Ella und das Biest - S.E. Smith - E-Book

Ella und das Biest E-Book

S.E. Smith

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Beschreibung

Vor langer Zeit führten die Gestaltenwandler und die Menschen einen Krieg gegeneinander. Die Menschen verloren ihn, mit schrecklichen Folgen …
Ella gehört zu einem Clan, der sich tief in den Wäldern des Staates Washington versteckt hält. Sie weiß nicht, ob es irgendwo noch weitere menschliche Clans gibt, oder ob ihrer der letzte ist. Aber sie weiß, dass sie etwas Drastisches tun müssen, um überhaupt eine Zukunft zu haben. Ihr ganzes Leben hat sie Schreckgeschichten über die Anderen gehört; diese Biester, die in den hochtechnologischen Wohnstätten jenseits der Berge leben. Die Anderen sind aber vielleicht ihre letzte Hoffnung.
Ty Bearclaw, ein Grizzlywandler, leitet das Washington State Animal Sanctuary, Research, and Observation Center (WSASROC). Nach dem Anruf eines Ranchers, der sich über ein Tier beschwert, das Chaos am Rande des Nationalparks anrichtet, begibt er sich zum Olympic Mountain Nationalpark. Dort stellt Ty wütend fest, dass der Rancher in dem geschützten Gebiet eine Falle aufgestellt hat, um die Kreatur zu fangen. In der Falle befindet sich jedoch kein Tier, sondern eine Menschenfrau! Die gesamte Spezies der Menschen gilt schon lange als ausgestorben! Was ihn noch mehr verwirrt, ist die Reaktion seines Bären auf die Frau. Sein ganzes Leben hat er sich schon gefragt, wer wohl seine Gefährtin werden würde, wie sie sein würde, welcher Art Wandler sie angehören würde. Niemals hätte er auch nur vermutet, dass seine Gefährtin gar nicht zu den Wandlern gehören könnte und dass ihre Existenz sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft ändern würde. 
Kann Ty Ella das Leben retten und sie vor einem Wandler beschützen, der davon besessen ist, sie in seine private Sammlung aufzunehmen? Kann er sie beschützen, wenn seine eigene Regierung damit droht, sie ihm wegzunehmen?
Die weltberühmte Autorin S.E. Smith präsentiert ein neues aufregendes Buch voller Leidenschaft und Abenteuer. Durch ihren einzigartigen Humor, die lebhaften Landschaften und die beliebten Charaktere wird dieses Buch garantiert ein weiterer Fan-Favorit!

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Ella und das Biest

Mehr als nur ein Mensch, Buch 1

S.E. Smith

Danksagung

Ich danke meinem Mann Steve dafür, dass er an mich geglaubt hat und so stolz auf mich war, dass ich den Mut hatte, meinem Traum zu folgen. Ein besonderer Dank gilt außerdem meiner Schwester und besten Freundin Linda, die mich nicht nur zum Schreiben ermutigt, sondern auch das Manuskript gelesen hat; und auch meinen anderen Freundinnen, die an mich glauben: Maria, Jennifer, Jasmin, Rebecca, Julie, Jackie, Lisa, Sally, Elizabeth (Beth), Laurelle, und Narelle. Diese Mädels geben mir Kraft!

Und ein ganz besonderes Dankeschön an Paul Heitsch, David Brenin, Samantha Cook, Suzanne Elise Freeman, Laura Sophie, Vincent Fallow, Amandine Vincent, und PJ Ochlan – die wunderbaren Stimmen meiner Hörbücher!

—S.E. Smith

Ella und das Biest

Mehr als nur ein Mensch, Buch 1

Copyright © 2021 bei Susan E. Smith

Erstveröffentlichung des E-Books auf Englisch September 2016

Erstveröffentlichung des E-Books auf DeutschSeptember2021

Umschlaggestaltung von: Melody Simmons und Montana Publishing

ALLE RECHTE VORBEHALTEN: Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Zustimmung der Autorin auf irgendeine Art und Weise vervielfältigt werden, dazu zählen auch vollständige oder teilweise elektronische oder fotografische Vervielfältigungen.

Alle Charaktere und Ereignisse in diesem Buch rein fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen oder tatsächlichen Ereignissen oder Organisationen sind rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.

Zusammenfassung: Ein Wandler und ein Mensch entdecken Liebe in einer Welt, in der Menschen als ausgestorben gelten.

ISBN: 9781956052251 (Taschenbuch)

ISBN: 9781956052244 (eBook)

Fantasie | Romantik | Alternative Geschichte | Action Abenteuer | Paranormal

Veröffentlicht von Montana Publishing, LLC

und SE Smith von Florida Inc. www.sesmithfl.com

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Weitere Bücher und Informationen

Über die Autorin

Übersicht

Vor langer Zeit führten die Gestaltenwandler und die Menschen einen Krieg gegeneinander. Die Menschen verloren ihn, mit schrecklichen Folgen …

Ella gehört zu einem Clan, der sich tief in den Wäldern des Staates Washington versteckt hält. Sie weiß nicht, ob es irgendwo noch weitere menschliche Clans gibt, oder ob ihrer der letzte ist. Aber sie weiß, dass sie etwas Drastisches tun müssen, um überhaupt eine Zukunft zu haben. Ihr ganzes Leben hat sie Schreckgeschichten über die Anderen gehört; diese Biester, die in den hochtechnologischen Wohnstätten jenseits der Berge leben. Die Anderen sind aber vielleicht ihre letzte Hoffnung.

Ty Bearclaw, ein Grizzlywandler, leitet das Washington State Animal Sanctuary, Research, and Observation Center (WSASROC). Nach dem Anruf eines Ranchers, der sich über ein Tier beschwert, das Chaos am Rande des Nationalparks anrichtet, begibt er sich zum Olympic Mountain Nationalpark. Dort stellt Ty wütend fest, dass der Rancher in dem geschützten Gebiet eine Falle aufgestellt hat, um die Kreatur zu fangen. In der Falle befindet sich jedoch kein Tier, sondern eine Menschenfrau! Die gesamte Spezies der Menschen gilt schon lange als ausgestorben! Was ihn noch mehr verwirrt, ist die Reaktion seines Bären auf die Frau. Sein ganzes Leben hat er sich schon gefragt, wer wohl seine Gefährtin werden würde, wie sie sein würde, welcher Art Wandler sie angehören würde. Niemals hätte er auch nur vermutet, dass seine Gefährtin gar nicht zu den Wandlern gehören könnte und dass ihre Existenz sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft ändern würde.

Kann Ty Ella das Leben retten und sie vor einem Wandler beschützen, der davon besessen ist, sie in seine private Sammlung aufzunehmen? Kann er sie beschützen, wenn seine eigene Regierung damit droht, sie ihm wegzunehmen?

Die weltberühmte Autorin S.E. Smith präsentiert ein neues aufregendes Buch voller Leidenschaft und Abenteuer. Durch ihren einzigartigen Humor, die lebhaften Landschaften und die beliebten Charaktere wird dieses Buch garantiert ein weiterer Fan-Favorit!

Kapitel 1

Ella atmete keuchend ein, während sie durch den Wald lief, sich unter einem querliegenden Baumstamm hindurchduckte und sich schnell wieder aufrichtete. Die Angst ließ ihr Herz schnell pochen und schnürte ihr die Luft ab. Die Anderen waren im Wald. In weiter Ferne konnte man die Geräusche ihrer metallenen Maschinen hören. Jayden, ihre beste Freundin und Jagdkumpanin, lief neben ihr. Ella wusste, dass sie genauso viel Angst hatte, sie zeigte es nur nicht.

Sie liefen nach links und dann einen schmalen von Tieren getrampelten Pfad entlang. Als es nicht mehr möglich war, nebeneinander zu laufen, übernahm Ella die Führung. Ein weiterer Baumstamm lag im Weg und sie sprangen darüber. Beide schrien verzweifelt auf, als der Boden auf einmal unter ihnen nachgab und sie in eine tiefe Grube stürzten. Jayden fiel genau auf Ellas Knöchel und verdrehte ihn dabei so, dass sie vor Schmerz zusammenzuckte.

