Ich wusste, dass du kommst - Patricia Vandenberg - E-Book

Ich wusste, dass du kommst E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Der Wagen stand abfahrbereit vor der Tür. Sascha blickte ungeduldig auf seine Armbanduhr. »Wo nur Nick wieder bleibt«, murmelte er. »Er könnte sich doch wirklich ein bisschen beeilen, wo Edith heute mit uns das Theaterstück einstudieren will.« »Dazu wird er sicher keine Lust haben«, dachte Denise, denn sie kannte ihren eigensinnigen Sohn. »Nick, Nick«, rief Andrea laut und gedehnt, aber nichts rührte sich. »Wenn er nicht will, dann will er nicht«, meinte die Zehnjährige kopfschüttelnd. »Ich gucke mal nach ihm.« Denise ging mit. Wenn es nötig sein sollte, wollte sie Dominik mal wieder die Leviten lesen. Er musste lernen, dass es nicht immer nach seinem Kopf ging. Sascha und Andrea waren viel zu nachgiebig. Aber er war eben der Kleine und durfte sich noch manches erlauben, was sie bereits abgestreift hatten. Doch diesmal taten sie Nick unrecht. Er saß an seinem Schreibtisch. Sein Kopf war auf die Hände gesunken.

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Sophienlust – 471 –

Ich wusste, dass du kommst

Patricia Vandenberg

Der Wagen stand abfahrbereit vor der Tür. Sascha blickte ungeduldig auf seine Armbanduhr.

»Wo nur Nick wieder bleibt«, murmelte er. »Er könnte sich doch wirklich ein bisschen beeilen, wo Edith heute mit uns das Theaterstück einstudieren will.«

»Dazu wird er sicher keine Lust haben«, dachte Denise, denn sie kannte ihren eigensinnigen Sohn.

»Nick, Nick«, rief Andrea laut und gedehnt, aber nichts rührte sich. »Wenn er nicht will, dann will er nicht«, meinte die Zehnjährige kopfschüttelnd. »Ich gucke mal nach ihm.«

Denise ging mit. Wenn es nötig sein sollte, wollte sie Dominik mal wieder die Leviten lesen. Er musste lernen, dass es nicht immer nach seinem Kopf ging. Sascha und Andrea waren viel zu nachgiebig. Aber er war eben der Kleine und durfte sich noch manches erlauben, was sie bereits abgestreift hatten.

Doch diesmal taten sie Nick unrecht. Er saß an seinem Schreibtisch. Sein Kopf war auf die Hände gesunken. Aus fiebrig glänzenden Augen sah er seine Mutter an, als sie hinter ihn trat und ihre Hände auf seine Schultern legte.

»Was ist denn, Nick?«, fragte sie besorgt. »Wir wollen doch nach Sophienlust fahren.«

»Mein Kopf tut aber so arg weh, Mutti«, flüsterte er. »Ich kann gar nicht mehr denken. Ich konnte auch keine Hausaufgaben machen.«

»Aber warum hast du das denn nicht früher gesagt?«, meinte sie kopfschüttelnd. »Rasch ins Bett! Andrea, ruf Dr. Wolfram an.«

»Wenn es schon ein Arzt sein muss, dann Onkel Werner«, brummte Nick müde. »Ich mag Dr. Wolfram nicht.«

»Aber warum denn plötzlich nicht mehr?«, fragte Denise verwundert.

Sie bekam es erst heraus, als Nick schon im Bett lag. »Er ist nicht mehr nett zu Edith«, murmelte er. »Er hat nie mehr Zeit, und sie ist immer traurig.«

»Tatsächlich?«, fragte sich Denise. »Bildete sich Dominik das nicht bloß ein?« Ihr war es noch nicht aufgefallen. Allerdings kümmerte sie sich in letzter Zeit nicht mehr um all die persönlichen Anliegen der Angestellten, wie sie es früher getan hatte, als sie noch von früh bis spät mit ihnen beisammen gewesen war. Sie machte sich Vorwürfe.

»Es ist bestimmt nicht so, wie du denkst, Nick«, meinte sie begütigend. »Schau, jeder Arzt hat viel zu tun, und du weißt doch, wie wenig Zeit Onkel Werner für sein Privatleben hatte.«

»Jetzt hat er aber mehr Zeit, seit Dr. Wolfram da ist«, stellte Nick fest. »Und erst hatte der auch mehr Zeit. Na, meinetwegen soll er doch kommen, aber dann musst du ihn fragen, was er gegen Edith hat. Dir wird er es vielleicht sagen.«

Dazu war Denise auch sofort entschlossen. Sie hatte gelernt, dass Schweigen unselige Folgen haben konnte, und sie war in allen Dingen für Klarheit.

