Kinder brauchen Seelenproviant - Armin Krenz - E-Book

Kinder brauchen Seelenproviant E-Book

Armin Krenz

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  • Herausgeber: Kösel
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2009
Beschreibung

Kinder für ihr Leben stärken

Kinder brauchen Seelenproviant. Ausgestattet mit Liebe, Zeit und Sicherheit sind sie bestens gerüstet für einen glücklichen und erfolgreichen Lebensweg. Mit vielen Beispielen zeigt Armin Krenz, wie Erwachsene emotionale Zuwendung schenken können.

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Seitenzahl: 213

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Inhaltsverzeichnis
 
Vorwort
Einleitung: Eltern in der Herausforderung, das Beste für ihr Kind zu leisten
 
Kindheiten heute - Kinder zwischen Lust und Frust
Wenn Eltern zu viel fordern und erwarten
 
Copyright
Anschrift des Autors:
 
Dr. Armin Krenz
Institut für angewandte Psychologie und Pädagogik (IFAP) Legienstr. 16 D-24103 Kiel [email protected]/krenz
Vorwort
Es ist nicht leicht, ein Kind zu sein, las ich kürzlich in einer Zeitung und ich war perplex, denn es passiert ja nicht jeden Tag, dass man etwas in der Zeitung liest, das wirklich wahr ist. Da spricht ein Revolutionär.
Es ist nicht leicht, ein Kind zu sein, nein! Es ist schwer - sehr schwer sogar. Was bedeutet es eigentlich, Kind zu sein?
Es bedeutet, dass man zu Bett gehen, aufstehen, sich anziehen, essen, Zähne und Nase putzen muss, wenn es den Großen passt und nicht einem selbst. (…)
Es bedeutet ferner, dass man ohne zu klagen sich die persönlichsten Bemerkungen vonseiten eines jeden Erwachsenen anhören muss, die das eigene Aussehen, den Gesundheitszustand, die Kleidung, die man trägt, und die Zukunftsaussichten betreffen.
Ich habe mich oft gefragt, was passieren würde, wenn man die Großen in derselben Art behandeln würde.
Leserbrief mit der Signatur A.L. - Astrid Lindgren - zu einer Debatte in Dagens Nyheter vom 7.12.1939
Was für fast alle Eltern so hoffnungsvoll, spannend und voller Glücksempfinden mit der Schwangerschaft ihres Kindes begann, nämlich eine lebendige, aktive und herausfordernde Entwicklungsbegleitung ihres Kindes zu erleben und diese aktiv zu gestalten, offenbart sich mit der Zeit oft als »harter Knochenjob«.
Stellt man sich die Frage, weshalb anfängliche Erwartungen und schließlich erlebte Realitäten so selten übereinstimmen, bieten sich ganz unterschiedliche (Hinter-)Gründe als Antworten an. Zum einen merken Eltern schnell, dass ihr ursprünglicher Kinderwunsch mit vielen Idealen und subjektiven Wunschvorstellungen verbunden war, die der täglich erlebten Realität nur selten entsprechen. Zum anderen wurde bzw. wird ihnen deutlich, dass die persönliche Vorbereitung auf die Elternschaft häufig nicht das notwendige Wissen über Kindererziehung und die notwendige Handlungskompetenz umfasste, das für den praktischen Alltag notwendig und hilfreich ist. Dadurch entstehen Unsicherheiten. Dazu kommen ausgeprägte Erwartungen, die Eltern von einer »machbaren Pädagogik« hatten. Gleichzeitig merken sie, dass auch Kinder und Jugendliche mit verstärkten Verhaltensirritationen, wie es sie in dieser Form und in dieser Menge vor Jahren gefühlsmäßig eher selten gab, immer wieder Unruhe und Provokationen in die Familie bringen und die Eltern permanent vor neue pädagogische Herausforderungen stellen.
Ideell geprägte »Familienbilder« werden »durchgerüttelt« und die »Karten müssen ständig neu gemischt werden«. Dieses Buch möchte unterschiedliche Ziele erreichen. Eltern erhalten die Möglichkeit,
1. ihre bisherige Erziehungspraxis kritisch zu beleuchten, um zu prüfen, ob ihre Sichtweisen über Erziehung sich mit einigen entwicklungspsychologisch abgesicherten Erkenntnissen decken;
