Entwicklungsorientierte Elementarpädagogik - Armin Krenz - E-Book

Entwicklungsorientierte Elementarpädagogik E-Book

Armin Krenz

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Beschreibung

In einer Zeit wirtschaftlicher und technologischer Wandlungen, veränderter Situationen des Wohnens und Zusammenlebens, in der mediale Konsumorientierung bereits das frühkindliche Leben mitprägt, sollten wir einmal einen Schritt zurücktreten und – ohne uns den modernen Möglichkeiten zu verweigern – darüber nachdenken, was unsere Kinder, seien es eigene oder im pädagogischen Rahmen anvertraute, zu einer positiven Selbstentwicklung wirklich brauchen. Armin Krenz behandelt fach- und sachkundig und stets praxisnah das Thema der frühkindlichen Entwicklung, sei es im Bereich der Sprache, der Motorik, der sozialen Persönlichkeit oder der Kognition. Er zeigt auf, welch große Bedeutung die Beobachtung und Begleitung der kindlichen Entwicklung in der Pädagogik spielt, sei es im Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten oder zur Ermöglichung einer freien Spielpraxis, die die positive Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit erst ermöglicht.

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Handbuch für die Praxis

Armin Krenz

EntwicklungsorientierteElementarpädagogik

Kinder sehen, verstehen

und entwicklungsunterstützend handeln

© 2014

Burckhardthaus-Laetare, Körner Medien UG, München

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe sowie der Übernahme auf Ton-/Bildträger vorbehalten. Ausgenommen sind fotomechanische Auszüge für den eigenen wissenschaftlichen Bedarf.

Umschlaggestaltung: Patricia Fuchs, AVR, München

Umschlagfoto: io_nia/Thinkstockphotos.de

Fotos:

Claudia Paulussen/Fotolia.com

pmartike/Fotolia.com

karelnoppe/de.thinkstock.com

Maria Pavlova /de.thinkstock.com (iStock)

Xavier_S/de.thinkstock.com (iStock)

kristall – fotolia.com

SerrNovik - de.thinkstock.com (iStock)

Produktion: Gernot Körner, Körner Medien UG, München

Digitale Aufbereitung: Alfons Schmid, ISM, München

Satz und Layout: Sigrun Borstelmann, Sibo-Medien, München

www.burckhardthaus-laetare.de

ISBN: 978-3-944548-72-2

Vorwort

Kindheitsforschungen belegen: Immer mehr Kinder reagieren gereizt, fühlen sich überfordert, besitzen wenig Belastbarkeit, sind unruhig oder inaktiv. Sie reagieren auf subjektiv erlebte Überforderungen mit Aggressivität und wenden zunehmend Gewalt gegen Dinge und andere Personen an (vgl.: Bergmann, W., 2009; Rittelmeyer, Chr., 2007; Krowatschek, D., 2009). Sie wollen Wünsche möglichst umgehend erfüllt bekommen und reagieren mit Wutausbrüchen, wenn Wunscherfüllungen versagt werden. Kinder haben vermehrt Herzrasen, Schlafstörungen, Magenbeschwerden und Kopfschmerzen; sie trauen nahezu nieman­dem und kritisieren jeden und alles, der bzw. was ihnen missfällt. Psychosomatische An-/Auffälligkeiten und immer frühere sowie intensivere Erfahrungen mit Suchtmitteln lassen besorgte Eltern und professionelle Fachkräfte aufhorchen und führen zu der Formulierung, dass viele Kin­der in zunehmendem Maße „innerlich aussteigen“. Kinderärzte, Psychologen und (Elementar-)Pädagogen schlagen Alarm. Kindheiten und Kindsein sind heu­te schon lange kein Kinderspiel mehr. Offensichtlich kommt es bei einer großen Anzahl von Kindern zu „Irritationen im Bereich der personalen Identität und Stabilität“. In der aktuellen entwicklungspsychologischen Forschung gehen viele Wissenschaftler/-innen (Prof. Dr. Remo Largo/Prof. Dr. Leo Montada; Prof. Dr. Karl Heinz Brisch/Prof. Dr. Theodor/Hellbrügge; Prof. Dr. Klaus E. Grossmann/Prof. Dr. Urs Fuhrer) inzwischen davon aus, dass Kinder in zunehmendem Maße „Entwicklungsunterbrechungen durch Beziehungsstörungen“ erleben/erlebt haben, die es ihnen nahezu unmöglich machen, sogenannte Basisfähigkeiten aufzubauen. Genannt seien hier vor allem die Bereiche Selbst- und Fremdwahrnehmungsbereitschaft, Wahrnehmungsdifferenzierung, Selbstannahme, Erleben von ­Personstärke, Öffnungsbereit­schaft für Selbstexploration, Motivation zur Selbstentwicklung neu zu entdecken­der Lernbereiche, Aktivitätsmotivation zum Stressabbau, Wertigkeitssensibilität, Gefühlsexplora­tion, intrinsische Lernmotivation, konstruktives Konfliktmanage­ment.

