Endlich sind wir eine Familie - Patricia Vandenberg - E-Book

Endlich sind wir eine Familie E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Martina Palmer warf einen Blick in den Rückspiegel und erschrak vor ihrer Blässe. Die Aufregungen des Nachmittags hatten sie anscheinend doch mehr mitgenommen, als sie sich eingestehen wollte. Dabei sollte sie eigentlich froh sein, dass ihre zweijährige Verlobungszeit, die alles andere als harmonisch verlaufen war, nun ein schnelles Ende gefunden hatte. Aber ich bin dreißig Jahre alt, ging es Martina durch den Sinn. Das ist ein Alter, in dem die meisten Frauen bereits verheiratet und Mutter sind. Oh, wie sehr beneidete sie diese Frauen! Was gab es denn Schöneres für eine Frau, als verheiratet zu sein und Kinder zu haben? Auch sie sehnte sich danach. Doch wie es augenblicklich aussah, würde sie dieses Glück nie kennenlernen. Martina seufzte tief auf, dann blickte sie auf die Uhr. Acht Uhr fünfundvierzig! Sie musste sich beeilen, denn die Baronin Buchwitz, bei der sie Gesellschafterin und Mädchen für alles war, hasste Unpünktlichkeit. Martina gab mehr Gas und konzentrierte sich auf die Straße, die breit und leer vor ihr lag. Auf den Feldern zu beiden Seiten war das Korn schon gemäht. In der zarten blauen Dämmerung des Sommerabends verblassten die leuchtenden Farben des Tages schnell zu einem sanften Pastell. Die Hitze hatte merklich nachgelassen. Ein frischer Wind rauschte geheimnisvoll in den Kronen der alten Bäume, die die Straße säumten, in die Martina jetzt einbog. Sie war in schlechtem Zustand, so dass Martina etwas langsamer fahren musste. Jetzt hatte sie es plötzlich auch nicht mehr ganz so eilig heimzukommen. Sie kurbelte beide Fenster herunter und atmete tief die würzige Abendluft ein.

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Sophienlust – 496 –

Endlich sind wir eine Familie

Patricia Vandenberg

Martina Palmer warf einen Blick in den Rückspiegel und erschrak vor ihrer Blässe. Die Aufregungen des Nachmittags hatten sie anscheinend doch mehr mitgenommen, als sie sich eingestehen wollte. Dabei sollte sie eigentlich froh sein, dass ihre zweijährige Verlobungszeit, die alles andere als harmonisch verlaufen war, nun ein schnelles Ende gefunden hatte.

Aber ich bin dreißig Jahre alt, ging es Martina durch den Sinn. Das ist ein Alter, in dem die meisten Frauen bereits verheiratet und Mutter sind. Oh, wie sehr beneidete sie diese Frauen! Was gab es denn Schöneres für eine Frau, als verheiratet zu sein und Kinder zu haben? Auch sie sehnte sich danach. Doch wie es augenblicklich aussah, würde sie dieses Glück nie kennenlernen.

Martina seufzte tief auf, dann blickte sie auf die Uhr. Acht Uhr fünfundvierzig! Sie musste sich beeilen, denn die Baronin Buchwitz, bei der sie Gesellschafterin und Mädchen für alles war, hasste Unpünktlichkeit.

Martina gab mehr Gas und konzentrierte sich auf die Straße, die breit und leer vor ihr lag. Auf den Feldern zu beiden Seiten war das Korn schon gemäht.

In der zarten blauen Dämmerung des Sommerabends verblassten die leuchtenden Farben des Tages schnell zu einem sanften Pastell. Die Hitze hatte merklich nachgelassen. Ein frischer Wind rauschte geheimnisvoll in den Kronen der alten Bäume, die die Straße säumten, in die Martina jetzt einbog. Sie war in schlechtem Zustand, so dass Martina etwas langsamer fahren musste. Jetzt hatte sie es plötzlich auch nicht mehr ganz so eilig heimzukommen. Sie kurbelte beide Fenster herunter und atmete tief die würzige Abendluft ein. Dabei genoss sie die ländliche Stille, die sie umgab.

