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Kindliche Verhaltensformen wie Nägelkauen, Haareausreißen oder auffälliges Essverhalten sind fast immer Hilferufe an die Erwachsenen. Armin Krenz zeigt mit vielen Fallbeispielen, wie Eltern, ErzieherInnen und LehrerInnen die Botschaft hinter solchen Ausdrucksformen verstehen und ihren Kindern hilfreich zur Seite stehen können.
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Seitenzahl: 182
Armin Krenz
Kinderseelenverstehen
Verhaltensauffälligkeiten und ihre Hintergründe
Kösel
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Anschrift des Autors:Dr. Armin KrenzInstitut für angewandte Psychologie und Pädagogik (IFAP)Legienstr. 1624103 [email protected]/krenz
Copyright © 2012 Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlag: fuchs_design, München
Umschlagmotiv: Getty Images/Chris Stein
ISBN 978-3-641-06870-7V002
www.koesel.de
Einleitung
Drei Dinge sind uns aus dem Paradies geblieben: die Sterne der Nacht, die Blumen des Tages und die Augen der Kinder.
Dante Alighieri
Kinder sind in ihren Ausdrucksweisen und Möglichkeiten, persönliche Empfindungen und gedankliche Einschätzungen preiszugeben, nicht anders als Erwachsene. So gibt es liebenswürdige Kinder, die man gerne um sich hat – mit denen man gerne spielt, deren Erzählungen reichhaltig mit Wundern und Fantastereien angereichert sind, die voller Lebensfreude ihren Tagesablauf selbstständig gestalten, die durch ihre fröhliche Art andere Menschen um sich herum mit ihrem Optimismus regelrecht anstecken, die Hilfsbereitschaft an den Tag legen und für andere wahre Freunde sind oder mit ihren vielfältigen Aktivitäten deutlich machen, dass sie große Weltentdecker sind. Ihnen schließt man sich gerne als Begleiter auf dem Weg durch die weite Lebenswelt an.
Dann gibt es Kinder, die es einem nicht ganz so leicht machen, sie zu mögen, anzunehmen und zu akzeptieren, wie sie sind. Sie zeigen Verhaltensweisen, die uns Erwachsene manches Mal auf die Palme bringen, in Unruhe versetzen, sprachlos machen, in ihre tiefe Trauer mit hineinziehen oder uns einfach nur resigniert den Kopf schütteln lassen. Dabei fragt man sich selbst: »Was ist hier eigentlich los und warum verhält sich das Kind so ungewöhnlich?« Beispielsweise, wenn ein Kind behauptet, ein Gespenst sei in seinem Zimmer und würde nachts unter dem Bett hervorkommen. Auch wenn Erwachsene erklären, dass jedermann weiß, dass es Gespenster und Geister nicht gibt, kann am folgenden Abend dasselbe Szenario von vorne beginnen und das Kind sich erneut weigern, ins Bett zu gehen. Oder es fleht voller Inbrunst die Eltern an, sie mögen das Licht anlassen und die Tür nicht schließen.
Wie ist es möglich, dass Kinder Verhaltensweisen an den Tag legen, die einem persönlich fremd sind und die vielleicht in keiner Weise erklärbar scheinen?
Was trägt dazu bei bzw. was oder wer ist dafür verantwortlich, dass Kinder, die eigentlich Hunger haben müssten, kaum etwas essen und sich zu einem dünnen Hänfling oder Suppenkasper entwickeln, andere Kinder hingegen ständig Appetit zeigen und weit über ihr Essbedürfnis Nahrung zu sich nehmen?
Wie ist es möglich, dass manche Kinder mit dem wenigen Spielzeug, das sie haben, hoch zufrieden sind und andere Kinder immer wieder neue Spielsachen fordern, obgleich ihr Kinderzimmer schon einem gut gefüllten Warenhaus gleicht?
Wie kommt es, dass einige Kinder über viele Stunden ganz allein – und mit hoher Zufriedenheit – in ihrem Zimmer spielen und andere Kinder ständig die Erwachsenen fragen, ob sie nicht mit ihnen zusammen etwas spielen könnten?