Die Entwicklungspsychologie bestätigt immer wieder, dass bei Kindern zunächst stets der Auf- und Aus­bau der Ich-Kompetenz – vor der Entwicklung der Sozialkompetenz – im Vordergrund steht, geht es doch hier vor allem um das Ver­hältnis des Kindes zu sich selbst und um seine Möglichkeiten, sich unter dem besonderen Aspekt der eigenen Interessen und Möglichkeiten mit sich sowie seinem un­mittelbaren Umfeld auseinanderzusetzen. Das heißt, sich zu entdecken, zu explorieren und be­deutsame Erfahrungen zu machen, um zwei persönlich bedeutsame Einstellungen zu gewinnen: 1.) „Ich bin wer. Ich bin wichtig und habe eine Bedeutung! Es ist gut, dass ich auf der Welt bin.“ 2.) „Ich kann was! Ich kann Dinge in Gang setzen und eigenen Interessen nachgehen! Ich kann etwas bewirken, was mich fröhlich, glücklich und entspannt werden lässt.“ Dieser Ich-Kompetenz wird eine grundlegende Bedeutung im Hinblick auf die Entwicklung einer Ich-Autonomie beigemessen, die dem Kind hilft, (Selbst-)Vertrauen zu sich und zu seinem Handeln zu erlangen. Doch gleichzeitig zeigen o. g. Beobachtungen, dass es offensichtlich vielen Kin­dern immer schwerer fällt/gemacht wird, diese basale Entwicklung zu realisieren. Die Frage nach möglichen Hintergründen wird durch vielfach belegte Untersuchungsergebnisse offenbar: Entwicklung geschieht durch eine positiv erlebte, Sicherheit-vermittelnde Bindung – und diese fehlt vielen Kindern!

Diese sichere Bindung bzw. Beziehungsqualität kann als die basis­bildende Grundlage für die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen betrachtet werden und scheint daher von immer weniger Kindern in ihrer ganzen Tiefe erlebt zu werden.

Die elementarpädagogische Arbeit vollzieht sich im gesamten Alltag nur in Form eines sehr engen Bindungsgeschehens zwischen Menschen! Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsarbeit muss für Kinder ein Bindungserleben möglich machen, getragen von Nähe, Aufmerksamkeit, Zuneigung, Interesse, Staunen, Neugierde und Zutrauen.

So ist es immer wieder und hauptsächlich der positiv erlebte, zwischenmenschliche Kontakt, der Kinder wiederum motiviert, Kontakt zu sich selbst zu suchen, herzustellen und sich über die eigene Existenz zu freuen. Nur wenn dies gelingt, ist der erste – und gleichzeitig entscheidende – Schritt zur Aktivierung und zum Aufbau einer Selbstbildung des Menschen getan.

Jedes Kind, das eine elementarpädagogische Einrichtung besucht, muss die Möglichkeit haben,

•gegenwärtige, positive Erlebnisse in all ihrer Vielschichtigkeit genießen zu können;

•immer wieder über eigene Entwicklungen und Stärken staunen zu können;

•mit Offenheit, Interesse und Neugierde die Herausforderungen des Alltags suchen und aufnehmen zu können und sich ihnen mit Engagement zu stellen;

•alte, lebenseinengende Fühl-, Denk- und Handlungsmuster zu erkennen und sich von diesen lösen zu können;

•Zusammenhänge von Ereignissen erkennen und herstellen zu können, um aus der Erkenntnis heraus neue Handlungsstrategien zur Lösung von Problemen zu entdecken;

•neue, unbekannte Spielräume im Rahmen eigener Verhaltensvielfalten zu entwickeln;

•alte, bis weit in die Vergangenheit zurückliegende „Geschichten“ zu klären, um aus belastenden Verstrickungen herauszufinden;

•in möglichst vielen bedeutsamen Situationen identisch mit sich umgehen zu können und sich selbst zu sagen: „Wie schön, dass ich geboren bin, dem Leben schenk’ ich einen Sinn. Das Glück ist hier im Kindergarten, ich muss nicht auf ein ,Später‘ warten.“

In Anbetracht dieser für die Elementarpädagogik besonders bedeutsamen Ausgangssituation ist es für die elementarpädagogischen Fachkräfte mit ihrem entwicklungsprägenden Einfluss unumgänglich, sich diesem hohen Bedeutungswert zuzuwenden. Einfach ausgedrückt heißt das: Eine liebevolle, vertrauensvolle und verlässliche Bindung, die Kinder in ihren ersten (und auch weiteren) Lebensjahren mit ihren Eltern sowie anderen Erwachsenen erfahren, ist die Grundlage für die Entstehung der „Lebenskunst des Menschen“ und gleichzeitig die Basis für ein tiefes Selbstvertrauen, die eigene Unabhängigkeit und zunehmende Selbstständigkeit. Um mit den Worten der renommierten Erziehungsstilforscherin Diana Baumrind zu sprechen: Kinder brauchen erst Wurzeln, dann Flügel. Nur durch eine tief erlebte Geborgenheit und Annahme sind Kinder in der Lage, ihre „Lebenswurzeln“ in Form von Sicherheit und Lebensfreude zu entwickeln und gleichzeitig vor einer Reihe seelischer Irritationen und lebenseinschränkender Ängste geschützt. So vielfältig die Verhaltensirritationen bei Kinder ausgeprägt sind – vor allem Ängste, gewaltbereites Handeln, aggressives Verhalten, Anstrengungsvermeidungsverhalten, oppositionelles Widerstandsverhalten gegenüber Anforderungen oder eine generelle Antriebslosigkeit –, so deutlich haben unterschiedliche, epidemiologische Studien unter Beweis gestellt, dass diese und weitere problematischen Verhaltensweisen häufig direkt oder indirekt auf fehlende Bindungserfahrungen zurückgeführt werden können (vgl. Grossmann, K. und Grossmann, K. E., 2004). So kommt immer wieder zum Ausdruck, dass eine als sicher erlebte Bindung ein wesentlicher Schutzfaktor gegen seelische Irritationen ist. Dieses Buch möchte entscheidend dazu beitragen, dass jedes Kind in seiner Kindertagesstätte die Grundlagen findet, die es braucht, um sich mithilfe der elementarpädagogischen Fachkräfte – in einer guten Fortsetzung der elterlichen Pädagogik – und ihren humanistisch geprägten Persönlichkeitsmerkmalen förderlich zu entwickeln.