Was für ein göttlicher Friede! dachte Martina. Zugleich kämpfte sie darum, nicht an das hässliche Erlebnis des Nachmittags zu denken. Das Leben ging für sie weiter, auch ohne Horst Reuter, dem das Geld mehr bedeutete als wahre Liebe. Außerdem – es war sonst nicht ihre Art, sich unterkriegen zu lassen. Warum sollte sie eines Tages nicht doch noch ein wirkliches Glück finden?

Martinas Aufmerksamkeit wurde jetzt auf zwei kleine Gestalten gelenkt, die, Hand in Hand, weiter vorn auf der rechten Straßenseite zu sehen waren. Na, so was, dachte Martina erstaunt. Was taten zwei Kinder um diese Zeit in einer so einsamen Gegend allein auf der Straße? Das ging doch nicht mit rechten Dingen zu! Die nächste Ortschaft war mehr als zehn Kilometer entfernt. Ob die Kleinen sich verlaufen hatten?

Martina bremste den Wagen neben den Kindern ab, die erschrocken stehenblieben und bis zum Straßengraben zurückwichen.

»Hallo, ihr beiden!«, rief Martina ihnen zu. »Passt auf, dass ihr nicht in den Graben fallt. Ich tue euch nichts.«

Zögernd näherten die Kinder sich dem Wagen, wobei sie sich fest an den Händen hielten. Misstrauisch blickten sie auf Martina, der sofort die große Ähnlichkeit der beiden auffiel. Zwillinge? Schon möglich.

»Wo wollt ihr denn hin?«, fragte Martina freundlich, um die Kleinen nicht noch mehr zu verängstigen.

Da sie keine Antwort erhielt, wiederholte sie ihre Frage. Doch die Kinder blieben auch diesmal stumm.

Natürlich konnte Martina die Kleinen – ihrer Schätzung nach waren sie nicht viel älter als sieben oder acht Jahre – nicht ihrem Schicksal überlassen.

»Steigt ein!«, forderte sie sie in einem Ton auf, der keinen Widerspruch duldete, und öffnete die Tür. Schweigend stiegen die Kinder ein und setzten sich neben sie.

Martina vergewisserte sich, dass die Tür fest geschlossen war, und startete. Dabei überlegte sie, was sie mit den beiden Kindern anfangen sollte. Zwar gab es in dem Bungalow der Baronin ein Fremdenzimmer, aber die alte Dame würde entsetzt sein, wenn sie mit zwei kleinen Kindern ankäme. Sie hatte einmal geäußert, dass sie gegen Kinderlärm allergisch sei.

Martina warf einen Blick auf die beiden Findelkinder, die, nach dem Ausdruck ihrer Gesichter zu schließen, im Augenblick ganz zufrieden zu sein schienen.

»Wie heißt ihr?«, fragte sie energisch.

Diesmal bequemten sie sich zu einer Antwort. »Puck und Flo«, entgegneten sie wie aus einem Mund.

»Puck und Flo?«, wiederholte Martina kopfschüttelnd. »Was für seltsame Namen! Das sind doch nicht eure richtigen Namen? Ihr müsst doch noch andere Namen haben. Jeder Mensch hat einen vernünftigen Vornamen und einen Familiennamen.«

»Wir heißen Puck und Flo«, erwiderte das eine Kind ernst.

»Also gut, lassen wir es dabei«, gab sich Martina widerstrebend zufrieden. »Und wo wohnt ihr?«

»Das können wir Ihnen nicht sagen«, antwortete diesmal das andere Kind leise.

»Nein, das können wir nicht sagen«, echote das zweite.

»So? Und warum nicht?« Martina verlor allmählich ihre Geduld.

»Ja, weil … ja, weil wir es nicht wissen«, wurde ihr erwidert.

»Ihr wisst es nicht? Dann seid ihr nur in den Ferien hier und habt die Adresse der Pension oder des Hotels, in dem ihr mit euren Angehörigen wohnt, vergessen? Nicht wahr, so ist es doch?«

»Wir wissen nicht, wo wir wohnen«, blieben die beiden hartnäckig bei ihrer Behauptung.

Martina unterdrückte einen Seufzer. Da hatte sie sich etwas Schönes aufgehalst. Vielleicht sollte sie die beiden Ausreißer, denn das waren sie gewiss, doch mit zur Baronin nehmen. Doch sofort verwarf sie diesen Gedanken wieder. Ihr würde nichts anderes übrigbleiben, als zum nächsten Polizeirevier zu fahren, um die Kinder dort abzuliefern.