Warum sind manche Kinder besonders hilfsbereit und können es beispielsweise ertragen, wenn sie von anderen Kindern gefragt werden, ob sie sich Teile der Spielsachen ausleihen können, und andere Kinder dagegen sofort protestieren, sich schützend vor ihr Spielzeug stellen und die fragenden Kinder mit den Worten bedrohen, sie sollen es bloß nicht wagen, das eigene Spielzeug anzufassen?
Wie ist es möglich, dass einige Kinder besonders gerne Süßigkeiten – und wenn möglich, ziemlich viel von diesem »süßen Kram« – essen und diese mit Heißhunger in sich hineinstopfen, andere Kinder hingegen zwar ab und zu eine Süßigkeit essen, aber insgesamt keinen großen Wert auf »Naschis« legen?
Warum scheint es einigen Kindern einfach nicht zu gelingen, Erwachsene aussprechen zu lassen, ohne sie zu unterbrechen, während es andere Kinder problemlos schaffen, erst dann zu reden, wenn Erwachsene zu Ende gesprochen haben?
Warum suchen einige Kinder ständig Anerkennung und Lob, wenn sie etwas gemalt oder hergestellt haben, und stellen dabei wiederholt die Frage: »Und wie findest du das?«, während andere Kinder mit ihrer Leistung selbst zufrieden sind und ihre erlebten Erfolge mit sich allein genießen?
Warum wählen manche Kinder, wenn sie Fragen stellen oder etwas erzählen wollen, eine besonders laute Sprache, sodass man sich als ZuhörerIn fast die Ohren zuhalten muss, um nicht mit einem geplatzten Trommelfell zum Ohrenarzt zu gehen, während andere Kinder hingegen so leise sprechen, dass man sie kaum verstehen kann?
Warum sind manche Kinder von offenem Feuer ganz fasziniert und geraten nahezu in Ekstase, wenn sie flackernde Kerzen oder brennende Holzscheite sehen, andere Kinder hingegen an offenen Feuerstellen eher desinteressiert vorbeigehen oder vielleicht eher die Sorge äußern, daraus könne ein großes Feuer entstehen?
Warum spielen manche Kinder den »Gruppenclown« und machen sich durch bestimmte Verhaltensweisen zum Gespött anderer Kinder, während andere Kinder nie auf die Idee kämen, sich einer öffentlichen Lächerlichkeit preiszugeben.
Diese und viele weiteren Fragen tauchen im Leben der Eltern im Laufe der Erziehung ihrer Kinder mal mehr oder mal weniger auf und lassen sie nicht zur Ruhe kommen, wollen doch die meisten Eltern nur das Beste für ihr Kind. Und dazu gehört nun einmal auch, ein Kind in seinen besonderen Ausdrucksweisen zu verstehen.
Eine Annäherung an die Welt des Kindes erfordert Empathie, die Wertschätzung der Wahrnehmung und Gefühle der Kinder und ein Interesse daran, die Sicht der Kinder auf ihre Welt zu verstehen.
Friederike Heinzel
In diesem Buch geht es darum, ganz bestimmte Ausdrucksweisen von Kindern zu verstehen – was sich gewissermaßen hinter den besonderen Ausdrucksformen der Kinder verbirgt. Auf der einen Seite können wir sagen, dass die gesamte Wahrnehmung des Menschen lediglich auf das ausgerichtet ist, was wir sehen, fühlen, riechen, schmecken oder hören können. Auf der anderen Seite hat der Mensch eine Psyche – ein Seelenleben –, die nicht ohne Weiteres erkennbar ist. Und genau hier setzt dieses Buch an. Die Ausführungen sind dabei auf die Symbolik, einen sogenannten Bedeutungswert kindeigener Ausdrucksformen ausgerichtet. Carl Gustav Jung, einer der bekanntesten Psychoanalytiker, sagte einmal: »Ein Wort oder ein Bild ist symbolisch, wenn es mehr enthält, als man auf den ersten Blick erkennen kann.« (Jung 1968)
In der sogenannten anthropologischen Forschung wird davon ausgegangen, dass im Zuge der Entwicklung des Menschen vieles, wenn nicht gar alles, als Sinnbild verstanden werden kann. Sinnbilder haben sich über Jahrhunderte, selbst über Jahrtausende erhalten und dabei an ihrer universellen Bedeutung nicht verloren. Kinder zeichnen auf ihren Bildern der Sonne ein Gesicht oder lassen ihrem »magischen Denken« freien Lauf. Etwa, wenn sie noch an den Weihnachtsmann bzw. den Osterhasen glauben, wenn sie ihre Puppen füttern oder ihre Spielzeugautos in die Garage bringen, damit diese nicht frieren. Sie nehmen ihren Teddy mit ins Bett, damit er im Dunkeln keine Angst hat, oder sie erzählen ihrem Haustier ihre Sorgen, so als ob die Tiere sie verstehen könnten.