Kindheiten heute: veränderte Kindheiten und neue Herausforderungen

Eine ganz persönliche Einführung …

„Früher war alles anders!“ Dieser Satz ist selbst dem Autor des Artikels ein ganz und gar nicht seltener und zudem nicht ganz unbekannter Gedanke. Und fällt dieser Satz in der eigenen Partnerschaft, kontert der Ehepartner schmunzelnd: „Ja, ja – früher war auch alles aus Holz und es gab noch einen Kaiser.“

Es stellt sich sicherlich nicht die Frage, ob „früher“ alles anders war, weil die gesellschaftliche/industrielle Entwicklung nur wenig beim Alten beließ. Ob es hingegen „besser“ war und es sich um ein eher unausgesprochen „idealisiertes Gedankengut“ handelt, verbunden mit subjektiv positiv erlebten und ebenso positiv bewerteten Kindheits- und Jugenderfahrungen, bleibe dahingestellt. Angefangen vom Herumstromern im Wald, dem Zelten im eigenen Garten, dem Bau von unterirdischen Höhlen und Baumbuden, den unterschiedlichen Mutproben und dem Verbleib in den Dorfstraßen/bei Freunden, „bis es dunkel wurde – unserem Signal, nun langsam nach Hause zu kommen“.

Ohne Zweifel hat sich vieles in den Lebenswelten und Umfeldbedingungen der Menschen in aller Welt – und damit auch in Deutschland – verändert, und Kinder bilden die Generation, die einerseits Vergleiche „zu früher“ nicht durch im Leben erfahrene Eindrücke herstellen können, andererseits in einer Welt aufwachsen, die unwiederbringlich ihre eigene Gegenwart kennzeichnen.

Um sich einen Eindruck heutiger Kindheiten zu verschaffen, ist es notwendig, einige bedeutsame Fakten zu betrachten, die ihren Einfluss auf die kindliche Entwicklung nicht verfehlen.

Ausgangsfakten für heutige Kindheiten in Deutschland

Aus einer schier unüberschaubaren Datenmenge zum Faktenstand wie Kinder heute aufwachsen, seien nur einige wenige – und dennoch besonders bedeutsame – Realitäten herausgegriffen und genannt:

•Kinder und Jugendliche wachsen in Deutschland in einer zunehmend alternden Gesellschaft auf. So kann nach Angaben des Statistischen Bundesamtes davon ausgegangen werden, dass 2030 etwa jede dritte Person in Deutschland 60 Jahre und älter sein wird. Der Anteil der unter 20-jährigen wird ein Sechstel der Gesamtbevölkerung betragen. Mit dieser Verschiebung der Altersstruktur in der Bevölkerung ergeben sich für die nachwachsende Generation unterschiedliche Probleme.

•Kinder und Jugendliche wachsen überwiegend mit einem Geschwisterkind in Lebensformen auf, die dem sogenannten Normalentwurf der ehelichen Zwei-Eltern-Familie entsprechen. Damit fehlen vielen Kindern entsprechende Sozialbezüge.

•Kinder und Jugendliche leben im Altersverlauf zunehmend inwechselnden Familientypen.

•Gleichwohl leben Kinder und Jugendliche häufiger als früher in „alternativen Familienformen“– in nichtehelichen Paargemeinschaften, in Stieffamilien, in Alleinerziehendenhaushalten und vereinzelt auch in gleichgeschlechtlichen Paargemeinschaften.

•In den neuen Bundesländern hat sich in einer sehr viel kürzeren Zeitspanne und in einem größeren Umfang der Anteil von unter 18-Jährigen in ehelichen Haushalten verringert – gleichzeitig wachsen erheblich mehr Kinder bei allein erziehenden Elternteilen auf als in den alten Bundesländern.

•Kinder und Jugendliche (bis zum 17. Lebensjahr) sind immer häufiger mit der Trennung und Scheidung ihrer Eltern konfrontiert.

•Innerhalb der deutschen Bevölkerung ist im letzten Jahrzehnt die mütterliche Erwerbstätigkeit kontinuierlich gestiegen (vor allem durch die Zunahme an Halbtags- und Teilzeitbeschäftigungen).

•Kinder aus den neuen Bundesländern haben nach wie vor häufiger eine vollzeiterwerbstätige Mutter, während Mütter in den alten Ländern öfter Teilzeit arbeiten oder gar nicht erwerbstätig sind. Väter gehen – unabhängig von der Kinderzahl – in der Regel einer Vollzeiterwerbstätigkeit nach.

