Eliza - Rudolf Stratz - E-Book

Eliza E-Book

Rudolf Stratz

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Beschreibung

Spannender Roman über Liebe und Leben in Zeiten NapoleonsOstpreußen, 1807. Die verwitwete Fürstin Eliza von Preunsheim ist bei Kaiser Napoleon in Ungnade gefallen und befindet sich unter falschem Namen auf der Flucht. An der Weichsel trifft sie auf Juel Wesselink, einen einfachen preußischen Meldereiter. Bei sich trägt Wesselink ein Schreiben Kaiser Friedrich Wilhelms III, das den Friedensbeschluss zwischen Napoleon und Zar Alexander boykottieren soll. Als Wesselink von den Polen geschnappt wird, droht auch Eliza enttarnt zu werden. Ein spannender Wettlauf mit der Zeit beginnt...-

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Rudolf Stratz

Eliza

Saga

ElizaCover Bild: Shutterstock Copyright © 1928, 2019 Rudolf Stratz und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711507285

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

1

Auf dem wasserpolackischen Marktplatz spritzte der Dreck unter dem Galopp eines Gauls. Die roten Röcke der flüchtenden Weiber flogen. Die Schafpelze der Bauern strudelten untertänig zur Seite. So rücksichtslos ritt nur ein grosser Herr.

Der fremde Herr hatte den obersten roten Riesenkragen seines blauen Reitfrackes trotz der Julihitze des Jahres 1807 hinten hoch geklappt und den schwarzlackierten Zylinderhut tief in das bartlose, scharfkantige Gesicht gedrückt. Er presste mit der Jugendkraft eines angehenden Dreissigers die langen, in gelben Hirschlederhosen steckenden Beine um die fliegenden Flanken seines Rappen und zügelte das keuchende Tier in dem Gewirr vor der Grossherzoglich-Warschauschen Posthalterei. Dort feilschten zwischen den Koffern und Kutschen die schwarzen Kaftanjuden und die himmelblauen, schwarzbordierten Postknechte des Rheinbunds um einige lebensmüde Pferdeskelette — zurückgebliebene Heerespferde fern von da oben, vom Njemen, wo eben der grosse europäische Krieg vergrollte. Der Reiter stieg steifbeinig aus dem Bügel. Er gab dem ersten Rosskamm, der ihm nicht auswich, einen Rippenstoss und trocknete sich mit dem umgedrehten Handschuhstulp den Schweiss unter dem blonden Stirnhaar. Das Blau seiner Augen stach herrisch.

„Der Posthalter?“ „Herr — der Herr Posthalter schlafen!“ „Um acht Uhr morgens? . .“ „Herr . . um zwei Uhr nachts war er noch betrunken . . . Nein . . . Herr . . . der Herr Posthalter feuert aus dem Bett mit seiner Pistole, wenn man ihn vor Mittag stört! Eine Treppe hoch, gleich rechts im Flur, ist seine Schlafkammer . . .“

Die Tür flog auf. Der fremde Reiter stand auf der Schwelle. Drüben in der Ecke dämmerte das Himmelbett. Quietschend schlüpfte etwas unter die Decke. Daneben hob sich ein eisgrauer Schnauzbart in einem roten Vollmond von Gesicht grimmig aus den Pfühlen.

„Ist er verrückt . . Er Kujon . . .? In mein eheliches Schlafgemach . . .“

„Lasse der Herr Seine Hausehre ruhig unter der Couverture und sein Pistol unterm Kopfkissen. Springe der Herr im Hemd aus dem Bett! Die Weltgeschichte ruft!“

„Ist er besoffen?“

„Halte der Herr den Gang der Historie nicht mit seinem Pistolengefuchtel auf — bei Napoleons Zorn!“ donnerte der Fremde. „Wer ich bin?“ Er griff unter die drei roten Klappen seines blauen Redingote und holte ein Pergament mit baumelndem Wappensiegel heraus. „Wir sind hier im neugegründeten Grossherzogtum Warschau, unter der Herrschaft Seiner Majestät König Friedrich August des Ersten von Sachsen!“

„Das braucht Er mir, einem alten sächsischen Rittmeister von Niesemeuschel-Dragonern, nicht erst zu melden!“

„Gut denn! So schnarche der Herr Rittmeister nicht länger, sondern handle als sächsischer Patriot! Hier mein Dresdener Pass, ausgestellt vom Etranger-Departement des Geheimen Kabinetts, durch den Hof- und Justitienrat, für mich, den Geheimen Referendarius und Déchiffreur Schierwasser, attachiert für geheimste Aufträge an die Person des Monsieur Mehée de la Touche!“

Der Posthalter sprang aus dem Bett und rannte im Hemd nach dem Schrank. Dem Pass zu Ehren zog er seine alte sächsische Soldatenuniform an. Er fuhr in die langen, grauen Hosen mit roten Streifen.

„Was steht dem Herrn Geheimen Referendarius zu Diensten?“ keuchte er.

„Wissen Sie, wer Monsieur de la Touche ist?“

Der Posthalter schlüpfte soeben in den Feuerroten Frack und stülpte sich vor dem Spiegel den schwarzen Tschako mit weisser Stossfeder auf den verschwiemelten Graukopf.

„Ein Posthalter des Rheinbunds soll Monsieur de la Touche nicht kennen — die rechte Hand des Fürsten Talleyrand in Paris!“ sprach er atemlos, vor Dienstfertigkeit zitternd.

„Wissen Sie, wieviele Spione Herr de Talleyrand in Deutschland unterhält?“

„Zwanzigtausend — mein Herr —, man spricht von zwanzigtausend!“

„Nur zehntausend weniger, als sein Widersacher — der Polizeipräfekt Fouché und dessen Geheimagent, dieser unfähige Desmarets! Nun gut — wir sind diesen Herren zuvorgekommen! Wir sind auf den Fährten eines Menschen, der, als Werkzeug verbrecherischer Mächte, mit wichtigsten hochverräterischen Papieren unterwegs ist — Papieren, die, an ihren Bestimmungsort gelangt, Europa von neuem in seinen Grundfesten erschüttern! Mehr darf ich Ihnen nicht verraten!“

„Es genügt!“ Der Posthalter schnallte sich klirrend den Säbel um und warf den langen, weissen Reitermantel kriegerisch um die Schultern.

„Soeben ist, oben in Tilsit, der Kaiser der Franzosen damit beschäftigt, der von ihm beherrschten Welt den Frieden wiederzugeben. Die Gnade Napoleons ist dem sicher, der diesen Sendboten der Feinde des Friedens abfängt!“

„Wo ist der Kerl?“

„Er ist vor Thorn nach Osten abgebogen, um fern vom Kriegsgetümmel auf einsamen Wegen die Weichsel zu erreichen. Es glückte mir, indem ich meinen Gaul zu schanden ritt, ihm einen Vorsprung abzugewinnen. In wenigen Minuten müssen er und seine Begleiter hier im Städtchen einpassieren!“

„Da . .“ Der alte Niesemeuschelsche Dragoner zückte den zitterigen Zeigefinger durch das Vorderfenster des Eckzimmers gegen ein Dreigespann von Bauerngäulchen, die in wildem Weidegalopp vom Stadttor her einen Reisewagen die Gasse hinab zum Marktplatz rissen. Die Räder tanzten in den Strassenlöchern, der Polack auf dem Bock peitschte die polnischen Katzen, der Herr innen in der offenen Berline kauerte lauernd wie ein Kater vor dem Sprung, den dicken, bartlosen Kopf bis zur Hutkrempe in die sturmflatternden Kragen seines zimmetbraunen, polnischen Wetterrocks geduckt. Aus dem bleichen, schwammigen Gesicht schnellten die tiefliegenden Schattenaugen zwei unheimliche Blicke der Sturmfahrt voraus nach der Posthalterei.