Symbole begegnen uns überall. Sucht man nach der ursprünglichen Bedeutung des Wortes »Symbol«, lässt sich dieses aus dem griechischen »symballein« ableiten, was seinem ursprünglichen Wortsinn nach »zusammenfügen, an einen sinnvollen Ort zusammenbringen« heißt. So besaß das Symbol in der Antike – ganz der Wortbedeutung des Zusammenfügens entsprechend – einen sowohl besonders bedeutsamen wie praktischen Wert. Ein in zwei Teile durchbrochener Gegenstand, etwa ein Siegelabdruck, ein kleines Bild, ein Ring oder eine Scheibe aus Holz, Metall oder Ton, konnte durch Zusammenfügen wieder zu einem Ganzen werden. Geschäftsfreunde, Schuldner und Gläubiger haben beispielsweise beim Abschied oder nach einer Vereinbarung einen bestimmten Gegenstand zerbrochen, und wenn sie erneut miteinander in Kontakt traten, wurden diese Teile als Erkennungszeichen aneinandergefügt. Passten die Bruchränder passgenau zusammen, so war dies ein sicheres Erkennungszeichen für die korrekte Identität der Personen. Man könnte dieses Vorgehen mit der heutigen PIN im Zahlungsverkehr oder einer bestimmten Parole gleichsetzen.
Im übertragenen Sinn kann es heißen, das vernunftmäßig Erklärbare und einen dahinter liegenden Sinn zu verbinden, das menschlich Sichtbare und Unsichtbare in eine Verbindung zu bringen, das Offensichtliche mit dem Geheimnis zu verknüpfen oder das tatsächlich Beobachtbare mit einem nicht erkennbaren Sinn zu vernetzen. Anders ausgedrückt: Wir leben nicht nur in einer Welt, umgeben mit Symbolen, sondern eine große Welt von Symbolen lebt auch in uns Menschen. Wir träumen in Symbolen, reichern unsere Sprache und unser Denken mit Symbolen an und gestalten unsere alltäglichen Handlungsweisen mithilfe von Symbolen (Kleidungswahl, körpersprachliche Ausdrucksweisen, besondere Vorlieben in der Freizeitgestaltung, Wahl der Hobbys). Darüber hinaus kommen vor allem in den Fachrichtungen der Theologie, der Medizin (Krankheitssymptome als Erkennungsmerkmale für Krankheit auslösende Ursachen), der Poetik, der Soziologie, der Anthropologie, der Philosophie, der Kunst und Ästhetik sowie der psychoanalytisch orientierten Psychologie Symbole und Symbol(be)deutungen zum Tragen.
In diesem Buch geht es um Symbole und Symbol(be)deutungen im Verhalten der Kinder – hauptsächlich ausgerichtet nach den Fachdisziplinen der psychoanalytisch orientierten Psychologie (Carl Gustav Jung) und der Anthropologie (Mary Douglas, Raymond Firth, Dan Sperber, Victor Turner und Roy Wagner). Doch statt ausführlicher Symboltheorien finden hier ausgewählte, praktische Beispiele aus einer über 30-jährigen therapeutischen Arbeit mit Kindern und ihren Familien Platz. Ebenso Beispiele, die sich aus meiner wissenschaftlichen Begleitung von Kindern in Tageseinrichtungen und aus eigenen empirischen Befunden ergeben haben. Dabei werden sich in den reichhaltigen Informationen und Erläuterungen vielleicht das eine oder andere Mal auch Widersprüche von Ihrer Seite aus ergeben, wenn persönliche Einschätzungen Ihrerseits und meine Ausführungen nicht deckungsgleich zu sein scheinen. Das liegt in der Natur der Sache, gerade bei einem solch sensiblen Thema.