•Die beruflich bedingten Abwesenheitszeiten verändern sich nach Alter und Anzahl der Kinder. Fast 25 % der aktiv erwerbstätigen Mütter in den neuen Bundesländern (mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 36 Stunden und mehr) haben ein Kind unter drei Jahren, während dies in den alten Ländern unter 10 % liegt.

•Fast 40 % der Frauen mit unter 14-jährigen Kindern ar­beiten durch die zahlenmäßige Zunahme von geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen in den Abendstunden (19–22 Uhr) und am Samstag, mehr als ein Viertel am Sonntag und 16 % nachts.

•Der Alltag von Kindern und Jugendlichen wird weitgehend institutionell strukturiert – durch Kinderbetreuungsangebote, die Verlängerung der Schulzeit im Lebensalter sowie den alltäglichen Unterrichts- und Lernzeiten, die Fülle von Freizeitangeboten durch Vereine und Verbände, der Kinder- und Jugendhilfe sowie gewerbliche Anbieter im sogenannten Bildungs- und Kulturbereich.

•Durch die Schaffung spezieller kindspezifischer und jugendlicher Lebensräume manifestiert sich zum einen die Trennung der Lebenswelten von Kindern und Erwachsenen, zum anderen differenzieren sich mit der wachsenden Vielfalt von Angeboten die Lebenswelten von Kindern und Jugend­lichen sowohl im Tages- als auch im Biografieverlauf aus.

•Institutionelle Lebenswelten strukturieren den Alltag, bestimmen und begrenzen Handlungs- und Bewegungsräume(Stichwort: Terminkindheit).

•Etwa zwei Drittel der 10- bis 15-jährigen Kinder werden schon früh in biografisch relevante Entscheidungen einbezogen (Stichwort: „Verhandlungshaushalt“).

•Ältere Kinder ab 13 Jahren und in noch größerem Ausmaß Jugendliche verdienen ihr eigenes Geld durch „Jobben“ neben der Schule – sie können damit als eigenständige Konsumenten handeln und werden auch von der Konsumindustrie und Werbung gezielt angesprochen. (Anmerkung: es wird geschätzt, dass 6- bis 13-Jährige eine Kaufkraft von etwa 5,6 Milliarden Euro jährlich aufbringen, rechnet man Taschengeld, Sparguthaben und Geldgeschenke zusammen; die 14- bis 19-Jährigen verfügen über eine jährliche Kaufkraft von ca. 15 Milliarden Euro.

•Die soziale Situation sowie die gesellschaftliche Stellung einer Familie und ihrer Kinder ist zunehmend abhängig von deren sozioökonomischer Lage, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, dem Geschlecht und den regionalen Lebensbedingungen.

•Bildungsprozesse – etwa durch Nachhilfeunterricht, Schülerhilfen, Paukkurse, Auslandsaufenthalte, Sprachreisen etc. – verlagern sich zunehmend in die schulfreie Zeit von Kindern und Jugendlichen. Aufgrund der unterschiedlichen ökonomischen Ausgangssituationen der Eltern können dadurch deutliche Ungleichheiten im Bildungsniveau der Kinder und Jugendlichen entstehen.

•Gleichaltrigenkommunikation und -unternehmungen, Cliquen-Leben, Fernsehen sowie Video-, PC-Spiele und zunehmend gemeinsames Chatten gehört zu den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen von Kindern und Jugend­lichen. Die Freiräume und Gestaltungsmöglichkeiten umfassen wochentags knapp sechs Stunden.

•Medien wie Fernsehen, Computer, Internet, CD-Player, Handys gehören für viele Kinder und Jugendliche zum alltäglichen Erfahrungsfeld. So ergab eine Online-Umfrage des Kindersenders Jetix, dass knapp 75 % aller befragten Kinder zwischen 7 und 14 Jahren beispielsweise einen eigenen Fernseher und einen PC besitzen, genau 75 % aller Kinder einen DVD-Player ihr Eigen nennen, 84 % der Kinder das Internet für Spiele nutzen und gut 50 % E-Mails schreiben und chatten. 70 % der Kinder besitzen ein Handy. Im Vergleich mit anderen europäischen Ländern liegen Kinder in Deutschland, was die medientechnische Ausstattung betrifft, damit an der Spitze. Auch wenn es alters-, geschlechts-, bildungs- und schichtspezifische Unterschiede in der Nutzung und im Zugang zu den Medien gibt, kann dennoch von einer weitgehenden Durchdringung der Lebensführung von Kindern und Jugendlichen durch Medien gesprochen werden (Stichwort: „Mediatisierung“, „Virtualisierung“, „heimliche Miterzieher“). Die Auswirkungen auf Entwicklungsprozesse, Entstehung von Meinungen und Wertebildungen sowie Verhaltensweisen wird in der Wissenschaft kontrovers diskutiert. (Anmerkung zum Fernsehen: In Deutschland werden in einer normalen Woche im Schnitt 600 Mordszenen ausgestrahlt. Amerikanische Studien gehen davon aus, dass Kinder im Laufe ihrer Fernsehbiografie bis zu 12.000 Morde und Gewaltszenen konsumiert haben.)

•Durch die Globalisierung (= weltweite Annäherung und Angleichung von Arbeits-, Wirtschafts- und Lebensformen) und Internationalisierung ergibt sich für viele Kinder und Jugendliche in immer jüngerem Alter eine Ausweitung ihrer Erfahrungs- und Erlebnismöglichkeiten (Stichwort: frühe Auslandsreisen; Produktvielfalt der Nahrungsmittel).