»Sascha und Andrea können ruhig fahren«, murmelte Dominik leise. »Edith braucht sie ja, weil sie Hauptrollen spielen. Ich bin nicht so wichtig. Ich stelle mich ja auch zu dumm an.«

Hatte er etwa Minderwertigkeitskomplexe? Aber nein, er hatte richtiges Fieber. Nicht nur der Kopf, auch seine Hände waren heiß. Die Füße dagegen waren kalt.

Sascha und Andrea mussten erst überredet werden, mit dem Chauffeur nach Sophienlust zu fahren. Sie wollten Nick nicht allein lassen. Aber Denise machte ihnen liebevoll klar, dass sie ihm jetzt gar nicht nützen konnten. Nick war fast sofort eingeschlafen.

Dr. Wolfram kam, wie immer, rasch und zuverlässig. Er untersuchte Nick und machte ein besorgtes Gesicht.

»Das sieht mir ganz nach Scharlach aus«, meinte er. »Wir haben schon ein paar Fälle.«

»Mein Gott«, seufzte Denise, »und ich habe Sascha und Andrea nach Sophienlust fahren lassen.«

»Sie werden sowieso nicht verschont bleiben, wenn die Ansteckung von der Schule ausgeht«, beruhigte sie Dr. Wolfram. »Zum Glück ist Scharlach ja nicht mehr so gefährlich wie früher, und im Grunde ist es besser, wenn sie es alle auf einmal hinter sich bringen und nicht in Abständen. Vorsichtshalber werde ich gleich mal hinüberfahren.« Er machte eine kleine Pause. »Wie ist es mit Ihnen? Hatten Sie schon Scharlach?«

»Ich glaube schon. Ich möchte nur hoffen, dass Petra verschont bleibt, und vor allem muss ich Claudia anrufen, damit sie daheim bleibt. In ihrem Zustand ist es wohl bedenklicher. Übrigens machte Nick da vorhin eine Bemerkung. Sie nehmen es mir doch nicht übel, wenn ich ganz offen mit Ihnen spreche, Dr. Wolfram?«

»Aber gewiss nicht. Nick hat etwas gegen mich in letzter Zeit, nicht wahr? Es ist mir nicht verborgen geblieben.«

»Er findet, dass Sie nicht mehr so nett zu Edith sind wie früher«, gab Denise unumwunden zu.

Leichte Röte stieg in Dr. Wolframs Wangen.

»So ist es nicht, aber vielleicht ist es ganz gut, wenn wir einmal darüber sprechen. Es mag sein, dass Sie mehr Einfluss auf Edith haben als ich. Die ganze Geschichte kam durch ein Missverständnis ins Rollen. Edith meinte, ich würde mich für Christel Lufft interessieren.«

»Aber die ist doch inzwischen verheiratet?«, fragte Denise verwundert.

»Verheiratet und glücklich«, erwiderte er. »Das habe ich Edith auch klargemacht. Aber ich bat sie auch, mir etwas über Petras Vater zu erzählen. Ich finde, dass man alles voneinander wissen sollte, wenn man einen Menschen gernhat.«

»Aber sie hat Ihnen nichts erzählt?«, fragte Denise verhalten.

»Doch, das schon. Sie hat viel mitgemacht. Und sie hasst ihn noch so intensiv, dass sie sich nicht davon lösen kann.«

»Ist das nicht verständlich? Er hat sie enttäuscht, hat sie in ihrer Not allein gelassen …«

»Und sie auch noch um ihr Geld gebracht«, warf Dr. Wolfram bitter ein. »Aber was nützt es Edith, dauernd darüber nachzudenken? Sie muss sich davon lösen. Sie muss damit fertig werden, bevor das Kind begreift, dass es einen solchen Vater hat. Ich mag Edith sehr, und ich würde sie auch heiraten.«

Denise sah ihn überrascht an. »Dachten Sie tatsächlich daran?«

»Ich denke noch daran. Ich bin nun eben mal ein seltsamer Knabe, aber ich möchte, dass sie sich von der Vergangenheit vollkommen frei macht, bevor sie ja sagt. Es soll ihr nichts mehr ausmachen, wenn sie ihm eines Tages wieder begegnen sollte.«

»Es braucht Zeit«, meinte Denise. »Sie ist noch jung, und wenn die erste Bindung an einen Mann gleich eine Enttäuschung wird, ist es wohl eine Belastung. Sie sollten sich prüfen, Dr. Wolfram, ob Ihre Gefühle für Edith stark genug sind, um ihr zu helfen, damit fertig zu werden.«

»Wenn sie sich nur helfen ließe«, seufzte er.