2. Übereinstimmungen zwischen entwicklungspsychologisch abgesicherten Erkenntnissen und ihrer Erziehungspraxis festzustellen und darauf stolz zu sein;
3. auf neue Aspekte der Erziehungspsychologie hingewiesen zu werden, um alternative Verhaltensweisen kennenzulernen und bei Bedarf in den eigenen Erziehungsstil aufzunehmen;
4. sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, um durch persönliche Veränderungen den eigenen Kindern neue Erfahrungshorizonte zu eröffnen;
5. die Pädagogik als eine wundervolle Chance zu erleben, Kinder für das Leben stark zu machen, um ihren Beitrag dafür zu leisten, dass diese aus manchen Fugen geratene Welt besser werden kann;
6. Kinder verstärkt als einen wertvollen Schatz zu entdecken und zu verstehen, was Kinder für ihre Entwicklung wirklich brauchen.
Nun kann man auf unterschiedliche Weise an das Thema herangehen: Auf der einen Seite ist es sinnvoll, über die Theorie (Teil 1 und 2) in den Praxisteil (Teil 3 und 4) einzusteigen. Auf der anderen Seite ist es auch denkbar, sich gleich mit dem Praxisteil zu beschäftigen, wobei man dann in Kauf nehmen müsste, die theoretischen Grundlagen für ein besseres Verständnis unberücksichtigt zu lassen. Die Vorgehensweise sei jedem Nutzer/jeder Nutzerin dieses Buches freigestellt.
In diesem Sinne wünsche ich allen Leserinnen und Lesern Spannung, viel Freude und einen hohen Erkenntnisgewinn mit diesem Buch. Mögen die aus den Inhalten gewonnenen Erkenntnisse dazu beitragen, dass Eltern einen »guten Durchblick« für ihre Entwicklungsunterstützung von Kindern und gleichzeitig wertvolle Hilfestellung für die vielen damit verbundenen Herausforderungen erhalten.
Ihr Dr. Armin Krenz
Einleitung: Eltern in der Herausforderung, das Beste für ihr Kind zu leisten
Niemand vermag ein Ereignis oder einen anderen Menschen weiterzubringen, als er selbst mit sich gekommen ist. Dennoch vermag er selbst nicht weiterzukommen, als er die Ereignisse oder einen anderen Menschen zu bringen wagt.
Fernöstliche Weisheit
So wie die Entwicklung des Menschen durch einen ständigen Veränderungsprozess seines Umfeldes und seiner Lebensbedingungen beeinflusst wird, so ist auch die elterliche Erziehung immer wieder durch Umfeldveränderungen, neue Erfahrungen oder neue Erkenntnisse zur Überprüfung von bisherigen Zielen, erzieherischen Vorgehensweisen oder Methoden aufgefordert. Was gestern noch für die Pädagogik oder Erziehungspsychologie allgemeine oder spezielle Gültigkeit besaß, kann heute schon durch neue Forschungsergebnisse revidiert sein. So sind zum Beispiel einige Kernaussagen des weltbekannten Entwicklungspsychologen Jean Piaget inzwischen durch neue Untersuchungsergebnisse aufgehoben und durch andere Belege ersetzt worden. Ein alter Spruch bringt es auf den Punkt: Stillstand bedeutet Rückschritt. Das gilt für alle Entwicklungen, seien sie personbezogen oder alltagsorientiert. Die Zeiten und Begründungen einer eher traditionsverbundenen elterlichen Pädagogik, in der die Gestaltung der »Erziehungsarbeit« durch Wiederholungen eigener Kindheitserfahrungen oder persönlich geprägter Ansichten charakterisiert war, sind nicht mehr ohne Weiteres aufrechtzuerhalten.
Eine breit angelegte Befragung von einigen hundert Eltern, die der Autor im Rahmen von Elternseminaren durchgeführt hat, ergab eine Vielzahl von Antworten auf die Frage, was für sie heute so reizvoll ist, die Rolle als Eltern(teil) zu erleben. An dieser Stelle sollen einige beispielhafte, häufige und sich stark ähnelnde Antworten genannt werden:
• »Als Eltern hat man im Vergleich mit anderen Berufen vielfältige Möglichkeiten, sowohl eigenen Interessen nachzugehen als auch für einen anderen Menschen Verantwortung zu übernehmen.«
