. Der Experte hat sich das zu Herzen genommen. »Ich kann das auch alles wieder abgeben«, soll er in einem Moment der Entmutigung gesagt haben.

Gleichwohl mietete er einen leerstehenden Atombunker, um seine Schätze unterzubringen, und gründete 1995 das Portable Art Museum, das bis zum Tod des Sammlers dem Kenner reiches Anschauungsmaterial bot.

Was aus der Ausbeute dieser Leidenschaft nach dem Ableben des Stifters wohl geworden ist? Vielleicht will sie niemand haben.

Denn die Plastiktüte wird heutzutage eher gegeißelt als ge26lobt. Eine Statistik behauptet, daß inzwischen 500 Milliarden Exemplare pro Jahr weggeschmissen werden.

An unseren Experten erinnert nur noch sein Hauptwerk: Aus Papier: Eine Kultur- und Wirtschaftsgeschichte der Papier verarbeitenden Industrie in Deutschland. Leider ist 2011 Heinz Schmidt-Bachem kurz vor der Auslieferung dieser tausend Seiten starken Arbeit verstorben.

27IV

Der bleiche Mann im schwarzen Gehrock aus der Rue Monsieur-le-Prince wurde verkannt und verehrt als Hohepriester einer neuen Religion mit neun Sakramenten, die für ebenso viele Lebenslagen gedacht waren. Auch einen Katechismus und einen Heiligenkalender hatte er vorzuweisen. Als Hirnforscher suchte und fand er das Organ für die Selbstlosigkeit im Hinterkopf. Für »Ordnung und Fortschritt« ist er in einer Prosa eingetreten, die an Trockengemüse erinnert. Immerhin ist dieser Slogan bis auf den heutigen Tag der Flagge der brasilianischen Republik eingeschrieben, die den Positivismus theoretisch hochhält und in der politischen Praxis verhöhnt.

Auguste Comte hätte gern die Kathedrale von Nôtre-Dame de Paris zur Heimstätte seiner Fortschrittsträume gemacht; doch weigerte sich die katholische Kirche, sie zur Verfügung zu stellen. Der Hohepriester der neuen, atheistischen Religion blieb unverzagt. Er ersann eine Wissenschaft, die alle anderen Wissenschaften vereinnahmen und alle Beschwerden auf Erden heilen sollte, und taufte sie auf den Namen Soziologie, den sie bis heute trägt.

28V

Der damals weltweit führende Zukunftsforscher, Militärstratege, System- und Spieltheoretiker Herman Kahn war pausbäckig, fett und gesprächig. Über seinem Vollmondgesicht schwebte eine Halbglatze.

Kahn war Spezialist für den Megadeath, ein Wort, das er geprägt hat und das in Fachkreisen mit Megatod übersetzt wird. Er hielt sich an ein spieltheoretisches Modell, das MAD heißt, Mutual Assured Destruction, und die Fähigkeit zum nuklearen Zweitschlag analysiert. Dieses Modell soll den Atomkrieg verhindern. Falls er dennoch ausbräche, sollten die Vereinigten Staaten ihn gewinnen, und selbst wenn das mißlänge, sollten sie ihn unbedingt überleben.

Dabei müßten allerdings hundert Millionen Tote in Kauf genommen werden. Für seine Überlegungen wurde Kahn bewundert und verachtet. Die Angst vor dem radioaktiven Fallout fand er übertrieben. Gewiß hätten die Überlebenden mit Unbequemlichkeiten zu rechnen, aber gerade deshalb würden sie sich mit um so mehr Energie für den Wiederaufbau des Landes einsetzen. Ähnlich dachte übrigens Mao Tse-tung; er fand, in China komme es auf eine Milliarde Einwohner mehr oder weniger nicht an.

Der kleine Herman war der Sohn jüdischer Emigranten aus Osteuropa und wuchs in der Bronx auf. Er wandte sich vom Judentum ab und studierte Physik in Kalifornien. Sein Freund Samuel Cohen, der Erfinder der Neutronenbombe, verschaffte ihm einen Job bei der RandCorporation. Wenn man die Abkürzung auflöst, heißt dieser Think Tank Research And Development. Er war von Anfang an eine Ausgeburt der amerikanischen Luftwaffe.

29Obwohl seine militärische Erfahrung bescheiden war, schrieb Kahn 1960 ein über 650 Seiten langes Buch Über den thermonuklearen Krieg, das nicht nur im Weißen Haus sehr ernst genommen wurde; auch Bertrand Russell lobte es. Für ein so schwieriges Werk war es ein verlegerischer Erfolg; mehr als 30 ‌000 Exemplare der gebundenen Ausgabe wurden auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs verkauft.

