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Das große Finale von Jörg Kastners spannender »Amerika-Saga«: Der »Hai von Frisco« musste zwar aus seinem Hauptquartier fliehen, dennoch spinnt er weiter sein Netz aus finsteren Machenschaften. Darin verwickelt sind die Journalisten Bret Harte und Sam Clemens, auch bekannt als Mark Twain, sowie eine tote Ratte, die den beachtlichen Wert von zweihundert Dollar hat. Während Jacob Adler alles daransetzt, den Hai endlich zur Strecke zu bringen, erfährt Irene Sommer etwas über den von ihr gesuchten Carl Dilger, das alles verändert. Hat ihre Suche ein Ende gefunden? Gibt es eine gemeinsame Zukunft für sie und Jacob? Jörg Kastners große »Amerika«-Saga begleitet die beiden Auswanderer Jacob Adler und Irene Sommer in die Neue Welt. Mit ihnen suchen zahllose Menschen – Verarmte, Verbitterte, Verfemte – eine neue Heimat jenseits des Atlantiks. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten warten auf die Auswanderer viele unbekannte Gefahren: Naturkatastrophen, wilde Tiere, Banditen und Indianer. Zudem tobt in Amerika ein erbarmungslos geführter Bürgerkrieg. Doch trotz aller Bedrohungen durchqueren Jacob und Irene den riesigen Kontinent und begegnen dabei so manch berühmter Persönlichkeit. Jede Mühsal und jedes Abenteuer nehmen die beiden auf sich für ihre neue Heimat – Amerika.
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Seitenzahl: 140
Jörg Kastner
Folge 22 der großen SagaAmerika – Abenteuer in der Neuen Welt
Roman
Als der junge Zimmermann Jacob Adler nach dreijähriger Wanderschaft in seinen Heimatort Elbstedt zurückkehrt, ist dort nichts mehr wie vorher. Seine Mutter ist tot, der Vater und die Geschwister sind angeblich nach Amerika ausgewandert, und seine Verlobte ist mit dem Bierbrauersohn Bertram Arning verheiratet. Von Arning fälschlicherweise des Mordversuchs beschuldigt, verlässt Jacob seine Heimat und schifft sich nach Amerika ein, um nach seiner Familie zu suchen. Aber auch in der Neuen Welt lauern Gefahren auf Jacob und seine Reisebekanntschaft Irene Sommer, die dort den Vater ihres kleinen Sohns Jamie zu finden hofft. Jacob, der Irene insgeheim liebt, begleitet sie auf dem Weg nach Kalifornien, wo sich der von Irene gesuchte Carl Dilger aufhalten soll. In San Francisco entführt der mysteriöse »Hai von Frisco« Irene und verfolgt Jacob bis nach Chinatown, das die Männer des Hais rücksichtslos in Brand stecken. Als die Feuersbrünste endlich gelöscht sind, dringt Jacob in das Hauptquartier des Hais ein, wo er Irene und ihren Sohn befreit. Aber der Hai kann entkommen.
Immer wieder schwang der hünenhafte Schwarze die Peitsche und schlug wie ein Besessener auf die beiden Pferde ein. Zielsicher lenkte er den leichten Zweispänner durch die schlammigen Straßen von San Francisco. Es war kurz vor Morgengrauen, und es regnete wie aus Kübeln gegossen, und doch war die ganze Stadt auf den Beinen. Der kahlköpfige Schwarze nahm darauf keine Rücksicht. Er kannte nur ein Ziel. Er musste seinen Begleiter möglichst schnell von dem Ort wegbringen, der vor Kurzem noch sein Hauptquartier gewesen war: das Golden Crown, ein riesiger Vergnügungspalast am Portsmouth Square. Jetzt war das Gebäude in der Hand der Armee. Und der gefürchtete Hai von Frisco befand sich auf der Flucht.