Richtig ist sicherlich, dass Symbole – je nach der fachlichen Ausrichtung der Betrachter oder einer persönlich geprägten Einschätzung – vielschichtig sind und damit unterschiedlich betrachtet werden können. Symbolbedeutungen besitzen tatsächlich stets eine gewisse Mehrdeutigkeit. Allerdings helfen Symbolbedeutungen, die einerseits an aktuellen Erkenntnissen der Anthropologie und andererseits an der jungschen, psychoanalytisch orientierten Psychologie ausgerichtet sind, dabei, in eine fachlich fundierte Deutung zu kommen – im Gegensatz zu einer persönlich gefärbten Interpretation. Die Unterschiede lassen sich wie folgt auf den Punkt bringen:
Deutung von Symbolen
Interpretation von Symbolen
Grundlage: Hier kommt ein aktuelles Grundlagenwissen aus den Fachdisziplinen Anthropologie, der psychoanalytisch orientierten Psychologie und der aktuellen Entwicklungspsychologie zum Tragen.
Grundlage: Fehlendes Wissen (Annahmen) oder ein vorhandenes Halbwissen dienen als Ausgangspunkt und führen zu einer persönlich geprägten Sichtweise, in der in den seltensten Fällen eine fachliche Ausrichtung gewährleistet ist.
Herstellung einer sinnverbundenen Betrachtung des Symbols in Abhängigkeit von möglichst vielen, erfassbaren Bedingungen und Einflussfaktoren, die den Menschen dazu führen, diese ureigene, symbolisch bedeutsame Ausdrucksform zu wählen.
In einer Interpretation werden vor allem spontane, sinnzusammenhängende Bedingungen und Einflussfaktoren häufig außer Acht gelassen, sodass es automatisch zu isolierten Betrachtungen kindeigener Ausdrucksformen kommen muss.
Bei einer Deutung will der Erwachsene in erster Linie das Ausdrucksverhalten des Kindes, seine Welt und damit das Kind selbst verstehen.
Bei einer Interpretation hat der Erwachsene häufig schon ein bestimmtes, feststehendes Bild vor Augen, warum ein Kind gerade dieses Ausdrucksverhalten zeigt.
Während der Deutungsarbeit ist der Erwachsene dem Kind und seinem Symbolverhalten sehr nahe. Hier findet eine Begegnung auf einer fachlich-menschlichen Ebene statt. Das Kind sucht mit seinem Symbolverhalten eine
Ausdrucksmöglichkeit und der Erwachsene sucht eine Antwort auf seine Verständnisfragen. Beide sind Suchende!
Bei einer Interpretationsarbeit steht ein kognitiv orientiertes Verstehen an erster Stelle. Dabei gibt es eine deutliche Rollenhierarchie, indem sich die interpretierende Person häufig »über« die Person des Kindes stellt und dabei mit erster Priorität nur das Ausdrucksverhalten im Auge hat, verbunden mit dem Ziel, das Verhalten des Kindes zu verändern.
Bei einer ergebnisoffenen Deutung sieht sich auch die Deutung suchende Person als ein Faktor im Bedingungsgefüge, die in der Vergangenheit/Gegenwart dazu beigetragen hat bzw. immer noch dazu beiträgt, dass das Kind diese besondere Ausdrucksform zeigt.
Bei einer Interpretation sieht sich die Person, die eine Hintergrunderklärung für das kindliche Verhalten sucht, nicht
als ein möglicher Grund für die gezeigte Ausdrucksform, sondern betrachtet im Kind den Grund und das gezeigte Symptom zugleich.
Bei einer Deutung ist der Erwachsene selbst von seiner Erkenntnis emotional betroffen.
Bei einer Interpretation hält sich der Erwachsene sehr nahe bei seiner kognitiven Erkenntnis auf (er glaubt, etwas erkannt zu haben).
Personen, die mit Deutungen arbeiten, versuchen weniger/kaum/gar nicht, das Kind zu verändern, sondern legen
den Schwerpunkt darauf, die Bedingungen/Einflüsse zu verändern, damit das Kind
entwicklungsförderliche Erfahrungen machen kann.