Stöhnend lag Ella unbeweglich da, während sie sich auf ihre Atmung konzentrierte, bis der Schmerz genug nachgelassen hatte, so dass sie ihre Umgebung wieder wahrnehmen konnte. Sie hob ihren Kopf von dem weichen Boden und blickte Jayden an. Mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck ging die junge Frau in der Grube hin und her.

„Ella, wir sind gefangen!“, flüsterte sie entsetzt. „Die Anderen! Sie werden uns holen. Wir müssen hier raus.“

Ella biss die Zähne zusammen und griff nach ihrer Lanze. Mit Hilfe der Lanze und den Baumwurzeln, die in die Grube hineinwuchsen, zog sie sich hoch. Sie erbleichte, als sie versuchte, ihren Fuß zu belasten und spürte, wie der Knochen sich bewegte. Er war definitiv gebrochen.

„Ich helfe dir dabei, herauszukommen“, sagte Ella mit gepresster Stimme. „Dann kannst du Hilfe holen.“

Jayden drehte sich stirnrunzelnd zu Ella um. „Wenn ich rausgekommen bin, ziehe ich dich hoch“, sagte sie.

Ella schüttelte den Kopf und versuchte die Übelkeit zu unterdrücken, die sie zu überwältigen drohte. Ihr Knöchel schwoll bereits an und begann sich zu verfärben. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit, bevor sie es nicht mehr schaffen würde, Jayden aus der Grube zu helfen.

„Mein Knöchel ist gebrochen“, erwiderte Ella und kämpfte mit den Tränen. „Du wirst alleine gehen müssen.“

„Aber … Was ist, wenn die Anderen zurückkommen?“, flüsterte Jayden entsetzt.

„Dann sterbe ich“, erwiderte Ella mit ruhiger resignierter Stimme. „Komm schon, du musst hier raus. Lass uns hoffen, dass es noch dauert, bis sie zurückkommen, um die Falle zu überprüfen. Ein Sturm kommt auf. Vielleicht hält er sie davon ab, herauszukommen. Hier sind nicht genug dicke Wurzeln, an denen du hinaufklettern könntest, aber ich kann mich an der Wand abstützen, damit du auf meine Schultern klettern kannst. So solltest du es schaffen, hier rauszukommen.“

Jayden biss sich auf die Lippen, nickte und sah nach oben. Ella lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, umfasste mit der einen Hand ihre Lanze und mit der anderen ein paar Wurzeln. Sie machte sich so steif, wie sie nur konnte, als Jayden mit einem Fuß auf den Oberschenkel ihrer unverletzten Seite stieg und dann auf ihre Schultern kletterte.

Ella zitterte und biss die Zähne zusammen, bis ihr Kiefer schmerzte, nur um nicht vor Schmerz zu schreien, während sie sich so weit sie konnte aufrichtete. Vor Anstrengung keuchend streckte sie einen Arm nach oben, damit Jayden ihn als Stufe benutzen konnte. Ella starrte auf den Boden, bis sie Jaydens Gewicht nicht mehr spürte.

Blinzelnd versuchte Ella wieder klar zu sehen und stützte sich dann auf ihre Lanze, um zu Jayden hinaufzuschauen. Bei dem sorgenvollen Blick in den Augen ihrer Freundin, lächelte Ella leise und traurig und atmete tief ein.

„Geh jetzt, Jayden“, flüsterte Ella. „Wenn du zurückkommst und ich nicht mehr hier bin, dann weißt du, dass ich ins nächste Leben gegangen bin und wir uns irgendwann wiedersehen werden.“

„Ich werde mich beeilen, Ella“, versprach Jayden. „Gib nicht auf.“

„Auf keinen Fall, kleine Schwester“; sagte Ella.

Jayden lächelte ihr ein letztes Mal zu, bevor sie verschwand. Mit Hilfe der Lanze ließ Ella sich langsam auf dem Boden nieder und schrie auf, als ihr verletzter Fuß dabei unsanft aufkam. Durch den dichten Wald rollte Donner und es begann leicht und gleichmäßig zu regnen. Vorsichtig legte Ella sich hin und starrte in die Baumwipfel über ihr, die sie fast wie ein Regenschirm von einem Großteil des Regens schützten. Ein Schauder durchfuhr sie und sie schniefte.

Sie hatten viele Namen; die Wesen, die außerhalb des Waldes, der ihre Heimat war, über die Welt herrschten. Man nannte sie die Anderen, die Wandler, die Bestien. Ihr Volk war ihnen jahrhundertelang aus dem Weg gegangen und mittlerweile waren die Geschichten von ihrem Überleben für alle anderen in der Welt zu einem Mythos geworden. Da aber die Anderen mit jeder Generation weiter in die bewaldeten Gebiete vordrangen, wurde es immer schwieriger sich versteckt zu halten

Ella und Jayden gehörten zu einem kleinen Clan. Sie waren Menschen, Wesen mit nur einer festen Gestalt. Die Anderen waren Tiermenschen. Sie waren Wesen, die sich in viele andere Gestalten verwandeln konnten. Vor sehr langer Zeit hatten die Menschen und die Anderen sich gegenseitig bekämpft. Die Anderen hatten gewonnen und beinahe die gesamte Menschheit ausgelöscht. Nur wenige hatten überlebt.

Nach und nach verschwanden auch diese wenigen Menschen; das dachten zumindest die Anderen. In Wahrheit hatten die Menschen Zufluchtsorte tief in den Wäldern, in den Bergen oder in Gebieten mit ewigem Eis geschaffen, wo sie unbemerkt von den Anderen existieren konnten.

Anders als ihr Vater und die anderen Ältesten hatte Ella noch nie Menschen von anderen Clans getroffen. Diese Art von Treffen gehörte der Vergangenheit an. Es war gut möglich, dass ihr sterbender Clan der letzte ihrer Spezies war. Ohne frisches Blut und einen dauerhaften Aufenthaltsort, waren die Chancen gering, noch eine Generation zu überleben.

Ella schloss die Augen, und ihre heißen Tränen vermischten sich mit dem kalten Regen. Sie dachte darüber nach, was wohl die Anderen mit ihr anfangen würden, wenn man sie nicht rechtzeitig rettete.

Mit etwas Glück bekam sie einen schnellen Tod. Wahrscheinlich würde man sie aber eher langsam aufschneiden, damit sie erst den Standort ihres Clans verriet und dann noch als Studienobjekt herhalten konnte. Nein – sobald die Anderen sie fanden, musste sie schnell sterben. Es war die einzige Möglichkeit.

„Bitte, wenn Jayden nicht rechtzeitig zurückkommt, hab Mitleid und lass mich schnell sterben“, flüsterte sie dem Wald zu.

Ty Bearclaw stieg aus seinem Wagen, schüttelte den Kopf und zog eine Grimasse, als ihm der kalte Regen in sein Shirt lief. Vom Beifahrersitz holte er seinen breitkrempigen Hut und setzte ihn sich als Schutz vor dem Regen auf den Kopf.

„Ich hätte nur noch eine Stunde gebraucht“, grummelte er. „Nur noch eine Stunde ohne Regen, aber nein, sobald ich auf diese Straße fahre, müssen natürlich die Wolken anfangen zu pieseln.“

Ty griff hinter den Sitz und zog sein Gewehr heraus. Wahrscheinlich würde er es nicht brauchen, aber er hatte gelernt, dass es besser war, es dabei zu haben und es dann doch nicht zu brauchen als andersherum. Seine Arbeit als Direktor am Washington State Animal Sanctuary, Research, and Observation Center—WSASROC – führte ihn an alle erdenklichen Orte. Dieses Mal war er eine vierstündige Fahrt von zu Hause entfernt. Ein Anwohner hatte sich darüber beschwert, dass immer wieder irgendein Tier in seinen Lagerschuppen einbrach.