Natürlich hatte der Hai nicht nur einen Unterschlupf in der großen Stadt. Der dunkelhäutige Buster fuhr seinen Herrn nach Barbary Coast, dem berüchtigten Vergnügungsviertel. Dort wollte der Hai untertauchen.
Immer wieder mussten Menschen zur Seite springen, um nicht unter die Hufe der Zugtiere oder unter die Wagenräder zu geraten. Die vorbeidonnernde Kutsche bespritzte sie mit Schlamm. Doch kaum jemand fluchte. Der Regen wusch den Schlamm schnell ab. Die Menschen standen auf der Straße und ließen sich bis auf die Haut durchweichen – voller Freude. Der Regen war willkommen wie ein guter Freund. Er rettete ihre Häuser oder zumindest ihr Leben vor den Flammen, die einen Teil der Stadt eingeäschert hatten. Ohne ihn hätte das Feuer die ganze Stadt am Golden Gate verschlungen.
Barbary Coast gehörte zu den Stadtteilen, die von den Flammen verschont geblieben waren. Dem Hai und Buster war das nur recht. Manch ehrlicher Bürger sah das anders. Die gesamte Stadt war gespickt mit Saloons, Spielhallen und Tanzlokalen, aber in Barbary Coast war es noch ärger. Dort reihte sich ein solches Etablissement an das andere. Keine zweifelhaften Häuser, sondern nachweislich solche der übelsten Sorte. Nirgends auf der Welt gab es so viel Whiskey und Rum, so viele Prostituierte und Morde wie hier. Die Behörden hatten sich damit abgefunden. So wusste man wenigstens, wo die finsteren Gestalten steckten.
Buster zügelte die Pferde im Schatten eines Hauses, das gar keins war, sondern ein umgebautes Schiff. Von der goldgierigen Besatzung verlassen, hatte sich jahrelang niemand um den großen Segler gekümmert. Bis man Land aufschüttete und den Pazifik ein Stück zurückdrängte. Plötzlich war das auf Land stehende Schiff zur begehrten Unterkunft geworden.
Jetzt befand sich eine Kaschemme in seinem Leib, das Red Whale. So stand es auf dem Schild über dem Eingang, das passenderweise die Form eines Walfisches hatte und einmal von leuchtend roter Farbe gewesen war. Inzwischen war die Farbe zu einem schmutzigen Braun verblasst.
Das gestrandete Schiff befand sich in der Nähe eines Hafenbeckens, in dem kleinere und mittlere Raddampfer lagen.
Der Schwarze zog die Bremse an, stieg vom Bock und tauchte in das Gewirr aus Stimmen und Musik und in den Dunst von Zigarrenqualm, billigem Fusel und menschlichen Ausdünstungen ein.
Die Menschen in Barbary Coast feierten, wie immer. Aber heute hatten sie einen besonderen Anlass: Das große Feuer hatte sie verschont. Deshalb floss der Alkohol noch reichlicher als sonst.
Die Flaschen standen auf der wurmstichigen Bar, und jeder konnte sich selbst bedienen – sofern er den Dollar, den ein Glas Whiskey kostete, neben die Flasche legte. Die Gäste machten davon reichlich Gebrauch und füllten ihre Gläser bis zum Rand. Ein Dollar war der Preis, egal wie voll das Glas wurde.
Buster steuerte eine immens fette Frau mit unecht rotem Haar an. Ihr tief ausgeschnittenes Kleid fiel aus zwei Gründen auf. Erstens war die grüne Farbe genauso stechend wie das Rot ihrer Haarmähne. Zweitens schien der voluminöse Körper das Kleid in jeder Sekunde sprengen zu wollen. Bei jedem Ausatmen spannte sich der Stoff, und die gewaltigen Brüste, gegen die selbst ausgewachsene Melonen bescheiden wirkten, reckten sich bedrohlich nach vorn.