Personen, die mit Interpretationen ans Werk gehen, wollen zuallererst das Kind verändern und achten daher weniger/
kaum/gar nicht auf die Einflüsse und Bedingungen, die das Kind zu seinem besonderen Ausdrucksverhalten veranlassen.
Anmerkungen zum Aufbau des Buches
Nachdem in den Einleitungsgedanken grundsätzliche Anmerkungen und kurze Erläuterungen zum Symbolwert und zur Bedeutung von Symbolen im Leben der Menschen vorgenommen wurden, folgt zunächst eine wahre Geschichte über ein Kind und seine Ausdrucksform, die LeserInnen verdeutlichen möchte, wie unsere eigene Wahrnehmung und die Einschätzung von Situationen oftmals am Seelenleben eines Kindes vorbeigehen. Gleichzeitig gibt uns die Geschichte von »Anton, dem Würger« aber auch einen Einblick, wie eine Symbol verstehende Umgangsweise mit dem Kind zu einem wunderbaren Ergebnis führen kann.
Es folgen zwei Kapitel, die einerseits zeigen, dass (kindliches) Verhalten kein Zufall ist und durch vergangene Ereignisse und Situationen geprägt ist, und andererseits verdeutlichen, dass jede Ausdrucksweise eine Geschichte erzählt und Verhaltensirritationen von Kindern stets und immer (!) verzweifelte Befreiungsversuche der Kinder darstellen, sich aus belastenden Erlebnissen, Erfahrungen und Eindrücken emotional zu befreien. Nur wenn Erwachsene verstehen, was uns das »Proletariat auf kleinen Füßen« (Dr. Janusz Korczak) mitteilen möchte, können sie verstehen, wo »der Hase im Pfeffer liegt«. Hier entstehen Möglichkeiten, Ursachen für kindbedingte Belastungen zu erkennen und für Lösungswege zu sorgen.
Das Hauptkapitel des Buches wendet sich mit vielen ausgesuchten Beispielen der direkten Praxis zu. Dabei stammen alle Beispiele entweder aus der langjährigen eigenen therapeutischen Praxis oder sie haben sich in der Supervisionspraxis bzw. während einer Seminarbegleitung aus Beobachtungen und Gesprächen mit ErzieherInnen entwickelt. Alle Beispiele sind dabei nach einem festen Muster aufgebaut:
Beispiel aus der therapeutischen/pädagogischen PraxisAusgewählte, gezielte Hintergrundinformation zum vorgestellten BeispielWas das Kind dem Umfeld mit seiner Ausdrucksweise sagen will (Bedeutungswert)Was das Kind an »Seelennahrung« bzw. neuen »Lebenserfahrungen« brauchtHinweis: Selbstverständlich wurden alle Namen der Kinder geändert und alle andere Daten, die Rückschlüsse auf die wahre Identität des Kindes zulassen könnten, verfremdet.
Das umfangreiche Literaturverzeichnis führt einerseits die benutzte Literatur auf, andererseits dient es allen lesefreudigen Eltern als Buchübersicht, um bei Bedarf einen für LeserInnen besonders interessanten Schwerpunkt vertiefen zu können.
Ich hoffe, diesem Buch wird es gelingen, Sie ins Staunen und Nachdenken zu bringen, um dann aus neu gewonnenen Erkenntnissen an einer Welt für Kinder mitzuarbeiten, in der sich Kinder verstanden fühlen und Eltern eine noch größere Freude über ihre wundervolle Pädagogik spüren. Es geht dabei in diesem Buch nicht darum, alles perfekt zu machen! Wer das im privaten oder beruflichen Bereich versuchen würde, wäre einerseits schnell »ausgebrannt« und andererseits oftmals enttäuscht, weil zielgerichtete Vorhaben gescheitert sind. Vielleicht sogar scheitern mussten, um den Menschen an seine Grenzen zu erinnern. Doch was das Buch gerne erreichen möchte, ist die Vermittlung von Möglichkeiten, entdeckte Fehler nicht immer wieder aufs Neue zu wiederholen, sondern durch eine andere Sichtweise und neue Handlungsstrategien zu einer neuen Lebensqualität beizutragen: für sich selbst, die Kinder, die ganze Familie.