Plötzlich fiel Martina das Kinderheim Sophienlust ein. Baronin Buchwitz, die sich für jeden Klatsch brennend interessierte und deshalb über alle Ereignisse in dieser Gegend genauestens orientiert war, hatte einmal dieses Sophienlust erwähnt. Sie hatte auch erzählt, dass eine Frau von Schoenecker das Kinderheim leitete. Oder war sie die Besitzerin? An die Einzelheiten konnte Martina sich nicht mehr genau entsinnen. Doch, jetzt fiel es ihr wieder ein. Ein kleiner Junge hatte das Gut Sophienlust von seiner Urgroßmutter geerbt. Seine Mutter verwaltete sein Erbe, bis er selbst dazu in der Lage sein würde.

Wenn sie doch nur wüsste, welche Richtung sie einschlagen musste, um nach Sophienlust zu kommen! Sehr weit kann es nicht sein, überlegte Martina. Aber dort vorn war ein Wegweiser.

Martina fuhr langsamer und las auf dem Schild: Sophienlust 15 km. Das war weiter, als sie angenommen hatte. Aber sie musste in den sauren Apfel beißen und die Kinder dorthin bringen.

»Ich bringe euch jetzt in ein Kinderheim«, bemerkte sie, wobei sie hoffte, dass die Kleinen ihr endlich sagen würden, wohin sie gehörten. Aber sie schwiegen auch jetzt.

»Na dann«, seufzte Martina und bog in die Straße ein, die nach Sophienlust führte.

*

Frau Rennert und ihre Schwiegertochter Carola saßen um diese Stunde noch auf der Terrasse, um den herrlichen Sommerabend zu genießen. Nach der drückenden Schwüle des Tages war das kühle Lüftchen, das jetzt wehte, eine wahre Wohltat.

»Was für ein wunderschöner Abend«, schwärmte Carola. Dabei dachte sie sehnsüchtig an ihren Mann, Wolfgang Rennert, der für einige Tage hatte verreisen müssen.

»Ja, Carola, solche Abende sind recht selten bei uns geworden«, entgegnete Frau Rennert mit einem lieben Lächeln und blickte die reizende junge Frau an. Dass Wolfgang dieses liebevolle Geschöpf geheiratet hatte, war für sie eine große Freude. Denn sie hatte die stille, bescheidene und begabte Carola tief in ihr Herz geschlossen. Außerdem war sie sehr stolz auf ihre Schwiegertochter, die als Malerin bereits einen Namen hatte.

Jetzt wandten sich Frau Rennerts Gedanken Denise von Schoenecker zu, der ihr Sohn und sie so unendlich viel zu verdanken hatten. Bedenkenlos hatte diese gütige Dame ihren Sohn als Lehrer engagiert, obwohl er einmal gestrauchelt war. Dabei hatte ihr Sohn diese Dummheit nur begangen, um ihr, seiner damals so kranken, hilflosen Mutter, zu helfen. Nur deshalb hatte er das Geld unterschlagen. Er war dafür verurteilt worden und hatte seine Strafe verbüßt. Eine Jugendtorheit, mehr nicht. Aber wie viele Menschen tragen so etwas einem jungen Menschen ein Leben lang nach! Damals schien es so, als ob die Zukunft ihres Sohnes für immer verbaut sei. Doch das Schicksal hatte ihn mit Frau von Schoenecker zusammengebracht, die nicht nur ihm, sondern auch ihr selbst geholfen hatte. Was konnte sich eine Frau in ihrem Alter mehr wünschen, als Leiterin in einem großzügig geführten Kinderheim zu sein?

Wieder streifte Frau Rennerts Blick Carola, die, den Kopf zurückgelehnt, mit offenen Augen träumte. Über ihnen wölbte sich die dunkle Kuppel des nächtlichen Himmels, an dem die Sterne hell blinkten.

»Die Sterne gleichen Edelsteinen, die auf weichem Samt glitzern«, sagte die junge Frau leise.