Molly Reynolds redete auf den zahnlosen Pianisten ein, er solle endlich etwas Flotteres spielen als das gemächliche, leiernde Beautiful Dreamer. Schließlich begriff der Alte und wechselte übergangslos zu Camptown Races.
Die voluminöse Molly Reynolds war die Inhaberin des Red Whale, zumindest nach außen hin. In Wahrheit war es ihr so ergangen wie vielen anderen zwielichtigen Geschäftsleuten in San Francisco. Der Hai hatte sie vor die Wahl gestellt, für ihn zu arbeiten oder im Pazifik zu baden – für immer und mit ein paar schweren Steinen beschwert.
Froh, den Pianisten endlich überredet zu haben, drehte die dicke Frau sich um. Als sie den knochigen Schwarzen erblickte, gefror das Lächeln auf ihren kirschrot geschminkten Lippen und erstarb dann ganz.
Buster streckte die rechte Hand aus, mit der hellen Innenseite nach oben. Mit einem Krümmen des Zeigefingers winkte er Molly Reynolds zu sich heran. Sie gehorchte und ging zu ihm. Es war immer besser, dem Hai zu gehorchen.
»Was ist?«, fragte sie barsch. »Was willst du hier?«
Sie rechnete nicht damit, aus seinem Mund eine Antwort zu erhalten. Niemand in San Francisco hatte Buster jemals sprechen gehört. Entweder wollte er nicht reden, oder er konnte es nicht.
Buster zeigte zum Ausgang. Es war klar, was er meinte.
Molly Reynolds seufzte ergeben und folgte ihm zwischen den gut besetzten Tischen hindurch.
Plötzlich sprangen zwei Männer auf und stellten sich ihnen in den Weg. Ein blonder Kleiderschrank und ein hagerer, dunkelhaariger Kerl mit der krummsten Nase, die Molly jemals gesehen hatte. Sie trugen die Tätowierungen von Seeleuten, und ihr süßlich-schwerer Atem verriet den überreichlichen Rumgenuss.
»Warum gehst du mit dem verwanzten Nigger, Molly?«, lallte der Krummnasige. »Bist doch viel zu schade für so’n Kohlengesicht. Der ist doch’n halbes Tier. Wenn du dich amüsieren willst, setz dich lieber zu uns!«
Er legte den Arm um die Schultern der Frau, tauchte mit der Hand in ihren Ausschnitt und packte das warme Fleisch ihrer riesigen Brüste. Seine Fingernägel gruben sich so fest ein, dass es wehtat.
»He, Bo«, wandte er sich lachend an seinen Gefährten. »Is’n verdammt gutes Gefühl. Is’ genug für uns beide dran.«
»Werd’s auch mal versuchen, Jock«, grunzte der Blonde und wollte ebenfalls zugreifen.
Er kam nicht dazu. Der bisher völlig ruhige Schwarze wirbelte herum, fasste Bos Arm und drehte ihn mit einer schnellen Bewegung auf den breiten Rücken des Kleiderschranks.
Der blonde Seemann heulte schmerzerfüllt auf und krümmte sich zusammen. Mit einem Fausthieb auf den Hinterkopf schickte Buster ihn auf den schmutzstarrenden Fußboden.
»Verfluchtes Niggerschwein!«, schrie Jock.
Er ließ Molly los, griff unter seine zerschlissene Jacke und zog ein scharfes Haifischmesser hervor.
Buster war schneller. Sein Fuß traf das Gelenk der Messerhand, und die Waffe flog zur Seite.
Der Schwarze sprang vor und deckte den Krummnasigen mit einer Serie von Fausthieben ein. Sie explodierten überall an Jocks Kopf und brachen die Nase ein weiteres Mal. Ein roter Sturzbach ergoss sich aus beiden Nasenlöchern, während der Seemann neben seinen Kumpel stürzte.
Buster stand wieder völlig ungerührt da, als wäre nichts geschehen.