„Das ist er!“ Der Fremde guckte seelenruhig über die Schulter des Rittmeisters. „Die Kerle auf dem Vordersitz sind sein Dolmetscher und sein Wegweiser. Gleich werden sie hier halten und frische Pferde verlangen. Benutze der Herr die Gelegenheit und packe er den Hochverräter unversehens von rückwärts! Es ist ein verzweifelter Patron und bis an die Zähne bewaffnet! Da fahren sie schon vor, als sei der Teufel hinter ihnen . .! In die Bataille, mein Herr Rittmeister! Viel Glück zum Orden der Ehrenlegion!“

„Der Kaiser der Franzosen, gnädiger Herr, soll mit mir alter Kriegsgurgel zufrieden sein!“ Der dicke Dragoner stolperte säbelrasselnd und sporenklirrend, mit wehendem weissen Mantel, die krachende Treppe hinab. Er liess die Tür hinter sich offen. Aber der fremde Reiter folgte ihm nicht, sondern schlüpfte mit drei Katzensprüngen fast lautlos zum Hinterfenster und beugte sich hinaus. In dem kleinen Hof unten stand ein blanker Gaul angebunden neben dem Feuergeflacker der Hufschmiede der Posthalterei. Eben schmiss der verrusste Schmied das rauchend-rote Eisen achtlos auf den Amboss und rannte durch den Torweg auf den Markt hinaus. Dort zeterte eine wutzitternde Stimme in französischen Fisteltönen. Polnische Flüche lachten dazwischen. Das befriedigte Sächsisch des Rittmeisters: „Haben wir dich, mei’ Kutester!“ und zu den Postknechten: „Sperrt die Ganalljen alle drei in den Holzkeller! Ihr werdet was erläben vom Naboleon, ihr Lulatsche!“

Im Schlafzimmer oben bewegte sich etwas neugierig unter der Decke. Der Geheime Referendarius wandte sich vom Hoffenster ab und machte eine Höfliche Verbeugung gegen die unsichtbare Posthalterin.

„Ich beurlaube mich, schönste Frau!“ sprach er. Verzeihen Sie dero gehorsamsten Diener, dass er im Dienst des Mars die Venus in Nacht und Dunkel zwang! Nun ist Madame aus ihrem Prison erlöst! Mille fois merci — und mein Kompliment an Ihren glücklichen Eheherrn!“

Es kicherte leise unter der Bettdecke. Dann wurde alles still. Nach einer Weile frug eine halblaute, helle Stimme unsicher aus der Tiefe der Pfühle: „Sind Sie auch wirklich fort?“ Keine Antwort. „Mein Herr . . . ob Sie fort sind . . .?“ Nichts. Ein ganz schmaler Spalt der Decke öffnete sich. Zwei kirschschwarze Augen blinzelten lichtgeblendet durch die eheliche Schlafstube. Sie war leer. Ein hübscher Schwarzkopf im Nachthäubchen tauchte auf. Die junge Posthalterin krabbelte aus den Federbetten und warf hastig die immer noch offene Tür ins Schloss. Durch diese Tür konnte der Étranger de distinction sich nicht empfohlen haben! Die wurmstichige Treppe hätte unter seinem Tritt gekracht. Blieb nur das Hoffenster! . . . Ein Stockwerk hoch! Im Hemd huschte die Frau Rittmeister die Wand entlang, lugte seitlich hinter der Gardine in die Tiefe . . . Da unten stand der Herr aus Dresden, wie ein Nachtdieb die Dachkandel hinabgerutscht, legte einen Haufen harter Maria-Theresientaler auf den Amboss, löste die Wassertrense des verlassenen Gauls, schwang sich auf dessen blanken Rücken und ritt, mit nur drei Eisen an den Hufen, still im Schritt durch das Hintergässchen davon.

Die Posthalterin fuhr sich mit der Hand über die Augen, ob sie nicht träume. Sie warf sich in das Nötigste: eine hochgegürtete Matinée aus indischem Perkal, in graue, mit Glasperlen gestickte Pantöffelchen, den Kaschmirschal um die Schultern, einen Iphigenienschleier über den Kopf — es dauerte doch fünf Minuten, bis sie atemlos unten auf dem Markt vor ihrem Mann in der Julisonne stand und rief:

„Kaspar — mir schwant, du hast eine Bêtise begangen! Der Herr Geheime Referendarius ist zu Pferd ohne Sattel und Bügel echappiert!“

Unten hinter dem Gitterfenster des halb unterirdischen Holzkellers knirschte das verzerrte, schwammige Antlitz des Herrn im polnischen Wettermantel in verzweifeltem Französisch zu dem Rittmeister hinauf:

„Da hinten reitet die Weltgeschichte und reitet uns davon! Sie hatten die Weltgeschichte in der Hand! Sie brauchten den Sendboten Wiens nur zu verhaften . .“

„Ei — mein bestes Härrchen — das hab’ ich ja . .“

„. . und lassen ihn weiter . . . nach Tilsit . . . mit den Briefen für Preussen! Er jagt wie ein Wahnsinniger Tag und Nacht! Endlich hatten wir ihn hier in Polen beinahe eingeholt! Von Thorn bis Warschau ist alles längs der Weichsel alarmiert, um ihn abzufangen . . Und dieser Mensch, den hunderte suchen, steht vor Ihnen . . .“

„Nee — er sitzt da unten — im Cachot — mein Bester!“

„Napoleon steht in Tilsit im Begriff, mit Russland Frieden zu schliessen und in diesem Frieden Preussen zu vernichten. In diesem letzten, entscheidenden Augenblick haben in Wien Erzherzog Karl und die Kriegspartei gesiegt! Der Mensch, der dort reitet, trägt die Rettung Preussens in seiner Tasche. Er trägt den Brief mit sich, der die Abreise des Kaiserlich-Königlichen Generals von Stutterheim von Wien nach Tilsit mit dem Bündnisangebot Österreichs an Preussen anmeldet! Erreicht er Tilsit vor Unterzeichnung des Friedens, dann lodert ganz Europa von neuem gegen Napoleon auf, weil ein Postmeister in der Wasserpolackei in seiner übermenschlichen Einfalt . .“

„Er hat mir seinen Pass gewiesen!“

„Der Pass war falsch! Man hat diesen verwegenen Botenreiter mit genug falschen Pässen in Wien ausgestattet! Er hat, dank Ihrer idiotischen Leichtgläubigkeit, mein Herr, mich, seinen Verfolger, statt seiner durch Sie verhaften lassen! Wissen Sie, mein Herr, wer ich bin? Kennen Sie den Polizeiminister Fouché? Kennen Sie seinen furchtbaren Geheimagenten, Monsieur Desmarets?“

„Lenchen — halte mich!“ stöhnte der dickbäuchige, rote Dragoner im weissen Mantel zu seiner Frau. „Mir klappen die Knie . .“

„. . . Monsieur Desmarets’ oberster Vertrauter und Bevollmächtigter in Deutschland aber bin ich — François Bienassis! . . Hier meine Ausweise — mit dem Pariser Geheimstempel des Kaiserreichs!. . Hätten Sie diese Papiere geprüft, statt sich blind wie ein wütiger Bulle auf mich zu stürzen . . .“

„Was haltet ihr hier Maulaffen feil, ihr Lümmel!“ Der Posthalter schubste verzweifelt die herumstehenden Postknechte. „Geleitet Seine Gnaden aus dem Holzkeller! Bürstet ihn ab! Bringt ihm einen Stuhl . . . Ein Glas Wein . . .“

„Verzeihen Sie ihm! Er ist ein alter Esel! Ich weiss es schon lange! Ich darf es nur nicht sagen!“ schrie die Posthalterin.

„Was hilft es? Das Unglück ist geschehen!“ Der gedunsene, schlaffe Monsieur Bienassis liess sich erschöpft im Freien nieder. „Dieser Glücksbote für Preussen hat einen neuen Vorsprung gewonnen. Wenn wir ihn nicht heute noch vor der Weichsel erreichen, ändert sich in wenigen Tagen das Antlitz der Welt.“

„Haben Sie ihn, Monsieur Bienassis?“ Ein Sarmate mit langwehendem Schnurrbart sprengte auf einem feurigen Halbblut über den Marktplatz heran. Er trug die dunkelgrüne Offizier-Ulanka der neugeschaffenen polnischen Lanciers. Die Reiter hinter ihm sassen auf keuchenden Dorfkleppern, verbauerte Schlachzizen in Lammfellmützen und umgedrehten Schafpelzen, geschliffene Sensen und Holzäxte als Waffen im Gürtel.

