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Das SPIEL hat in den vergangenen Jahren in vielen Kindertageseinrichtungen deutlich an Wert verloren. Dafür kann es viele Gründe geben: sei es die deutliche Zunahme an Verhaltensirritationen bei vielen Kindern, denen sich die frühpädagogischen Fachkräfte verstärkt zuwenden müssen, sei es die fachliche Herausforderung in einer inklusiven Pädagogik, die hohe Ansprüche an eine besondere Entwicklungsbegleitung erfordert, seien es die Bildungsansprüche vieler Eltern, die an die Fachkräfte gerichtet werden oder sei es die deutliche Zunahme an administrativen Aufgaben, die viel Arbeitszeit bindet. Hinzu kommen Beobachtungen, dass viele Fachkräfte dem SPIEL eine untergeordnete Bedeutung im Vergleich mit „Lernprogrammen“ und „Förderangeboten“ beimessen oder Quereinsteiger*innen ohne eine pädagogische Ausbildung die Lücke von fehlenden Fachkräften besetzen. Doch unabhängig von allen Gründen bleibt der hohe Bedeutungswert des SPIELS für die SELBSTBILDUNG des Kindes bestehen! Wenn diesem Bedeutungswert kaum noch eine Beachtung geschenkt wird, hat dies gravierende Folgen für die Persönlichkeits- und Lernentwicklung der Kinder und damit auch auf die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung des Landes. In dieser Veröffentlichung werden fachliche Grundlagen vorgestellt, um das SPIEL wieder verstärkt in die Elementarpädagogik zu integrieren. Es muss eine praxisorientierte Revolution stattfinden, indem einer wirtschaftlich und funktional gestalteten Elementarpädagogik die „Rote Karte“ gezeigt und erneut Kinder und ihre Entwicklungsbedürfnisse in das Zentrum der Pädagogik gerückt wird. Das gelingt nur mit einer aktiven, lebendigen, authentisch gestalteten SPIELPÄDAGOGIK und spielfreudigen kindheitspädagogischen Fachkräften.
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Seitenzahl: 178
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Armin Krenz
Kitas brauchen eine pädagogische Revolution
© 2025 BurckhardtHausc/o Körner Medien UG
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe sowie der Übernahme auf alle digitalen Medien, vorbehalten. Ausgenommen sind fotomechanische Auszüge für den eigenen wissenschaftlichen Bedarf.
Cover: Anja LuschLayout: Ogai Technologies Pvt Ltd, ChennaiDruck: dardedze, Riga
www.bhl-verlag.de
ISBN 978-3-96304-717-6
Inhalt
ABildung von Anfang an – und wo bleibt das SPIEL? – Die aktuelle Bildungspraxis muss im Fadenkreuz einer kritischen Betrachtung deutlich hinterfragt werden
BKinder brauchen ZEIT für ihre Ent-wicklung! Ein Plädoyer zur notwendigen Entschleunigung des Kita-Alltags
C„Hast Du heute schon gespielt?“ – Das kindliche Spiel als Bildungsmittelpunkt für Kinder.
DDas SPIEL muss wieder der Mittelpunkt einer bildungsaktiven Elementarpädagogik werden! – Ein deutliches Plädoyer für eine größere Wertschätzung des SPIELS!
EAussagen, die in den Bildungsrichtlinien/ Bildungsgrundsätzen und Bildungsprogrammen der 16 Bundesländer zum SPIEL auf- und ausgeführt sind
F„Auf die Plätze, fertig, los …“ Ausgewählte, empfehlenswerte Literaturhinweise zur Literaturgattung SPIEL
Das magische Zauberwort der heutigen und letztjährigen Elementarpädagogik heißt unzweifelhaft BILDUNG. Und so dreht sich in den meisten Kindertageseinrichtungen in der praktizierten Pädagogik häufig alles darum, wie Bildung von Anfang an zu realisieren ist und wie Bildung gleichsam nach außen sichtbar gemacht werden kann. So sind Bildungsdokumentationen zu führen, Bildungsbücher zu erstellen, den Kindern sollen immer wieder neue Bildungserfahrungen vermittelt werden, um in ihnen effiziente Lernkompetenzen auf- und auszubauen. Methodenkompetenzen sind laut manchen Bildungsprogrammen in Kindern zu installieren, aus bildungsfernen Kindern sollen möglichst früh Lernforscher gemacht werden, Kindertageseinrichtungen werden in Zukunfts- und Lernwerkstätten verwandelt, möglichst bilinguale Sprachkompetenzen sollen als Förderfundament berücksichtigt werden und die in Kindern genetisch angelegten elementaren Bildungspotenziale sollen früh und so lerneffizient wie möglich aktiviert werden. Tatsache ist, dass das gesamte Kinderleben immer stärker einem Leben gleichkommt, das fast ausschließlich einer Aneinanderreihung von pädagogischen Arrangements entspricht.