Da lag also der Hase im Pfeffer. Denise meinte, dass sie einmal ganz ernsthaft mit Edith sprechen müsse, doch jetzt war dafür keine Zeit. Dominik lag fiebernd im Bett, und sie musste damit rechnen, dass auch die beiden anderen Kinder angesteckt würden.

Was Sascha betraf, konnte Alexander sie beruhigen. Er hatte Scharlach schon im Internat gehabt. Andrea allerdings noch nicht.

*

Auch Ursi, Roli und Toni waren an diesem Tag ziemlich teilnahmslos. Als Sascha und Andrea nach Sopienlust kamen und erzählten, dass Dominik krank geworden sei, setzte Frau Rennert eine skeptische Miene auf. Sie meinte, dass es wohl besser sei, die Theaterprobe ausfallen zu lassen. Aber dagegen protestierten die anderen Kinder, da sie durch das schlechte Wetter schon einige Tage ans Haus gebunden waren und Beschäftigung suchten.

Frau Rennert war froh, als Dr. Wolfram ungerufen kam. Edith weniger. Sie verschwand mit den Kindern gleich im Aufenthaltsraum. Aber nach einer kurzen Unterredung mit Frau Rennert folgte ihnen Dr. Wolfram dorthin.

Ursi, Roli und Toni wurden gleich in die Krankenzimmer im Nebentrakt verfrachtet. Die anderen zeigten noch keine Anzeichen einer beginnenden Krankheit. Sie waren maßlos enttäuscht, dass es mit dem Theaterstück nun vorerst wohl nichts werden würde.

»Ich möchte mir Petra einmal anschauen«, sagte Dr. Wolfram.

Ediths Gesichtsausdruck wurde ängstlich. »Können denn kleine Kinder auch Scharlach bekommen?«, fragte sie besorgt.

»Natürlich können sie das. Bis zum ersten Lebensjahr haben sie noch gewisse Abwehrstoffe, aber Petra ist jetzt schon kein Baby mehr.«

»Aber die Kinder sind doch geimpft«, meinte Edith.

»Was aber nicht besagt, dass sie unbedingt verschont bleiben müssen. Gewiss wird die Krankheit dadurch abgeschwächt, aber bei einer Epidemie nicht verhindert.«

Doch Petra war quietschvergnügt. Sie spielte mit Bauklötzchen und kreischte vor Vergnügen, als Dr. Wolfram kam. Sie war ein besonders reizendes und fröhliches Kind, das man einfach gernhaben musste.

»Dotto«, rief sie ihn, und ein Lächeln flog über sein ernstes Gesicht, als er sie empornahm.

Edith sah ihn nachdenklich an. Immer noch klangen ihr all die eindringlichen Worte, die er ihr vor ein paar Wochen gesagt hatte, in den Ohren. Ja, man müsste alles vergessen können. Aber konnte man es, wenn man das Kind ständig um sich hatte? Musste man sich nicht für das eine oder das andere entscheiden? Den Mann oder das Kind? Nein, von dem Kind wollte sie sich nie wieder trennen. Zu tief hatte sie darunter gelitten, dass es einmal unumgänglich gewesen war. Und von dem Mann? Immer wenn sie ihn sah, wurde ihr schmerzhaft bewusst, wie viel er ihr bedeutete.

»Nun wollte ich Sie einladen, mit mir ein Konzert zu besuchen, aber für die nächsten Wochen werden wir beide wohl vollauf beschäftigt sein«, meinte er. »Mir wäre es schon lieb, wenn wir Petra von den anderen Kindern ganz fernhalten könnten. Sie ist doch recht zart, und ich fürchte, es wird nicht bei den drei Fällen bleiben.«

»Man wird mich brauchen«, meinte Edith. »Ich kann mich nicht nur um mein Kind kümmern. Schließlich verdiene ich mir ja hier unseren Lebens­unterhalt.«

Eine Lösung bot sich durch Irene von Wellentin an, die der Arzt zufällig traf, als sie mit Kati auf dem Weg nach Sophienlust war. Kati gehörte zu den Kindern, die schon mal Scharlach gehabt hatten, und Irene von Wellentin erklärte sich sofort bereit, Petra zu sich zu nehmen. Kati war darüber sehr glücklich, denn sie musste ja nun wochenlang auf die Gesellschaft ihrer Spielgefährten verzichten, und da auch die Schule geschlossen wurde, war sie froh, sich mit Petra beschäftigen zu können.