• »Die Elternschaft bringt jeden Tag neue Herausforderungen mit sich und verlangt von uns Eltern Flexibilität und Kreativität - das macht das Leben doch erst spannend!«
• »Für mich stand immer schon fest, dass ich Kinder haben wollte. Etwas anderes kam gar nicht infrage. Elternschaft gehört einfach zum Erwachsensein dazu. Wenn keine Kinder mehr geboren werden, stirbt die Menschheit aus. Das wäre doch grässlich.«
• »Erst Kinder bringen doch Glück und Zufriedenheit ins eigene Leben. So kann ich nur alle Erwachsenen bemitleiden, die sich dieses Glück nicht geschenkt haben.«
• »Kinder sind etwas Wundervolles. Sie stecken voller Überraschungen, Energien, Freiheitswünsche und Unberechenbarkeiten. Kinder halten uns Erwachsene jung.«
• »Es gefällt mir jeden Tag aufs Neue, mit meinen Kindern zu leben, zu spielen, zu lachen, traurig zu sein oder mit ihnen etwas Neues zu entdecken, womit wir uns dann für lange Zeit beschäftigen können.«
• »Kinder sind ehrlich und verstellen sich nicht. Das mag ich an ihnen. Sie sagen geradeheraus, was sie denken und wie sie sich gerade fühlen. Solche Verhaltensweisen vermisse ich bei Erwachsenen ganz stark. Und könnte ich nicht immer wieder diese Erfahrungen machen, wäre mein Leben armselig.«
• »Welcher Beruf gibt einem noch die Möglichkeit, an der Gestaltung eines sich entwickelnden Lebens so aktiv teilnehmen zu können?«
• »Kinder sind häufig dankbare Zuhörer, Mitspieler und lernfreudige Menschen. Durch ihre besondere Lebendigkeit und Menschlichkeit werde ich auch heute noch fast jeden Tag darin bestätigt, dass es gut war, sich für ein Kind zu entscheiden.«
• »Ich freue mich über strahlende Kindergesichter und lachende Augen. Kinder wissen es nahezu immer sehr zu schätzen, wenn man Zeit für sie hat und gemeinsam mit ihnen etwas unternimmt.«
• »Kinder geben mir viele Rückmeldungen auf mein eigenes Verhalten. Sie sind häufig ein Spiegelbild unserer eigenen Empfindungen und Lebenslagen. Insofern nutze ich ihre Rückmeldung auf mein Verhalten und betrachte sie auch als eine (in)direkte Hilfe für unsere eigene Weiterentwicklung.«
• »Man bleibt selbst körperlich und geistig fit - Ausruhen wäre fehl am Platz. Kinder halten uns alle beweglich, lebendig und fordern uns heraus.«
• »Kinder helfen einem dabei, die eigenen Sorgen und Schwierigkeiten des Lebens für viele Stunden des Tages auch einmal zu vergessen. Mir ist dadurch sehr bewusst, wie viel wir Eltern den Kindern zu verdanken haben.«
• »Wo können Erwachsene heute in dieser überwiegenden Erwachsenenwelt noch selbst Kind sein, Theater spielen, Witze machen, tanzen, Unternehmungen planen und durchführen, Lieder singen und texten, Musik hören und über die vielfältigen Dinge des Lebens philosophieren?«
Bei all diesen positiven Äußerungen kamen bei einer weiteren Fragestellung aber durchaus auch nachdenkliche und kritische Stimmen zum Vorschein, die zusammengefasst folgenden Inhalt hatten:
• »Wir haben bzw. hätten bei Weitem nicht gedacht, dass die Erziehung von Kindern so schwierig ist und uns Eltern jeden Tag vor neue Herausforderungen stellt - manche sind lösbar, manche erscheinen uns unlösbar.«
• »Wir müssen zunehmend die Erfahrung machen, dass wir unseren elterlichen Einfluss auf unsere Kinder einfach überschätzt haben - gegen den Einfluss ungünstiger Freundschaften oder der ganzen Medienmacht kommen wir mit unserem Bemühen immer öfter an unsere Grenzen.«
• »Erziehungsarbeit ist doch ein weitaus schwierigeres Geschäft, als wir es uns vorgestellt haben, sodass wir schon manches Mal den Gedanken nachgehen, ob es nicht besser gewesen wäre, unseren Kinderwunsch sorgsamer und nicht so blauäugig zu erfüllen.«