Es wird f ü r Kinder gedacht und f ü r sie geplant, Lernvorhaben werden f ü r Kinder arrangiert und es wird f ü r Kinder gehandelt, anstatt zu begreifen, dass eine Pädagogik vom Kinde aus eine lebendig erlebte Pädagogik immer m i t dem Ausgangspunkt Kind beginnt und fortgesetzt wird.
„Zu früh, zu ausschließlich lehrt man Kinder, was sie hören, sehen, fühlen und denken dürfen. Was würden sie später doch alles können, hätten sie nicht so früh so viel gelernt.“(Prof. Dr. Hans-Herbert Dreiske)
Deutsche Kindertagesstätten haben sich seit den Ergebnissen der ersten Pisa-Studie stark gewandelt. Wo in der „Vor-Pisa-Zeit“ noch außerordentlich viel und intensiv gespielt wurde, werden heute Bildungsfenster in jedem Entwicklungsalter der Kinder entdeckt und zielgerichtet und anleitend genutzt. Wo früher mit Kindern die Leichtigkeit des Seins in guten Beziehungsbindungen genossen wurde, wird heute die kritische Frage gestellt, ob eine solche „Kuschelpädagogik“ nicht die Bildungsmöglichkeiten von Kindern beiseiteschiebe und letztlich Kinder unterfordere. Wo früher tatsächlich die Kindergartentage gemeinsam mit Kindern geplant wurden, stehen heute förderorientierte Bildungsprogramme auf der Tagesordnung, die abgearbeitet werden – selbstverständlich bei einer stets gebetsmühlenartigen Versicherung, die Bildungsarbeit gehe „vom Kinde aus“: es sei neugierig, wissensdurstig und jederzeit lernbereit. Wo früher Bindungsqualitäten der elementarpädagogischen Fachkräfte im Mittelpunkt ihrer Arbeit standen, stehen heute Bildungsanforderungen an Kinder im Zentrum einer „zeitaktuellen Bildungspädagogik. Wo früher der Faktor „Zeit & Ruhe“ eine wesentliche Bedeutung für die Pädagogik besaß, tritt in der „Nach-Pisa-Periode“ das Merkmal einer Ressource genutzten Quantitätsorientierung in den Vordergrund. Getreu dem Motto: „Was du noch heute mit Kindern verpasst, wird ihnen morgen zur Lebenslast.“
Die zurzeit in der Praxis beobachtbare „Kindergartenreform“ trägt unzweifelhaft folgende Überschriften: Kinderbefähigung für die Zukunft, Teilleistungsförderung schulischer Fertigkeiten, Beschleunigung von einer Kindheit zu einem möglichst frühen Erwachsenwerden, Output-Orientierung an guten Lernergebnissen und kognitive Förderung zu Lasten einer emotional-identitätsorientierten Individualität. Offensichtlich hat der so genannte Bologna-Prozess (= die Verpflichtung von 29 europäischen Staaten im Jahre 1999, bis 2010 einen vereinheitlichten Hochschulraum zu schaffen) schon lange im Kindergarten begonnen und hat sich automatisiert von Jahr zu Jahr fortgesetzt. Gleichzeitig scheinen dabei immer stärker elementarpädagogische Ausgangsdaten in Vergessenheit zu geraten!
Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass beispielsweise im Sozialgesetzbuch (SGB) (8.Bd., 2. Hb.) immer noch bei Kindertageseinrichtungen von einem eigenen Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsauftrag gesprochen wird. Diese Eigenständigkeit ist nicht hoch genug einzuschätzen und bezieht sich auf eine deutliche Abgrenzung von einem schulischen Lernen, zumal Kinder im Kindergartenalter anders als Schulkinder: nämlich sinngebend, alltagsorientiert, beziehungsgestaltend und handlungsorientiert lernen. Gleichzeitig sei daran erinnert, dass Kinder nach der UN-Charta „Rechte des Kindes“ (ratifiziert durch den Deutschen Bundestag) lt. Artikel 32.1 „ein Recht auf Ruhe und Freizeit, auf Spiel und altersgemäße Erholung haben“ – ein Recht, das auch in der Elementarpädagogik immer weniger zur Kenntnis genommen, geschweige denn wertgeschätzt wird.
Es sei darüber hinaus darauf hingewiesen, dass laut dem „Berufsbild der Erzieher*innen“ diese dafür zu sorgen haben, dass sie sich „in erster Linie als Partner*innen des Kindes und Anwält*innen ihrer Interessen“ zu verstehen haben und „insbesondere für die Erhaltung und Verbesserung der Lebensbedingungen von Kindern“ einzutreten haben. Die Realität zeigt ein diametral anderes Bild. So geben stattdessen verstärkt förderpädagogische Erwartungen von vielen Eltern, Grundschullehrkräften sowie bildungsfaszinierten Landesverbände, bildungsgeprägten Fachberater*innen und bildungsorientierten Trägern von Kindertageseinrichtungen die Marschrichtung der Elementarpädagogik vor. Und dies alles geschieht trotz der Tatsache, dass fachwissenschaftliche Erkenntnisse über die Bedeutung der Selbstbildung der Kinder, die gerade nicht durch funktionale Bildungsangebote unterstützt, sondern eher behindert wird und neurobiologische Befundergebnisse im Sinne einer nachhaltigen Bildungsarbeit (Prof. Dr. G. Hüther) sowie die wissenschaftlich geprägte Forderung nach einer „Bildung aus erster Hand“ (Prof. Schäfer) zu völlig anderen Bildungskonsequenzen auffordern.
„Nicht das Kind soll sich der Umgebung anpassen.Sondern wir sollten die Umgebung dem Kind anpassen“.(Maria Montessori)
Die Ergebnisse der Pisa-Studien ab dem Jahre 2000 haben in der Kindergartenpädagogik für viel Unruhe gesorgt. So wurden in allen 16 Bundesländern u.a. Bildungsprogramme und Bildungsrichtlinien sowie Bildungsempfehlungen bzw. Orientierungshilfen für eine neue Bildungsoffensive gestartet, Fachtagungen in ungeahntem Ausmaß fanden bzw. finden statt und immer neue Förderprogramme für das Kindergartenalter kommen auf den Markt. Auf der einen Seite ist es völlig richtig, dass zurückliegende Bildungsziele, Bildungsbereiche und Bildungsinhalte von Zeit zu Zeit in Frage gestellt werden müssen und sich dabei einer kritischen Prüfung zu unterziehen haben. Doch auf der anderen Seite haben die Bildungsprogramme und Bildungsrichtlinien sowie Bildungsempfehlungen bzw. Orientierungshilfen durch die Aufsplitterung der Bildungsbereiche in der Praxis dazu beigetragen, diese aus einem ganzheitlichen Bildungsverständnis zu isolieren und in Teilförderbereiche zu segregieren.
Zunächst eine Vorbemerkung: schon vor über 40 Jahren wurde den
Kindertagesstätten in Deutschland (West) durch den Deutschen Bildungsrat ein eigener Bildungsauftrag zugesprochen! Gleichzeitig gab es in Deutschland (Ost) seit dem September 1985 ebenfalls einen Bildungsauftrag für Kindergärten in der damaligen DDR (siehe „Programm für die Bildungs- und Erziehungsarbeit im Kindergarten“ des Ministers für Volksbildung). Damit ist das Thema „Bildung im Kindergarten“ überhaupt nichts Neues. Es verwundert daher umso mehr, als dass die Länder- und Bundespolitik sowie die unterschiedlichen Träger von Kindertageseinrichtungen durch ihre vielfältigen und ständig erweiterten Aktionen den Eindruck vermitteln, der deutschen Elementarpädagogik komme seit PISA ein neues Aufgabenfeld zu. So bleibt lediglich die Frage, warum Bildung erneut so konzentriert in den Mittelpunkt der Elementarpädagogik gerückt wird. Bei einer sorgsamen Betrachtung können nur folgende Annahmen in Betracht kommen: Kindertagesstätten haben den Bildungsauftrag in der Vergangenheit entweder
►kaum und gar nicht zur Kenntnis genommen und aus der Elementarpädagogik bisher verbannt o d e r
►fehlinterpretiert und anders gestaltet o d e r
►seit je her anders in die Praxis umgesetzt, ohne allerdings die geleistete Bildungsarbeit ausreichend in der Öffentlichkeit vorzustellen und transparent zu machen.