„Nein — Graf Grodcicki,“ sprach dumpf der bleiche Mann auf dem Stuhl, „da dieser Dümmste der Dummen hier mich statt des Hochverräters in einen stinkigen Keller schloss . .“

„Wollen Sie in die Bagnos von Cherbourg?“ zischte der polnische Graf in leisem Französisch, über den Pferdehals zu dem Posthalter hinabgebeugt. „Zieht es Sie nach Cayenne, Rittmeister, dass Sie sich an einem Bienassis vergreifen? . .“

„Ich kannte ihn doch nicht . .“

„Bienassis? Man kennt ihn seit zwanzig Jahren, als er noch Abbé war unter Ludwig dem Sechzehnten — Jakobiner während der Schreckenszeit — rechtzeitig auf Seite des Generals Bonaparte . . . Napoleon wird Sie zerschmettern . .“

„Lenchen — halte mich . .“

„. . . wenn uns durch Sie dieser Fang entgeht! Wo ist der Preusse hin?“

„Im Galopp die Landstrasse lang, auf die Weichselwälder zu!“ Die Postillons meldeten es durcheinander auf polnisch. „Er reitet auf blankem Pferd. Das Pferd ist alt. Es hat nur drei Eisen . .“

„Dann kriegen wir ihn!“ Der schnurrbärtige Sarmatengraf riss seinen Rappen auf den Hinterhufen herum. „Vorwärts! Quer durch den See! Der Preusse weiss nicht, dass der See nur flach ist! Er reitet um das Ufer herum! Wir fangen ihn drüben ab wie einen gehetzten Hasen!“

Die Gäule plantschten bis an die Bäuche im spritzenden Dreckwasser. Die Polen hockten mit hochgezogenen Knien. Der Ulan führte sie, im Modder versinkend, sich mit Sporenstichen und Peitschenhieben herausrappelnd, heiser zu dem Bauernrudel in Schmierstiefeln und Schafpelzen hinter ihm zurückschreiend:

„Er hat das Bündnisangebot Österreichs an Preussen in der Tasche seines Spenzers! Er rettet Preussen — dies furchtbare Preussen, wenn er Tilsit erreicht . . So ist’s recht, Bruder! Beiss’ deinem Klepper in die Ohren, wenn er nicht weiter will. Gleich sind, wir an Land! Durch! Durch!“ Der Graf zwängte mit Zungenschnalz die Brust seines Pferdes in die krachende, zweimannhohe Schilfwildnis des Sumpfufers hinein, arbeitete sich durch die rauschenden Dschungeln, riss draussen im fliegenden Sprung über den Landstrassengraben blitzschnell die Pistole aus dem Halfter . . .

Hell zwitscherte ein Vöglein am Ohr des Reiters in blauen Redingote und gelben Lederhosen, der kaum dreissig Schritte vor dem Lancier auf blankem Gaul durch die klatschenden Pfützen stob. Weiter — weiter . . Die Kugeln, die singen, treffen nicht mehr . . Da . . wieder ein Knall dahinten . . fast vorher schon ein schmatzender Klatsch . . . Ein wilder Satz des Gauls . . . Der Preusse bückte sich im Galoppieren, fasste mit der Rechten an die Pferdeflanke, zog den nassen Handteller blutrot gefärbt zurück. Lang lief sein Ross nicht mehr mit dem Schuss in die Weiche . . . Er lugte über die Schulter nach hinten. Der Pole lud im Reiten, die Zügel zwischen den Zähnen, von neuem die Pistole. Er musste dabei den Galopp etwas verkürzen. Er verlor Boden. Er bekam den blauen Reitfrack mit flatterndem roten Kragen am Waldsaum aus dem Gesicht . . . Er fegte, jetzt wieder in vollem Rosseslauf, die schussfertige Waffe in der Rechten, um die Wegbiegung, prallte beinahe an eine da langsam in derselben Richtung knarrende Halbkutsche mit hinten aufgeschnalltem Koffer, zwei Bauernpferde mit hängenden Dickschädeln davor, ein steinalter Polacke mit schlaffen Zügeln auf dem Bock. Ein Blick im Vorbeisprengen unter das halboffene Verdeck: Zwei Frauenzimmer da drinnen . . . Der grüne Lancier riss seinen Gaul in Schritt . . . Er frug atemlos auf französisch: „Haben die Demoiselles einen Reiter gesehen?“

Die Schutenhüte im Innern bewegten sich bejahend. Eine kleine Hand deutete nach vorn. Eine sanfte Stimme erwiderte in tadellosem Französisch:

„Und was für einen Reiter, mein Kapitän! Einen englischen Kunstreiter ohne Sattel und Bügel!“

„Einen Hochverräter, Madame! Einen Verschwörer gegen den Kaiser der Franzosen und dessen hohe Verbündete!“ Der Graf Grodcicki rief es schon im Davonjagen. Er stob den schmalen, geschlängelten Waldweg zwischen undurchdringlichem Erlengestrüpp dahin, glitt plötzlich beinahe über den Hals des Pferdes, so jäh stieg sein scheuender Rappe . . . In einer Blutlache, seitlings im Graben, lag da tot, die Hufe abenteuerlich gen Himmel reckend, der sattellose Gaul. Sein Reiter war verschwunden. Das Erlendickicht stand rechts und links weithin wie eine grüne Mauer. Sumpfspiegel brüteten im Wurzelgewirr unter seinem verfilzten Geäst. Es war unmöglich, hier eine Menschenspur zu verfolgen . . .

Aber ein hinterhältiger Schuss aus diesem Urwald heraus war möglich. Der Pole schaute sich unbehaglich um. Er kaute die Enden seines langen Schnurrbarts und trabte dann den Weg zurück, den auf ihren Ackergäulen hinter ihm gebliebenen Schlachzizen entgegen.

Da, um die Kutsche herum, die er vorhin gesehen, hielt die Schlachta. Der schnauzbärtige Pan Thaddäus Tyszka musterte stirnrunzelnd die Reisepapiere der beiden Demoisellen. Er trug noch aus dem Vorjahre, da Warschau preussisch gewesen, den verschmutzten, weissverschnürten, scharlachroten Dolman und die langen, blutfarbenen Pluderhosen des Regiments Towarczysz, der preussischen Bosniaken, aber auf dem Kopf statt der Bärenmütze die nagelneue, polnische Czapka mit der rotweissen Nationalkokarde. Er riss erschrocken die wässerigen Augen auf.

„Graf, wo ist der Preusse?“

„Zu Fuss in den Wald entwischt! Aber er entgeht uns nicht. Wir reiten ihm nach dem Weichselufer voraus. Wir besetzen die Fährstellen! Er muss uns in den Rachen laufen! Vorwärts! Was vertrödelt ihr hier mit den Weibern die Zeit! Spioninnen — was?“

„Nichts Gefährliches, Graf! Zwei kleine Putzmamsells mit ordnungsgemässen französischen Pässen des Präfekten des Departements Mainz nach Danzig unterwegs! Die Zierliche, Mittelgrosse rechts die Demoiselle Bettina Dullenkopf, dreiundzwanzig Jahre alt — die Dralle, Grössere links die Demoiselle Märtchen Zipfler — zwanzigjährig. Beide protestantisch und ledig!“

Der Graf Grodcicki blickte in das Innere des wackeligen Hauderer-Fuhrwerks. Die beiden Putzmacherinnen waren hübsch und jung — die Demoiselle Dullenkopf dunkelbraun, mit einem zarten, schmalen, lebhaften Gesicht, die Demoiselle Zipfler flachsblond, pausbäckig, mit vergnügten wasserblauen Äuglein. Die Braune, Lebendige, hatte sich über ihrem breitkragigen, hochgeschlossenen weissen Empirefähnchen und dem fussfreien, blauen Tuchrock zum Schutz gegen die Stechmücken in eine Wiltschura, einen polnischen Pelzmantel, gewickelt. Sie hob das dunkeläugige Köpfchen unter dem weissen Schutenhut mit schwarzer Schleife seelenvoll zu dem Polen empor.