»Ja, Carola, es ist eine zauberhafte Nacht. Aber horch mal, kommt da nicht ein Auto?«

Carola hob lauschend den Kopf. »Ja, du hast recht. Wer mag denn um diese späte Stunde zu uns kommen? Vielleicht kehrt Wolfgang früher heim?«

»Das glaube ich weniger, mein Kind. Er hat ja morgen erst die Besprechung, um derentwillen er nach Frankfurt gefahren ist.«

»Ob jemand von Schoeneich kommt?«, rätselte Carola weiter.

»Unmöglich! Der Wagen kommt ja aus der entgegengesetzten Richtung.«

»Ich schau mal nach, Mama.« Carola erhob sich.

»Ich begleite dich«, erklärte Frau Rennert und folgte der jungen Frau.

Im gleichen Augenblick bog ein fremder Wagen in den Hof ein und blieb dann mit einem sanften Ruck stehen.

Martina Palmer stieg aus. Auch die Kinder kletterten neugierig aus dem Wagen.

»So, da wären wir«, sagte Martina und strich ihren Rock glatt. »Hoffentlich ist hier noch jemand wach!«

»Ist das ein Kinderheim?«, fragte eines der Kinder.

»Ja, das ist ein Kinderheim, Puck oder Flo. Man kann euch ja kaum auseinanderhalten. Oh, da ist ja jemand!«, stellte Martina dann aufatmend fest und ging auf die beiden Damen zu.

»Guten Abend!«, grüßte sie mit ihrer klaren hellen Stimme. »Ich bin Martina Palmer.«

Frau Rennert und Carola stellten sich ebenfalls vor.

»Ja, und das sind Puck und Flo«, nannte Martina dann die Namen der Kinder, die zögernd nähergekommen waren.

»Puck und Flo?«, wunderte sich Carola und betrachtete die beiden reizenden Kinder, deren helle Haare im Schein der Ampel über der Haustür wie pures Silber schimmerten. »Sie werden bestimmt noch andere Namen haben«, meinte sie dann lächelnd.

»Das nehme auch ich an. Aber leider weiß ich sie nicht«, erwiderte Martina, froh, dass ihr die Verantwortung für die Kinder abgenommen wurde. »Ich habe die Kleinen von der Straße mitgebracht.«

»Von der Straße?«, wiederholte Frau Rennert erstaunt.

»Ja, Frau Rennert, so ist es. Ich bin bei einer älteren Dame angestellt, die kleine Kinder nicht besonders mag. Deshalb wusste ich zuerst nicht, wohin ich mit ihnen sollte. Ich war schon bereit, sie zur Polizei zu fahren, als mir plötzlich Sophienlust einfiel. Wäre es möglich, dass Sie die Kinder so lange bei sich behalten, bis man weiß, wohin sie gehören?«

Frau Rennert überlegte nicht lange, sie nickte. Dann bat sie die junge Dame ins Haus, um mit ihr alles weitere zu besprechen. Carola nahm die beiden Kleinen bei der Hand, die ihr widerstandslos folgten.

Frau Rennert schaltete die Deckenbeleutung in der Halle an, um die Kinder besser sehen zu können. Mit ihrem geschulten Blick erkannte sie, dass die beiden aus einem guten Haus stammten. Sie machten einen sehr gepflegten Eindruck, und ihre fast weißblonden Haare schienen erst vor einigen Tagen geschnitten worden zu sein. Was für hübsche Kinder, dachte sie. Und wie ähnlich sie sich sehen. Beide hatten blaue Augen, die von dunkelblonden, langen Wimpern umrandet wurden. Sie waren mit Blue Jeans und den gleichen weiß-rot gestreiften Pullis bekleidet. Das eine Kind trug einen Anorak in Rot, das andere einen in Blau.

»Also, wie heißt ihr nun wirklich?«, versuchte Frau Rennert jetzt ihr Heil bei den Kindern.

»Puck«, antwortete das eine Kind. »Flo«, das andere.

»Also Puck und Flo. Nicht wahr, ihr seid doch Zwillinge?«

Die Kinder warfen sich einen schnellen Blick zu. »Ja, wir sind Zwillinge«, erwidert sie dann gleichzeitig.

»Und wie alt seid ihr?«, fragte Frau Rennert freundlich weiter.

»Acht«, erwiderte Puck.