Es kann aufgrund vieler Auswertungsgespräche mit Kita-Leitungskräften, die schon seit Jahren ihren Beruf ausüben, angenommen werden, dass der zuletzt genannte Punkt zuallererst infrage kommt.
Bildung bezieht sich immer auf zwei Grundsatzelemente. Zum einen versteht sich Bildung als eine aktive Aneignung der Welt durch das Kind selbst und als Anregung aller Kräfte der Kinder durch die an der Pädagogik bindungsbeteiligten Erwachsenen. Bildung – ganz im Sinne einer nachhaltigen Persönlichkeitsentwicklung, wie sie im Sinne der Agenda 21 der Bundesregierung gefordert wird – hat das Ziel, Lernprozesse in Menschen zu initiieren, die zum Erwerb von lebensförderlichen Analyse-, Bewertungs- und Handlungskompetenzen beitragen. Das heißt, dass es um den Auf- und Ausbau von Fähigkeiten – und nicht um die Schulung von Fertigkeiten (!) - geht, die sich beispielsweise in folgenden Verhaltensmerkmalen des Menschen zeigen:
►Neugierde auf Entwicklungsmöglichkeiten persönlicher Kompetenzen;
►Freude am Erwerb neuen Wissens;
►Mit unvorhersehbaren Situationen fertig werden;
►Entwicklung eines interkulturellen und generationsübergreifenden Weltverständnisses;
►Besitz eines eigenen, reflexiven Urteilsvermögens;
►Übernahme einer Selbstverantwortung für das eigene Handeln und Mitverantwortung für umgebungsorientierte Situationen;
►Weltoffenheit, um an einer lebenswerten Zukunft mitzuarbeiten;
►Intoleranz gegenüber Ungerechtigkeiten zum Ausdruck bringen;
►Selbstmotivation besitzen, um aus einem eigenen Antrieb Handlungsschritte in Gang zu setzen und Selbstengagement zu zeigen, ohne von anderen zu Handlungsschritten aufgefordert werden zu müssen;
►Empathie in den vielen Kommunikations- und Interaktionssituationen im Alltagsgeschehen spüren, um aus einer emotionalen Betroffenheit für Gerechtigkeit zu sorgen oder Hilfestellungen zu leisten, wo ein Hilfebedarf angezeigt ist;
►Überall dort ein solidarisches Handeln aktiv und furchtlos zum Ausdruck bringen, wo Solidarität erforderlich und gefragt ist.
Bildung ist primär als ein Weg zu einer ständig erweiterten Persönlichkeitsentwicklung zu verstehen und erfordert daher immer wieder die Konzentration auf das Ziel, Kindern zu ihrer eigenen, unverwechselbaren Identitätsfindung zu verhelfen und eine Umgebung zur Verfügung zu stellen, in der Kinder ihren Selbstwert entdecken und entwickeln, an eigenen Handlungsideen dranbleiben können, den Wert von „Standpunkten“ entdecken und positiv erleben, Konflikte alsLernfelder entdecken können, Zuversicht aufbauen und Zusammenhänge, was ihr eigenes Verhalten mit einer Situationsentwicklung zu tun hat, entdecken können!