Ty hatte sich heute Morgen mit ihm unterhalten. Der Bastard war so dämlich, dass er noch nicht einmal die Bezeichnung Idiot verdient hätte. Der Vielfraß-Wandler und ein paar seiner Freunde hatten beschlossen eine Grube zu graben, um die Kreatur darin zu fangen. Dass die Grube fünfzehn Kilometer vom Grundstück des Mannes entfernt war, hatte wohl keine Rolle gespielt. Der Wandler hatte einen Pfad entdeckt, und glaubte, das Tier war über ihn vom Wald zu seinem Grundstück gelangt. Leider befand sich die Grube in einem Naturreservat, und verstieß somit gegen die Regeln.

Nachdem der Wandler ihm erklärt hatte, wo sich die Grube befand, war Ty fast fünfzig Kilometer gefahren, bevor er den abgelegenen Weg für Holztransporte gefunden hatte. Gleichzeitig hatte es natürlich angefangen zu regnen.

Ty knallte die Tür zu, schloss das Auto ab und begann den Weg entlangzugehen. Der Bär in ihm rollte sich herum und erwachte. Ty konnte fühlen wie das Tier seinen Kopf hob. Ihm machte der Regen nichts aus. Es würde ihm sogar Riesenspaß machen, bei eisig kaltem Regen durch den Wald zu laufen.

Leider war es eine Scheißarbeit durchnässtes Bärenfell wieder sauberzukriegen und Ty hatte außerdem keine Lust auf den ganzen Dreck im Auto. Davon würde er in seiner zweibeinigen Form schon genug mitbringen.

Mit den langen Gummistiefeln an den Füßen, war der schlammige Pfad kein Problem. Ty änderte seinen Griff am Gewehr und klappte den Kragen seines dunkelgrünen Regenmantels hoch, damit ihm keine Regentropfen hineinliefen. Der Wandler hatte ihm erzählt, wo sie die Grube gegraben hatten. Er musste nur noch ein paar hundert Meter dem Weg folgen. Ty hoffte nur, dass kein nichtsahnender Wanderer hineingefallen war. Das Letzte, worauf er Lust hatte, war ein stinkwütender Puma-Wandler, der ihn für etwas verantwortlich machte, was er gar nicht getan hatte.

Ich rieche etwas, flüsterte sein Bär ihm plötzlich zu.

Was?, fragte Ty misstrauisch. Puma?

Nein. Was anderes, antwortete sein Bär. Hab so etwas noch nie gerochen.

Wahrscheinlich spielt nur der Regen deiner Nase einen Streich, murmelte Ty.

Nein. Dies ist ein … komisches Tier, beharrte sein Bär.

Ty verlangsamte seine Schritte und blieb schließlich stehen, um sich vorsichtig umzusehen. Er hatte gelernt, seinem Bären zu vertrauen. Langsam drehte er sich um die eigene Achse und suchte die Gegend ab. Als er ein leises Geräusch hörte, neigte er seinen Kopf. Es klang wie ein verletztes Tier.

Er richtete alle seine Sinne auf die Richtung, aus der das Geräusch kam. Wenn er sich nicht irrte, musste er dem Pfad noch etwas weiter folgen. Das Gewehr geschultert bewegte er sich so leise, wie er nur konnte und hielt inne, als das Geräusch erneut erklang. Es war so schwach, dass er es überhört hätte, wäre er nicht darauf fokussiert gewesen.

Als er über einen Ast stieg, sah er den Rand der Grube, die vor ihm lag. Er fluchte. Der verdammte Idiot hatte also doch ein ahnungsloses Tier gefangen.

Angewidert schüttelte Ty den Kopf. Vielleicht sollte er, nachdem er die arme Kreatur von ihrem Leiden erlöst hatte, in der Stadt bleiben, um dem Vielfraß-Wandler zuerst eine ordentliche Tracht Prügel und dann eine heftige Strafe zu verpassen, weil er gegen die Gesetze verstoßen hatte.

Ty entsicherte sein Gewehr, ging vorsichtig näher an die Grube heran und blickte hinein. Zuerst konnte er nichts erkennen. Als er aber weiter am Rande entlang ging, sah er eine leichte Bewegung am Boden und zielte mit seinem Gewehr darauf. Das gedämpfte Klagen drang wieder in seine feinfühligen Ohren.

Nicht schießen, knurrte sein Bär.

Es ist kein anderer Wandler, oder?, fragte Ty vorsichtig.

Nein… ist … was Anderes, brummte sein Bär und ging in ihm nervös auf und ab.

„Oh, verdammt“, murmelte Ty mürrisch, ließ sein Gewehr sinken und trat vom Rand zurück.

Er überlegte hin und her, ob er sich verwandeln sollte, entschied sich aber dagegen. Zuerst musste er sich einen besseren Überblick darüber verschaffen, was da unten war und dann herausfinden, wie er vorgehen sollte: dem verdammten Ding den Gnadenschuss geben, sich in seinen Bären zu verwandeln und es zu Tode zu erschrecken oder die Kreatur zu retten. Wozu auch immer er sich entschied, es würde eine schlammige Angelegenheit werden.

„Hat sich ja richtig gelohnt, dass ich gestern mein Auto saubergemacht habe“, murmelte Ty vor sich hin.

Er drehte sich um und lehnte sein Gewehr gegen den toten Baum, der quer über dem Pfad lag. Dann ging er wieder an den Rand der Grube, schob seinen Hut nach hinten und kniete sich auf den weichen, schlammigen Boden. Er lehnte sich so weit er konnte vor und spähte in die Grube hinein.

„Heiliges Bärenjunge!“, zischte er, als er die zitternde Frau sah, die dort unten mit geschlossenen Augen lag. „Hey! Ist alles in Ordnung?“

Die Frau wimmerte und rollte sich noch weiter zusammen, so als ob sie versuchte im Schlamm zu verschwinden. Ty runzelte die Stirn, als er keine Antwort bekam und hielt sich am Rand fest, um die Frau näher zu betrachten. Sie trug merkwürdige Kleidung: Lederstiefel, die wie selbstgemacht aussahen, eine dunkle Hose, eine lange Tunika mit einer Lederweste und einen kleinen ledernen Beutel, den sie um ihre Hüfte gebunden hatte. Noch nie hatte er diese Art von Kleidung gesehen, außer … Furcht und Faszination kämpften in ihm um die Vorherrschaft.

„Frau, verstehst du mich?“, fragte Ty.

Endlich bewegte sich die Gestalt und drehte ihren Kopf. Hellblaue Augen – Augen, wie er sie bisher nur in Büchern gesehen hatte – gefüllt mit Angst, Schmerz und Resignation starrten zu ihm hoch. In dem Moment wusste er, was sie war. Er hatte seine Doktorarbeit über ihre Spezies geschrieben. Eine Spezies, die angeblich ausgestorben war.

„Bitte …“, ihre sanfte Stimme durchdrang ihn und verursachte unmittelbar eine Reaktion sowohl bei ihm als auch bei seinem Bären. „Bitte … töte mich … rasch.“

Ty war geschockt und konnte fühlen, wie sich sein Kopf verneinend hin und her bewegte. Er schluckte und sah fest in die schmerzerfüllten Augen. Seine Finger krallten sich in die Erde am Rande der Grube und seine Nägel wurden länger, als sein Bär darum kämpfte hervorzukommen.

Was tust du da?, zischte Ty seinem anderen Selbst zu.

Will zu ihr, knurrte sein Bär und versuchte auszubrechen.

Ich werde nicht zulassen, dass du sie tötest, warnte Ty und drängte ihn zurück.

Nicht töten, fauchte sein Bär. Ich beschützen unsere Gefährtin.

Ty war wie vom Donner gerührt. Unsere Gefährtin?!, dachte er entsetzt. Er hatte gerade eine Spezies gefunden, von der man gedacht hatte, sie sei ausgestorben, und sein Bär dachte, dieser – dieser Mensch – war seine Gefährtin?!