•Eine Durchmischung und Verflechtung unterschiedlichster Nationen und Kulturen – auch angesichts der EU-Erweiterung – wird weiter zunehmen; die Multikulturalität wird größer.

•Alleinerziehende Personen sind einem deutlich höheren Armutsrisiko ausgesetzt als Paare mit Kindern. So liegt die aktuelle durchschnittliche Armutsrate bei Familienhaushalten mit (ledigen) Kindern bei 13 % und bei Alleinerziehenden bei knapp 40 % – bei einer durchschnittlichen Armutsrate der Bevölkerung von 16 %. Die Armutssituation der Kinder und Jugendlichen zeigt ab den 90er-Jahren einen konstanten Anstieg. Mehr als der Hälfte aller von Armut betroffenen Personen gelingt es allerdings, ihre Situation nach einer „Armutsperiode“ von bis zu drei Jahren zu verbessern. Gleichzeitig ist belegt, dass von den Kindern, die die Armutssituation überwunden haben, wieder die Hälfte in einem Zeitraum von vier Jahren zurückfällt. Dabei gibt es deutliche Unterschiede zwischen den neuen (83 %) und alten (58 %) Bundesländern.

•Kinder und Jugendliche, die in innenstadtnahen oder innerstädtischen verkehrsreichen Wohngebieten mit einem eher schlechten Baubestand, mangelnden Spiel- und Freiflächen bzw. fehlenden Freizeitangeboten, einer überwiegend homogenen Bevölkerung mit einem eher niedrigen Sozialstatus und einem damit häufig verbundenen hohen sozialen Konfliktpotenzial aufwachsen, müssen in ihren Erfahrungs- und Entwicklungsmöglichkeiten im häuslichen Wohnumfeld starke Einschränkungen erfahren.

•Laut Statistischem Bundesamt geben Eltern heute bis zur Hälfte ihres monatlichen Haushaltsnettoeinkommens für die Kinder aus – Miete und Möbel anteilig mitgerechnet. Je nach Kinderzahl und Einkommen belaufen sich die Ausgaben pro Heranwachsenden und Monat auf eine Summe zwischen 255 bis 865 Euro.

Veränderte Sozialisationsbedingungen prägen veränderte Kindheiten

Alle diese Tatsachenabbildungen zeigen deutliche Merkmale einer veränderten Kindheit im Vergleich mit vorangegangenen Kindheiten zurückliegender Generationen. Konnten Kinder in früheren Zeiten eher in einem größeren Familienverbund mit zumeist mehreren Geschwistern und im Zusammenleben mit ihren Großeltern bei gleichzeitiger Pflege von Verwandtschaftsbeziehungen aufwachsen, wobei ihnen ihre Mütter weitestgehend einen großen Teil des Tages zur Seite standen, gibt es heute vermehrt „Schlüsselkinder“, die in einer eher technisierten, medial und konsumorientiert geprägten Umwelt groß werden, die in ihren Bewegungs- und Handlungsräumen eher eingeschränkt sind und durch vielerlei Einflüsse außergewöhnlich vielen akustischen und optischen Eindrücken ausgesetzt sind.

Durch die Notwendigkeit der beruflichen Mobilität von Eltern und eine damit verbundene räumliche Mobilität (Wohnortwechsel, ­Umzüge) müssen Kinder zunehmend die Erfahrung machen, dass Eltern(-teile) einen überaus großen Teil des Tages entweder abwesend sind oder durch Wohnortwechsel aufgebaute Beziehungen abgebrochen werden müssen. Die zunehmende Armut vieler Familien und die Ängste vieler Arbeitnehmer/-innen um den Erhalt ihres Arbeitsplatzes bringt allgemeine und besondere Verunsicherungen in ein Familiensystem, die Kinder und Jugendliche bemerken und die auch auf ihr Verhalten Einfluss nehmen.

Dadurch, dass viele Eltern „nur das Beste“ für ihr Kind wünschen und die gleichzeitig öffentlich geführte „Bildungsdiskussion“ den Eindruck vermittelt, Kindern schon möglichst früh „Bildung zu vermitteln“, setzt auf der einen Seite die Zukunftsplanung für Kinder und Jugendliche immer früher ein und trägt dazu bei, dass gezielt initiierte „Bildungsmaßnahmen“ Kinder häufig schon weit vor der Kindergartenzeit erreichen, wodurch der Aspekt einer „freien Zeitgestaltung“ sehr eingeschränkt ist. Auf der anderen Seite ist aber auch zu beobachten, dass sogenannte bildungsferne Eltern aus einem Gefühl eigener Ohnmacht oder Resignation heraus wenig bzw. gar keine Bildungsimpulse für Kinder setzen. Der Einfluss der Gleichaltrigen auf das Erleben und Verhalten von Kindern und Jugendlichen nimmt einen zunehmend größeren Raum ein und scheint den Einfluss von elterlichen Einwirkmöglichkeiten weiter einzuschränken. Gleichzeitig eröffnet die Globalisierung und Internationalisierung den Kindern und Jugendlichen einen Erfahrungshorizont, der in dieser Ausprägung im Vergleich mit zurückliegenden Kinder- und Jugendgenerationen noch nicht existierte.