Kindheitspädagogische Fachkräfte waren und sind - ebenso wie Lehrerinnen und Lehrer - durch ihr geschichtlich-biographisch zurückliegendes und darin begründetes berufliches Selbstverständnis immer schon gewohnt, Bildungsziele und Bildungsaufgaben an andere zu richten und in diesem Fall auf Kinder zu übertragen. So versuchen sie im beruflichen Alltag immer wieder dafür zu sorgen, dass sich das Kind beispielsweise „auf unterschiedlichste Herausforderungen und aktuell vorgegebene Aufgabenstellungen einlassen kann, Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden lernt (wobei Erwachsene vorgeben, was als wesentlich und unwesentlich einzustufen ist) und in der Lage ist, sich selbst und seine Handlungstätigkeiten genau und zugleich kritisch anzuschauen, hilfreiche Arbeitstrategien übernimmt und verinnerlicht sowie diese handlungsorientiert umsetzen kann, an neuen Erkenntnissen arbeitet um Erfolge zu erringen und unbrauchbare Strategien erkenntnisgeleitet verwirft.“ Diese Bildungsziele sind nur eine kleine Auswahl aus einigen „Bildungsprogrammen/ -richtlinien für Kindertageseinrichtungen“, die allerdings endlos fortgesetzt werden könnten. Doch an dieser Stelle sei spätestens jetzt darauf hingewiesen, dass BILDUNG unter dieser Sichtweise ausschließlich, wie eine Ware verstanden wird, die einem Konsumenten (dem Kind) nahegebracht werden soll.
„Bildung ist keine Ware und Kinder sind keine Gefäße.“(Prof. Dr. G. E. Schäfer)
Dabei wird gleichzeitig der Begriff BILDUNG mit dem Wort Wissenserweiterung (= kognitive Kompetenz) gleichgeschaltet. Und hier beginnt der Kreislauf eines tradierten Bildungsbegriffes zu wirken, der allerdings – aus fachlicher Sicht betrachtet – eine tatsächlich notwendige und vor allem kinderfreundliche (und damit lerneffiziente, nachhaltige, selbstbildungsorientierte) Bildungsoffensive wiederum zum Scheitern führen wird.
Eine elementare und bedeutsame, nachhaltige Bildungsarbeit ist eine beziehungsorientierte Alltagspädagogik vom Kinde aus!
„Eine Annäherung an die Welt des Kindes erfordert Empathie, die Wertschätzung der Wahrnehmung und Gefühle der Kinder und ein Interesse daran, die Sicht der Kinder auf ihre Welt zu verstehen.“(Friederike Heinzel)
Die Lösung aus dem oben beschriebenen Dilemma der Kinder und der Abschied aus einer funktional strukturierten Elementarpädagogik, in der BILDUNG in erster Linie als eine vorgegebene Belehrungsunterweisung verstanden wird, umfasst viele Aspekte, die nun in Kürze und nur thesenartig skizziert werden sollen:
(1)Kindheitspädagogische sowie therapeutisch tätige Fachkräfte, Eltern, Fachberater*innen und Träger von Kindertageseinrichtungen müssen sich von dem Bild verabschieden, Kinder seien schon in den ersten Lebensjahren mit Beginn eines Krippenaufenthaltes zu einem „Schulkind“ zu perfektionieren;
(2)Alle Erwachsenen müssen die ersten sechs Lebensjahre von Kindern als einen eigenen Entwicklungszeitraum „Kindheit“ begreifen und ihre gesamte Arbeit auf kindheitsorientierte Entwicklungsbedürfnisse abstimmen;
(3)Kinder brauchen eine anregungsreiche Umgebung im Innen- und Außenbereich, in der sie handgreiflich, unmittelbar, aktiv, mit allen Sinnen, innerlich beteiligt und engagiert Erfahrungen machen können, die ihnen tatsächlich helfen, selbstständig, unabhängig und sozial beteiligt das Leben zu spüren und selbstaktiv (mit)gestalten zu können.
(4)Kinder brauchen vielfältige, reale Handlungsräume und keine künstlichen, von Erwachsenen arrangierte Lernwelten, die Kinder zunehmend daran hindern, umfeldreale Erfahrungen machen zu können.
(5)Kindheitspädagogische sowie therapeutisch tätige Fachkräfte müssen Kindern vielfältige, natürliche und alltagsbedeutsame Herausforderungen zutrauen, die Kinder mit Mut und Engagement, Lebendigkeit und Stolz, Risikobereitschaften und Leistungserlebnissen ausfüllen können.
(6)Erfahrungserlebnisse müssen Kindern Sicherheit vermitteln, durch die sie ihre Überzeugungen „Ich bin wer“ und „Ich kann was“ stärken können.