Zwei Männer stürzten vom Eingang herbei. Sie waren kräftig gebaut, und ihre groben Gesichter wirkten vollkommen identisch. Kein, Wunder, die beiden Iren waren Zwillinge. Molly Reynolds hatte sie gestern erst als Türsteher, Aufpasser und Rausschmeißer eingestellt.
Der Schwarze spannte seine Muskeln an, bereit, es auch mit den beiden Iren aufzunehmen.
»Nicht der«, sagte Molly und zeigte auf Buster.
Dann blickte sie zu Boden, wo sich die tätowierten Seeleute unter lautem Röcheln wanden.
»Die beiden müsst ihr euch vornehmen. Schmeißt sie raus und achtet darauf, dass sie in dieser Nacht nicht mehr wiederkommen!« Sie stieß ein verächtliches Lachen aus. »Die Milchgesichter können den Rum nicht vertragen.«
Einer der Iren nickte. Der andere starrte gebannt seine Chefin an.
Jetzt erst bemerkte sie, dass ihr Kleid verrutscht war. Eine der riesigen Brüste schaute heraus und offenbarte eine fast handtellergroße Brustwarze.
Molly stopfte die Brust wieder in ihr Kleid und ging mit Buster zum Ausgang. Die große Tür war, wie auch die Fenster, nachträglich in den Schiffsrumpf eingebaut worden.
Draußen regnete es noch immer. Man konnte kaum zehn Yards weit sehen.
Buster streckte die Hand aus und deutete in den Regen.
»Was, ich soll da raus?«, empörte sich die Frau. »Danach bin ich so nass, als hätte ich den Pazifik durchschwommen!«
Der Schwarze zog sein teures Jackett aus und legte es über Kopf und Schultern der Frau. Ihm machte der Regen offenbar nichts aus.
Sie liefen hinaus. Bald sah Molly die Umrisse der kleinen Kutsche und unter dem schützenden schwarzen Verdeck die schlanke Gestalt eines Mannes.
Er war kaum mehr als mittelgroß und hatte dunkles, leicht gewelltes Haar. Das gut aussehende Gesicht mit dem eingekerbten Kinn wurde von einem herben, grausamen Zug beherrscht.
Molly hatte den Hai von Frisco noch nie gesehen. Henry Black, der Inhaber des Golden Crown, war bei der Übernahme des Red Whale als sein Mittelsmann aufgetreten.
Trotzdem wusste die Frau sofort, dass sie den Mann vor sich sah, vor dem die halbe Stadt zitterte. Sie kannte Buster, der damals bei Black gewesen war. Die Gerüchte besagten, dass der stumme Schwarze Leibwächter und rechte Hand des geheimnisvollen Hais war. Und dass der Hai seine zwielichtigen Geschäfte vom Golden Crown aus leitete. Aber was wollte er dann hier?
Der Mann im Wagen nickte knapp. »Sie wissen, wer ich bin, Molly?«
»Ich denke, ja. Ein ganz großer Fisch. Der größte, der sich in Frisco tummelt. Und der gefährlichste.«
Der Anflug eines Grinsens huschte über das Gesicht des Mannes. »Schön formuliert. Außerdem bin ich ein Fisch, der dringend einen neuen Unterschlupf benötigt. Der Bauch eines roten Wales käme mir sehr gelegen.«
»Was ist passiert? Hat das Feuer etwa auch den Portsmouth Square erreicht und das Golden Crown erwischt?«
»Nicht das Feuer hat das Golden Crown erwischt, sondern die verdammte Armee.«
»Oh!«
Plötzlich überschlugen sich die Gedanken der Frau. Wenn die Armee dem Hai auf der Spur war, konnte es für Molly gefährlich sein, ihm Unterschlupf zu gewähren.
Andererseits – tat sie es nicht, hätte sie vermutlich nicht mehr lange zu leben.
»Was ist mit Black?«, fragte sie.