Grundsatzmerkmale einer heutigen Kindheitin Deutschland

Alle Ergebnisse machen deutlich, dass es aufgrund der aktuellen Gegebenheiten und der Erkenntnisse der Kindheitsforschung nicht mehr möglich ist, von „einer unbelasteten Kindheit in Deutschland“ zu sprechen, weil es eine allgemein positiv geprägte und zeitlich gesonderte, altersgemäß mehr oder weniger abgeschlossene „eigenständige Lebensphase“ nicht mehr gibt.

Insofern ist es fachwissenschaftlich richtig, von „Kindheiten mit besonders typischen Einflüssen und häufigen Kindheitserfahrungen“ zu sprechen. Zwar ist es vielen Kindern heute leichter und eher als in vergleichbar zurückliegenden Generationen möglich, kognitive Entwicklungsmöglichkeiten aufzunehmen und zu nutzen, allerdings ist es ihnen schwerer möglich, sich emotional stabil und räumlich-körperlich zu entfalten. Stabile „Beziehungsverhältnisse“ verändern sich in eher punktuelle „Erziehungsverhältnisse“, in denen Kinder und Jugendliche verstärkten Verhaltenserwartungen einer Erwachsenenwelt geprägten Umgebung ausgesetzt sind. Die den Kindern und Jugendlichen zur Verfügung stehenden Entfaltungschancen, die ungleich höher sind als bei Kindern und Jugendlichen vergangener Generationen, sind aber auch stets mit neuen Belastungen verbunden, weil sie die individuellen Entwicklungsmöglichkeiten häufig strapazieren und die Bewältigungskapazitäten mancher Kinder und Jugendlichen überfordern (können). Darin ist auch der Hintergrund für viele Verhaltensirritationen bei Kindern und Jugendlichen in den Bereichen der persönlichkeits­bezogenen, sozialen und körperlichen Auffälligkeiten zu sehen und zu verstehen. Viele Eltern erfüllen häufiger als früher die materiellen Wünsche ihrer Kinder, wobei eine „Sättigung der seelischen Grundbedürfnisse“ allerdings in zunehmendem Maße unberücksichtigt bleibt.

So laufen zunehmend mehr Kinder „neben der Erwachsenenwelt“ her und werden in der Verarbeitung ihrer Lebenswelt alleingelassen, ohne grundlegende Kompetenzen zu besitzen, ihr Leben selbstständig und autonom in den Griff zu bekommen. Kinder und Jugendliche sind eingebunden in eine „Erwartungswelt“ der Kinderkrippe, des Kindergartens, der Schule, ihrer Eltern, ihres Wohnbereichs und ihrer Freundesclique, ohne häufig einen selbsterfahrungsorientierten Freiraum zu erhalten, um zu sich selbst zu finden und mit sich selbst (sowie in der Folge mit ihrem unmittelbaren Umfeld) kompetent umgehen zu können. Wurden Kinder früher als unfertige, un[ter]entwickelte Wesen eingeschätzt, so werden sie heute von „bildungsaktiven Erwachsenen“ als kindliche Persönlichkeiten betrachtet mit „förderungsnotwendigen Potenzialen“. Sie werden häufig wie ernst zu nehmende Akteure eingestuft und befinden sich gleichzeitig in einer abhängigen, erwartungszentrierten Position. Insoweit tragen Erwachsene (Amateure und professionelle Fachkräfte) täglich dazu bei, Kindheiten in einem Widerspruch einzuschätzen. Entsprechend widerspruchsvoll entwerfen sie in ihren Vorstellungen ein „Bild vom Kind“ und gestalten den Alltag von Kindern auch häufig uneinheitlich, was zur weiteren Irritation bei Kindern führt.

Zusammenfassung: Klaus Peter Brinkhoff hat das Thema „Kindheiten in der heutigen Zeit“ in seinem Beitrag „Kindsein ist kein Kinderspiel“(in: Mansel, J. 1996, S. 25–39) treffend auf den Punkt gebracht. Dabei bringt er bestimmte Begriffe ins Spiel:

1. Airbag-KindheitAusgangspunkt: Die meisten Kinder sind heute im Hinblick auf Ernährung und Versorgung, Wohnsituation, Kinderzimmer, Spielzeug, Kleidung, Lebenschancen etc. gut bis außergewöhnlich gut ausgestattet und werden gleichzeitig von einem überwiegend funktionierenden (sozial-)pädagogischen „Airbag-System“ auf- und abgefangen.

2. KonsumkindheitAusgangspunkt: Ging es in vergangenen Generationen noch darum, genügend Essen für die ganze Familie zu beschaffen, so steht heute ein „gnadenloser Konsum von industriellen Massenspielgütern“ im Vordergrund.

3. MedienkindheitAusgangspunkt: Die materielle Medienausstattung der Kinderzimmer und der Umfang der Mediennutzung ist so hoch wie in keiner Generation zuvor. Kinder werden als Konsumenten wie nie zuvor umworben und beeinflusst.

4. Erste-Reihe-KindheitAusgangspunkt: Kinder erleben und erfahren in immer jüngerem Alter Geschehnisse – sowohl in ihrem familiären und in ihrer mittelbaren Welt als auch ihrem unmittelbaren Umfeld –, sodass sie von keinem Lebensbereich ausgeschlossen sind. Alle Bereiche wie beispielsweise Kriegshandlungen in der Welt oder Naturkatastrophen kommen per Fernsehbilder ins Elternhaus, die Sexualität wird offen in Printmedien oder durch andere Informationsträger – hier seien vor allem das Handy und das Internet erwähnt – thematisiert und die „weite Welt“ wird mit immer jüngerem Alter durch Fernreisen erlebt.