„Spioninnen, mein Kapitän? Nein! Meine Freundin und ich sind als geborene Mainzerinnen von Herkunft Deutsche. Aber seitdem es kein deutsches Kaiserreich mehr gibt und die Franzosen die Rheinlande besetzt halten, sind wir Bürgerinnen Frankreichs und gehorsame Subjekte und Verehrerinnen Napoleons des Grossen!“

„Warum verehren die Demoisellen den Kaiser nicht am Rhein, statt sich hier . . .?“

„Wir ernährten uns in Mainz von unserer Handfertigkeit im Damenputz. Nachdem aber nunmehr das polnische Reich wieder errichtet und Danzig durch Napoleon den Grossen zu dessen Freistaat erklärt wird, trieb uns die Hoffnung auf günstigeren Erwerb dorthin auf Reisen, wo französische Sprachkenntnisse seltener sind als in Mainz!“

„Was Sie sagen, ist richtig, Demoiselle. Es gibt kein deutsches Kaiserreich mehr. Die Franzosen stehen am Rhein. Polen ist auferstanden. Danzig Freistaat. Dies alles wissen wir in diesem glorreichen Jahr 1807. Aber es erklärt mir nicht, warum Ihre Reise nach Danzig Sie so weit nach Osten, bis hinter Thorn, verschlägt!“

„Mein Gott — von Posen ab nordwärts sind alle Wege durch die Kanonen zu Brei zerfahren, aller Hafer von den Heeresintendanten requiriert, mein Kapitän!“ sagte die kleine Putzmamsell sanft. „Es gibt dort kein Stück Brot mehr im Lande. Die Truppen haben alles verzehrt. Wir mussten also ausbiegen, wenn wir überhaupt weiterkommen wollten! . . Dürfen wir unsere Reise fortsetzen?“

„Meinetwegen bis zum Grosstürken, Demoiselle! Vorwärts! Zur Weichselfähre!“

Das Trappeln der Hufe verhalte fern, dumpf, im Schweigen des Waldes. Einsam hauderte die Halbkutsche dahin, im Schritt, schwankend und knarrend, über die mit Feldsteinen ausgefüllten Löcher, die mit Fichtenknüppeln überbrückten Moraste der polnischen Landstrasse. Aus dem Graben daneben spreizten sich vier starre Pferdebeine windschief zum heissen Hundstagshimmel. Schwärme von Fliegen umsummten den halb in gelben Dotterdolden und blauem Vergissmeinnicht des Moorgrunds versunkenen Kadaver.

„Da liegt das Pferd von dem Kujon! Schad’, dass er’s nit selber ist, Märtche!“ sagte die Braune, Zarte — die Demoiselle Bettinche — hitzig in Mainzer Mundart.

„Verdient hätt’ er’s!“ nickte heftig die semmelblonde Putzmamsell neben ihr. „Sich gegen den Napoleon mausig mache! . . Ja — du liebe Zeit! Der Napoleon ist doch nit e Mensch — der ist doch das Schicksal selber! Unser Herrgott wird schon wisse, was er mit dem grossen Mann als noch vorhat! Wenn wir nur weiter käme! . . Das ist e Gezoddel und Gezoddel . .“

Immer langsam voran — in Gerumpel und Gehumpel — Schritt für Schritt . . Die Demoiselle Dullenkopf sass ungeduldig aufrecht. Ihre Kleinen, weissen, zartgepflegten Hände spielten nervös mit dem als antike Blechurne geformten, lackierten Ridicüle auf ihrem Schoss. Sie fächelte sich mit ihrem batistdünnen Fazzettel Kühlung. Sie schüttelte die kleinen Ohren wider die Stechmücken. Sie wippte mit den breiten Bandschleifen auf den schmalen Halbschuhchen. Sie tat einen tiefen Stossseufzer.

„Wir sind recht einfältige Gäns’, dass wir unsere lange Röck nit daheim gelasse habe, Märtche!“ sagte sie. „Wenn ich wieder ’mal in die Welt hinaus muss, dann mach’ ich’s wie viele Dame auf Reisen und lauf’ in Männerkleidern! Dann wär’ ich jetzt schon an der Weichsel! . . Jetzt guck’ nur das wasserpolackische Kroppzeug an, das uns da entgegekarriolt! Was die Schote auf ihre Wägelche mit den Händ’ fuchtele und kreische!“

Die dralle Blonde klopfte ein wenig ängstlich dem alten Kutscher auf die Schulter und führte fragend mit der Hand eine unsichtbare Schnapsflasche zum Mund. Der Greis grinste nach den vorbeirasselnden Bauern. Betrunken? Nein! Er wies nach vorn. Er muschelte zahnlos irgend etwas Gottergebenes in sich hinein.

„Verstehst du den alten Simpel, Märtche?“ frug das Fräulein Bettinche. „Ich hör’ als nur was von Janowka!“

„Janowka!“ nickte der Alte vielsagend.

„Janowka!“ schrie zornmütig der Letzte der davonfahrenden Bauern zurück.

„Was ist denn das für e schlimm’ Mädche — die Janowka — vor der sich all die Mannsbilder bekreuzige?“ Die feine, kleine Demoiselle Dullenkopf lachte über das ganze, zartgeschnittene, grossäugige Gesicht. Sie klatschte in die Hände. „Allong! Ich bin selber e Frauenzimmer! Ich fürcht’ mich vor eurer Janowka nit!“

„Gott sei Dank! Da hat der Wald e End’!“ schrie die Märtche. „Da sieht man Wasser zwischen den Bäumen . . .“

„Hurra! Die Weichsel!“

„. . und dort noch mehr Wasser . . und da erst . . überall . . ja — du — so viel Wasser gibt’s ja gar nit . .“

„Da ist ja der Rhein ein Rinnstein dagege!“ Das Bettinche Dullenkopf stand langsam, ungläubig auf. Der Wagen hielt auf einer Lichtung vor dem Fährhaus. Der Hauderer drehte sich um und deutete auf die flutende Weite. „Janowka“, wiederholte er fast feierlich. Und jetzt begriffen die beiden Mainzer Modistinnen, dass er damit das alljährliche Johannishochwasser der Weichsel meinte.

Die Weichsel war kein Strom mehr, sondern ein mächtiger, lehmgelber, reissender, schnell dahinschiessender See. Ein Fussgänger hätte eine Viertelstunde gebraucht, um das kaum sichtbare, niedrige, jenseitige Föhrenufer zu erreichen. Was sonst dazwischen lag — das Inselgewirr — die Sandbänke — war alles überschwemmt. Nur die Kronen von Erlenwäldern wogten da und dort mitten im Wellenschwall aus den schäumenden Wirbeln und Strudeln. Aufgeblähte, tote Ochsen, Binsendächer, Heuschober trieben auf der Flut. Ein aufrechtstehender Eichbaum schaukelte auf der losgerissenen Insel seines Wurzelgeästs der Ostsee zu. Das rastlose Wandern der Wassermassen erfüllte den weiten Raum zwischen Himmel und Erde mit einem eintönigen dumpfen Donner.

Vor dem Fährhaus stauten sich ausgespannte Kutschen und Panjewägelchen, grasten abgeschirrte Pferde, standen in Haufen die festgehaltenen Reisenden um den Fergen. Der Riesenkerl trug, in seltsamem Gegensatz, einen ganz kleinen, verschmitzt-schnurrbärtigen, einäugigen Kopf auf seinen Cyklopenschultern. Er verbeugte sich geschmeidig und untertänig vor den beiden Demoisellen. Er konnte nur polnisch.

„Er sagt: jetzt Weichsel — nix wie tot!“ dolmetschte mühsam Mendel Zeisig, der gelöckelte Handelsjude im Kaftan neben ihm. Und der polnische Kaplan, der reverendissimus dominus Joannes Batycki murmelte in lateinischem Bass: „Taceat mulier!“

„Die Demoisellen sitzen nicht allein hier fest!“ brummte der hochgräfliche Wiesenvogt und Veteran Starzewski im schlechten Französisch der Grossen Armee, und der Warschauer Sakristan und Oratorienheizer Sobotka schüttelte gegen die Damen den Graukopf und meinte auf polnisch: „Wir sitzen hier alle in der Arche Noah und warten auf die Taube mit dem Ölzweig.“

Die Demoiselle Dullenkopf war mit ihrer Freundin beiseite getreten. Ihr schmales, hübsches Gesicht war verstört und bleich. Sie ballte die kleinen Fäuste. Sie biss die Lippen zusammen und starrte feindselig auf die gelb gurgelnde Sintflut.