Dr. Wolfram kehrte noch einmal nach Sophienlust zurück und unterbreitete Edith diesen Vorschlag.

»Warum kümmern Sie sich eigentlich noch immer so um mich?«, fragte sie ziemlich aggressiv. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich …«

»Still«, unterbrach er sie energisch. »Ich weiß genau, was Sie mir gesagt haben. Sie brauchen keinen Mann. Sie können gut allein mit Petra leben. Aber warum lehnen Sie auch meine Freundschaft ab, Edith? Meinen Sie, dass man auf die Dauer immer allein mit allem fertig werden kann? Man kann es nicht, glauben Sie mir. Außerdem kümmere ich mich jetzt nicht um Sie, sondern um Petra. Ich weiß, was es bedeutet, wenn man von einem Krankenbett zum anderen rennen muss, und gar so widerstandsfähig sind Sie auch nicht.«

So siedelte die kleine Petra zu Irene von Wellentin über. Dr. Wolfram brachte sie in die schöne Villa des Fabrikanten, und sie fühlte sich dort auch gleich wohl, wenn sie anfangs auch manchmal nach ihrer Mutter rief.

*

Für die gesunden Kinder war es herrlich, dass sie nicht zur Schule mussten. Für das Personal in Sophienlust war dies eine zusätzliche Belastung.

Man hatte sich alles einteilen müssen. Frau Trenk und Edith betreuten zusammen mit Schwester Resi die kranken Kinder, Wolfgang Rennert und Schwester Gretli die gesunden, die manchmal eine geradezu hektische Betriebsamkeit entwickelten. Alles war anders als sonst.

Nach ein paar Tagen erkrankten auch noch Mario und die kleine Stephanie. Und in Schoeneich hatte sich auch Andrea mit starkem Fieber ins Bett gelegt, während es Dominik schon wieder besser ging. Er jammerte, dass sie nun wohl Dolly, das Hundebaby, nicht rechtzeitig zu den Zwillingen Oliver und Odette bringen könnten.

»Wenn das dein einziger Kummer ist«, tröstete ihn Denise. »Dann kommt sie eben ein paar Wochen später zu ihnen.«

»Aber sie werden denken, dass wir sie ihnen nicht mehr geben wollen«, meinte er kummervoll.

»Ich habe ihnen schon geschrieben, was hier los ist«, stellte Denise beruhigend fest. »Wenn es für dich ein Trost sein sollte, sie sind auch krank. Sie haben die Windpocken.«

»Da tun sie mir aber leid«, versicherte er treuherzig. »Windpocken sind noch schlimmer. Die jucken noch mehr, und man sieht so grässlich aus.«

Der Scharlach zeigte sich im Allgemeinen recht gnädig, nur Roli hatte es arg erwischt. Sie war so geschwächt, dass sie sich nicht einmal aufrichten und malen konnte. Das war für sie das Schlimmste. Und weil Wolfgang Rennert die gesunden Kinder beschäftigen musste, durfte er sie nicht besuchen. Das war fast noch schlimmer, denn mit Wolfgang verstand sie sich besonders gut.

Dr. Wolfram kam jeden Tag nach Sophienlust, manchmal sogar zweimal. Und immer nahm er sich Zeit, ein paar Minuten mit Edith zu sprechen.

Ihr Verhältnis zueinander war in ein eigenartiges Stadium getreten. Sie sprachen weder über die Vergangenheit noch über die Zukunft. Er berichtete ihr, dass es Petra gut gehe bei Frau von Wellentin und dass sie ganz gesund sei. Und er stellte immer wieder fest, dass sie nun auch erholungsreif sei.

Das schlechte Wetter hielt an. Es war, als wäre die Sonne auf Reisen gegangen und scheue sich, zurückzukehren. Aber es war November, und von diesem trüben Monat konnte man ohnehin nichts erwarten.

Wieder einmal verließ Dr. Wolfram Sophienlust nach einem Besuch. Diesmal hatte er die tröstliche Zusicherung zurücklassen können, dass nun bald alles wieder seinen normalen Gang gehen würde. Da kam ihm ein Wagen entgegen, an dessen Steuer ein gut aussehender junger Mann saß.