»Tot, vermutlich.«
»Kommen Sie«, sagte Molly. »Wir nehmen den Hintereingang, um kein Aufsehen zu erregen.«
»Buster und ich fahren mit der Kutsche um den roten Wal«, erklärte der Hai. »Ich bin nämlich nicht gut zu Fuß.«
Als der von Buster gelenkte Zweispänner das Schiff umrundet hatte, sah Molly, was der Hai meinte. Der meistgefürchtete Mann von San Francisco war ein Krüppel! Er konnte seine Beine nicht benutzen und benötigte Busters Unterstützung, um ins Red Whale zu kommen.
»Wie ist das passiert?«, fragte Molly impulsiv.
Die Züge des Hais verhärteten sich.
»Eine alte Rechnung, die ich bald begleichen werde. Der Mann, dem ich das verdanke, hält sich in Frisco auf. Ich werde dafür sorgen, dass dieser verfluchte Jacob Adler für alles büßen muss!«
Die abgebrühte Frau erschrak. Sie hatte in ihrem Leben schon viele Drohungen gehört. Aber keine war mit solcher Inbrunst und solchem Hass ausgestoßen worden.
Das Gesicht des Mannes verzerrte sich und glich jetzt tatsächlich der Fratze eines blutgierigen Hais.
In derselben Nacht, ein paar Stunden zuvor.
Einem urzeitlichen Koloss gleich, wälzte sich die PERSIA durch die ruhigen Fluten des Pazifiks. Die dicken Rauchfahnen, die aus den großen Schornsteinen, nach alter Cunard-Tradition leuchtend rot mit schwarzem Oberteil, wehten, wurden vor dem dunklen Nachthimmel bald unsichtbar. Nur wer genau hinsah, bemerkte, wie der Rauch einen Schleier vor die am Firmament blinkenden Sterne legte. Die mächtigen, dampfgetriebenen Schaufelräder an beiden Seiten des Schiffes wühlten die See auf und trieben den Stolz der Cunard-Reederei mit jeder Umdrehung voran.
Um die verhaltene, aber stete Brise auszunutzen, hatte der Kapitän zusätzlich Segel setzen lassen. Er hoffte auf einen neuen Rekord. Immerhin konnte die PERSIA für sich in Anspruch nehmen, die Strecke New York – Liverpool in der Rekordzeit von neun Tagen, einer Stunde und 45 Minuten zurückgelegt zu haben. Die jetzige Fahrt war die erste, auf der das Schiff von New York weiter nach San Francisco fuhr. Der neue Goldrausch ließ diese Route als einträgliches Geschäft erscheinen, und der Reeder Sam Cunard hatte ein gutes Gespür für einträgliche Geschäfte.
Der alte Cunard würde mit seinem Schiff zufrieden sein, dachte Kapitän Edward Billings, während er auf der Brücke stand und gedankenverloren seinen Blick über das von vielen Lichtern erhellte Deck schweifen ließ. Es hatte das Kap Horn so schnell umrundet wie kaum ein anderes Schiff zuvor. Alles sah nach einem neuen Rekord aus.
Ursprünglich hatte man San Francisco am übernächsten Tag erreichen wollen. Jetzt lauteten die nicht allzu waghalsigen Wetten darauf, dass die PERSIA schon am kommenden Morgen durch das Golden Gate fahren würde.
Die Lichtflächen überall auf Deck waren Fenster. Dahinter lagen die großen Salons, in denen sich die gut betuchten Passagiere vergnügten. Umgeben von glitzernden Spiegeln an den holzvertäfelten Wänden, von dicken Orientteppichen unter ihren Füßen, von schweren Sesseln und kunstvoll verzierten Tischen, schien der nur wenige Schritte entfernte Ozean so weit von den feinen Ladys und Gentlemen entfernt zu sein, wie es in Wahrheit die Metropole London und der Heimathafen Liverpool waren. Moderne Dampfheizungen erfüllten die Räume mit molliger Wärme und verdrängten die Kälte der Märznacht.