• »Das Traurige an der Erziehung ist doch, dass man den Zeiger der Zeit nicht ohne Weiteres zurückdrehen kann, vor allem dann, wenn man erkennen muss, dass man aus heutiger Sicht vieles anders gemacht hätte.«
• »Vielleicht waren wir zu jung, als unser erstes Kind auf die Welt kam. Wir waren selbst mit unserer eigenen Entwicklung noch gar nicht fertig und plötzlich mussten wir uns auf völlig neue Herausforderungen einstellen. Dabei fühlten wir uns so manches Mal restlos überfordert.«
• »Unsere Kinder haben unsere eigene Lebensplanung mächtig durcheinandergewirbelt. Es gab viele Abstriche, die wir letztlich machen mussten und immer noch machen müssen.«
• »Natürlich geht es häufig darum, eigene Bedürfnisse durch die Kinder zurückzustellen. Das fällt uns, wenn wir ganz ehrlich sind, nicht immer leicht.«
• »Bei der Vielzahl von Ratschlägen durch Kinderärzte, verschiedene Erziehungsratgeber oder die eigenen Eltern kommt es zu immer größeren Verunsicherungen, was in der Erziehung richtig und was falsch sein könnte. Vielleicht sollte man nur auf das eigene Gefühl hören, doch auch da kann es natürlich jede Menge Fehler geben.«
Was fällt durch die genannten Beispiele auf? Während manche Eltern voller Freude, Motivation und Neugierde auf ihr Kind emotional ergriffen und gedanklich sehr klar ausgerichtet waren, macht sich gleichzeitig bei anderen Eltern schon nach einigen Jahren eine größere Nachdenklichkeit (bis hin zur Unzufriedenheit) über bestimmte Erfahrungen breit. Das ist verbunden mit der Tatsache, dass die Anforderungen an eine verantwortungsvolle und entwicklungsförderliche Erziehung und auch die Erwartungen von außen (Kindergarten, Schule, Nachbarn usw.) stetig wachsen. Und das bei einer ganzen Reihe von Umfeldbedingungen, die für Eltern belastend sein können: steigende Anforderungen im Beruf, Angst um den Fortbestand von Arbeitsplätzen, größere Flexibilitätserwartungen von ArbeitgeberInnen an ArbeitnehmerInnen, steigende Armut usw.
Es stellt sich die Frage, welche grundlegende Motivation und welche Lebenskompetenzen hilfreich sind, um im Spannungsfeld von persönlichen Lebensgestaltungswünschen und einer Elternschaft eine entwicklungsförderliche Erziehung leisten zu können. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat bei der Beurteilung, ob Menschen entsprechende Anforderungen als eine Belastung oder als eine produktive Herausforderung erleben, als »Life-Skills« (= Lebenskompetenzen) bezeichnet. Sie hängen von vielen unterschiedlichen Einflussgrößen ab - vor allem von einem Zusammenwirken emotionaler, kognitiver, sozialer und motorischer Ressourcen. Darunter fallen insbesondere eine gut ausgeprägte Kommunikations- und Konfliktfähigkeit; ein sorgsamer und aktiver Umgang mit eigenen und fremden Gefühlen; kritisches Denken; Entscheidungs- und aktive Handlungsfähigkeit; die Bereitschaft zur Selbstreflexion; Selbstbewusstsein; Widerstandsfähigkeit gegenüber Gruppendruck; die Fähigkeit, mit Stress und Ängsten umgehen zu können; Frustrationstoleranz; Interesse; die Bereitschaft, auf Unbekanntes zuzugehen und es erkunden zu wollen; Motivation, etwas mit anderen sinnvoll auszuhandeln, gestalten und verändern zu wollen.
Diese Fähigkeiten können direkt auf Eltern übertragen werden, ergänzt durch den elterlichen Wunsch, sich immer wieder auf neue Herausforderungen des Erziehungsalltags mit Kindern einzulassen, Sinnzusammenhänge zwischen eigenen Sicht- und Verhaltensweisen und ihren Auswirkungen auf Kinder zu erkennen, die eigene Erziehungsfähigkeit immer weiter zu verbessern und erreichte Ziele zu genießen. Dieses Buch mag Eltern hierzu eine Hilfe sein.
Kindheiten heute - Kinder zwischen Lust und Frust