»Das ist doch der Weg nach Sophienlust?«, rief er ihm durch das heruntergekurbelte Fenster zu. Der arrogante Tonfall des Fremden veranlasste Dr. Wolfram nur zu einem kurzen Kopfnicken, aber es beschlich ihn ein ganz unangenehmes Gefühl, das er sich nicht erklären konnte.

Anschließend fuhr er nach ­Schoen­­eich, wo er Dominik und Andrea schon wieder ganz mobil antraf, sodass er Sascha endlich wieder zu ihnen lassen konnte, der sich in den letzten Wochen sehr einsam gefühlt hatte.

Dr. Wolfram wusste selbst nicht, wieso er an diesem Tag mit Denise über Edith sprach. Es hatte sich so ergeben.

»Sie ist arg mitgenommen«, stellte er fest, als Denise sich nach ihrem Befinden erkundigte.

»Sie soll einmal ein paar Wochen Urlaub mit der Kleinen machen«, überlegte Denise. »Aber wohin schicken wir sie?«

»Ich glaube nicht, dass ihr das Alleinsein bekommen würde«, gab er zu bedenken. »Sie lebt immer noch in einer panischen Angst, diesem Mann begegnen zu können. Auf Sophienlust fühlt sie sich sicher. Aber wenn er sie finden will, wird er sie auch dort finden.«

»Malen Sie den Teufel nicht an die Wand«, seufzte Denise.

»Das sollte ihr doch wohl erspart bleiben.«

Unwillkürlich musste er wieder an den Fremden mit der arroganten Stimme denken, und wenn er Zeit gehabt hätte, wäre er am liebsten noch einmal nach Sophienlust gefahren und hätte sich erkundigt, wer das gewesen war. Aber in seiner Praxis warteten bereits die Patienten, und seine junge Sprechstundenhilfe, die sich noch nicht ganz eingearbeitet hatte, atmete erleichtert auf, als er endlich eintraf.

*

Frau Rennert saß über ihren Abrechnungen, als es an der Tür klopfte. Sie maß den Fremden, der sofort ihre Antipathie erregte, mit einem kritischen Blick.

»Sie wünschen?«, fragte sie kühl.

»Ich möchte Fräulein Gerlach sprechen.«

»Möchten Sie sich nicht erst einmal vorstellen?«, fragte Frau Rennert im gleichen überheblichen Ton zurück. »In diesem Hause ist das üblich.«

Seine Lippen verzogen sich. »Wolff«, stellte er sich vor. »Fräulein Gerlach kennt mich.«

Frau Rennert war eine gute Menschenkennerin, aber mit Edith Gerlach, diesem stillen Mädchen, ließ sich der Fremde nicht in Einklang bringen. Aushorchen konnte sie ihn allerdings auch nicht.

»Ich werde Fräulein Gerlach von Ihrer Anwesenheit unterrichten lassen«, sagte sie zurückhaltend.

Doch das brauchte sie nicht zu tun, denn Edith erschien gerade, als sie die Tür öffnete, und Frau Rennert konnte beobachten, dass sie totenblass wurde, als sie den jungen Mann sah.

»Herr Wolff möchte Sie sprechen, Edith«, sagte Frau Rennert betont. »Wenn Ihnen daran gelegen ist, können Sie sich hier unterhalten. Ich muss etwas mit Magda besprechen.«

Edith nickte zögernd. Sie sah hilflos und verloren aus, da sie aber nichts sagte, konnte Frau Rennert ihr schlecht zu Hilfe kommen.

Leise schloss sie die Tür hinter sich und fühlte sich versucht, entgegen ihren Grundsätzen, ein wenig zu lauschen. Aber dann schalt sie sich selbst aus und ging schnell zur Küche. Auf dem Weg dahin gab sie aber noch rasch ihrem Sohn Bescheid, damit er ein Auge auf das Büro werfen und zur Stelle sein konnte, falls Edith Hilfe benötigen sollte.

Diese sah den Besucher jetzt mit starren Augen an. »Du wagst es, hierherzukommen?«, stieß sie hervor.

»Ich habe lange gebraucht, um dich zu finden«, erwiderte er in vorwurfsvollem Tonfall.

»Vor zwei Jahren hättest du mich sehr schnell finden können. Du hattest meine Adresse. Ich hatte sie dir geschrieben«, murmelte sie tonlos.