„Oh scheiße“, murmelte Ty und fuhr sich resigniert mit den Händen über sein Gesicht, ohne darauf zu achten, dass sie voller Dreck waren. „Dieser miese Tag ist gerade noch schlimmer geworden.“

Kapitel 2

Ella schob sich hoch und rutschte auf dem Boden der Grube nach hinten, als sie eine männliche Stimme hörte. Aufgrund ihres pochenden Knöchels hatte sie nicht schlafen können. Sie hatte aber gedöst, in der Hoffnung, genug Kräfte zu sammeln und fliehen zu können. Es war sinnvoll gewesen, Jayden die Möglichkeit zur Flucht zu verschaffen. Es war sinnvoll gewesen, auf Hilfe zu warten, aber je länger sie darüber nachdachte desto mehr Angst bekam sie, dass Jayden nicht rechtzeitig zurückkehren würde.

Im Laufe der vergangenen Wochen hatten sie sich weiter in diese Richtung vorgewagt als je zuvor, um nach Gegenständen zu suchen, die sie in ihr Dorf zurückbringen konnten. Jayden hatte ein seltsames kleines Gebäude am Waldrand entdeckt und Ella aufgeregt von all den wundersamen und herrlichen Dingen darin berichtet. Sie waren dort eingebrochen und hatten viele Dinge gefunden, die ihnen nützlich sein konnten.

Als sie erneut zu dem Gebäude zurückgekehrt waren, hatte Ella das Geräusch eines merkwürdigen metallenen Biests gehört, das auf der Straße in ihre Richtung kam. Aus Angst erwischt zu werden, waren sie unvorsichtig geworden. Sie hätte wissen müssen, dass der Tierpfad eine schlechte Idee war.

Nun schwebte nicht nur sie selbst in Lebensgefahr, sondern auch alle, die in ihrem Dorf lebten. Wenn Ella den Anderen nicht töten konnte oder er sie nicht sofort tötete, blieb ihr keine andere Wahl, als sich das Leben zu nehmen, um ihr Volk vor der Entdeckung zu schützen.

Sie biss die Zähne zusammen, ignorierte den qualvollen Schmerz in ihrem Fuß und umklammerte ihre Lanze. Ihren Blick hielt sie fest auf die dicken, scharfen Bärenklauen gerichtet, die sich in den Boden am Rand der Grube krallten. Ella drückte ihren gesunden Fuß in den Boden und rutschte nach hinten, bis sie mit dem Rücken an der Wand lehnte.

„Töte mich“, befahl sie und hielt ihre Lanze drohend vor sich.

„Warum sollte ich dich töten?“, fragte der Mann verwirrt und starrte mit feuchten dunkelbraunen Augen zu ihr herab.

„Wenn du es nicht tust, werde ich dich töten“, warnte sie.

Ärger stieg in ihr auf, als das Biest amüsiert die Lippen verzog. Sie griff nach einer Wurzel und zog sich an ihr und an ihrer Lanze hoch. Einige kostbare Sekunden lang lehnte sie sich zurück und keuchte vor Schmerz. Trotz des kühlen Regens trat ihr der Schweiß auf die Stirn. Sie schwankte, bevor sie ihr gesundes Bein versteifte.

„Du kannst dich kaum aufrecht halten. Ich bezweifle, dass du in der Lage bist, mich zu töten“, bemerkte er. Stirnrunzelnd blickte er auf ihren angehobenen Fuß. „Dein Fuß ist verletzt.“

Ella zischte, als ihr Fuß den Boden berührte. Sie riss ihn wieder hoch und verlor dabei fast das Gleichgewicht. Dann biss sie sich auf die Lippe und starrte zu dem Biest hoch. Er war gar nicht so, wie in den Geschichten, die sie gehört hatte. Keine der Beschreibungen der Ältesten passte auf ihn.

Angeblich waren sie riesige Kreaturen, hatten glühend rote Augen, scharfe Klauen und Reißzähne. Zwar war dieser Mann ziemlich groß, aber er war nicht so riesig, wie Ella sich die Biester vorgestellt hatte. Seine Augen waren nicht rot, sondern dunkelbraun und sahen etwas neugierig und verwirrt aus. Die Kleidung war anders als auf den Bildern von mit Fell bekleideten und blutüberströmten Biestern. Im Vergleich zu den Männern in ihrem Dorf war sein Gesicht nur ein wenig breiter, und auch wenn seine Eckzähne etwas länger aussahen, waren sie doch weit davon entfernt als Reißzähne durchzugehen. Ihr Blick fiel auf seine langen Finger. Sie waren jetzt normal. Lang und dick, aber die Fingernägel waren nicht länger als ihre eigenen.

Er sah nicht nur anders aus als die fauchenden mit Blut bedeckten Biester auf den Bildern, er fauchte oder knurrte sie auch nicht an. Stattdessen sprach er mit einer warmen, sanften Stimme, die sie erzittern ließ; aber nicht vor Angst, Schmerz oder Erschöpfung.

„Bist du echt?“, fragte er sanft und überraschte sie damit erneut.

Ella runzelte die Stirn und neigte ihren Kopf. „Natürlich bin ich echt!“, fauchte sie. „Du bist ein Biest. Was für eine Art?“

„Ein Biest?“, fragte er und verengte verwirrt seine Augen. „Du meinst, dass ich ein Wandler bin? Ja, natürlich. Ich bin ein Grizzlybär.“

Ella erbleichte und fühlte, wie ihre Hand an der Wurzel abrutschte. Sie ließ sich wieder auf den Boden gleiten und starrte voller Entsetzen zu ihm hinauf. Die Bilder, die ihr durch den Kopf gingen, überwältigten sie. Ein Grizzly-Wandler! Einer der meist Gefürchteten unter den Anderen. Sie waren für ihre Geschwindigkeit, ihre Grausamkeit und ihre Stärke bekannt. Sie war wirklich so gut wie tot.

„Warum spielst du mit mir?“, fragte sie mit heiserer Stimme. „Du bist mir doch überlegen. Mit einem Prankenschlag könntest du mich einfach ausweiden.“

„Ausweiden? Warum sollte ich das tun wollen? Ausweiden ist so … barbarisch“, murmelte Ty und schüttelte den Kopf. „Hör zu, ich heiße Ty. Wie heißt du?“

Ella ließ ihre Lanze sinken. Sie war hier keine Hilfe. Ihre Hand glitt zu ihrer Hüfte. Nein, ihr Messer war der einzige Ausweg. Sie würde es sich ins Herz rammen, bevor er es ihr herausreißen konnte. Sie konnte nur hoffen, dass er daran erstickte, wenn er versuchte es zu essen.

„Man nennt mich Ella“, flüsterte sie und hob ihren Kopf, um ihn anzusehen, während sie ihr Messer aus der Scheide zog. „Ich will, dass du dich an meinen Namen erinnerst, Biest. Denn ich werde dich in deinen Träumen heimsuchen.“

„Heimsuchen … Oh, verdammte Scheiße“, fluchte Ty. Er sprang hinunter und hielt Ella am Handgelenk fest, als er sah, wie sie ein Messer herauszog und es auf ihre Brust richtete. „Was zur Hölle tust du da?“

Ella starrte in seine wütenden Augen. Seine Geschwindigkeit hatte sie überrascht und erschreckt. Plötzlich stand er nicht mehr am Rande der Grube und sah auf sie herunter, sondern war direkt vor ihr und hielt ihr Handgelenk mit seiner großen Hand fest. Sie schluckte und begann zu zittern.

„Ich nehme mir das Leben, damit du das nicht tun kannst“, flüsterte sie und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

Mit einer Sanftmut, die seiner Überlegenheit Lügen strafte, legte er eine Hand an ihre Wange. Eine merkwürdige Wärme durchfuhr sie, als sie seine schwielige Haut an ihrer spürte und sie atmete tief ein, als er sich vorbeugte.

„So leicht kommst du mir nicht davon, Liebste“, murmelte Ty und beugte sich vor, bis seine Lippen nur noch einen Atemzug von ihren entfernt waren.

„Warum nicht?“, fragte Ella mit rauer Stimme.

„Ich sag dir warum, Ella. Wenn ein Grizzly seine Gefährtin gefunden hat, wird er alles tun, was in seiner Macht steht, um sie zu beschützen“, murmelte Ty und drückte einen warmen Kuss auf Ellas halbgeöffnete Lippen.