»Sieben«, sagte Flo.

»Acht oder sieben«, mischte sich Carola ein, die die Kleinen zum Anbeißen süß fand.

»Acht!«

»Sieben!«

»Auch das werden wir noch herausbekommen.« Frau Rennert seufzte auf. Die beiden schienen ziemlich schwierig zu sein. »Und wo kommt ihr her? Wo wohnt ihr?«

»Das wissen wir nicht«, sagte Flo leise.

»Nein, das wissen wir nicht«, behauptete auch Puck.

Schwester Gretli, die gerade hatte zu Bett gehen wollen, als das Auto in den Hof gefahren war, kam die Treppe herunter, um zu fragen, ob sie noch benötigt werde.

»Schwester Gretli, Sie schickt der Himmel!«, rief Frau Rennert erleichtert. »Wie Sie sehen, haben wir Zuwachs bekommen. Was machen wir nur mit den Kindern?«

Die Kinderschwester blickte auf die alte Standuhr in der Halle.

»Ins Bett stecken«, schlug sie lakonisch vor. »Es ist gleich halb zehn.«

»Also gut, dann bringen Sie sie ins Bett! Ich komme gleich nach.«

Frau Rennert wandte sich Martina zu. Die junge Dame mit dem honigfarbenen Haar und den grünlich schimmernden Augen gefiel ihr sehr gut. Ob sie vielleicht die Mutter der Kinder war, deren sie sich auf diese etwas außergewöhnliche Art entledigen wollte? In den vielen Jahren, die Frau Rennert schon in Sophienlust weilte, hatten sich die erstaunlichsten Dinge zugetragen. Aber dann verwarf sie diesen Gedanken doch wieder. »Ich möchte mich verabschieden«, sagte Martina, unruhig geworden, weil sie sich wieder an die Baronin Buchwitz erinnerte, die sie gewiss mit Vorwürfen wegen ihrer Verspätung überschütten würde. »Darf ich morgen in Sophienlust anrufen, um mich nach den beiden Jungen zu erkundigen?«, fragte sie noch.

»Ja, Frau Palmer. Bitte, geben Sie mir doch noch Ihre Adresse!«, bat Frau Rennert.

»Gern, Frau Rennert!« Martina nahm aus ihrer Handtasche eine Visitenkarte und überreichte sie der Heimleiterin.

»Ich bringe Sie noch hinaus«, bot sich Carola freundlich an.

Frau Rennert blickte der fremden jungen Dame und ihrer Schwiegertochter nach und überlegte, ob sie nicht lieber Frau von Schoenecker in Schoeneich anrufen sollte. Aber dann schlug sie die Richtung zu dem Seitenflügel ein, wo sich die Schlafzimmer der beide Kinder befanden.

Schwester Gretli hatte die beiden Kinder in das Eckzimmer gebracht und bezog gerade die Betten, als Frau Rennert kam. Puck und Flo saßen still nebeneinander auf der weißlackierten Bank unter dem Fenster.

»Na, ihr beiden Schlingel«, sagte Frau Rennert lächelnd, »habt ihr noch Hunger?«

»Ja, ein bisschen schon«, gab Puck

zu.

»Sehr! Mein Magen knurrt ganz toll«, erwiderte Flo.

Carola, die jetzt auch ins Zimmer trat, fragte: »Mama, müssten wir nicht Tante Isi anrufen, um ihr von den Kindern zu erzählen?«

»Das habe ich auch schon überlegt. Aber es ist schon spät. Ich denke, wir können mit dem Anruf bis morgen früh warten. Carola, bitte sei doch so lieb und hole noch heiße Milch und eine Kleinigkeit zu essen«, bat sie.

»Gern, Mama!« Carola zwinkerte den beiden Kleinen vergnügt zu, ehe sie das Zimmer wieder verließ.

Als Frau Rennert und Schwester Gretli die Kinder auszogen, sagte Frau Rennert verblüfft: »Puck ist ja ein Mädchen! Ich habe beide Kinder für Jungen gehalten.«

»Ja, ich bin ein Mädchen«, bestätigte Puck eifrig.

»Ist Flo auch ein Mädchen?«, fragte die Heimleiterin die Kinderschwester.

»Nein, Flo ist ein Junge«, lachte Schwester Gretli.