Ich glaube daran, dass das größte Geschenk, das ich von jemandem empfangen kann, ist, gesehen, gehört, verstanden und berührt zu werden.Das größte Geschenk, das ich geben kann, ist, den anderen zu sehen, zu hören, zu verstehen und zu berühren. Wenn dies geschieht, entsteht Kontakt.
Virginia Satir
Anton, der Würger – eine wahre Geschichte
Erlebt und aufgeschrieben von Mariele Diekhof, Berlin
Ja, so wurde er von den Kindern genannt: Anton, der Würger. »Anton ist gefährlich, vor dem muss man sich in Acht nehmen. Anton ist der schlimmste Junge im ganzen Kindergarten. Der würgt die Kinder. Meine Mama will nicht, dass ich mit ihm spiele ...« All diese Sätze hörte ich bereits am ersten Tag an meinem neuen Arbeitsplatz in der Kita »Lebenslust«.*
Drei Kinder schenkten mir ihre Zeit und begleiteten mich und meine Handpuppe Lille beim ersten Erkundungsrundgang durchs Haus. Ich war beeindruckt, mit welcher Wertschätzung und mit wie viel Stolz sie mir ihre Spielbereiche präsentierten und auf meine vielfältigen Fragen eingingen. Dann hörten wir einen Aufschrei, der von draußen durch das Fenster hereinklang. »Das war Anton, der Würger«, klärten mich die Kinder auf. Und nun erfuhr ich alles von dem gefährlichen Jungen mit seinen Würgerhänden. Energisch zogen mich die drei in ihr Geheimversteck, in eine uneinsehbare Nische unter der Flurtreppe. Hier wären sie vor Anton sicher. Ich musste hoch und heilig schwören, dass ich niemandem von diesem Ort erzählen würde. Ehrensache! Später erfuhr ich von den Erzieherinnen, dass Anton an diesem Tag gar nicht in der Kita war.
In den darauffolgenden Wochen durfte ich den fünfjährigen Jungen kennenlernen. Anton war am liebsten draußen unterwegs, er liebte das Klettern. Besonders gerne saß er auf dem Spielzeughäuschen und schaute hoch oben vom Teerpappendach auf die Welt hinunter. Auch in den Bäumen war er oft zu finden. Anton war mit einem stark ausgeprägten Bewegungsdrang ausgestattet, sehr wendig und so gut wie schwindelfrei. »Guckt mal, wie hoch ich klettern kann, ich bin der Größte, keiner kann so hoch klettern wie ich.«
Drinnen wie draußen war er der Chef, darauf legte er großen Wert. Er war der Bestimmer, einer, der sich gut ausdrücken konnte und auch vor den heftigsten Schimpfwörtern nicht zurückschreckte. Das machte Eindruck. Viele wollten ein wenig so sein wie Anton, so cool, so stark, so mächtig.
Anton konnte dann und wann recht aggressiv werden, wenn seine Toleranzgrenze erreicht war: wenn Spielgefährten sich beispielsweise nicht an die »Anton-Regeln« hielten oder wenn er zu den Mahlzeiten ins Haus gerufen wurde, wo er es sich doch gerade auf dem Teerpappendach gemütlich gemacht hatte. So mancher Tobsuchtsanfall führte dann dazu, dass Kinder, die sich in seiner Nähe aufhielten, von ihm geschubst, getreten und gelegentlich auch gewürgt wurden.
Im Austausch mit den Erzieherinnen erfuhr ich, dass die Eltern im engen Kontakt mit der Erziehungsberatungsstelle standen und verzweifelt nach einem Grund für seine Aggressivität forschten. Von den Kindern wurde er irgendwann – nach wiederholten Würgegriffen – nur noch »Der Würger« genannt. Anton tat so einiges, um diesem Ruf gerecht zu werden. Seine Aggressivität bewirkte die vielfältigsten Reaktionen seitens der Kinder und Erwachsenen, und das wiederum führte zur Verfestigung seiner Verhaltensauffälligkeit. Er steckte in einem Teufelskreis.