Ella spürte, wie seine Hand zu ihrer hinunterglitt. Mit einer kurzen Bewegung löste er das Messer aus ihrem Griff. Er umfasste ihren Kopf, während er sanft ihren Mund erkundete. Die Wärme in ihrem Körper wurde intensiver, betäubte den pochenden Schmerz in ihrem Knöchel und nahm ihr fast den Atem.

Ella verstand nicht, was mit ihr geschah. Von so etwas hatte sie nie in den Büchern gelesen. Er sollte doch eigentlich fauchen, knurren und sie ausweiden, und nicht … küssen!

Mit der einen Hand umfasste Ella erneut ihre Lanze und lehnte sich ein wenig zurück. Diese Bewegung brachte das Biest leicht aus dem Gleichgewicht. Mit aller Kraft traf sie ihn mit dem Schaft ihrer Lanze. Er fiel zur Seite, fasste sich an den Kopf und sah sie schockiert an.

„Warum hast du das getan?“, verlangte er zu wissen und begann sich aufzurichten. Er zuckte zusammen und stolperte plötzlich rückwärts, während er überrascht auf seinen Oberschenkel hinabsah. Als sein Rücken die Grubenwand traf, rutschte er an ihr herunter, bis er auf dem Boden saß. „Was zum …?“ Er sah nach oben.

Ella sah Jayden, die am Rand der Grube stand und eine merkwürdige Waffe in der Hand hielt. Dem überraschten Blick in ihren Augen nach zu urteilen hatte sie den Schuss unabsichtlich gelöst. Ella blickte wieder zu dem Biest hinüber. Er umfasste den Betäubungspfeil, der aus seinem eigenen Gewehr gekommen war, und zog ihn aus seinem Oberschenkel. Seine Augen wurden glasig und er blinzelte.

„Wirst du davon sterben?“, flüsterte Ella und war sich nicht sicher, warum sie das überhaupt kümmerte.

„Nein … Nur schlafen“, murmelte er. „Ella … Geh nicht.“

„Ich muss, Biest“, flüsterte Ella. „Du musst vergessen, dass du mich gesehen hast.“

Sein Atem ging langsamer und er begann zusammenzusacken. „Ich kann nicht“, presste er mühsam hervor, während seine Augenlider sich langsam schlossen. „Du … gehörst … zu mir.“

Ella schüttelte den Kopf. „Ich werde dir niemals gehören“, murmelte sie. „Vergiss mich.“

Ella sah zu, wie mehrere Seile zu ihr in die Grube herabgelassen wurden. Jayden hatte einen anderen Jagdtrupp gefunden. Zwei etwas ältere Frauen nickten Ella zu, nachdem sie zu ihr hinuntergeklettert waren, um ihr zu helfen. Ella warf dem schlummernden Biest einen Blick zu.

„Sollten wir ihn töten?“, fragte eine der Frauen und starrte Ty an.

„Nein“, sagte Ella und schüttelte den Kopf. „Vielleicht wird er das alles für einen Traum halten.“

Die Frau, die neben dem auf dem Boden liegenden Pfeil stand, nickte, hob ihn auf und steckte ihn in ihren Beutel, damit das Biest keine Beweise hatte, wenn es wieder aufwachte. Mit Hilfe der anderen drei Frauen schaffte Ella es, aus der Grube zu klettern. Sobald sie oben war, bandagierte Jayden schnell Ellas Fuß und Knöchel. Die Reise zurück ins Dorf würde beschwerlich werden, aber zumindest war sie noch am Leben. Ein letztes Mal blickte Ella nach unten in die Grube. Tief in sich spürte sie einen Anflug von Kummer. Fast fühlte es sich an, als wäre ein Teil von ihr immer noch mit dem Biest gefangen.

„Komm schon, Ella“, sagte Jayden leise. „Wir müssen so weit wie möglich von hier weg, bevor es dunkel wird.“

Ella nickte und hielt sich an den Schultern der Frauen fest, während Jayden voranging. Schon bald hatte der Wald sie verschluckt, wie kleine Feen, die in eine versteckte, magische Welt zurückkehrten. Eine Welt, in der Menschen lebten und keine merkwürdigen Gestaltenwandler, die einen küssten, anstatt zu töten.

Kapitel 3

Ty stöhnte und vergrub seinen Kopf in seinen Händen. Die verschwommenen Bilder in dem Buch, das vor ihm lag, schienen ihn zu verspotten. Hatte er sich alles nur eingebildet?

Nein! Meine Gefährtin da draußen. Verletzt!, grummelte sein Grizzly.

„Ich weiß“, murmelte Ty mit einem matten Seufzen. „Aber wo? Die letzten fünf Wochen haben wir das Gebiet weiträumig abgesucht und nichts gefunden!“

„Wonach suchst du?“

Ty lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schloss das Buch. Er musste mehrfach blinzeln, um die Gestalt scharf zu sehen und zog eine Grimasse, als er seine Zwillingsschwester Tracy an den Türrahmen gelehnt sah.

„Was tust du hier?“, brummelte er, schob seinen Stuhl zurück und stand auf, um sich zu strecken.

„Ich hab dich auch lieb, kleiner Bär“, kicherte Tracy, richtete sich auf und betrat das elegant eingerichtete Zimmer. „Wie ich sehe, steckst du immer noch mit deiner Nase tief in den Büchern. So wirst du nie eine Gefährtin finden.“

Ty sah seine nur zwei Minuten ältere Schwester finster an. „Ich sehe jetzt aber auch gerade keinen Gefährten an dir herumschnüffeln, Tracy“, gab er zurück.

Tracy schüttelte ihren Kopf, der voller dichter brauner Haare war, die durch die Bewegung umhertanzten. Tys Blick wurde weicher, als er den flüchtigen Ausdruck von Traurigkeit auf dem Gesicht seiner Schwester sah. So wie ihr Bruder steckte auch sie lieber ihre Nase in Bücher oder studierte irgendwo irgendwelche seltsamen Steine, anstatt sich in Bars oder in den sozialen Netzwerken aufzuhalten, in denen Wandler nach ihrer zweiten Hälfte suchten.

„Ich habe deine Unruhe gespürt“, murmelte sie und trat näher an den Schreibtisch heran.

Ty unterdrückte einen Fluch, als er sah, wie ihr Blick den Umschlag des alten Schulbuchs streifte. Sie hob eine Augenbraue und blickte ihn verwirrt an. Wieder einmal verfluchte er die Verbindung, die zwischen Zwillingsbären bestand.

„Es ist gar nichts“, murmelte er, nahm das Buch in die Hand und ging um den Schreibtisch herum. „Bitte sag mir nicht, dass du um die halbe Welt gereist bist, nur weil du da etwas gespürt hast.“

Tracy schüttelte den Kopf. „Nein, das war nicht der einzige Grund“, gab sie mit sanfter Stimme zu, bevor sie ihn erneut ansah und schief anlächelte. „Aber es war der Hauptgrund. Also, ich dachte du hättest dein Studium beendet.“

„Das habe ich“, sagte Ty abwehrend und schob sich an ihr vorbei, um das Buch wieder ins Regal neben der Tür zu stellen.

„Hat jemand alte Knochen gefunden?“, fragte sie.

„Nein“, sagte Ty müde, bevor er aufstöhnte und sich mit den Händen durch sein Haar fuhr. Er starrte auf den Titel des Buches „Urmenschen und was wir über sie wissen“.

Anscheinend nicht mal annähernd so viel, wie die Wissenschaftler angenommen hatten, dachte er bei sich, bevor er seinen Kopf schüttelte und sich zu seiner Schwester umdrehte.

„Was ist los?“, fragte Tracy mit sanfter, besorgter Stimme.

„Ich habe meine Gefährtin gefunden“, gestand Ty widerstrebend.

Überrascht atmete Tracy ein. Ihre Augen weiteten sich und sie öffnete ungläubig ihren Mund. Ty musste einfach lachen, denn es gab nicht viel, das Tracy die Sprache verschlagen konnte.