5. KarrierekindheitAusgangspunkt: Sowohl in der familiären als auch der institutionellen Pädagogik steht für viele Erwachsene das Thema „Bildung der Kinder von Anfang an“ an erster Stelle, durch die möglichst viele Kinder schon möglichst früh einen „komfortablen Platz im Bildungskarussell“ (Brinkhoff) ergattern sollen/müssen.

6. InselkindheitAusgangspunkt: Die Wohn- und Lebenssituation von Familien findet überwiegend in „vorstrukturierten Sozialräumen“ (Brinkhoff) statt. Freizeiteinrichtungen, Arbeitsstätten der Eltern, Einkaufsparks, Mittelpunktschulen, Spielflächen, Bewegungsräume und aushäusige Erholungsmöglichkeiten sind immer stärker voneinander getrennt; Kinder werden häufig von den Eltern zu Freunden und Verabredungsorten gefahren und kontinuierliche Sozialkontakte sind damit immer stärker eingeschränkt.

7. Entsinnlichte KindheitAusgangspunkt: Aufgrund der eingeschränkten Handlungsfelder und eingegrenzten Lebensräume greifen Kinder (und Erwachsene) immer häufiger zu einer medial aufbereiteten „Wirklichkeits-Software“ (Brinkhoff) und finden somit immer stärker den Weg zu einer „Second-Hand-Erfahrung“ (Brinkhoff). Statt dem Rauschen der Bäume zu lauschen gibt es Natur-CDs und statt selbst im Garten oder im Wald eine Baumhütte zu bauen, greifen Kinder zum entsprechenden interaktiven Bauspiel übers Internet.

8. Gefährdete KindheitAusgangspunkt: Der Preis für die sich ständig weiterentwickelnde Kommerzialisierung, Modernisierung, Technisierung, Industrialisierung und Urbanisierung ist hoch. Gewalt und Aggression unter Kindern und Jugendlichen, die Zunahme der psychosomatischen Beschwerden, der Anstieg an Alkohol-, Tabletten- und Drogenmissbrauch, der hohe Anteil an Fehlernährung bei über- und untergewichtigen Kindern und Jugendlichen, die Unfallhäufigkeiten im Straßenverkehr, die Zunahme der chronischen Krankheiten sowie die versuchten und vollzogenen ­Selbstmorde legen offen, dass viele Kinder und Jugendliche vermehrt in psychosozialen Spannungssituationen gefangen sind.

9. Multikulturelle KindheitAusgangssituation: Durch die zurückliegenden Auflösungs­prozesse in Osteuropa, die wirtschaftlich motivierten, armutsbegründeten und flüchtlingsbedingten Einwanderungsbewegungen sowie die Grenzöffnungen in Europa hat sich Deutschland zu einem immer ausgeprägteren multikulturellen Staat entwickelt. Damit sind auf der einen Seite wichtige Entwicklungschancen für ein Land entstanden, auf der anderen Seite bringt eine kulturelle Vielfalt auch Risiken mit sich.

10. Individualisierte KindheitAusgangssituation: Dadurch, dass sich familiäre, kulturelle, religiöse, verwandtschaftsorientierte und soziale Wertmaßstäbe sehr stark durch den Freiheitsgrad der Personen verändert haben, kommt es immer stärker zu einer „Vereinzelung in der Masse Gleicher“ (Brinkhoff). Traditionelle Wertorientierungen verlieren zunehmend und in einem immer schnelleren Tempo an Bedeutung für den Einzelnen und die Gesellschaft, sodass es für Kinder, Jugendliche und Erwachsene immer notwendiger wird, einen „neuen, festen Boden unter den Füßen“ zu finden, der sowohl eine ­weitere Persönlichkeitsentwicklung zulässt, als aber auch eine stabile Sozialverträglichkeit mit sich bringt.

11. Ungewisse KindheitAusgangspunkt: Trotz vieler Entwicklungen im Bereich der Technik oder der Medizin sind Kinder und Jugendliche in der Zukunft mit vielen Problemen konfrontiert. Sei es, wenn es um die Frage einer späteren Berufstätigkeit und einen Arbeitsplatz geht oder ob es sich um die gesamte Entwicklung des Weltklimas und die klimatischen Aus­wirkungen auf Deutschland handelt, sei es, dass viele soziale Fragen offen sind (Renten-/Pensionsversorgung; Generationsgerechtigkeit; Ordnung des Gesundheitswesens) oder noch viele international-politische Fragen einer Klärung bedürfen.

Eines wird durch diese Aufzählung von Besonderheiten im Leben vieler Kinder sicherlich besonders deutlich: Kinder brauchen mehr denn je Entwicklungssicherheiten, um eine stabile Identität aufzubauen. Hier helfen zielgerichtete Beobachtungen und ortsspezifische Erkenntnisse, um in Erfahrung zu bringen, was Kinder für ihre individuellen Entwicklungsfortschritte brauchen und welche pädagogische Grundlagenqualität bzw. bindungsorientierte Beziehung den Kindern hilft, ihre Entwicklungsressourcen immer weiter zu entdecken und in wirksamen Alltagserfahrungen auf- bzw. auszubauen.