Wenn Eltern zu viel fordern und erwarten

Kinder und Uhren dürfen nicht ständig aufgezogen werden, man muss sie auch gehen lassen.
Jean Paul
Eine Tag für Tag zu beobachtende Tatsache ist, dass das gesamte Kinderleben immer stärker einem Leben gleichkommt, das fast ausschließlich einer Aneinanderreihung von »pädagogischen Arrangements« entspricht. So wird das Kinder(er)leben immer stärker eingeschränkt, die Kinderzeiten werden immer häufiger zerteilt und die Kinderwelten immer stärker zerrissen. Es wird für Kinder gedacht und für sie geplant, es wird für Kinder arrangiert und für Kinder gehandelt, anstatt zu begreifen, dass eine »Pädagogik vom Kinde aus« eine lebendig erlebte Alltagspädagogik mit dem Kind ist.
Viele Eltern haben schon in frühen Jahren damit begonnen, ihren Kindern ihre eigenständige Kindheitszeit vorzuenthalten, indem sie die Kinder in »Arrangements« untergebracht haben. Mit dem Babyschwimmen, den Krabbelgruppen und frühkindlichen Förderprogrammen fing es an. Es folgten die ungezählten Kurse und Trainings (Montag: Ballett/Judo; Dienstag: Flöten-/Klavierunterricht; Mittwoch: Turnen/ Fußball; Donnerstag: Reiten/Handball; Freitag: Tennis/ frühes Leselernen; Samstag: Sportturniere; Sonntag: frei!?) schon während der Kindergartenzeit. Viele Kinder hatten und haben ein Tagesprogramm, das von der Zeitstruktur her betrachtet dem eines Managers ähnlich ist.
Indianerspiele haben daher längst ausgedient und für den Marterpfahl oder gar eine Friedenspfeife ist im normalen Alltagsgeschehen der Kinder kein Platz mehr. So weiß auch schon die zweieinhalbjährige Leonie sehr genau, was Zeit bedeutet. Wenn die Mutter jeweils am Dienstag- und Donnerstagvormittag die kleine Reisetasche packt, heißt das für Leonie: Es geht zum Rhythmikkurs. Dort bewegt sich die Kleine im rot-schwarzen, modisch-aktuellen Dress nach den Taktvorgaben und Mama schaut stolz auf ihr bewegungsbegabtes Kind. Am Mittwochnachmittag steht »Englisch für die Jüngsten« auf dem Programm und an den anderen Tagen wird per Handy ein Spieltreff arrangiert, damit möglichst viele »Zeitfenster« im Rahmen einer »guten Entwicklungsförderung« genutzt werden.
Schon vor Jahren sprach der Hildesheimer Pädagoge Ernst Cloer von einem Kinderalltag »im Zeittakt industrieller Fertigung« und der Würzburger Erziehungswissenschaftler Günther Bittner beklagte eine »Durchrationalisierung des Kinderlebens nach Schichtdienst und Stundenplan, eine ökonomische Zeitplanung bis in die Kinderstube hinein«. Bei genauerer, zeitaktueller Betrachtung zeigt sich, dass auch elementar- und sonderpädagogische Einrichtungen diese Vertreibung der Kindheiten (im familiären Bereich) zunehmend mitmachen, institutionell aktiv ausbauen und pädagogisch mit dem »neuen« Bildungsauftrag einer progressiven Frühpädagogik zu begründen versuchen. Sie wollen damit immer wieder kognitive Prozesse fördern, als ob es darum gehe, ein weitestgehend leeres Fass in möglichst kurzer Zeit zu füllen. Und schnell wird noch vor alle künstlich hergestellten Lernsituationen die inhaltsleere Worthülse »ganzheitlich« davorgesetzt, um das Ganze pädagogisch zu legitimieren - ohne allerdings diesen Begriff mit Leben zu füllen. Diese Realität kommt nicht selten einem »pädagogischen Aktionismus« gleich.