Kahn legte mit seinem nächsten Traktat nach. Er nannte ihn Thinking the Unthinkable. In dieser Schrift riet er dazu, Atombunker für Milliarden von Dollars zu bauen und jeden Amerikaner mit einem Geigerzähler auszurüsten.

1964 kam Stanley Kubricks Film Dr. Strangelove in die Kinos. In den Protagonisten waren Henry Kissinger, Edward Teller, Wernher von Braun und John von Neumann unschwer wiederzuerkennen, auch wenn Kubrick das bestritten hat.

Kahns visionären Eifer hat Kubricks Hohn nicht dämpfen können. Er war und blieb ein unverbesserlicher Optimist. Seine Prognose für die nächsten zwei Jahrhunderte veröffentlichte er kurz vor dem Ende des Kalten Krieges. Grenzen des Wachstums gab es für ihn nicht. Die Kolonisierung des Sonnensystems war greifbar nahe. Seine Kollegen, die Militärstrategen und die Spieltheoretiker, reagierten verstört auf das rosige Bild, das er entwarf. Er sagte voraus, daß sich bis zum Jahr 2176 ein Füllhorn von Glück und Wohlstand über die Menschheit ergießen werde – sie bräuchte sich nur seiner Expertise anzuvertrauen.

Vielleicht brauchte er Drogen wie LSD zu diesen Höhenflügen? Mit 61 Jahren ist Kahn im Staat New York an einem Schlaganfall verstorben.

32VI

Erwin Weinert war einmal ein Textilexperte aus Frankfurt am Main. Leider mußte er sein Geld als Handlungsreisender für einen sogenannten »Herrenausstatter« verdienen, obgleich er diese Bezeichnung albern fand. Er wollte die Kundschaft weder ausrüsten, einrichten noch dekorieren. Er wollte ihnen nur Anzüge liefern. Davon verstand er etwas.

Er kennt ja seine Einzelhändler. »Was brauchen Sie? Einen Sakko oder einen Blazer? Ein- oder Zweireiher? Das Revers lieber steigend oder fallend?« Dann die Frage nach dem Kragen und nach dem Sitz des obersten Knopfes. Zum Material und zur Webart hätte er viele Vorschläge. Schurwolle, mit einer Beimischung von Mohair oder Kaschmir? Baumwolle, Leinen, leichte Seide für den Sommer? Und so weiter. Webarten gibt es in Hülle und Fülle. Tweed, Twill, Cheviot, Gabardine, Flanell, Cord, Velours …

An dieser Stelle seiner Präsentation blickt der Besitzer des Ladens auf seine Uhr und unterbricht Herrn Weinert, so daß er auf die Auswahl von Mustern und Farben nicht näher eingehen kann. Er erkundigt sich noch nach dem Befinden der Familie und verabschiedet sich.

In seinem alten Volkswagen spürt er, daß ihn ein Zittern überkommt. Er kurbelt das Seitenfenster herunter und krächzt: »Können Sie mir helfen?« Der Mann, den er anfleht, hört ihn nicht, sondern geht gemessen wie ein Bischof seines Weges.

Ein Hilfeschrei hätte vielleicht gefruchtet. Ein zweiter Herr mit Sorgenfalten ist aber zu sehr mit seinen Bandscheiben beschäftigt, als daß er Weinert hätte beistehen können. Außerdem führt er einen kleinen Kläffer mit, dem er ein Stöckchen hinwerfen soll.

33Muß Weinerts Käfer, beladen mit Koffern und mit Taschen, in denen sauber gebügelte, faltenfreie Anzüge hängen, unbedingt an der nächsten Ecke auf den Stand des türkischen Obsthändlers Emenö Öneme prallen? Der hatte schon am Morgen eine kleine Pyramide von Birnen, Pfirsichen und Melonen aufgestapelt. Nun stürzt sie ein, und das Unglück nimmt seinen Lauf.

Man kann Erwin Weinert nicht von jeder Mitschuld freisprechen. Mußte er sich auf die neuesten Trends in der Herrenmode konzentrieren? Hätte er nicht besser daran getan, einen Defibrillator mit auf die Reise zu nehmen?

Leider kam die Ambulanz, obwohl sie es an Blaulicht und Martinshorn nicht fehlen ließ, zu spät, um den herzkranken Herrenausstatter zu retten.