„Gott im Himmel . . ich darf doch keine Zeit verlieren . . Für mich hängt doch alles davon ab, Märtche!“ sagte sie leise und hochdeutsch. „Sobald in Tilsit der Friede unterzeichnet ist, reist er doch in einem Ruck nach Paris. Er gründet unterwegs noch das neue grosse Königreich in Kassel. Die Könige von Portugal und Toscana muss er auch noch absetzen. Vor Ende des Jahres will er noch die Türkei teilen. Vielleicht landet er vorher noch in England! Ich krieg’ ihn in Europa nicht mehr zu fassen. Und ich muss doch Napoleon sprechen . .“

„. . freilich . .“

„. . ich muss . . und ihm sagen . . . Was hast du, Märtchen?“

„Da . . das ist der Mann im blauen Redingote, der vorhin an uns vorbeigeritte ist . . ., dem sein Pferd dort hinte tot im Grabe liegt . .“

„. . von dem der Ulan uns zugeschrien hat, er sei ein Hochverräter und ein Feind Napoleons . .?“

„Der ist zu Fuss durch den Wald hierher . . da kommt er heran . . . Er geht auf den Fährmann zu . .“

„Er kann polnisch . . Sie reden miteinander . .“

„Er zeigt auf den Fluss! . . Aber der Polack will nit! Partout nit!“

„Er drängt ihn . . der verbrecherische Mensch . . . Er kriegt ihn an der Brust zu fassen . . . Er spricht wild auf ihn ein! Schau nur sein leidenschaftliches Gesicht — das ist so recht einer von diesen Feinden der Welt, die es wagen, sich Napoleon zu widersetzen!“

„Dem Patron müsst’ man das Handwerk lege!“

„Jetzt holt er seinen Lederbeutel heraus . . . Er hat lauter Goldstücke darin . . . Er bietet dem Fährmann den ganzen Beutel, wenn er es wagt und ihn übersetzt . .“

„Und auf’s Geld fliegen die Polacke wie die Raben!“

„Weiss Gott, Märtchen . . . der habgierige Fährmann tüts . . Er nickt . . Er will mit Lebensgefahr den Menschen aufs andere Ufer bringen . . der Gott weiss was gegen Napoleon im Schild führt . . Märtchen, wer Napoleon liebt, muss das verhindern . . .“

„Ja — wo steckt denn nur der Ulan von vorhin und sein Bauernvolk zu Pferd? Die könnte sich doch denke, wo der Spitzbub hingelaufe ist — als der Nas’ nach . . . bis an die Weichsel . .“

„Wir müssen sehen, ob wir nicht ein paar herzhafte Männer finden . .“

„. . komm mit zum Fährhaus, Märtche . . . Geh langsam . . schwatz’ was . . lach’ doch, damit er keinen Verdacht schöpft!“

Auf einem leeren Futtertrog sass, rittlings wie auf einem Ross, vor dem Fährhaus der alte Pan Tyszka, der ehemalige Warschauer Towarczysz, in seiner feuerroten Attila und seinen blutroten langen Hosen, biss aus freier Hand abwechselnd in eine Gurke und ein Stück Roggenbrot und wischte sich die Finger an der weissen Ärmelverschnürung seines umgehängten scharlachen Dolmans ab. Er schmunzelte aus seinen wässerigen Äuglein die beiden Putzfräulein verständnisvoll an.

„Kann sich nur Vogel über Weichsel!“ sprach er kauend. „Müssen schöne Offiziere von General Rapp in Danzig noch auf die Demoiselles warten! Armes Rapp! Armes Danzig!“

„Ich begreife den Herrn nicht!“ Die braune Mainzerin rückte mit zwei Schritten dem schmierigen Greis dicht auf den Leib. „Uns harmlosen Frauenzimmern hat Er im Wald die Pässe visitiert! Dort drüben am Ufer aber steht der Hochverräter, den Er sucht, und dem Herrn ist seine Salzgurke importanter als der Feind des Kaisers der Franzosen!“

Der alte Schlachzize schob den letzten grünen Zipfel in den strubbeligen Graubart und blinzelte pfiffig — nicht in der Richtung nach dem blauen Reitfrack bei den Kähnen drüben, sondern in das Dunkel des verräucherten Fährhauses hinter ihnen hinein. Und in dessen Zwielicht sah die Demoiselle Bettinche jetzt da drinnen die undeutlichen Umrisse des langen, hageren polnischen Ulanen und um ihn her; im Geflacker des Herdfeuers, ein paar andere Gestalten im Schafpelz, Sensen im Gürtel.

Und jetzt erkannte sie: der adelige Bauer, der dort nicht weit von ihr, barfüssig, aber den Krummsäbel an der Seite, in der Sonne hockte, und die beiden zerlumpten Edelleute, die in einem Eimer Weichselwasser für ihre Pferde herbeitrugen, das waren alles Gesichter aus der Schlachta, die vorhin den Reisekarren umringt hatte! Der alte Pan schaute gespannt der Mamsell Dullenkopf in das hübsche, junge, erhitzte Antlitz.

„Freundin Napoleons?“ frug er ernst und vertraulich.

„Mit Leib und Seele!“

„Ist sich gut! Wird sich alles gut! Braucht sich Geduld!“

Der greise, nach Knoblauch und Stiefelschmiere dünstende Towarczysz drehte den Graukopf nach einem Schatten, der von rückwärts über ihn fiel. Der riesige Fährmann stapfte, vom Ufer kommend, schwerfällig in seinen hohen Wasserstiefeln an ihm vorbei. Er zwinkerte dabei verstohlen mit seinem einzigen, stechend schwarzen Auge und murmelte auf polnisch ein paar Worte, die die Demoiselle Dullenkopf nicht verstand. Während er in die Fährhütte trat, gähnte ihr der alte Bosniake ins Gesicht und zischte hinter der hohlen, vorgehaltenen Runzelhand:

„Grosses Unheil . . . Grosse Gefahr für Kaiser französisches . . grosse Not für Polen . . Brandfackel für Welt hat Preusse drüben in Redingote stecken! . . . Gleich so weit, dass wir furchtbares Brief bekommen! . . Wenn die Panja ist fromme Magd Napoleons . .“

„Für Napoleon durchs Feuer!“

„. . dann gehe schöne Panja zu dem Preussen . . mache süsse Augen . . plaudere mit ihm . . damit er nichts merkt! Nur ein paar Ave Maria lang! Dann Söhne Polens hier bereit!“

„Komm’, Märtchen!“

„Ich fürcht’ mich, Bettinche!“

„Dann geh ich allein!“

Die Demoiselle Dullenkopf warf der Freundin verächtlich ihre Pelz-Wiltschura zum Aufheben über den Arm und schritt nach dem Ufer. Der blaue Tuchrock schaukelte unruhig um ihre schlanken, weissbestrumpften Knöchel. Das Spitzengekräusel ihres weissen, dicht unter dem Busen hochgegürteten Empireausschnitts wogte heftig auf und nieder. Ihre schmalen Züge waren unter dem Schatten des Schutenhuts blass und starr. Ihre dünnen, feinen Finger zitterten, während sie den kleinen, buntseidenen, gefranzten Pariser Parasol aufspannte und zu den Kähnen trat, die, hundert Schritte vom Fährhaus, in einer geschützten Uferbuchtung an Pflöcken angekettet lagen.

In einem kleinen Nachen sass, ihr den Rücken drehend, der Preusse. Er hatte seinen Zylinderhut neben sich auf die Ruderbank gestellt, deren Ruder mit allen anderen drüben, in der Hütte des Fergen, lagen, und vertrieb sich die Zeit bis zu dessen Wiederkehr, indem er müssig den Bretterbelag des Kahnbodens lüftete und leise wieder sinken liess. Er hatte das Gehör eines Wachhundes. Er vernahm den leichtfüssigen Tritt der spitzen, kleinen, schwarzen Halbschuhe schon auf zehn Schritte. Er wandte jäh den bartlosen, scharfkantigen Kopf. Sein Blick leuchtete eine Sekunde unheimlich blaustählern. Dann schloss er gleichgültig wieder halb die Lider und sah das junge Frauenzimmer seelenruhig im Sitzen von unten her an. Sie stand vor ihm. Sie fühlte ihr Herz hämmern. Sie versetzte, so unbefangen sie konnte, auf deutsch:

„Wollen Sie wirklich über die Weichsel?“

„Endlich mal wieder ein deutsches Wort hier unter den Polacken!“ sagte der Fremde erfreut und nahm seinen Zylinderhut von der Bank, um ihr Platz zu machen. Aber sie blieb neben dem Boot stehen.