Ein Kind ist kein Lotterielos, um den ersten Preis zu gewinnen.
Dr. Janusz Korczak
Studiert man sorgfältig die Fachliteratur im Feld der Kindheitsforschung aus den letzten 15 Jahren, fallen immer wieder dieselben Warnungen auf: Wir haben es mit »gehetzten Kindern« zu tun, Kinder stehen »unter einem vermehrten Dauerstress« und die Zunahme der »Vertreibung von Kindlichkeit« nimmt außergewöhnliche Maße an. Kinder »leiden zunehmend an typischen Managerkrankheiten«, stecken »in dramatischen Beziehungsnöten« und das »Ende der Kindheit ist eingeläutet«. Kindheit ist zunehmend »organisiert und isoliert« und schon lange »kein Kinderspiel mehr«. Und so nahm und nimmt auch in Elternhäusern die didaktisierte Pädagogik ihren Lauf: Bewegungsfreudige Kinder erhalten die Möglichkeit, ihre Anspannungen und ungezügelten Kräfte im Sporttraining oder auf der »Bewegungsbaustelle« auszudrücken, für emotional irritierte Kinder werden in Volkshochschulkursen schon für die Jüngsten »meditative Entspannungsübungen und märchenhafte Bilderlebnisse« angeboten. »Feuererziehung« scheint sich bei der »Behandlung ängstlicher Kinder« besonders zu empfehlen und die Fülle einer erlebnisreichen »Tasterfahrungswelt« beschränkt sich nicht selten auf künstlich hergestellte Wahrnehmungsfelder wie Tastwände und Fühlstraßen. »Hörerlebnisse« zur Differenzierung von Geräuschen »erfahren« Kinder über CD- bzw. kassettengeprägte Geräuschquellen und ein frühes Lesenlernen wird Kindern über »kindgerechtes Frühleselernen« beigebracht - in Ausblendung der Ergebnisse der PISA-Studie 2000, bei der sich unter anderem zeigte, dass finnische Jugendliche vor allem deswegen eine so hohe Lesekompetenz besaßen, weil ihnen im Kindesalter regelmäßig und viel vorgelesen wurde, beispielsweise regelmäßig in Form von Gutenachtgeschichten.
Die lebensprägende Reise vom Kleinkind zum Erwachsenen wird dadurch immer kürzer, brüchiger, komplizierter und unübersichtlicher. Kinder können zwar in zunehmendem Maße theoretisch über viele Dinge dieser Welt reden, sind aber gleichzeitig immer weniger in der Lage, identisch und einfühlsam, sozial engagiert und auf der Grundlage verinnerlichter Werte ein kompetentes, ausgefülltes und glückliches Eigenleben zu führen und aktiv zu gestalten. Sie sind darüber hinaus immer weniger fähig, Konflikte mit Gleichaltrigen sorgsam auszutragen, Belastungen auszuhalten, Anstrengungsbereitschaft auf sich zu nehmen und in ihrem Tagesablauf selbstständigen Hobbys und Interessen nachzugehen.
Die Lösung aus dem beschriebenen Dilemma der Kinder und einer »förderwütigen« Frühpädagogik umfasst einige wesentliche Aspekte, die nur thesenartig skizziert werden sollen:
• Eltern müssen sich von der Vorstellung und damit dem Bild verabschieden, Kinder seien schon in den ersten sechs Lebensjahren zu perfektionieren.
• Eltern müssen die ersten Lebensjahre von Kindern als einen eigenen Entwicklungszeitraum »Kindheit« begreifen und ihre gesamten Erwartungen darauf abstimmen.
Copyright © 2008 Kösel-Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlag: fuchs_design, München Umschlagmotiv: Bo Tornvig / Getty Images
eISBN : 978-3-641-03234-0
 
www.koesel.de
 
Leseprobe
 

www.randomhouse.de