„Du …“, begann sie und schüttelte den Kopf. „Du hast deine Gefährtin gefunden? Wo? Wann können wir sie kennenlernen? Wissen Mom und Dad Bescheid?“

„Gute Göttin, nein!“, erwiderte Ty erschaudernd.

„Warum nicht?“, wollte Tracy wissen, stemmte ihre Hände in die Hüften und verengte die Augen. „Sie ist doch kein Fuchs-Wandler, oder? Du weißt, was Dad von Füchsen hält.“

Ty blickte finster und schüttelte vehement den Kopf. Sich mit seinem Vater und dessen Abscheu Füchsen gegenüber auseinanderzusetzen, wäre ihm im Moment fast lieber. Beim Gedanken, dass er Ella womöglich niemals wiederfinden würde, drehte sich ihm der Magen um und Schmerz und Angst wallten in ihm hoch. Zu wissen, dass seine Gefährtin irgendwo dort draußen im Wald war und er sie vielleicht nie wiedersehen würde, war fast mehr, als er körperlich und psychisch aushalten konnte.

„Ty!“, flüsterte Tracy und packte ihn am Arm. „Was ist los?“

Schmerz verdunkelte seine Augen. „Ich muss sie finden, Tracy“, murmelte er mit belegter Stimme. „Sie ist da draußen. Sie war verletzt. Ich muss sie finden, aber es ist als hätte sie sich in Luft aufgelöst.“

„Deine Gefährtin?“, fragte Tracy.

Ty nickte und schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter. „Ella“, flüsterte er. „Ihr Name ist Ella.“

Tracy blickte ihn mit entschlossenen Augen an. Diesen Blick seiner Zwillingsschwester kannte Ty. Es war der Blick eines Bären auf der Jagd.

„Wie ist ihr Nachname? Was für eine Art Wandler ist sie? Sie muss doch in der Datenbank zu finden sein. Peterson kann für uns dort suchen. Er kann sich in jedes Computersystem hacken. Sobald wir ihre Kennzeichnung gefunden haben, können wir sie aufspüren“, sagte Tracy nachdenklich. „Ich brauche auch eine Beschreibung. Das wird mir helfen. Van kann eine Skizze anfertigen.

„Sie werden sie nicht finden“, erwiderte Ty mit einem müden Seufzen.

„Natürlich werden sie das!“, rief Tracy aus. „Peterson und Van sind Wölfe. Sie können alles finden!“

„Diesmal nicht“, beharrte Ty, schüttelte den Kopf und ging zum Fenster in seinem Büro hinüber.

Er konnte spüren, wie Tracy ihm verwirrt hinterherschaute. Tief durchatmend überlegte er, wie viel er ihr erzählen sollte. Während der letzten fünf Wochen hatte er ununterbrochen nur an Ella gedacht … und daran, was es bedeuten könnte, wenn die Welt auf sie aufmerksam würde, bevor er sie finden und beschützen konnte. Es gab Wandler, die sie fangen und wie ein exotisches Tier halten würden. Mit solchen Typen hatte er schon oft zu tun gehabt, wenn uralte menschliche Überreste gefunden wurden.

Er hatte auch darüber nachgedacht, was wohl mit ihm und seinem Bären passieren würde, sollte er sie nicht finden. Nach nur fünf Wochen hatte er bereits das Gefühl, verrückt zu werden. Wenn er viele Jahre, vielleicht sogar sein ganzes Leben, in dem Wissen verbringen müsste, dass er eine Gefährtin hatte, sie aber nicht wiedersehen konnte … Ty wusste nicht, was dann mit ihm passieren würde. Würde er wirklich wahnsinnig werden?

Er atmete tief durch. Wenn er sie finden wollte, brauchte er Hilfe. Tracy hatte recht. Van und Peterson waren zwei der besten Männer, wenn man auf der Suche nach etwas war – oder, in diesem Fall, nach jemandem.

Ty drehte sich um und schaute seine Schwester an. Sogar für Zwillinge war ihre Verbindung extrem stark und er sah an den feinen Linien um ihren Mund, dass sie seine Ängste spüren konnte. Seine Lippen verzogen sich widerstrebend zu einem Lächeln. Tracy war schon immer eine sehr verantwortungsbewusste große Schwester gewesen.

„Ich brauche deine Hilfe, Tracy. Trommel dein Team zusammen. Es ist wichtig“, wies Ty sie schließlich an.

Tracy hob eine Augenbraue. „Natürlich ist es das. Jetzt erzähl mir mal von dieser sagenhaften Frau, die dein Herz erobert hat“, verlangte sie, bevor sie ihn unsicher ansah. „Ich gehe mal davon aus, dass es eine Frau ist.“

„Ja, es ist eine Frau! Ich hab dir doch gesagt, dass sie Ella heißt“, gab Ty zurück und schnitt eine Grimasse, bevor er sich resigniert über das Gesicht fuhr. „Sie ist ungefähr so groß wie du, hat hellbraunes Haar und Augen so blau wie der Himmel.“

„Blaue Augen?“, wiederholte Tracy. „Ist sie ein Wolf?“

Ty schüttelte den Kopf. „Nein“, erwiderte er mit leiser Stimme. „Sie ist ein Mensch.“

Tracy sah ihn mit großen Augen und offenem Mund ungläubig an. Dann schloss sie ihren Mund und blickte finster drein. Langsam wurde aber ihr Blick unsicher, bevor die Ungläubigkeit darin wieder zurückkehrte, während Ty sie immer weiter fest ansah. Sie konnte sehen, dass er es ernst meinte.

„Du willst mir also erzählen, dass du einen Menschen gefunden hast? Einen echten, leibhaftigen, nicht toten Menschen?“, flüsterte Tracy und ihre Stimme zitterte vor Ehrfurcht.

„Ja, und ihr Name ist Ella“, wiederholte Ty mit ruhigem und ernsthaftem Blick. „Ich brauche deine Hilfe, um sie zu finden, Tracy.“

Ty sah zu, wie Tracy schluckte und dann nickte. Es würde nicht lange dauern, bis sie sich so weit gefangen hatte, dass sie ihn mit ihren Fragen bombardieren konnte.

Sobald er diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, begann sie auch schon mit der Fragerei. Lächelnd wiederholte er alles, was er über Ella wusste. Wenn es darum ging, ein ungewöhnliches und wertvolles Artefakt aufzuspüren, gab es niemanden, der das besser konnte als seine Schwester. Und für ihn gab es in der Welt nichts, das ungewöhnlicher und wertvoller war als Ella.

Sieben Tage später war Ty erneut im Wald. Dieses Mal war er aber nicht allein. Tracy und er sahen von oben zu, wie Peterson auf dem Boden der Grube kniete, die mit orangem Absperrband gekennzeichnet war. Peterson stand auf und runzelte die Stirn.

„Du weißt hoffentlich, dass das hier um einiges leichter gewesen wäre, hättest du uns schon vor fünf Wochen kontaktiert“, beschwerte sich Van, der sich neben sie gestellt hatte. „Peterson, hast du was gefunden?“

Peterson sah zu ihnen hoch und schüttelte den Kopf. „Nichts“, antwortete er. „Ich hatte zwar nicht erwartet, einen Geruch aufzuspüren, aber es wäre schön gewesen, wenn deine Gefährtin irgendetwas hinterlassen hätte, Ty. Bist du sicher, dass es sie wirklich gibt?“

Ty blickte finster. „Ja, ich bin mir sicher“, gab er schroff zurück. „Ich würde eure Zeit nicht verschwenden, wenn es sie nicht geben würde.“

„Sie haben gerade erst angefangen, Ty. Gib ihnen mehr Zeit“, sagte Tracy und legte eine Hand auf seinen Arm.

„Sie hat recht“, erwiderte Van und grinste leicht. „Peterson und ich mögen Herausforderungen.“

Ty schob seine Hände in die Taschen seiner Jeans und nickte. Er sah zu, wie Peterson begann, die Leiter, die sie in die Grube gestellt hatten, wieder hochzuklettern. Er verengte seine Augen, als Peterson plötzlich einen leisen Ruf ausstieß.