„Ich bin keine Deutsche, Monsieur! Ich bin Citoyenne des Départements Mainz des französischen Kaiserreichs.“

Der junge Mann erwiderte nichts. Die Mainzer Mamsell hub wieder an:

„Alle Leute im Fährhaus sagen: Man kann jetzt nicht über den Strom!“

„Aber man will, Demoiselle!“

„Haben Sie so wichtige Affären, dass Sie Ihr Leben daran hängen?“

„Ich?“ Der blonde, noch nicht dreissigjährige Mann im Boot lächelte treuherzig. „Ich bin ein einfacher Negociant aus Königsberg, oder, ehrlich gesagt, sogar nur ein schlichter Musterreiter. Mein Schinder bekam im Wald den Sonnenstich. Dort liegt er jetzt noch.“

„Ich hab’ ihn gesehen!“

„Während ich um Hilfe ausging, stahlen mir die verfluchten Bauern Sattel, Musterpacken — alles! Was tu’ ich noch hier? Ich will heim! Und wo ist die Mamsell zu Haus?“

„In Mainz, Herr Musterreiter!“

„Und wes Standes, Sie artiges Kind?“

„Ich bin auch nur ein einfach Mädche . . . eine Putzmacherin . . . Enfin . . ich blieb’ an Ihrer Stelle hier am Ufer, statt Gott zu versuchen!“

„Ich muss aber hinüber!“ sprach der Fremde zerstreut und nachdenklich. Er holte ein langes Taschenmesser mit Hirschhorngriff aus seiner gelbledernen Reithose und klappte es vorsichtig auf. „Wenn die Demoiselle mich obligieren will, dann bleibe sie gerade so stehen wie jetzt . . . So spendet Ihr Schirm mir auch etwas Schatten in der heissen Sonne . . . ah . . . das erquickt . . .“

Er beugte im Sitzen den zopflosen, nach neuester Sitte kurzgeschorenen Blondkopf nach vorn und schnitzelte spielerisch mit seinem Messer an der Spitze des Kahns herum. Sein Profil, das er der Demoiselle Dullenkopf zuwandte, zeigte eine zähe, harte, in festen Linien geschlossene Kühnheit. Die Mainzer Untertanin oben begriff nicht, dass diesen verwegenen Napoleonsfeind die Sonne belästigen könne. Aber sie stand still, um den Bösewicht nicht aus seiner beschaulichen Ruhe zu bringen. Sie glaubte, wenn sich die drei roten Schulterkragen seines Spenzers beim Hantieren mit dem Messer am Schiffsschnabel verschoben, in der Ausbuchtung der Brusttasche das siebenfach versiegelte Dokument zu erkennen, an dem das Schicksal Europas hing. Diesen Brief musste man ihm abnehmen. Dann konnte man ihn ja laufen lassen. Sie neigte sich über den Bootsrand. Sie öffnete den Mund.

„So verharre doch die Demoiselle auf ihrem Platz, wie ich sie gebeten habe!“ rief der Fremde unwirsch. Er arbeitete da unten, dass die Späne flogen. Die Modistin fügte sich, um ihn nicht zu reizen. Sie beschattete ihn wieder mit ihrem Schirm und mit ihrer zierlichen Gestalt. Sie sagte drängend:

„Ich, an des Monsieurs Stelle, würde, wie wir anderen Reisenden auch, tant bien que mal Quartier im Fährhaus nehmen!“

„Im Fährhaus werde ich umgebracht und in die Weichsel geworfen!“ Der junge Mann schnitzte emsig. „Das, einäugige Vieh denkt doch nicht daran, mich über die Weichsel zu setzen. Er wird jetzt gleich fahrtfertig kommen und verlangen, dass ich die Hälfte des Fahrgelds, für den Fall, dass er unterwegs ertrinkt, ihm drinnen im Haus für sein Weib und Kind auf den Tisch zähle! Im Haus sind, nach meiner Zählung, bis jetzt zehn edle Polen verborgen! Das ist zu viel für einen friedlichen Musterreisenden in Kattun und Zephir . . . Wackele die Demoiselle doch nicht mit ihrem Sonnendach, wenn ich submissest bitten darf, sondern rühre kein Glied, wie auf der Wachparade in Potsdam . .!“

Die Demoiselle Dullenkopf stand still. Auch ihr Herzschlag stand still. Sie bekam kaum mehr Atem. Ein bleiernes Entsetzen legte sich ihr auf die Brust: Sie wollen aus mir eine Mörderin machen . . . eine Mörderin . . . . .

„Sie erwägen jetzt, Demoiselle, ich könnte mich in den Wald retirieren!“ sprach, mit seiner Arbeit im Boot beschäftigt, der Fremde, als ob er ihre Gedanken erriete. „Dort liegt schon, seit Sie hierher kamen, ein alter, roter, dem Preussenkönig desertierten Towarczysz und noch ein paar Schlachzizen mit ihren Donnerbüchsen auf der Lauer. Man versenkt mich dort in den Sumpf. Das ist der ganze Unterschied! Die Demoiselle sieht: Es gibt nur einen Ausweg: hinaus auf die Weichsel!“ Er klappte sein Messer zu und schob es befriedigt in den Hosensack. „Und das bald! In fünf Minuten bin ich tot.“

. . Durch mich . . . Auch über mich sein Blut . . . Die Mainzer Modistin stand mit starren Augen . . . am ganzen Leib zitternd . . . Der Preusse nestelte gebückt und hastig vorn am Schiffsbord. Er murmelte dabei, etwas unruhiger als bisher.

„Habe die Demoiselle die Gewogenheit und melde mir, wenn der Fährmann kommt . .“

„Eben tritt er aus dem Haus!“ Die Mamsell Dullenkopf rief es fast unwillkürlich. Ein Schauer von Spritztropfen übersprühte sie vom Schutenrand bis zur Schuhschleife. Der Fremde war mit einem Satz in das seichte Uferwasser gesprungen. Er warf die Eisenkette beiseite, die den Kahn am Landpflock festhielt, und jetzt begriff die Demoiselle, dass er mit seinem Messer den Haltering der Kette aus dem Holz der Bootspitze herausgeschnitten hatte. Er schob, bis zu den Knien watend, das Fahrzeug in tieferes Wasser und schwang sich im letzten Augenblick wieder hinein. Der Nachen schoss in das Gegurgel und Geschäume des freien Stroms und pfeilschnell flussabwärts. Der Preusse drinnen schaufelte sitzend aus Leibeskräften mit einer Bohle des Bodenbelags, und nun verstand die Demoiselle Dullenkopf, warum er diese faulig-feuchten Bretter vorhin zum Zeitvertreib aufgehoben und wieder hingelegt hatte. Mit dem Stück Holz als Handruder zwängte er sein dahingerissenes Schifflein in die Weichselmitte hinaus. Es wurde schon winzig wie eine Nussschale. Er selbst schrumpfte zu einem fernen, dunklen Punkt zusammen. Der einäugige Ferge stand mit geballten Fäusten. Die aus dem Fährhaus und Föhrendickicht gestürmten barfüssigen Edelleute hielten ratlos die Pistolen in der Faust. Es war gar keine Zeit gewesen, zu feuern.

„Eine Fahrt auf Leben und Tod!“ sprach der Wiesenvogt. Der Oratorienheizer blinzelte unter der vorgehaltenen Hand. „Er treibt im Sturm zwischen den überschwemmten Erleninseln hin . .“

„Jach seh nix mehr von dem Preussenleben!“ Mendel Zeisig zog die Kaftanschultern hoch. Neben ihm bestätigte der düstere Bass des hochwürdigen polnischen Kaplans Batycki: „Effugit — evasit — erupit!“

„Seine Mitverschworene wenigstens haben wir hier!“

Die Demoiselle Dullenkopf fühlte sich unsanft am Arm gepackt. Der schnurrbärtige Graf Grodcicki stand finster in seiner grünen Warschauer Lancier-Litewka vor ihr.

„Wir hatten den Hochverräter durch die Fenster des Fährhauses im Auge. Sie stellten sich mit Ihrem Parasol vor ihn wie eine Schildwache und hinderten uns, zu bemerken, dass er in anscheinend harmlosem Gespräch mit Ihnen den Kahn von der Kette löste! Oh — Mamsell — Ihre Praktiken sind durchschaut . . . Sie waren mir schon gleich zu Anfang im Wald verdächtig! . . . Gut, dass Sie endlich angefahren kommen, Monsieur Bienassis! Der Fall mit diesen beiden Mainzer Mamsellen fällt in Ihr Fach. Ich übergebe diese Demoiselle hiermit der Geheimen Kaiserlichen Polizei!“

„Und wir werden unsere Schuldigkeit tun!“ sprach der schattenäugige, bleiche ehemalige Abbé und Jakobiner. „Ihre Affaire, meine schöne Dame, schmeckt nach Hochverrat! Man wird Sie im Grossen Hauptquartier verhören! Ich werde persönlich Seiner Majestät Rapport erstatten!“

„Das werd’ ich selber alles dem Kaiser erzählen!“

Die Polacken ringsum wieherten auf. Der schwammige, bartlose Vertraute des Polizeiministers Fouché lächelte ein böses Lächeln.