Den Kindern wurde – aus der geschichtlichen Betrachtung heraus – eine eigenständige Lebensphase „Kindheit“ erst relativ spät zuerkannt, wenn man dies unter dem Aspekt einer persönlich positiven Lebensgestaltung und im Hinblick auf eine Zukunft für die Gesellschaft betrachtet. Zwar gab es immer wieder und zu allen Zeiten Personen, die einen mehr oder weniger respektvollen Umgang mit „dem Proletariat auf kleinen Füßen“ (Korczak) anmahnten, doch erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts setzte sich langsam ein „Blick für Kinder“ (Ernst Moritz Arndt) durch. Schließlich entwickelte sich im 20. Jahrhundert ein pädagogisches Selbstverständnis, das sich nicht nur auf die Pflege und Betreuung richtete, sondern auch eine Entwicklungsunterstützung und -förderung zum Ziel hatte, wenn auch mit einem unterschiedlichen Verständnis und mit unterschiedlichen „Methoden“. Anders ausgedrückt: Kinder wurden zunächst über viele Jahrhunderte als abhängige Objekte betrachtet, die sich willenlos den Vorstellungen der Erwachsenen zu beugen hatten. Erst später entwickelte sich dann ein Bild zum aktiv angepassten Objekt, schließlich zum passiven Subjekt bis hin zum selbstaktiven Subjekt in der heutigen Zeit. Während noch in den 80er-Jahren in den Köpfen vieler Laien und auch Wissenschaftler das Bild vorherrschte, dass der Säugling und das junge Kleinkind eher ein hilflos-passives, mehr von seinen „Trieben“ gesteuertes und ausgeliefertes Wesen sei und zu gezielten kognitiven Leistungen bzw. differenzierten Wahrnehmungsaktionen nicht in der Lage ist, so haben in den letzten Jahren viele Untersuchungsergebnisse genau das Gegenteil bewiesen. Schon der Säugling besitzt bereits kurz nach der Geburt Interaktions-, Kommunikations- und Lernbereitschaften, die durch Interesse und Neugierdeverhalten an seinem unmittel­baren Umfeld gekennzeichnet sind. Er sucht mit all seinen Sinnen nach Anregungsimpulsen und möchte gleichzeitig einen Einfluss auf die ihn interessierenden Objekte/Abläufe nehmen. Welche Objekte und Abläufe von Interesse sind, können nur durch aufmerksame, sorgfältige Beobachtungen ausgemacht werden. Darüber hinaus haben auch Forschungsergebnisse der Neurobiologie gezeigt, dass beispielsweise die Gehirnstrukturen des Menschen mit der Geburt nicht genetisch festgelegt, sondern durch Umwelteinflüsse in Bau und Funktion veränderbar sind (Stichwort: neuronale Plastizität). Das heißt, dass das menschliche Gehirn nicht alle bedeutsamen Informationen aus dem unmittelbaren Umfeld wie mit einem Fotoapparat lediglich ablichtet, sondern dass es seine Vernetzungen nach den Aspekten (neu) konstruiert, die erkannt und bestätigt bzw. ergänzt oder neu verknüpft werden. Dadurch, dass persönliche Erfahrungen, Erlebnisse, Eindrücke und Gefühle wie beispielsweise Sorgen, Freude, Ängste, Hoffnung, Unsicherheit, Entlastung oder Glücksempfinden ihre Spuren im Substrat des Gehirns hinterlassen, stehen solche psychosozialen Prozesse mit entsprechenden neurobiologischen Vorgängen stets in eine permanenten Austauschprozess.

An dieser Stelle sei auch noch einmal darauf hingewiesen, dass schon zu Beginn der 80er-Jahre der amerikanische Soziologe Neil Postman mit seinem aufsehenerregenden und bis heute bedeutsamen Buch vor dem Verschwinden der Kindheiteindringlich gewarnt hat. Schon 1990 sprach H. Zeiher von einer „Kindheit, die organisiert und isoliert ist“ (1990, S. 20), Kindheit heute kein Kinderspiel mehr sei und dass der Alltag vieler Kinder ein „Leben in Bedingungen“ darstellt (S. 23). Während der Hildesheimer Pädagoge Ernst Cloer von einem „Kinderalltag im Zeittakt industrieller Fertigung“ spricht, beklagt der Würzburger Pädagoge Günther Bittner eine „Durchrationalisierung des Kinderlebens nach Schichtdienst und Stundenplan – eine ökonomische Zeitplanung bis in die Kinderstube hinein“. So scheint es selbst in der Vorstellung der Erwachsenenwelt kaum vorstellbar, was passieren würde, wenn Kinder fein gekleidete Damen oder Herren mit Holunderbeeren bewerfen oder Mutproben unter Beweis stellen würden, indem sie Regenwürmer verspeisen. Kinder und Jugendliche, die sich zusammenfinden und eine feste Gruppe bilden, geraten schnell in den Verdacht, einer „Bande“ anzugehören, von der eine Gefahr für andere ausgehen könnte, und Kinder, die sich schließlich den hohen und ständigen Erwartungen von Erwachsenen entziehen würden, bekämen schnell das Prädikat eines „bildungsunwilligen“ Kindes.