„Na, da schau her, vielleicht wacht die Göttin doch über dir, Ty“, frohlockte Peterson grinsend.

„Was hast du da?“, fragte Tracy und sah zu, wie Peterson in ein Bündel aus Wurzeln griff.

„Ach, nur den ersten Beweis dafür, dass dein kleiner Bruder doch nicht so verrückt ist, wie wir gedacht hatten“, erwiderte Peterson und hielt ein verschmutztes Armband hoch, bevor er daran roch. „Schön geschützt vor Wind und Wetter, oh, du liebliches kleines Schmuckstück. Da ist ein sehr, sehr schwacher Duft!“

„Zeig mal“, verlangte Van und griff nach dem breiten Lederarmband. Feine geflochtene Haarsträhnen, bunte Steine und hölzerne Perlen verzierten das ungewöhnliche Schmuckstück. „Oh, ja“, sagte er, während er es sich unter die Nase hielt und tief einatmete. „Schwach, aber vorhanden.“

„Gib es mir“, sagte Ty, griff nach dem Armband und hielt es sich unter die Nase. Sein Geruchssinn konnte es zwar nicht mit dem eines Wolfes aufnehmen, war aber trotzdem ziemlich gut. Er sog den schwachen Duft tief in sich ein. „Das ist sie.“

Ty ließ das Armband sinken und starrte die darin eingewebten goldbraunen Haarsträhnen an. Sie hatten die gleiche Farbe wie Ellas Haar. Den Beweis dafür, dass er nicht geträumt hatte, fest umklammernd sah er auf, als Van, Peterson und Tracy sich um ihn herumstellten.

„Und was jetzt?“, fragte er mit rauer Stimme.

„Jetzt gehen wir jagen“, erwiderte Tracy mit einem Grinsen.

Kapitel 4

Ella legte das Bündel mit Feuerholz, das sie gesammelt hatte, in den kleinen Korb. Nun hatte sie genug Holz für die Nacht. Sie wimmerte, als ihr Knöchel protestierte. Er war fast geheilt, gab aber immer noch deutliche Signale, wenn sie sich zu sehr anstrengte. Dies war erst ihr zweiter Tag ohne Splint und der Heiler ihres Clans hatte empfohlen noch sechs weitere Wochen eine Schiene zu tragen.

„Ella!“

Als jemand ihren Namen rief, drehte sie sich um. Sie lächelte, als sie sah, wie Jayden mit einem Korb voll frischer Beeren auf sie zukam. Das war etwas, worauf sie sich freute – wieder mit den anderen jagen und sammeln zu gehen.

„Jayden, was hast du gefunden?“, fragte sie und griff nach dem Stock, den sie gegen den Baum gelehnt hatte.

„Brombeeren“, erwiderte Jayden und zog eine Grimasse, als sie ihren Arm hob, um Ella die langen blutigen Kratzer darauf zu zeigen. „Ich schwör’s dir, diese Dinger ernähren sich von meinem Blut.

Ella lachte und blickte in den vollen Korb. „Ziemlich beeindruckend. Du musst ja einiges geopfert haben, um so viele zu bekommen“, zog sie Jayden auf.

Jayden zuckte die Schultern, stellte den Korb auf dem Boden ab und setzte sich auf einen Baumstamm. Ella setzte sich neben sie und seufzte, als sie den Blick über ihr neues Zuhause schweifen ließ. Für sie, die wenigen Ältesten und die kleinen Kinder war die Reise am beschwerlichsten gewesen, aber Mitchell, der Anführer des Clans, war der Meinung gewesen, dass es nach Ellas Begegnung mit dem Grizzly-Wandler das Sicherste wäre, einen neuen Ort für das Dorf zu suchen.

„Glaubst du wir sind hier in Sicherheit?“, fragte Ella mit gedämpfter Stimme.

Jayden blickte sie überrascht an und zuckte die Schultern. „Warum sollten wir das nicht sein?“, erwiderte sie. „Wir haben nichts zurückgelassen, was uns verraten könnte und Mitchell hat dafür gesorgt, dass alle unsere Spuren verwischt wurden. Selbst wenn sie Überreste des alten Dorfs finden sollten, werden sie niemals herausfinden können, wann wir dort gelebt haben oder wohin wir gegangen sind. Mitchel war ziemlich gründlich. Er hat sogar angeordnet jeglichen Abfall zu verbrennen und unter den Farnen zu vergraben. Es sieht jetzt so aus, als ob niemals jemand dort gelebt hätte.“

Ella sah nach unten und nickte. Ihre Finger berührten ihr rechtes Handgelenk. Sie hatte eines ihrer Armbänder verloren, wusste aber nicht wann.

Es war gut möglich, dass es auf der Reise hierher geschehen war. An die erste Woche konnte sie sich kaum erinnern. Wegen der Schmerzen und der Kräuter, die sie dagegen eingenommen hatte, waren ihre Erinnerungen an die Ereignisse nach der Flucht aus der Grube sehr undeutlich. Wahrscheinlich hatte sie es beim Überqueren eines der vielen Flüsse in dieser Region verloren. Ihr war aufgefallen, dass es weg war, nachdem sie gerade einen der größeren Flüsse überquert hatten. Die Strömungen waren stark und es hatte sie ziemlich erschöpft, über die Steine zu balancieren.

„Ist alles in Ordnung? Du bist in letzter Zeit so still“, fragte Jayden mit sanfter Stimme.

„Es geht mir gut, nur …“, begann Ella, bevor sie wehmütig den Kopf schüttelte. „Ich freu mich darauf, wieder auf die Jagd gehen zu können. Ich bin schon eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr rausgekommen.“

Jayden lachte und umarmte Ella. „Ehe du dich versiehst, bist du wieder dabei. Mir gefällt es hier. Wir haben seit Wochen keine Anzeichen von Leben gesehen. Es ist schön, dass wir uns keine Sorgen darüber machen müssen, entdeckt zu werden“, erwiderte sie seufzend. „Ich habe einen beeindruckenden Ort gefunden. Ungefähr zehn Kilometer von hier entfernt. Vielleicht kann ich ihn dir in ein paar Tagen zeigen.“

„Das wäre schön“, antwortete Ella lächelnd. „Mit der Schiene kann ich mich jetzt auch viel besser bewegen.“

„Ich muss mit den Beeren zu meiner Mutter, bevor sie sich fragt, wo ich bleibe. Komm doch später vorbei, wenn du Zeit hast“, sagte Jayden, stand auf und griff nach dem Korb mit den Brombeeren.

„Das tu ich. Bis später“, sagte Ella und stand etwas unbeholfen auf.

Ella sah zu, wie ihre Freundin davoneilte. Es fühlte sich merkwürdig an, allein zu wohnen. Nach dem Umzug hatte sie entschieden, dass sie etwas Eigenes wollte. Seit dem Tod ihrer Eltern hatte sie bei Jayden und ihren Eltern gewohnt. Sie beugte sich vor, um den Stock aufzuheben, den sie als Krücke benutzte. Später am Abend würde sie müde werden und ihn brauchen.

Sie ging zu dem Korb zurück, in den sie das Feuerholz gelegt hatte, legte ihren Stock auf den Stapel und begann an dem dicken Seil zu ziehen, das von einem hohen Ast hoch oben im Baum hing, den sie ihr Zuhause nannte. Der Korb war beinahe oben angekommen, doch plötzlich begann ihr das Seil aus der Hand zu rutschen. Sie keuchte leise auf, als eine große Hand nach dem Seil griff und es ihr abnahm.

„Lass mich das machen“, sagte Mitchell schroff. „Du solltest doch einem der Männer Bescheid sagen.“

Ella spürte, wie Ärger in ihr aufstieg, und sie schüttelte den Kopf. „Die Männer haben wirklich besseres zu tun, als mich noch mehr zu verhätscheln“, fauchte sie und zuckte zusammen, als Mitchell sie strafend ansah.