Eines Tages entdeckte ich Anton im Garten auf einer Bank, die versteckt zwischen den Büschen und Bäumen stand. Ich setzte mich zu ihm. Wir saßen eine Weile schweigend nebeneinander, dann nahm ich seine schmutzige Hand in meine Hände. Ganz vorsichtig streichelte ich sie und sagte leise zu ihm: »Anton, du hast so schöne Streichelhände. Hast du nicht Lust, unseren Kleinen in der Krippe mittags beim Einschlafen zu helfen? Du könntest eines der Kinder streicheln, damit es besser einschläft.« Blitzschnell zog Anton seine Hand fort, von dieser seltsamen Idee hielt er nun absolut gar nichts. Das wäre ja wohl völlig uncool, das könne ich vergessen, und weg war er.
Doch Anton kannte meine sanfte Hartnäckigkeit noch nicht. Ich gab uns etwas Zeit, um dann erneut mit meiner Frage auf ihn zuzugehen. Nach meinem vierten Versuch innerhalb mehrerer Wochen erklärte er sich zumindest einverstanden, mal darüber nachzudenken, bevor er dann mit einem »Na gut« zusagte. Diese zwei Worte lösten ein unbeschreibliches Glücksgefühl in mir aus.
Wir setzten uns auf die Bank und überlegten gemeinsam, wie wir das am besten machen mit dem Streicheln und welche Regeln wir aufstellen, damit alles gut klappt. Das Ergebnis habe ich im Beisein von Anton mit einem goldenen Stift auf schönes Büttenpapier geschrieben:
Antons Regeln im Sternchenzimmer
Bevor Anton ins Sternchenzimmer geht, wäscht er sich gründlich die Hände, damit beim Streicheln das Kind nicht schmutzig wird.Im Sternchenzimmer wird geflüstert, damit die Kleinen nicht gestört werden.Anton sucht sich aus, welches Kind er streicheln möchte.Das Kind wird von Anton leise gefragt, ob es gestreichelt werden möchte. Wenn nicht, dann nicht! (Seine Worte)Das Kind wird am Arm, an der Schulter, am Hinterkopf oder am Rücken zart gestreichelt. Anton fragt das Kind, wo es gerne gestreichelt werden möchte.Sobald das Kind zeigt, dass es nicht mehr gestreichelt werden möchte, hört Anton sofort auf.Wenn das Kind eingeschlafen ist oder Anton nicht mehr streicheln möchte, kann er leise hinausgehen.Anton kann immer Nein sagen, wenn er wieder gefragt wird, ob er im Sternchenzimmer helfen möchte.Ich ahnte, dass Anton sich irgendwann auf meinen Wunsch einlassen würde. Mir war wichtig, dass er dieses Streichelerlebnis als etwas Besonderes empfand und er im Vorfeld keinen Rückzieher mehr macht. Meine Gedanken entwickelten die schöne Idee, für Anton zum Händewaschen eine Blechdose mit ganz besonderen Duftseifen und einer bunten Nagelbürste zu füllen. Da gab es eine Seife, die nach Rosen duftete, eine andere nach Zitrone, sogar eine mit Erdbeerduft konnte ich auftreiben. Auch für eine Pfirsichseife in Herzchenform und eine nach Gewürzen duftende, schokoladenfarbige »Männerseife« bot die Dose Platz. Anton durfte entscheiden, mit welcher Seife er sich seine Hände waschen wollte. Ich werde nie den Anblick vergessen, wie versunken Anton alle Seifen beschnupperte und sich viel Zeit ließ, um sich dann für eine zu entscheiden. Die coole Männerseife sollte es sein.
Mit geschrubbten, nach Gewürzen duftenden Händen tastete Anton sich leise durch den Schlafraum und hielt zögernd nach einem geeigneten Kind Ausschau. Die kleine Emely wurde erwählt, und wie zuvor besprochen, fragte er sie flüsternd, ob er sie ganz vorsichtig streicheln dürfe. Da es in der Kita üblich war, dass die Kinder von den Erzieherinnen täglich in den Schlaf gestreichelt wurden, war dies für Emely keine völlig ungewohnte Situation. Und so machte es sich Anton neben ihr auf der Matratze bequem und bewegte seine Finger zunächst sehr zaghaft auf ihrer Schulter. Emely schien es zu gefallen, zunächst schaute sie Anton mit großen Augen an, bevor sie dann tatsächlich während des Streichelns in den Schlaf sank. Anton blieb noch ein wenig auf der Matratze liegen und schlich dann hinaus.