(7)Kindheitspädagogische sowie therapeutisch tätige Fachkräfte müssen mit Kindern leben, mit Kindern fühlen, mit ihnen planen – sie müssen sich dem Kind vor sich und dem eigenen Kindsein in sich direkt und unmittelbar zuwenden. Viele Erwachsene haben aus unterschiedlichen Gründen den Kontakt zu sich selbst, zu ihrer gesamten Biographie und insbesondere zu ihrer Kindheit verloren bzw. ausgeblendet, wodurch sie ihre Aufgabe in der Pädagogik alleine darauf ausrichten, das Kind vor sich beeinflussen, formen und in ihrem Selbstverständnis prägen zu wollen. Damit erhält das Kind automatisch eine Bringschuld, wodurch die erwachsene Person einer Selbsterfahrung und einer Selbstreflexion aus dem Wege geht.
(8)Kindheitspädagogische sowie therapeutisch tätige Fachkräfte müssen sich der Perspektive der Kinder zuwenden und damit aufhören, Kinder in die Perspektive der Erwachsenen zu zerren. So liegt die Bringschuld für eine entwicklungsförderliche Elementarpädagogik bei den Fachkräften, indem sie für die Grundlagen für Selbstbildungsprozesse des Kindes sorgen und eine partizipatorisch geprägte Pädagogik zulassen und aktiv unterstützen.
(9)Kinder brauchen weniger eine didaktische Vielfalt an Programmen als vielmehr feste Bezugspersonen, die sich selbst als den entscheidenden didaktischen Mittelpunkt begreifen – sie brauchen zuverlässige Bindungserfahrungen und damit engagierte, lebendige, staunende, mitfühlende, wissende, handlungsaktive, mutige, risikobereite, zuverlässige Menschen um sich herum und keine besserwissenden Rollenträger*innen, die immer noch meinen, Belehrungen und Anweisungen machten Kinder klug.
(10)Erwachsene müssen sich als Bildungsvorbilder verstehen, weil es ihre Facetten der eigenen Sprache, ihr Sprechen, ihre vielfältigen Interessensschwerpunkte, ihre unersättliche Neugierde, ihre vielen Lebens- und Umfeldfragen, ihre unterschiedlichsten Aktivitäten, ihre Gefühlskompetenzen, ihr eigener Forschungsdrang, ihre ausgeprägte Lernfreude und ihre hohe Motivation zum Beruf sind, die Kinder fasziniert und durch diese Facetten die Kinder sich zu ihnen regelrecht hingezogen fühlen, wodurch auch ein Imitationslernen in Gang gesetzt wird. Das betrifft in hohem Maße auch den bedeutsamen Bereich der Wertebildung!
(11)Bildungsarbeit ergibt sich aus den aktuellen und bedeutsamen Lebensthemen der Kinder und Erwachsene begleiten dabei das sich bildende Kind, indem sie die Themen der Kinder in ein mit Kindern entwickeltes Projekt einbauen und durch Impulse erweitern. Damit erübrigen sich auch für die kindheitspädagogischen Fachkräfte die täglichen Überlegungen nach der Kita-Arbeit, welches ‚Thema‛ in ‚welchem Bildungsbereich‛ mit ‚welchen Materialien‛ am kommenden Tag angeboten werden könnte.
(12)Weil Kinder ihr eigenes Leben und ihr gesamtes Umfeld ganzheitlich wahrnehmen und verstehen, müssen alle Lernerfahrungen für Kinder auch ganzheitlich möglich sein. Damit ist eine Aufteilung der Bildungskompetenzen und Bildungs“felder“ – wie in vielen Bildungs- und Orientierungsrichtlinien dargestellt und ausgeführt- unzulässig und für die Praxis ausgeschlossen. Und auch wenn in allen Bildungs-/ Orientierungsrichtlinien immer wieder deutlich darauf hingewiesen wird, dass die unterschiedlichen Bildungsbereiche nicht voneinander getrennt betrachtet, verstanden und somit teilisoliert in die Arbeit umgesetzt werden sollen, verhallt dieser Hinweis ganz oft in der Praxis. Das zeigt sich beispielsweise an den Tages- und Wochenplänen, in denen die Arbeitsschwerpunkte und beabsichtigten Lernziele schriftlich aufgeführt sind.