36VII

Adrien Proust, ein Herr im Gehrock, mit Zwicker und Uhrkette, meliertem Schnurr- und Backenbart und großen, streng blickenden Augen, hatte seine Forscherkarriere mit Arbeiten über die Gehirnerweichung begonnen. Er brachte es zum Chefarzt am Pariser Hôtel-Dieu. Diese Position erlaubte es ihm, einen langen Kampf gegen die Cholera und andere Seuchen zu führen, an denen die Leute nicht nur im Orient, sondern auch in Paris wie die Fliegen starben. Monsieur Proust trat auch für den cordon sanitaire ein, eine alte Idee, der er neue wissenschaftliche Autorität verschaffen wollte.

Merkwürdig, daß in heutigen Konflikten kaum noch jemand auf diese alte Methode zurückkommt. »Quarantäne«, rief Adrien Proust, »Hygiene!« Ein Konzept, das sich damals auf dem Balkan zur Abwehr von Seuchen bewährt hat. »Verteidigungslinie an den Grenzen einer Provinz, eingerichtet von Truppen, deren Aufgabe es ist, sich dem Eindringen von Menschen und Tieren aus Seuchengebieten zu widersetzen« – so erklärt 1873 der Littré dieses Vorgehen.

Statt zerfallene, von Sekten oder Warlords beherrschte Gebiete zu bombardieren oder mit Bodentruppen zurückzuerobern, ließen sie sich mit relativ geringem Aufwand einkesseln und mit Waffengewalt isolieren. Nur wer sich legitimiert, könnte sie verlassen oder betreten. Fahrzeuge würden konfisziert, Flugzeuge abgeschossen, Schiffe versenkt. Jeder Geldverkehr und jeder Außenhandel mit der eingeschlossenen Zone wäre unterbunden. Den dortigen Machthabern würde bald die Luft ausgehen.

Dr. Proust war ein entschlossener Mann. Um seine Neuerungen durchzusetzen, fuhr er nach Moskau, Teheran, Mekka 37und Suez. Als erster Mediziner hat er übrigens auch die Neurasthenie, eine neue Zivilisationskrankheit, genau beschrieben.

Es mag sein, daß er dabei auch an seinen Sohn dachte, der Bücher schrieb und dessen Lebenswandel er mißbilligte. »Kein Mensch«, schärfte er ihm ein, »ist mehr beschäftigt als jene Leute, die nichts tun« – eine Warnung vor der mondänen Welt, für die sein Sohn eine Vorliebe hegte. Sie sei nicht nur eitel und nutzlos, sondern auch ungesund. Marcel Proust hat den Rat seines Vaters in den Wind geschlagen. Er widmete sein ganzes Leben der Erforschung von Seelenregungen luxuriöser Art. Sein Hauptwerk hatte es anfangs nicht leicht. Inzwischen bestreitet niemand mehr, daß es zu den Klassikern des 20. Jahrhunderts zählt.

38VIII

Der fünfzigjährige Ingenieur Walter Ingrisch aus Böhmen mußte im März 1945 seinen Geburtsort verlassen. Er wanderte nach Nürnberg aus, fand dort jedoch keine neue Anstellung. Als Schwarzhändler blieb er erfolglos. Ein Bekannter schlug ihm vor, als Handelsvertreter tätig zu werden. Weil er in der Tschechoslowakei an einigen Meisterschaften teilgenommen hatte, kannte sich Ingrisch nicht nur mit den Spielregeln beim Turnier-, Schnell- und Blitzschach aus, er wußte auch, was nötig war, um einen solchen Wettkampf auszurichten, nämlich eine Schachuhr. Deshalb ging er, statt mit Textilien oder Kochtöpfen zu handeln, mit einem solchen Instrument auf die Reise.

Er mußte bald feststellen, daß die Bewohner des Landes an Doppeluhren mit oder ohne Fallblättchen und Justierhebel nicht interessiert waren. Sie hatten ganz andere Sorgen. Durch Krieg und Entbehrungen bedingt, waren sie gezwungen, sich um ihre schlechten Zähne zu kümmern. So beschloß der ehemalige Ingenieur, sein Schachuhr-Angebot um eine Kollektion von künstlichen Zähnen zu erweitern, die er in einem Musterkoffer bei sich führte. Den Kunden demonstrierte er an Hand eines Farbrings seine Auswahl: kreide-, milch-, eierschalenweiße bis nikotingelbe Spielarten, die je nach Helligkeit und Transparenz abgestuft waren. Ingrisch konnte sogar eine ganze Garnitur vorweisen, einen kompletten Satz von Front- und Backenzähnen. Obwohl er sich auch auf diesem Gebiet beachtliche Fachkenntnisse erwarb, ließ der Umsatz zu wünschen übrig, weil die Lieferanten sich nicht mit Papiergeld, sondern nur mit Butter oder Zigaretten bezahlen ließen. Der arbeitslose Sudetendeutsche zog sich auf sein ungeheiztes möbliertes Zimmer zurück. Trost fand er darin, seine Garnituren zu betrachten 39und Schach gegen sich selbst zu spielen. Nie vergaß er, den Hebel der Uhr zu drücken und jedesmal, wenn er die Bedenkzeit überschritt, »Blättchen!« zu rufen.