„Spielen Sie nicht die Naive, mein Kind! Für Dämchen Ihrer Art hat der Kaiser keine Zeit!“

„Wir werden ja sehen!“ Die Demoiselle Dullenkopf zuckte die schmalen Schultern und schritt gelassen zwischen ihren Wachen dem Fährhaus zu. „Ich glaube doch, dass Napoleon mich empfängt!“

2

Vorwärts! Vor fünf Tagen habe ich eine Fahrt über die Weichsel getan, die lausiger war als dies Gesegel durch das Haff! An die Ruder jetzt! . . . Ich lege jedem von euch noch einen Friedrichsd’or zu!“

Durch die lautlose Morgendämmerung keuchte der Atem der vier Fischer und klatschten die Riemen in dem windstillen Brackwasser der Memelmündungen. Der Fremde stand aufrecht in dem schwerfällig flussaufwärts gleitenden Boot. Er fasste mit einer gewohnheitsmässigen Bewegung unter die drei roten Schulterklappen seines blauen Reitfracks, ob da in der Brusttasche der Brief noch stecke — der siebenfach versiegelte Brief von Wien nach Tilsit . . . Er nahm den schwarzen Zylinderhut von dem neumodisch kurz gekappten Blondhaar und wandte den bartlosen, hartkantig geschnittenen jungen Kopf nach rückwärts. Ganz fern da hinten — vier, fünf Stunden weit — schimmerte noch über die graue Haff-Fläche das Licht von Nidden auf der Kurischen Nehrung, von der er kam, und erlosch in der ringsum schattenden Schilfwildnis des Russ.

„Platz, trautstes Mannchen!“ Der Musterreiter schubste den einen erschöpften alten Fischer von der Bank, setzte sich, griff selbst nach dem Ruder. Der Kahn ächzte unter seinem wuchtigen Schlag. „Vorwärts!“ Der heisere, leidenschaftliche Schrei der jungen Männerstimme weckte das weisse Gesprengel der Möwen auf dem grauen Wasserspiegel aus dem Schlaf. Die wilden Enten im Röhricht lüfteten den Schnabel unter dem Flügel. Drüben, zur Rechten, vor dem schwarzen Moor des Jbenheimer Forstes, spitzten die Elche, die schattenhaft, gross wie Bauernpferde, im Erlenbruch standen, die langen Eselsohren über den Rammsnasen. Weiter — weiter! Ein Ruck! Der Nachen am Ufer! Ein paar sumpfverlorene, binsengedeckte Holzhütten im Zwielicht! Ein verschlafener Litauer . . . Auffunkelnd die zwinkernden Augen beim Glitzern des Goldstücks, im Schein der Stalllaterne, in des Fremden Hohlhand. Angespannt! Rittlings auf einem Brett mit vier Rädern, auf einem Weg, der keiner ist, in weisses Birkengewimmel und weisse Morgenschwaden über schwarzem Moor hinein! Vorn der Gaul, dann der Litauer, hinten der Fremde. Über Wurzeln! Ins Wasser! Durchs Dickicht! Vorwärts! Nach Tilsit! Nach Tilsit! . . .

Da . . . ein Dorf . . . Sausgallen? . . Der Litauer nickt: Sausgallen! Zwei Tschakos im Zwielicht . . . Zwei erhobene Gewehrläufe mit schwarz dräuenden Mäulern.

„Halt! Wer da?“

„Ein Preusse!“

„Das kann jeder sagen, der uns von Königsberg her in den Rücken pascht!“

„Lasst mich durch — im Namen Preussens!“

Der Leutnant der Feldwache trat rasch aus dem nächsten Bauernhaus, in gelben Hosen und gelben Stiefeln, so wie er geschlafen, nur rasch sich noch die hellgrüne Weste und den hellgrünen Rock mit rotem Aufschlag zuknöpfend.

„Wer ist Er?“

„Herr Leutnant . . . Ist der Friede schon unterzeichnet . .?“

„Noch nicht! Immer noch Waffenstillstand!“

„Gott sei Dank!“

„Wer ist Er — frag’ ich!“

„Einer, der diesen Frieden noch verhindern kann — mit wichtigster Geheimpost unterwegs . . . um Preussens willen — lasst mich durch!“

Ein kurzes Zögern des Offiziers.

„Einer der Burschen wird hinten aufsitzen und Ihn auf die grosse Heerstrasse nach Jugnaten bringen. Dort wird man Ihn examinieren! Melde Er, der Secondelieutenant Clausius vom Feldjäger-Regiment Yorck schicke Ihn!“

Heller Morgen schon über den Höhen von Jugnaten. Goldene Sommersonnenstrahlen über dem preussischblauen Gewimmel der Brigade Rembow. Vor den einander die Zöpfe flechtenden, mit Schweineschmalz einfettenden und weisspudernden Füsilieren, breitbeinig in seinen schwarzen Tüchstiefeln, auf seinen Stock gestützt, der Kapitän vom Dienst, in weisser Weste und weisser Hose, die silberne, schwarzseiden durchwirkte Wachtschärpe um den dunkelblauen Frack geschlungen, den silbern betressten Dreispitz in der Stirne.

„Hat Er Pässe?“

„Nur ein halbes Dutzend falsche!“

„Warum fälscht Er seine Ausweise — he, Monsieur?“

„Weil ich sonst niemals lebendig durch die Polackei gekommen wäre — Tag und Nacht unterwegs — mit einer Post, an der das Schicksal Preussens hängt . . .“

„Weise Er diese Post!“

„Ich lasse sie nicht aus der Hand, Herr Kapitän! Ich darf sie nur in die Hand des Grafen Möllenbeck geben!“

Der Hauptmann der Rembow-Füsiliere las, in der erhobenen Rechten des andern, zwischen den riesigen, roten Staatssiegeln die Aufschrift: „An Seiner Majestät in Preussen Geheimen Rat, Mitglied des Generaldirektoriums, Envoyé Extra-Ordinaire a. D., des Grafen Josias von Möllenbeck Exzellenz, auf Mariengarten.“ Sein Ton wurde achtungsvoller. Er frug:

„Von wem stammt dieses Memorial?“

„Von der eigenen Hand Seiner Erlaucht, des Herrn Kaiserlichen Ministers des Äusseren Grafen von Stadion in Wien!“

„Wo soll Er es abgeben?“

„Im Schloss Mariengarten — auf dem Weg nach Tilsit — zwei Stunden von hier!“

„Ist Er dort bekannt?“

„Ich bin dort geboren und aufgewachsen! Mein Vater ist Hufschmied auf dem gräflichen Herrschaftshof!“

„Eines Hufschmieds Sohn . . . als Postenreiter . . . in hoher Staatsaffaire . . . hm . . . hm . . . Wer ist Er selber . . . Wie ist Sein Name?“

„Ich heisse Juel Wisselinck und bin Kandidat beider Rechte an der Universität in Königsberg!“

„Eines Hufschmieds Sohn . . . hm . . . wie ginge das wohl zu? . . . Expliziere der Herr Kandidat mir das, wenn es beliebt!“

„In der Bataille von Zorndorf, im Siebenjährigen Krieg, rettete mein Vater, ein Pommer, als Fahnenschmied bei den Ziethen-Kürassieren seinem Rittmeister, dem Grafen von Möllenbeck, dem Vater der jetzigen Exzellenz, das Leben, indem er mehrere Baschkiren aus dem Sattel hieb, und wurde selbst dabei durch eine Blessur am Bein für immer lahm. Der Graf machte ihn zum Dank zum Hofschmied im Schloss Mariengarten und stand, als mein Vater mit seiner gnädigsten Permission heiratete, bei mir, seinem einzigen Sohn, Gevatter. Ich bin der Pate Seiner Exzellenz, die vor. elf Jahren, als General im Ruhestand, das Zeitliche segnete.“

„Ah . . . das ändert den Fall!“

„Hochdero Sohn, der jetzige Graf Möllenbeck, hat mir die väterliche Gunst als Vermächtnis bewahrt. Er liess mich, nachdem ich einige Zeit als Hofmeister auf adeligen Gütern konditioniert, meine juristischen Studien in Königsberg fortsetzen. Bei dem jetzigen betrübten Zustand Preussens bot ich, da meine geringe Herkunft mir den Offiziersstand verbietet, irgendwie meine bescheidenen Dienste an, zu denen mich auch meine Körperfertigkeiten eines Dorfbuben, als wie Klettern, Schwimmen, blanke Gäule reiten, qualifizieren mögen! Der Herr Graf entschlossen sich, mich, auf dessen Unscheinbarkeit kein Verdacht fiel, nach Wien zu senden, der Heimat der Gemahlin Seiner Exzellenz . . .“