„Wir arbeiten zusammen, Ella“, erinnerte er sie, zog den Korb hoch in den Baum und band das Seil fest. „Nur so können wir überleben.“

„Ich weiß, Mitchell“, erwiderte Ella seufzend. „Es nervt mich nur so, allen zur Last zu fallen.“

Mitchell hob ihr Kinn mit einer Hand hoch, so dass sie gezwungen war ihn anzusehen. Er war beinahe so groß wie Ty und hatte die gleichen breiten, starken Schultern wie der Grizzly-Wandler. Er sah auch genauso gut aus. Die anderen Frauen im Dorf schwärmten von seiner hellbraunen Haut und seinem muskulösen Körper. Jetzt trug er seine Haare sehr kurz, aber Ella erinnerte sich noch gut an den kleinen Jungen mit den weichen, schwarzen Locken.

„Du fällst niemandem zur Last“, erwiderte er unwirsch. „Du gehörst zur Familie.“

„Ich weiß, ich weiß“, sagte sie, zog eine Grimasse und wackelte mit der Nase. „Nenn mich aber bloß nicht …“

„Kleine Schwester“, schmunzelte Mitchel und strich ihr leicht über das Kinn. „Brauchst du Hilfe, um in dein Hochbett zu kommen?“

„Warum nicht?“, murmelte Ella mit einem übertriebenen Seufzen. „Ist schließlich leichter, als mich allein hochzuziehen.“

„Steig ein“, wies Mitchel sie an und nickte in Richtung des kleinen Liftsystems, das er zusammen mit ihr gebaut hatte.

Ella hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, bevor sie sich umdrehte, langsam zu dem Lift hinüberging und hineinstieg. Mit erhobenem Daumen zeigte sie, dass sie bereit war und hielt sich an dem hölzernen Pfahl in der Mitte fest. Ihr Herz zog sich zusammen, als sie ihren Blick über das Dorf schweifen ließ.

Achtundzwanzig Menschen – so wenige. Achtundzwanzig und sie wurden immer weniger. Wenn sie sich nicht auf die Suche nach anderen Menschen machen würden, wären sie bald noch weniger. Es war aber schwierig unbemerkt in einer Welt herumzureisen, die von den Anderen beherrscht wurde, und Jaydens und Ellas Abenteuer hatte gezeigt, dass ihre Welt immer kleiner wurde.

Ihr Volk lebte hoch in den Bäumen und hielt sich so wenig wie möglich auf dem Boden auf. Die dicken Äste der alten Bäume boten ihnen Schutz vor Gefahren von unten und von oben. Sie taten, was sie konnten, um das Land um sie herum so wenig wie möglich zu verändern, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Ella sah hoch, als sich der Lift der Baumgabelung näherte, wo sie sich ihr Zuhause gebaut hatte. Der Boden bestand aus einer groben Plattform, die Wände hatte sie aus Zweigen, Ranken und Blättern gewebt. Es war zwar sehr einfach, aber fürs Erste genug, bis sie sich etwas Besseres bauen konnte.

Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, als sie das Gelächter von einem halben Dutzend Kindern hörte. Bald würde es nicht mehr so viele geben. Ella, Jayden und einige der anderen Frauen in gebärfähigem Alter hatten in einer Nacht vor fast fünf Jahren einen Pakt geschlossen, niemals Kinder zu bekommen.

Auch wenn der Pakt zu einem sehr emotionellen Zeitpunkt ihres Lebens geschlossen worden war, hatte sie ihre Meinung darüber bisher nicht geändert. In der Nacht vor dem Pakt hatte Ellas Mutter eine Totgeburt erlitten und war dabei selbst gestorben. Als der Heiler herausgekommen war und Ella und ihren Vater kopfschüttelnd angesehen hatte, hatte sie tief in sich gespürt, dass das Überleben der Menschen ein hoffnungsloses Unterfangen war.

Nachdem ihr Vater drei Monate später an einer Lungenentzündung gestorben war, war sie mehr denn je entschlossen, alles für ihr Dorf zu tun. Alles, außer Kinder zu bekommen. Diese Entscheidung war auch ein Grund, warum sie bei Jayden und ihrer Familie ausgezogen war. Sie hatten ihr damit in den Ohren gelegen, einen Mann zu wählen, genauer gesagt Mitchell. Ella wusste, dass sie auch auf Jayden Druck ausübten.

Da sie nur noch so wenige waren, hatten die Ältesten beschlossen, dass die Männer zum Wohl des Clans mehrere Partnerinnen haben sollten. Ella war egoistisch und wollte keinen Mann teilen. Plötzlich erschien das Bild eines anderen Mannes vor ihrem inneren Auge.

Sie brummte und winkte Mitchel zu, als er ihr etwas zurief. Schnell ließ sie den Sicherheitsbügel auf den Haken gleiten, bevor sie vorsichtig aus dem Lift und auf die Plattform stieg. Sie beugte sich vor, griff nach dem kleinen Korb mit dem Feuerholz und verschwand im dunklen Inneren ihres Heims. Als nächstes wollte sie ein Feuer entfachen, um die Nüsse und Früchte zu grillen, die Jayden für sie gesammelt hatte.

„Hör auf, Ella“, flüsterte sie und holte einige Holzscheite näher an ihren Sitzplatz heran. „Du musst ihn vergessen.“

Ihr leises Seufzen hallte in ihrem kleinen Wohnbereich wider, als sie sich auf die dicke Unterlage sinken ließ, die ihr als Bett diente. Wem versuchte sie eigentlich etwas vorzumachen? Seit Wochen versuchte sie vergeblich, nicht mehr an den Tiermann mit dem Namen Ty zu denken. Nachts träumte sie von ihm und war sich sicher, immer noch seine Lippen auf ihren spüren zu können.

„Ich frage mich, was er wohl gerade macht“, flüsterte sie und blies leicht, um das Feuer in dem runden Tongefäß, das sie als Feuerstelle benutzte, anzufachen. „Er hat dich wahrscheinlich längst vergessen, Ella, und das solltest du auch tun.“

Ihre Augen begannen zu brennen. Sie versuchte dem Rauch von dem getrockneten Moos dafür die Schuld zu geben, aber sie wusste, dass ihre plötzlichen Tränen nichts mit dem Feuer zu tun hatten. Sie kamen einzig und allein von dem Kampf, den sie in ihrem Inneren ausfocht. Tief einatmend lehnte sie sich zurück und starrte in die Glut.

„Ich wünsche dir Frieden, Biest“, murmelte sie und stellte das Abendessen, das sie zubereitet hatte, zur Seite. Der Hunger war ihr vergangen. Stattdessen legte sie sich auf ihr Bett, starrte hoch in die zunehmende Dunkelheit und wartete darauf, den ersten Stern zwischen den dicken Ästen leuchten zu sehen. Sie verzog ihre Lippen zu einem traurigen Lächeln. „Wenn die Dinge doch nur anders sein könnten …“

Ella blickte hoch zum Himmel, dachte an den Grizzly-Wandler und daran, dass ihr Vater Recht behalten hatte. Die Menschen und die Anderen waren sich nach langer Zeit wieder begegnet. In der Ferne hörte sie die gedämpften Unterhaltungen und das leise Lachen der anderen Clanmitglieder, die sich für die Nacht bereitmachten. Sie streckte ihre Hand aus und umfasste damit einen der kleinen Lichtpunkte im Himmel. Auf einmal war sie wieder das kleine Mädchen, das daran glaubte, dass Wünsche wahr werden können. Sie ballte ihre Hand zu einer Faust, als ob sie Angst hätte, der Stern könnte ihr entwischen und drückte sie dann an ihr Herz.

Ein leichter Wind wehte durch die Bäume, strich ihr über das Gesicht und erfüllte die Luft mit einem herbstlichen Duft. Sie hätte schwören können, die Stimme ihres Vaters zu hören, die sie daran erinnerte, dass Träume wahr werden können. Immer wenn sie ihn gefragt hatte, wie er sich so sicher sein konnte, hatte er ihr die gleiche einfache Antwort gegeben.

„So habe ich deine Mutter gefunden“, hatte er mit ruhiger Stimme geantwortet.