Franz Pape war es zu warm. Schweißperlen glitzerten auf seiner hohen Stirn. Er hatte das Gefühl, kaum noch Luft zu bekommen. Immer wieder fingerte er am Kragen herum, um ihn ein Stück zu lockern, während er so tat, als lausche er dem hirnlosen Geplapper der drei Schwestern aus Providence.
Sie waren in New York an Bord gegangen, so wie Pape und sein Freund Carl. Die jungen Ladys aus Providence interessierten sich hauptsächlich für Letzteren. So war es immer gewesen, seit Pape und Carl sich vor vielen Monaten auf dem Weg nach Oregon kennengelernt hatten.
Der gut aussehende, gebildete Carl brauchte nur einen Raum zu betreten, und schon scharten sich die Damen um ihn. Dagegen verblasste Franz Pape – untersetzt, mit leicht aufgeschwemmtem Gesicht und schon stark zurückweichendem Haar – zur Bedeutungslosigkeit.
Plötzlich löste sich Carl von den drei unentwegt redenden Frauen und wandte sich seinem Freund zu. »Ist dir nicht wohl, Franz? Du siehst schlecht aus.«
»Es ist so stickig hier drin.«
Papes Erklärung enthielt nicht die ganze Wahrheit. Seine Nervosität, die Atemnot und der Schweiß auf seiner Stirn hatten noch einen anderen Grund: Wenn die Vorhersagen der Besatzung stimmten, war dies die letzte Nacht auf See. Die Nacht, in der es geschehen musste!
»Machen wir einen Spaziergang an Deck«, schlug Carl vor und wandte sich an die Damen. »Würden die Ladys uns die Ehre ihrer Begleitung erweisen?«
»Ich weiß nicht recht«, zauderte die erste, die älteste der drei Schwestern, hin und her gerissen zwischen Carls Anziehungskraft und der wenig erbaulichen Aussicht, den behaglichen Salon verlassen zu müssen.
»Es ist schon recht spät«, gab die zweite zu Bedenken.
»Um diese Zeit ist es an Bord schon sehr kalt«, fügte die dritte an. »Und dann noch dieser zugige Fahrtwind.« Sie schüttelte sich schon allein bei dem Gedanken.
»Dafür haben Mr. Pape und ich natürlich Verständnis«, erklärte Carl und setzte sein charmantestes Lächeln auf, das allen drei Schwestern zugleich zu gelten schien und doch unverbindlich blieb. »Wenn uns die Damen dann entschuldigen würden. Ich wünsche Ihnen allen eine gute Nacht.«
Er legte seinen Arm um Papes Rücken und schob ihn zu einer der breiten, gewundenen Freitreppen, die mit einem dicken, grünen Läufer ausgelegt war.
»Puh, endlich sind wir die drei Gänse los«, sagte Carl mit einem verkniffenen Grinsen. »Ich muss mich selbst loben, aber der Spaziergang war wirklich eine gute Idee. Ohne dich wäre ich allerdings nicht darauf gekommen, Franz. Danke für die Vorgabe.«
»Ich könnte wirklich etwas frische Luft vertragen, Carl.«
Gespannt beobachtete Pape das glatte Gesicht seines Freundes. Carls Reaktion entschied darüber, ob Pape sein Vorhaben ausführen konnte oder nicht.
Pape verfluchte sich selbst, dass er den Entschluss erst vor wenigen Tagen gefasst hatte. Auf dem vorherigen Teil der Reise hatte es mehrere Möglichkeiten gegeben. Aber da hatte Pape sich noch nicht entschieden, dass Reichtum wichtiger war als Freundschaft.
»Ich begleite dich selbstverständlich«, sagte Carl zur großen Erleichterung des anderen. »Sollen wir unsere Mäntel holen?«