(13)Bildungsergebnisse lassen sich nur durch Erfahrungserlebnisse (und nicht durch kognitive Gedächtnisleistungen) erzielen, die Kinder in ihrem Inneren tief berühren! Es sind stets die emotional berührenden Ereignisse und Erlebnisse, die eine neue, neuronale Vernetzung von Hirnzellen bewirken und damit eine nachhaltige Auswirkung auf entwicklungsförderliche Bildungsprozesse haben.
Bildung ist eine tägliche, aktive Selbstbewegung, Such- und Selbstbildung. Sie zeigt sich in einem alltäglichem Entdeckungs- und Neugierdeverhalten. Bildung ist die tägliche Nutzung und der gleichzeitige Ausbau eigener Energien, sich selbst immer besser kennenzulernen und dabei stets neue Entwicklungspotenziale zu entdecken, aufzugreifen, umzusetzen, zu vertiefen und zu differenzieren, um aus der Entwicklung des Selbst auch neue Welterkenntnisse abzuleiten, so dass die Verbindung von Person und Welt eine untrennbare Vernetzung ergibt – und nie als ein isoliertes, messbares Ergebnis kognitiven Wachstums betrachtet wird. (AK)
(14)Bildung im Kindesalter vollzieht sich in erster Linie durch, mit und über das Spiel! Doch dieser Tatsache wird in der Praxis immer weniger Bedeutung beigemessen – die Gründe mögen dabei sehr vielschichtig sein. Daher bedarf es in der Betrachtung einer frühkindlichen Bildungsarbeit einer dringenden Kehrtwendung, um dem Spiel zu seinem originären Bedeutungswert zurückzuhelfen. Es liegt dabei vor allem auch an den kindheitspädagogischen Fachkräften, diesen wichtigen Perspektivwechsel vorzunehmen und sich dafür einzusetzen, dass dieser Forderung auch Rechnung getragen wird.
(15)War es noch vor Jahren die Aufgabe der Kindertageseinrichtungen, die Spielfähigkeit der Kinder auszubauen, so zeigen Beobachtungen in der Praxis, dass es zunehmend mehr Kinder gibt, die immer weniger in der Lage sind, Spielhandlungen vorzunehmen und sich in Spielhandlungen zu vertiefen. Damit ergibt sich für kindheitspädagogische Fachkräfte eine neue Aufgabe, nämlich Kindern dabei zu helfen, eine Spielfähigkeit aufzubauen.
„Aber was heißt denn ein bloßes Spiel, nachdem wir wissen, dass unter allen Zuständen des Menschen gerade das Spiel und nur das Spiel es ist, was ihn vollständig macht und seine doppelte Natur auf einmal entfaltet?“ (Friedrich Schiller)
Eine elementare Bildung fragt also zunächst danach, welche Lebensinteressen Kinder ausdrücken, was Kinder bewegt bzw. womit sich Kinder gedanklich/ emotional beschäftigen und sie sorgt dafür, dass Kinder auf gebildete Erwachsene treffen, die ihnen dabei behilflich sind, ihren eigenen Lebenswert zu erfassen, Lebensfreude (weiter)zuentwickeln und seelische/ lernunterstützende Grundbedürfnisse befriedigt zu bekommen. Das kann nur gelingen, wenn sich Erwachsene von der Vorstellung, Kinder „belehren zu müssen“ und Kindern „Wissen beizubringen“, radikal und konsequent verabschieden, um für eine alltagsorientierte, lebendige, lernunterstützende „Bildungsatmosphäre“ zu sorgen, in der Kinder die vielfältigen Möglichkeiten einer SELBSTBILDUNG entdecken können. Bildung hat im originären Sinne nichts mit einem „schulischen“ Lernen zu tun und noch weniger mit einem „vorschulorientierten“ Arbeiten. Besonders deutlich wird es bei der Betrachtung des Bildungsverständnisses dann, wenn Kinder im letzten Kindergartenjahr als „Vorschulkinder“ bezeichnet und mit ihnen entsprechende Übungsprogramme durchgeführt werden, so als ob in den Jahren zuvor offensichtlich keine Bildungsarbeit stattgefunden hat. Auch das ist ein trauriger Beweis für ein Bildungsverständnis, das mit einer Bildungsbegleitung zur SELBSTBILDUNG nichts zu tun hat, auch wenn es in allen Bildungsrichtlinien und -empfehlungen aller Bundesländer deutlich beschrieben und fachlich ausgeführt wird!