»Also ein Pärchen! Jetzt wird es leichter für uns sein, euch auseinanderzuhalten«, meinte Frau Rennert zufrieden.

Schwester Gretli holte zwei Schlafanzüge und zwei weiße Bademäntel für die Kinder. »Bevor ihr ins Bett geht, müsst ihr euch noch waschen«, verlangte sie, »denn eure Füße sind so schwarz, als ob ihr sie schon seit Wochen nicht mehr gewaschen hättet.«

»Dabei haben wir sie erst heute früh gewaschen«, seufzte Flo und musterte seine Füße nachdenklich.

»Aber wir sind ja auch viele Stunden gelaufen«, erinnerte Puck ihr Brüderchen an den abenteuerlichen Tag, der hinter ihnen lag.

Frau Rennert horchte jetzt etwas auf. »Dann seid ihr also den ganzen Tag unterwegs gewesen?«, wollte sie wissen und hoffte, endlich mehr zu erfahren.

Sofort verschlossen sich die Gesichter der Kinder.

»Das sagen wir nicht«, entgegnete Flo.

»Nein, das sagen wir nicht«, wiederholte Puck.

»Dann eben nicht! Morgen ist auch noch ein Tag«, antwortete Frau Rennert.

Nach der Prozedur des Waschens schlüpften Puck und Flo in die Schlafanzüge und krochen dann zufrieden unter die Bettdecken.

Carola hatte warme Milch und belegte Brote auf den Tisch gestellt. Als die Kinder im Bett lagen, reichte Frau Rennert ihnen die Teller. Sie waren schnell geleert. Dann verschwand die Milch ebenso rasch wie vorher die Brote.

»Das war aber fein!« Flo leckte sich wie eine Katze die Milchspuren von den Lippen fort. »Ich könnte noch mehr essen.«

»Heute nicht, mein Junge!«, erwiderte Frau Rennert. »Sonst schläfst du schlecht.«

»Ja, Flo, die Dame hat recht«, meinte Puck.

»Meinetwegen!« Flo streckte sich aus, und auch Puck rollte sich zusammen.

»Also, dann schlaft gut!« Frau Rennert nickte den Kindern zu und schaltete dann das Licht aus.

»Seltsame Kinder sind das«, meinte sie draußen auf dem Korridor zu Schwester Gretli und Carola. »Warum verschweigen sie uns nur ihre Namen? Sonderbar!«

»Sie werden schon ihre Gründe haben, Mama«, meinte Carola. »Vielleicht fürchten sie sich vor etwas.«

»Du kannst recht haben. Aber nun schnell in die Betten. Es ist schon spät. Der Tag beginnt für uns früh!«, ermahnte Frau Rennert.

Puck und Flo aber lagen noch ein Weilchen wach.

»Du, Puck«, flüsterte Flo in die Dunkelheit. »Meinst du, dass sie herausbekommen, wer wir sind?«

»Das glaube ich nicht, Flo. Wir dürfen uns nur nicht verplappern. Vergiß nicht, was wir uns versprochen haben.«

»Das werde ich bestimmt nicht vergessen, Puck! Ich werde immer daran denken. Ein bisschen Angst habe ich schon gehabt, als es plötzlich dunkel wurde.«

»Ich auch, Flo. Aber wir haben großes Glück gehabt, dass uns die nette Dame mitgenommen hat. Ich glaube, das Kinderheim ist sehr schön.«

»Das finde ich auch.« Flo gähnte herzhaft. »Vielleicht finden wir hier eine liebe Mutti.«

»Ja, Flo, das wäre wunderschön. Ich möchte auch einmal so richtig geliebt werden wie die anderen Kinder, die eine liebe Mutti haben. Magst du die Dame mit dem Auto leiden?«

»Ja, die ist sehr lieb, Puck! Viel lieber als …« Flos Gedanken verwirrten sich, und dann war er eingeschlafen.

»Ja, sie ist viel lieber«, flüsterte das kleine Mädchen und schlief dann ebenfalls ein.

*

Martina fuhr den Wagen in die Garage. Als sie den Gartenweg entlangging, sah sie, dass zwischen den Ritzen der Fensterläden des Wohnzimmers Licht schimmerte. Also war die Baronin noch wach.