40IX

Zu jedem mathematischen Ausdruck gibt es einen inversen Wert und zu jedem Begriff eine Antithese. Auch in den weitgestreckten Konsumwüsten der Innenstädte lassen sich mit einigem Glück Oasen finden. Am Salzburger Rathausplatz gibt es seit 250 Jahren den Knopferlmayer, einen vollkommen aus der Zeit gefallenen Fundort für nahezu ausgestorbene Gegenstände, die früher Posamenten oder Galanteriewaren hießen. Die Herrscherin in diesem Reich ist Frau Mayer, eine ältere Dame, die sich zuvorkommend auch dem schlichten Laufkunden zu41wendet, selbst wenn er bloß nach einem Stückchen Spitze oder Borte, nach Röllchen von altrosa Seide oder einer Hut- oder Krawattennadel verlangt und sich nicht für das paradiesische Angebot an Knöpfen interessiert, das diese Firma auszeichnet.

Wie in einer Zeitkapsel überwintert so ein Alltagsbedürfnis. Kein Museum kann mit der Firma Knopferlmayer konkurrieren, solange noch hie und da die Türklingel ertönt und jemand eintritt, der genau weiß, was er will. Das sind Kunden, die den Überfluß schätzen, dem Überflüssigen aber aus dem Weg gehen.

42X

Der Freiherr von Drais, ein Forstmeister aus dem Badischen, kam im Jahre 1817 auf die Idee, sich auf zwei Rädern fortzubewegen. Das war keine bloße Laune, denn Mitteleuropa litt unter einer Hungersnot. Es waren Jahre einer kleinen Eiszeit, und außerdem hatte sich seit 1815 die Atmosphäre wegen eines Vulkanausbruchs im fernen Indonesien verdunkelt. Die Mißernten führten dazu, daß Zug- und Reitpferde nicht mehr gefüttert werden konnten. Daraufhin beschloß Drais, es mit einer »Lauf-Maschine« zu versuchen.

Jahrzehntausendelang war die Menschheit ohne diese Erfindung ausgekommen. Das Veloziped erregte ungläubiges Staunen: Das fällt um, das wird kippen, hieß es. Eine offenbar konterintuitive Idee!

Der Freiherr hielt sich nicht mit Details wie Pedalen, Ketten 43und Reifen auf. Seine Geschichte und seinen späten Triumph hat der Fahrrad-Papst Hans-Erhard Lessing erforscht. Neue Erfindungen wie die Tretkurbel mit den Pedalen, die Übersetzung mittels Kette, der Hinterradantrieb, der Ballonreifen und die Gangschaltung setzten sich durch. Damit war das Fahrrad in seiner heutigen Form etabliert, und bald beherrschten alle jene Kunst, die ihnen, als sie aufkam, so bizarr und so gefährlich vorgekommen war.

Der Freiherr, nebenbei ein früher und bekennender Demokrat, ist berühmt. Zum 200. Geburtstag der Erfindung wurde ein Ur-Fahrrad in aller Welt gewürdigt, nachdem artverwandte Entwicklungen wie der Tretroller, die Rikscha, das Tandem, Moped und Mofa auf den Straßen erschienen waren und Drei-, Klapp-, Falt-, Renn-, Berg-, Sessel-, Liege- und Elektroräder die hölzerne Erfindung überrollt hatten. Aber für Kleinkinder ist das Laufrad immer noch die erste Wahl.

Auch die bescheidene Draisine auf abgelegenen Eisenbahnstrecken, die nach ihm benannt ist, gibt es heute noch.

44XI

Heinz von Foerster, geboren 1911, war ein Wiener Physiker, Professor für Biophysik und langjähriger Direktor des Biological Computer Laboratory in Illinois. Er gilt als Mitbegründer der Kybernetik und als radikaler Konstruktivist.