„Der geborenen Gräfin Lommetsch . . Oh . . ich weiss es wohl!“ sagte der Hauptmann der Füsilierbrigade Rembow. „Ich bin der Distinktion gewürdigt, den Herrn Minister Möllenbeck, diesen scharfsinnigen und adligen Kopf und Vorbild aller preussischen Tugenden, von Person zu kennen. Empfehle der Herr mich ihm zu Gnaden — vom Hauptmann von Wittelsburg — und setze Er seine Reise fort, so schnell es geht . . .“

In tausend Rinnen zerfahren von den Geschützrädern, den Pulver- und Mehlkarren, ein Löchergewirr durch die Nagelsohlen von Tausenden — die Heerstrasse von Memel nach Tilsit. Krähengeflatter und tote Gäule am Weg — umgestürzte Planwagen im Graben — von Pferdehufen zerstampftes Getreide: Ein jetzt im Waffenstillstand unsichtbarer Riese, ragend, mit gespreizten Beinen, grinste der Krieg auf die lachende Landschaft zu seinen Füssen, auf den jungen Mann im blauen Frack da unten, rittlings auf rasselndem Wägelchen. Und der atmete doch in der Not umher aus tiefer Brust die nordisch-herbe, meeresnahe Luft der Heimat — Preussen — du letztes Preussen — hier — im äussersten Winkel zwischen der Memel und dem Krug Nimmersatt — aber immer noch Preussen . . . morgen noch Preussen . . . so Gott will . . . Herrgott — lass mich nur rechtzeitig nach Tilsit kommen . . .

Türme in der Ferne am Weg — ein Schloss zwischen grünen Parkwipfeln . . . fahre, Litauer, fahre! — Das Schloss rückte langsam näher — farbige Punkte davor — schillernd in allen Regenbogenfarben. So buntscheckig waren nur die Husaren. Sie standen in Haufen um die Hufschmiede und liessen sich ihre Gäule beschlagen, in ihren schwarzen Filzmützen mit weissem Reiherflügel und ihren langen, weissen Hosen, die blauen Dolmans über den weissverschnürten roten Pelzen und grünen Schärpen, Schlangenköpfe am Sattel- und Zaumzeug. In ihrer Mitte Christ Wisselinck, der alte gräfliche Schmied. Ein Siebziger. Aber sein Hammer härtete noch hell das heisse, rote Eisen.

„Tja, ihr Jungs!“ sprach er dabei in seinem heimatlichen pommerschen Platt. „Der Herr Oberst von Lüderitz führte die Cuirassiers und fiel bei Lowositz. Der Herr Oberst Siegfried von Krosigk übernahm die Cuirassiers und fiel bei Collin. Der Herr Oberst von Ziethen übernahm die Cuirassiers und fiel bei Zorndorf. Immer haben die Cuirassiers ihren Namen wieder wechseln müssen. Aber sie sind geblieben. So soll ja woll auch Preussen bleiben! Dat muss der Mensch ja nu in sich haben, dass er nicht kleinzukriegen ist. Sonst geiht dat nicht . . . Ei . . . Juel . . . min Sohn . . . wo kommst du her . .?“

„Lass mich . . lass mich, Vater!“

„Nu vertell’ mal . . . wie war die Reise?“

„Wo ist Seine Exzellenz?“

„Vorhin nach Tilsit gefahren!“

„Und die Frau Gräfin?“

„Sie rührt sich all! Mich dünkt, sie hat dich gesehen! Da schickt sie schon den Jäger und lässt dich holen! Ja — ihr Jungs — Respekt . . . dat ’s nun min Sohn, den empfängt eine hochgnädige Noblesse wie ihresgleichen im Ahnensaal!“

An der Stirnwand des grossen Raumes, gegenüber der Türe, hing das lebensgrosse Bildnis des verstorbenen Generals Möllenbeck in dem strohgelben, blau ausgeschlagenen Koller und dem weissgefederten, durch ein Eisenkreuz geschützten schwarzen Hut der Zorndorfer Ziethenkürassiere. Darunter stand seine Schwiegertochter, die Gräfin Maria Theres’. Sie hatte in Eile eine Spitzenhaube mit breiten Kinnschleifen über die Lockenwickel ihrer Nachtfrisur geknüpft und einen langfransigen Persianer Schal um ihr meissmusselinenes Morgennegligé geworfen. Ihre Züge besassen, so lange der Kandidat Wisselinck sich erinnern konnte — vom Tage ihres Einzugs als ganz junge Frau von zwanzig Jahren bis heute — immer etwas Zeitloses, die herben Linien einer im Sattel in der Pussta, mit der Pirschbüchse in der Hand in den böhmischen Wäldern aufgewachsenen österreichischen Aristokratin. Nun erschien ihm ihr Antlitz fast männlich in seiner hart-entschlossenen Spannung, und die Leidenschaft einer Frau in Staatsgeschäften darüber.

„Wisselinck . . . Jesus Maria . . . haben’s den Brief vom Stadion?“

„Zu dienen, Exzellenz! . . . Ich bin verzweifelt . . . Ich musste diesseits der Weichsel, um nicht in die endlosen Trainkolonnen Napoleons zu geraten, einen Haken über Königsberg und die Nehrung schlagen! Zwei Tage Verlust! Es kann sein, dass der General Stutterheim mit dem förmlichen, österreichischen Bündnisangebot heute noch, gleich hinter mir, in Tilsit einpassiert!“

„Um so kostbarer ist jede Minute! Ich lass’ Ihnen eben schon den ,Emir’ satteln — das schnellste Ross weit und breit! Reiten Sie’s, als ob es kein Dittchen wert wär’ . . . zum Grafen nach Tilsit . . .“

„Ich fliege, Exzellenz . . .“

„Er und andere wollen ihr Letztes tun, die Schmach zu verhindern — auf den faden Goltz und den leichtsinnigen alten Schwätzer, den Kalckreuth, einwirken! Der Schubiak, der Talleyrand, drängt die beiden, den Frieden zu unterzeichnen! Den Frieden — gerad’ jetzt, wo mei’ Österreich endlich — endlich sich auf sein’ Stolz und Ehre besinnt!“

In der leidenschaftlichen Österreicherin kochte das Blut ihrer Ahnen. In ihrer Stimme zitterte es: Prinz Eugen, der edle Ritter . . . Sie goss eigenhändig dem Kandidaten ein Kristallglas voll Kanariensekt ein und stopfte ihm die Biskuits ihrer Morgenschokolade in die Fracktasche.

„Trinken’s, Wisselinck! Essen’s im Sattel! . . Da kommt der ,Emir’ aus dem Stall! . . . Reiten’s mit dem Urian um die Wette! Sie finden den Grafen in Tilsit bei dem Salzburger — dem Mehllieferanten der ostpreussischen Inspektion von der Infanterie. Sie kennen ihn schon . . . den Magenhöfer . . . in dem grossen Haus am Flachsmarkt . . Reiten’s! . . . Jesus Maria . . . hilf!“

Staubwirbelnd stob der Vollblüter den Weg dahin. Über seine Ohren weg flogen seines Reiters Augen voraus in die Memelniederung, leuchteten blau und heiss auf wie der Himmel über ihnen: Da vorne wuchsen aus grünem Land und gelbem Feld und dunklem Forst drei Türme nebeneinander auf . . . die Kirchtürme von Tilsit . . . Lauf — Emir — lauf . . . die Strasse vor dir ist leer . . . schon dicht an der Waffenstillstandsgrenze. Da, beim Herauskommen aus dem Fichtengehölz, auf dem Hügel hinter Annuschen, das letzte Flattern eines grauen, preussischen Offiziersmantels. Trotz der Kriegsruhe kampfbereit, die Pulverflaschen an weissledernen Schulterriemen, hinter ihm die Bombardiers an den Kanonen der reitenden Artillerie-Kompagnie. Der junge Leutnant Tiedecke oben wandte das fanatische, von zehn Monaten Kampagne braungebrannte, von zwei Blessuren gespenstig abgezehrte, bartlose Antlitz dem blauen Reiter unter zu:

„Halt — Wisselinck! . . . Wohin? Nach Tilsit? Wollen Sie zugucken, wie man dort Preussen hundsföttisch zum Schindanger schleift? Sie kommen just zu Pass!“ Der wilde Artillerist wies nach dem altersgrauen, fernen Gemäuer, das sich plump über das niedere Dächergewirr des Städtchens reckte. „Dort, im Schloss, versammelt sich eben, was keine Ehre mehr im Leib hat, zu Bonapartes schwarzer Messe! Heute feiert der Höllensohn seinen Triumph! . . . Aber wartet nur, ihr dicken Epauletten, ihr Ordenssterne über Hasenherzen dort drüben in Piktupönen!“