Bildung orientiert sich nicht an einem messbaren Wissenswettbewerb mit Siegern und Verlierern, mit klugen und weniger klugen Kindern, sondern an Werteentwicklungen, Zeitlosigkeit, Ästhetik, Kunst, Musik, ethisch geprägten Verhaltenseinstellungen, einer sozialen Kommunikations- und wertschätzenden Umgangskultur sowie der Schönheit einer sorgsam gepflegten Sprache. Bildung kennt keine Hektik, sondern schätzt gelebte Zeiten, Ruhe und Muße. Sie lässt sich nicht nach „Nutzen“ zweckentfremden, sondern schenkt – auch den kleinen – Menschen eine große Gedanken-, Handlungs- und Selbstentfaltungsfreiheit, um Widersprüche zwischen eigenen Überzeugungen und erlebten Realitäten zu entdecken, konkret, sachlich und perspektivisch zu denken, Gefühle zu erleben und dadurch immer wieder mit sich selbst konfrontiert zu werden. Genau dazu brauchen Kinder aktive, selbstkritische und reflektierende Bildungsbegleiter*innen. All das setzt voraus, dass kindheitspädagogische Fachkräfte engagiert und selbstinteressiert, und das noch viel stärker als bisher, über den eigentlichen Sinn der Bildung und ihr unterschiedliches Selbstverständnis, die Ziele von Bildungsergebnissen und deren Zweck sowie die Aufgaben einer persönlichkeitsbildenden Elementarpädagogik grundlegend nachdenken. Nur dadurch kann eine nachhaltige Bildung auf allen Seiten gelingen. Und diese beginnt mit einer reichhaltig gepflegten Spielpädagogik/ Spielekultur. Die aktuelle Bildungspraxis ist allerdings gerade dabei, diesen Tatsachen immer stärker aus dem Wege zu gehen, auch wenn in den Bildungsrichtlinien der Bundesländer deutlich darauf hingewiesen wird. Schon vor über 10 Jahren hat der damalige Leiter des Instituts für Kinderpsychologie & Lerntherapie in Hannover, der weit über die Grenzen Deutschlands bekannte Erziehungswissenschaftler Wolfgang Bergmann, unter anderem folgende Aussagen getroffen:
►„Wir haben die falschen Erziehungskonzepte. Wenn es um eine frühe kindliche Bildung geht, ganz besonders.“ (S.21)
►„Die Selbstdarstellungen von Kindergärten (lässt schnell erkennen), wie lebensleer und gefühlsarm das alles letztlich ist.“ (S. 22)
►„Die Verdrossenheit so vieler Kinder ist letztlich nichts anderes als Lebensarmut.“ (S. 23)
►„In unseren Kindergärten und anderen pädagogischen Einrichtungen versuchen wir soeben, den Kindern (ihre) Freiheit auszutreiben.“ (S. 26)
►„Es gibt (für Kinder) kein Entkommen.“ (S. 42)
►„Überall dieser moralisch-kontrollierende normative Blick.“ (S. 42)
►„Aber der Plan ist in diesen Fördereinrichtungen eben wichtiger als das Leben. Das ist der entscheidende Fehler.“ (S. 67)
►„Ich bin im Laufe meiner pädagogischen Tätigkeiten, Beobachtungen und Praxis müde geworden. Immer dieselbe Verständnisarmut, immer dasselbe hartnäckige Belehren und Dirigieren und die Besserwisserei der Erwachsenen.“ (S. 71)
►„(Kinder) sind überfordert von einer seelenlosen Lernbürokratie.“ (S. 72)
►„Die übereilte, hektische und das Einzelschicksal vernachlässigende Förderpädagogik liefert die Kinder einer autoritären Ordnung aus […] (und,) wenn ein Kind die selbsttätige Eigenart seiner Talente und Strebungen nicht früh im Kern seines Selbst spürt, dann hat es in der Zukunft wenig Chancen. Es eilt von Anpassung zu Anpassung, es hetzt sich selbst – und wohin? Nirgendwohin!“ (S. 122-123)
►„Was wir heute erleben […] sei ein Missbrauch in Einrichtungen, sind Grundvergehen gegen pädagogisches Handeln, weil damit die Freiheit vernichtet wird, weil da Menschen Zwang angetan wird, und das kann nicht Pädagogik sein.“ (S. 124)
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